image

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Tief unterm Laub

Spinner

Rabenschwarz

Der neunte Tod

Still und starr

… denn sterben muss David!

Kurz vor Schluss (Kriminalgeschichten)

Malerische Morde

Hart an der Grenze

Ein Viertelpfund Mord (Kriminalgeschichten)

Ein kaltes Haus

Totentänzer

Nacht zusammen (Kriminalgeschichten)

Stimmen im Wald

Voll ins Schwarze (Kriminalgeschichten)

Starker Abgang (Kriminalgeschichten)

Mord und Totlach (Kriminalgeschichten)

Totholz

Schuss mit lustig (Kriminalgeschichten)

Abendlied

Ralf Kramp, geb. 1963 in Euskirchen, lebt in einem alten Bauernhaus in der Eifel. Für sein Debüt Tief unterm Laub erhielt er 1996 den Förderpreis des Eifel-Literatur-Festivals. Seither erschienen mehrere Kriminalromane und zahlreiche Kurzgeschichten. In Hillesheim in der Eifel unterhält er zusammen mit seiner Frau Monika das »Kriminalhaus« mit dem »Deutschen Krimi-Archiv« (30.000 Bände), dem »Café Sherlock«, einem Krimi-Antiquariat und der »Buchhandlung Lesezeichen«. www.ralfkramp.de • www.kriminalhaus.de

Ralf Kramp

So tot wie nie

image

Originalausgabe

© 2017 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: info@kbv-verlag.de

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlagillustration: Ralf Kramp

Print-ISBN 978-3-95441-391-1

E-Book-ISBN 978-3-95441-402-4

Für die legendäre »Blutspur«-Crew:
Willi, Dalina, Thorben, Catrin,
Reiner, Christoph und Christof

Inhalt

Hab ich schon vorher gewusst

Friede, Freude, Flaschenbierchen

Ein Sommermärchen

Pralinen?

Voodoo-Udo

Toter Mann

Weg ist weg

Die Schwestern

Der letzte Schritt

Das Gips doch gar nicht

Ein Männlein steht im Walde

Picknick im Herbst

Kopflos in Biedenkopf

Der Fingernagel

Opa Heinz

H wie Hochzeitstach

Mörder suchen ein Zuhause

Ab ins Wasser

Der Thermomix

Kittelschürzenkarate

Drei Kopfschüsse für Aschenbrödel

Fetisch-Christmas

Hab ich schon vorher gewusst

Es war wie immer. Am Sonntagabend wusste es Frau Hammelmann schon wieder mal nach nur sieben Minuten: »Ist doch wohl klar. Der Mann vom Forstamt hat sie erschossen. Der Verklemmte, der immer die Nase so hochzieht. Der ist kurzsichtig, raucht Filterlose und hat ein Verhältnis mit der Frau, die den Kontrabass spielt.«

Ihr Mann starrte sie ungläubig von der Seite an. »Woher willst du denn das mit dem Verhältnis wissen?«

Sie verdrehte die Augen. »Ach komm, der Telefonanruf um vier, das Quietschen der Bremsen und die Postkarte aus Kuba mit dem verwischten Stempel«, sagte sie genervt.

»Und das Motiv?«, fragte ihr Mann fassungslos.

Sie sah ihn kopfschüttelnd an. »Also, wenn du das noch nicht erkannt hast …« Und seufzend erklärte sie: »Wegen des Einbruchs vor zehn Jahren und der kaputten Porzellanschüssel von ihrer Großmutter. Denk doch bitte einmal nach: der Riss, der genauso aussah wie der Dortmund-Ems-Kanal.«

Am Ende des Krimis hatte sie mit jedem Detail richtiggelegen. So wie immer. »Siehste. Hab ich schon vorher gewusst.«

Frau Hammelmann lag seit Jahren immer richtig.

Auch am nächsten Abend.

»Pass auf, die Prostituierte aus dem Club führt bestimmt ein Doppelleben und hat den Lehrer erstochen.«

»Aber der Lehrer ist doch gar nicht erstochen worden!«

»Wetten, wohl? Das zeigen die aber gleich erst.«

Ein paar Minuten später wurde tatsächlich die Leiche des Lehrers eingeblendet. In seiner Brust steckte eine Heckenschere. Frau Hammelmann gähnte. »Sag ich doch. Und die Leiche am Anfang war ein Unfall.«

»Wohl kaum.«

»Jaja, warte du nur ab.«

Die Auflösung zum Schluss gab ihr natürlich recht. Sie schenkte ihrem Mann ein breites Siegerlächeln. Es sah auch ein wenig herablassend aus.

