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Dirk M. Staats, Jahrgang 1958, geboren und aufgewachsen in Hannover. Nach der Ausbildung zum Bankkaufmann studierte er in Paderborn und Hannover Wirtschaftswissenschaften mit Abschluss als Diplom-Ökonom. Danach arbeitete er als Projektleiter für Organisation und Bankbetriebswirtschaft. Seit 1991 selbstständig als Unternehmensberater und Seminarleiter. Neben dem Orgel- und Klavierspielen liebt er gemütliche Abende im Freundeskreis und nicht zuletzt: Krimis schreiben.

Dirk M. Staats

Auf dem Totenberg

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Originalausgabe
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unter Verwendung von: © alekosa - www.fotolia.de
Lektorat: Nicola Härms, Rheinbach
Print-ISBN 978-3-95441-390-4
E-Book-ISBN 978-3-95441-401-7

Für Ria und Manfred

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Dank

Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig.

Prolog

2003

Es war kurz vor 13.00 Uhr. Sein Handy schrillte. Rocco Rune wälzte sich aus seinem Ledersessel und drückte auf das grüne Symbol. »Ja?« Er stutzte. Was war das denn? Eine nahezu tonlose, verstellte Stimme gab ihm die Anweisung, schnellstens zu verschwinden.

»Was soll …?« Er verschluckte sich. »Wer spricht da?«

»Scheißegal«, hauchte die Stimme.

»Was willst du? Wieso soll ich abhauen, was habe ich denn getan? Wer bist du?«, schrie Rocco ins Telefon.

»Ey, noch mal: Wer hier is, spielt keine Geige, du verduftest, ohne Karre und sofort, klar? Der macht Kleinholz aus dir.«

»Wer?«

»Weißte selber, nachdenken. Pack deine Klamotten und …« Die hohle Stimme stockte. »Muss abbrechen.« Ein Knacken verriet ihm, dass das Gespräch beendet war.

Rocco hetzte durch die Wohnung. Ein anonymer Anruf. Sollte man das ernst nehmen? Wer verbarg sich hinter dieser Stimme?

Wieder schrillte es. »Hallo Tonne. Seit wann rufst du so früh an?«

»Stör ich dich gerade, Rocco?«

»Nein, ich bin heute nicht zur Uni hin.« Er hatte Tonne bei ihrem ersten Treffen von einem Mathematikstudium berichtet. Was er wirklich tat, brauchte dieser komische Kauz nicht zu erfahren.

Sie sprachen weiter, Tonne erzählte irgendeinen Kram vom Pokern. Rocco tat interessiert, hörte aber nicht wirklich zu. Er musste abhauen, denn plötzlich plagte ihn eine schreckliche Vermutung.

Tonne wollte ihn wegen irgendwelcher Gewinne einladen. Schnell würgte Rocco die Unterhaltung ab, packte hastig ein paar Sachen zusammen, rannte zu seinem Kleinwagen und fuhr von Göttingen aus auf die Autobahn A 7 Richtung Süden.

Immer wieder schaute er in den Rückspiegel, ob ihm jemand folgte. Dutzende Fahrzeuge waren bereits an ihm vorbeigezogen, niemand blieb lange hinter ihm.

Das war es dann wohl in Sachen Göttingen. Kein Problem, genug Geld hatte er zusammengerafft. Es sollte für mindestens zwei Jahre reichen, um endlich auszuspannen. Danach konnte er irgendwo wieder neu beginnen.

Er wähnte sich schon in Sicherheit, da fiel ihm ein schwarzer Ford Mustang mit dunkel getönten Scheiben auf. Rocco fuhr schneller, wieder langsam, dann eine Strecke mit Vollgas, aber der Wagen folgte ihm im immer gleichen Abstand. Was war das für ein Spinner?

Irgendwo zwischen Kassel und Frankfurt riss er im letzten Moment das Lenkrad herum. Er jagte die Ausfahrt hinunter, raste kreuz und quer durch die Ortschaft zurück zur Autobahn.

Alles klar. Nichts mehr von dem Typ zu sehen.

Zwei, sieben, fünfzehn Autos überholten ihn.

Das breite Grinsen verging ihm augenblicklich, als er das schwarze Ungetüm wieder hinter sich bemerkte. Jetzt war sich Rocco sicher: Er wurde verfolgt. Und es musste der Kerl sein, den er nach seinem Schulrauswurf mit siebzehn Jahren kennengelernt hatte. Wie konnte er nur so blöd sein zu glauben, dass dieser mit allen Wassern gewaschene Typ nicht hinter seine Machenschaften kommen würde? Der schreckte vor nichts zurück, kannte keine Gnade. Er war ein Killer, das war Rocco vom ersten Tag an klar gewesen.