Am Dienstagabend schaltete ihr Mann zuerst zwischen ein paar Programmen hin und her.

Das Erste: »Haben wir schon gesehen. Da war es die Friedhofsgärtnerin. Wegen der Fehldiagnose im Krankenhaus.«

ZDF: »Die haben das zu dritt getan, erinnerst du dich? Das mit dem Stromschlag. Die Fahrradfahrerin, der Mann vom Wasserwerk und die Nonne.«

Herr Hammelmann konnte sich nicht erinnern.

Drittes Programm: »Das auch schon. Da hat der Halbbruder den Stiefvater wegen der Cousine erwürgt, und die Tante zweiten Grades erpresst ihn gemeinsam mit dem unehelichen Neffen, um an das Erbe vom Urgroßvater heranzukommen, das sonst die Nichte kriegt, weil sie die Schwester des Schwippschwagers vom angeheirateten Cousin ist, was aber keiner weiß.«

Auf dem nächsten Kanal lief etwas, was seine Frau noch nicht kannte. Aber schon nach einer Viertelstunde sagte sie gelangweilt: »Ich wette, es war dieser Zoowärter. Der mit dem künstlichen Bein. Der hat ihn überfahren.«

»Das glaube ich nicht«, versuchte ihr Mann einen zaghaften Konter. »Es war ganz sicher sein Nachbar. Der mit dem Glasauge.«

»Ach Quatsch! Das soll doch nur so aussehen.«

Am Ende wurde der Zoowärter verhaftet, und seine Frau lachte schnarrend. »Hab ich doch gleich gesagt. Oh Mann, dass die dich immer wieder reinlegen.«

Am folgenden Abend nahm sie zuerst ein Bad und fragte: »Was kommt denn heute? Hoffentlich was, was wir noch nicht gesehen haben.«

»Nein, das kennen wir noch nicht«, sagte ihr Mann, als er sich über die Wanne beugte, um ihr den Rücken einzuseifen, so wie sie es immer von ihm verlangte. »Aber ich weiß diesmal schon, was passiert.«

Für einen Moment trafen sich ihre Blicke im Spiegel. Sie runzelte verständnislos die Stirn und wollte gerade etwas fragen. Da drückt er sie unter Wasser.

»Eine Frau ertrinkt«, erklärte er mit zusammengebissenen Zähnen. Sie versuchte, seine Hände wegzustoßen, die er ihr unter Wasser schwer auf Gesicht und Schultern legte.

»Es war der Ehemann«, fuhr er fort. Ihre Füße strampelten, und Wasser spritzte umher. Kleine Schaumflocken tanzten durch die Luft.

»Ganz, ganz einfache Geschichte. Er hatte die jahrelangen Demütigungen satt«, verriet er schwer atmend das Motiv. Die Bewegungen seiner Frau wurden schwächer. Ihre Gegenwehr ließ langsam nach.

Wenig später betrachtete Herr Hammelmann mit einem triumphierenden Lächeln den leblosen Körper unter Wasser. Er nickte seiner toten Frau zu und sagte mit einem hämischen Unterton: »Und? Hast du das schon vorher gewusst?«

Friede, Freude, Flaschenbierchen

Wir sind hier nicht gewalttätig. Das mit den Krimis überall, das ist ja nur … also bei uns gibt es so gut wie gar nichts, was … also, wir sind friedlich und verstehen uns prima, doch, ehrlich. Also fast immer. Fast überall hier in der Gegend. Fast alle.

Nun ja, bis auf Trimborns Hubert vielleicht. Der läuft schon mal ab und zu ein bisschen neben der Spur. Der Hubert ist einen Meter achtundneunzig groß, hat ein Kreuz wie ein Bushaltestellenwartehäuschen und ein Gesicht wie ein Kilo Sülze. Ist eher so von der groben Fraktion. Verdient sein Geld mit Sachen, wo man nicht mehr denken muss als nötig. Beim Holzrücken beispielsweise. Hat auch mal eine Uhrmacherlehre gemacht. Oder eine als Bauzeichner? Nee, doch Uhrmacher. Ja, Uhrmacher. Aber nur zweieinhalb Wochen.

Ja, der Hubert kann schon mal ausrasten. Da bricht auch schon mal der ein oder andere Kiefer. Ist eben so. Das hat aber ja nichts mit der Gewalt zu tun, die man in diesen Krimis sieht oder liest. Das ist eher so was wie eine volkstümliche Sportart, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Na ja, und da wär dann noch Strunks Heinz-Georg, der ist auch so ein Grenzfall. Zeorsch sagen alle zu dem. Eigentlich total friedlich. Eigentlich. Ja, gut, der hat manchmal seine fünf Minuten. Kleines, drahtiges Männchen. Sammelt allerlei Waffen in seinem Keller. Faustfeuerwaffen, Langwaffen, Säbel, altes Militärwerkzeug und so. Jedes Mal wenn ich in der Zeitung lese, dass mal wieder irgendwo so ein Waffennest ausgehoben worden ist, dann lache ich nur und denke: »Leute, da wart ihr aber noch nicht beim Zeorsch im Souterrain.«

Aber auch der Zeorsch – total friedlich! Meistens …

Das sind aber wirklich Ausnahmen. Nee, ehrlich. Das ist ja hier nicht die Bronx – das ist die Eifel! Hier werden keine Banken geplündert und keine Bandenkriege ausgetragen, hier gibt es keine Mafia, keine Entführungen und keine Zwangsprostitution und so Sachen. Schöne Landschaft mit Ginster und Seen und Bergen, himmlische Ruhe, Vögelchen, Häschen, all so was.

Die Krimis … die finden im Buch statt und im Fernsehen. Gucken wir auch. Ist ja alles spannend. Mord und Totschlag und so. Käm aber für uns nicht infrage.

Zingsheims Tünn, unser Ortsbürgermeister … Heizung Sanitär Zingsheim. Der Tünn sorgt immer dafür, dass das hier auch so friedlich bleibt. Der schafft das jedes Mal, die Wogen zu glätten, wenn irgendwo dann doch mal Zoff in der Bude ist. Kirmesschlägerei, Nachbarschaftszank, Ehekrach … Der schlichtet jeden Streit, und am Ende, da sind dann alle wieder bei einem Bierchen die besten Freunde. Fläschchen auf, Prost, wir haben uns lieb. Jedes Mal. Der hat das einfach drauf, der Tünn.

Einmal – das hat er mir mal unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit erzählt – da war der mal wieder auf der Pirsch im Wald. Der Tünn ist passionierter Jäger. Und da hat der plötzlich was Merkwürdiges beobachtet. Da hinten, an dem alten Steinkreuz bei der jungen Fichtenschonung, die sich runter bis an die Bundesstraße zieht. Der Tünn sagte zu mir: »Ich geh da so leise zwischen den Fichten durch, un da … da hattemer plötzlich so ne Art Sittewazion!«

Den Trimborns Hubert hat er da gesehen. Den großen, kantigen Hubert. Mit nem Knüppel. Also mit so einem großen, harten, knorrigen Ast. Den hat der prüfend in der Hand gewogen und hin und her gewendet und begutachtet. Also, der hatte da ganz offensichtlich was mit vor, konnte man sehen, sagte Zingsheims Tünn. Der wartete auf irgendwen.

Der Tünn hat nur kurz überlegt und war dann auch ganz schnell im Bilde. Das war nämlich der Spazierweg, den der Horst immer nahm. Der Horst Schleusser vom Amt. Welches Amt weiß ich jetzt gar nicht. Gesundheitsamt? Einwohnermeldeamt? Fällt mir doch jetzt partout nicht ein. Ach, doch, ich glaube Straßenverkehrsamt. Doch, Straßenverkehrsamt.

Oder doch Einwohnermeldeamt … egal.

Also der Schleussers Horst, der machte genau da jeden Abend seinen Spaziergang, wo der Hubert hinter einem Baumstamm stand und wartete. Immer zwischen Brisant und der Tagesschau. Konnte man die Uhr nach stellen.

Nee, doch Einwohnermeldeamt.

Und Zingsheims Tünn sieht also aus ein paar Metern Entfernung, wie der Hubert da lauert, und weiß direkt: Das gibt Stunk. Der Horst, der ist nämlich … ja, wie soll man das sagen … also es gibt einfachere Menschen. Wenn man mal mit irgendwem Ärger kriegen will, da nimmt man am besten Schleussers Horst. Geht ganz leicht. Muss man gar nicht viel machen.

Aber Schleussers Horst ist auch nicht gewalttätig! Nur hinterhältig. Doch, muss man sagen, der ist schon eine richtige Ratte.

Tünn vermutete also, dass der Hubert da auf Schleussers Horst wartete. Aber da raschelt plötzlich was, und auf der anderen Seite vom Weg erscheint jetzt noch einer im Gestrüpp. Und jetzt halten Sie sich fest: Da kommt der Zeorsch angeschlichen. In der rechten Hand ein Messer. Eins von diesen großen, langen, mit der zweischneidigen Klinge. Prachtexemplar aus seiner tollen Waffensammlung.

Stellt sich jetzt auf der anderen Seite vom Weg in Positur und wartet ebenfalls.

So, und das ist jetzt das, was Zingsheims Tünn als »ne Sittewazion« bezeichnet hat. Zwei Männer, zwei Waffen, ein Weg, aber noch kein Opfer. Ganz einfache Dreisatzrechnung. Muss man nur addieren. Nee, multiplizieren. Oder doch addieren. Egal.

So, da stehen die zwei jetzt also.

Doch, multiplizieren.

Der Hubert, der hat den Zeorsch natürlich gleich bemerkt, als der angeschlichen kam. Der Zeorsch denkt zwar immer, er könnte unauffällig schleichen. Kann der aber irgendwie gar nicht. Alles, was der tut, begleitet der mit Geräuschen. Also so ein Brummen. Wenn der aus dem Auto aussteigt … Brumm, brumm. Wenn der im Vereinsheim auf der Toilette nebenan sitzt … Brumm, brumm, brumm. Wenn der Gurkengläser aufschraubt oder einfach nur in der Sonne rumsitzt … Brumm, brumm. Immer. Also auch wenn der ganz leise schleicht … Brumm, brumm, brumm.

»Was willst du denn hier?«, sagt der Hubert laut. »Mach dich vom Acker.«

Und der Zeorsch erschreckt sich fast zu Tode und ruft dann ganz giftig zurück: »Ich hab hier was zu erledigen. Verzieh dich!« Und das Messer hat im Mondlicht aufgeblitzt, hat Zingsheims Tünn erzählt.

Der Hubert hebt drohend seinen Knüppel und knurrt: »Wenn du bei drei nicht weg bist, dann schlag ich dich gleich mit tot.«

»Ach ja? Wen denn sonst noch?«, fragt Zeorsch.

»Das geht dich zwar nix an, aber den Schleusser!«

»Schleussers Horst vom Bauamt?«

»Nee, vom Veterinäramt. Der hat auf der Kirmes hinterm Zelt meine Leni befummelt. Den mach ich tot.«

»Das lässt du mal schön bleiben! Den töte ich nämlich! Der hat mir die Bullen auf den Hals gehetzt. Und jetzt hab ich den Lappen weg!«

»Von wegen! Ich schlag dem den Schädel ein!«

»Nee, ich stech den ab!«

So, wie gesagt, jetzt hatte Zingsheims Tünn also plötzlich »ne Sittewazion«. Das war ein Pulverfass! Das konnte jeden Moment explodieren! »Deeskalation!«, hat mir Zingsheims Tünn gesagt. »Deeskalation ist in so einem Moment das Gebot der Stunde!«

Die zwei Streithähne gehen langsam aufeinander zu. Der Knüppel wird schon bedrohlich in die Luft gereckt und steuert auf den Kopf vom Zeorsch zu, das Messer wird nach vorne gestreckt, auf den Hals vom Hubert gerichtet.

Und da, in diesem brandgefährlichen Moment, taucht plötzlich der nichtsahnende Schleussers Horst an der nächsten Wegbiegung auf. Was passiert jetzt?

Und Zingsheims Tünn behält ja in solchen Momenten immer einen ganz kühlen Kopf. Eiskalt, der Kerl. Der weiß, wie man einen Streit schlichtet, bevor am Ende einer weint. Deeskalation, sag ich nur!

Er reißt die Flinte von der Schulter, legt an, zielt nur ganz kurz, aber unheimlich präzise, und … Paaf! … Schleussers Horst kippt tot um und bleibt auf dem Waldweg liegen. Aus fuffzich Metern exakt mitten in die Stirn. Toll, oder? Jahaaa, so ist der! Zingsheims Tünn!

»So, Jungens«, hat er dann zu den zwei Krawallbrüdern gesagt. Mit fester Stimme, wie er das immer so macht. »So, Jungens. Und jetzt ist Schluss mit der Zankerei. Ihr vertragt euch wieder. Bei mir im Dorf herrscht Frieden!« Der Tünn, hach … also ehrlich, der Tünn …

Die zwei, die zuerst gar nicht kapiert haben, wo der Tünn denn so plötzlich herkam und was da eigentlich genau passiert war, die haben sich richtig geschämt und haben dem dann geholfen, alles wieder aufzuräumen und so. Und hinterher haben die dann ein Bierchen getrunken. Ganz friedlich. Dicke Freunde.

So geht das bei uns in der Eifel. Mal ehrlich, Krimi ist doch anders, oder?

Ein Sommermärchen

Kein Rasenmäher, keine schrille Fräse,
die Tischkreissäge steht verwaist,
kein Schredder und kein Laubgebläse.
Mein Nachbar ist seit heut verreist.

Kein Qualm von schwarz verkohlten Steaks,
kein lautes Fußballspiel im Radio mehr.
Jetzt ist er schon zwei Stunden unterwegs.
Er fährt nach Norden hin, zum Meer.

Wann hab zuletzt ich solches Glück verspürt?
Fast denke ich, es wär ein Traum.
Doch es ist wahr, er liegt verschnürt
hinten bei mir im Kofferraum.

Pralinen?

Herr Schirmeyer rappelte mit dem kleinen, flachen Paket im bunten Geschenkpapier. Pralinen? Ja, kein Zweifel. Wer verschenkte denn heutzutage noch Pralinen? Das war doch eher so eine Verlegenheitssache, wenn einem nichts Besseres mehr einfiel. Ein Präsent für Leute, die man eigentlich kaum kannte.

Er zupfte an einem Zipfel der Verpackung und enthüllte eine Ecke der Schachtel. Pralinen, genau wie er das vermutet hatte.

Die Stimme seiner Frau kam aus der Küche: »Was ist denn drin? Pralinen?«

»Ja, Pralinen«, rief er und rupfte den Rest des Papiers davon. »Von wem hast du sie?«

»Von Frau Brauer vom Lottogeschäft. Weil ich letztens den Krankenwagen gerufen habe, als sie beim Salzstreuen ausgerutscht war. Du erinnerst dich?«

»Jaja, ich erinnere mich.« Er öffnete die Schachtel und ließ den Zeigefinger über den kleinen, schokoladigen Leckereien in ihren goldfarbenen Kunststoffvertiefungen kreisen. Eigentlich machte er sich nichts aus Pralinen. Er lehnte sie nicht ab, sie waren ihm mehr oder weniger egal.

Er pickte eine heraus, die ihm appetitlich erschien. Sie wurde von einer kleinen Mandel gekrönt. Als er sie zwischen seinen Fingern hielt und von allen Seiten betrachtete, musste er schmunzeln und daran denken, dass ihm ein solches Päckchen Pralinen schon einmal eine große Hilfe gewesen war. Das lag nun etwa ein Jahr zurück. Beim letzten Besuch bei seiner Tante Gisela hatte er so eine Schachtel im Gepäck gehabt. Als er sie ihr bei seiner Ankunft überreicht hatte, hatte sie sich sehr gefreut. Sie hatte mit dem Päckchen gerappelt, fein gelächelt und mit mädchenhaftem Tonfall gefragt: »Pralinen?«

Er hatte ihr milde zugenickt, woraufhin sie erwidert hatte: »Du weißt doch, dass ich eigentlich keine Süßigkeiten essen soll.« Sie war ein körperliches Wrack gewesen, seine Tante Gisela. Sie lag mehr oder weniger den ganzen Tag im Krankenbett und ernährte sich fast nur noch von Medikamenten. Ach, und reich war sie auch gewesen. Erfreulich reich.

Herr Schirmeyer ließ jetzt die Praline in seinem Mund verschwinden. Er genoss es, erst ein wenig von der süßen Schokolade schmelzen zu lassen, bevor er begann zu kauen. Marzipan. Das mochte er eigentlich ganz gerne.

Während seines letzten Besuchs hatte Tante Gisela die Pralinen zwar nicht angerührt, aber schon am Tag nach seiner Heimreise erhielt er prompt den erhofften Anruf, dass sie sehr plötzlich ihrem langjährigen Leiden erlegen war. Niemand hatte Verdacht geschöpft. Die restlichen Pralinen hatte offenbar niemand untersucht. Bei der Menge an Gift, das er hineingespritzt hatte, war sie sicherlich schon nach dem ersten Happen hinüber gewesen.

Herr Schirmeyer schlenderte ins Wohnzimmer hinüber und betrachtete die verschneite Landschaft vor dem Panoramafenster. Das Haus war ein Traum. Hier würde der Lebensabend, gemeinsam mit seiner Frau, paradiesisch werden. Dass der Kauf so schnell über die Bühne hatte gehen können, war nur der Tatsache zu verdanken gewesen, dass er die Summe gleich in bar hatte bezahlen können. Dank Tante Gisela.

Eigentlich schmeckten Pralinen sogar ganz gut, so stellte Herr Schirmeyer jetzt fest.

image

Annkristin, die mollige, kleine Pflegerin, die sich in den letzten Wochen ihres Lebens um Tante Gisela gekümmert hatte, hatte das Geschenk von der alten Frau mit einem Strahlen entgegengenommen. »Für mich? Aber das wäre doch nicht nötig gewesen!«

Die Greisin hatte von ihrem Krankenbett zu ihr aufgeblickt, hatte schwach die beiden faltigen Hände um ihre Linke geschlossen und leise gesagt: »Weil Sie so lieb zu mir sind. Und mir immer so schön vorlesen.«

Dann hatte Annkristin mit dem Päckchen gerappelt, die Brauen gehoben und mit einem schelmischen Gesichtsausdruck gefragt: »Pralinen?« Die alte Dame erlag am nächsten Abend ihrem Leiden. Ganz ohne den Genuss von Pralinen und Gift. Auf dem Totenschein wurde ein vorhersehbares Organversagen vermerkt.

Anderthalb Wochen später hatte die Pflegerin das Päckchen weiterverschenkt. An Dr. Kemper, den Arzt, der ihren fünfjährigen Sohn Devid wegen seiner ADHS-Erkrankung behandelte. Als kleines Zeichen ihrer Dankbarkeit. Dr. Kemper hatte verhalten geschmunzelt, mit dem Päckchen gerappelt und gefragt: »Pralinen?«

Er hatte es erst gar nicht mit nach Hause genommen, sondern gleich im Kofferraum seines Autos deponiert, um es am Ende des Monats zu seinem Kongress nach Bad Kissingen mitzunehmen. Da gab es Leonie, die Kellnerin der kleinen Nachtbar, die ihn immer wieder mit zu sich nach Hause nahm, wenn er in der Gegend war. Dieses Mal gab er ihr am nächsten Morgen nicht nur die üblichen drei Hunderter, sondern auch das flache, bunt verpackte Päckchen. Sie rappelte damit und fragte überrascht: »Pralinen?«

Zu Ostern reiste die Schachtel mit der Post nach Kiel, zu ihrer Mutter. Das Geschenkpapier war ausgetauscht worden. Darauf spielten jetzt kleine Häschen Nachlaufen. Als der Postbote es am Gründonnerstag Frau Traude Czyschmosch mit den Worten »Post von Ihrer Tochter« überreichte, rappelte sie nur kurz damit, und er fragte: »Pralinen?« Sie grunzte nur abfällig, schenkte ihm einen Schnaps aus, so wie immer, wenn er ihr etwas brachte, trank auch einen und warf das Päckchen danach in das untere Fach des alten Wohnzimmerschranks, in dem sie auch Tosca-Flaschen und Seifenstücke und anderen Kram hortete, den sie weiterzuverschenken gedachte.

Der kleine Marvin aus der Nachbarschaft, der alle paar Wochen den Rasen des verkommenen Gartens mähte, war ziemlich enttäuscht, dass er dieses Mal statt eines Fünfers nur ein Päckchen in die Hand gedrückt bekam, das so alt zu sein schien, dass noch Osterhasen auf dem Geschenkpapier abgedruckt waren. Er rappelte damit und fragte skeptisch: »Pralinen?«