Er trat das Gaspedal durch, fegte wie ein Irrer über Frankfurt weiter nach Darmstadt. Er hoffte, dass ihn die Polizei stoppen würde, sein Verfolger hätte dann sicher von ihm abgelassen.

Der Verkehr nahm zu. Begleitet durch ohrenbetäubende Hupkonzerte raste er auf dem Mittelstreifen zwischen einigen Wagen hindurch, überholte Lkw-Kolonnen auf der Standspur. Trotz seiner riskanten Manöver gelang es ihm nicht, das schwarze Monster loszuwerden. Mal war es minutenlang nicht zu sehen, dann wieder hinter ihm.

Was hatte diese hohle Stimme noch gesagt? Du verduftest ohne Karre? Hatte man ihm etwa einen Peilsender …?

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, als sein Blick auf die Tanknadel fiel. So ging es nicht weiter, eine Idee musste her, schnellstens. Tanken? Polizei rufen? Dafür war es zu spät. Aber auf offener Straße liegen bleiben war das Letzte, was passieren durfte.

Endlich kam ihm ein verwegener Gedanke: Hinter Darmstadt, in den nördlichen Ausläufern des Odenwaldes, entdeckte er einen frei zugänglichen Feldweg, schoss hinein und raste mitten in das Waldgebiet. Seine wilde Fahrt wurde jäh unterbrochen, als er einen Baum rammte, der Wagen weder vor noch zurück wollte und die Reifen tief im schlammigen Boden versanken.

Schnell jetzt, was musste mit?

Klamotten? Konnte er neu kaufen.

Schlüssel? Ein Zurück gab es sowieso nicht.

Bis auf Brieftasche und Handy ließ er alles stehen und liegen und rannte in den Wald. Zu Fuß war er gut. Er erreichte bereits eine kleine Anhöhe, da hörte er das dunkle, bissige Dröhnen des Mustangs. Die Bäume versperrten ihm die Sicht, aber das doppelte Türenklappen verriet ihm, dass nicht einer, sondern sogar zwei Leute hinter ihm her waren.

Nur sein Stapfen auf dem glitschigen Untergrund übertönte den Regen, der ein monotones Rauschen erzeugte. Sonst war es still.

Rocco schrie auf. Ein unerträglicher Schmerz durchzog seinen Körper. Er hatte die unscheinbare Baumwurzel übersehen und war in einen Busch gestürzt, wobei sich ein Dorn tief in seine rechte Hand bohrte. Wie benommen sprang er auf, riss den Dorn heraus, wischte sich das Blut an seiner Hose ab und rannte weiter. Hinter einer riesigen Tanne stoppte er, rang nach Luft, rieb sich den kalten Schweiß aus dem Gesicht. Seine verletzte Hand zitterte und brannte höllisch. Instinktiv riss er ein Stofftaschentuch aus seiner Hose und versuchte, die Wunde zu verbinden. Er probierte es einige Male, fummelte nervös herum, nahm die Zähne zu Hilfe, es half nichts, die Schmerzen ließen ihn fast ohnmächtig werden.

»Ach, Scheiße«, fluchte er wütend und warf das Taschentuch zu Boden. Dabei fiel sein Blick kurz auf die RR-Initialen, die seine Mutter damals in nahezu jedes seiner Wäschestücke hatte einsticken lassen. Eine lieblose Mutter, die immer nur auf Äußerlichkeiten bedacht gewesen war und die ihn und seinen reichen Alten verlassen hatte, als er zur Schule kam.

Rocco lehnte sich an die Tanne, sein Atem raste. Er war vielleicht eine halbe Stunde lang ununterbrochen bergauf gelaufen und musste pausieren. Die Schmerzen in der Hand nahmen zu, dehnten sich auf den gesamten Unterarm aus. Es pochte im Kopf, es pochte überall.

Rocco horchte angestrengt zurück. Es war windstill, kein Vogel zwitscherte, nur der Regen rauschte, überall tropfte das Wasser zu Boden.

Vorsichtig schaute er sich um.

So sehr er sich auch konzentrierte, hinter ihm konnte er nichts Ungewöhnliches wahrnehmen, obwohl die Bäume hier nicht so dicht standen.

Ich muss weiter, weiter, hämmerte es in ihm. Bloß nicht noch mal stürzen, das könnte ihm den Rest geben.

Nachdem er auf einem lehmigen Waldabschnitt ein paarmal weggerutscht war, verlangsamte er sein Tempo und stolperte mit kleineren Schritten weiter. Der Schmerz donnerte, er spürte wieder seinen schweren Atem, die Feuchtigkeit am ganzen Körper.

Dann erreichte er endlich eine Anhöhe; vor ihm lag ein dicht bewaldeter, weitläufiger Talkessel.

»Das ist die Chance«, keuchte er atemlos vor sich hin, schaute unwillkürlich auf seine feuchte Armbanduhr. Unter größten Mühen schleppte er sich weiter.

Wieder lehnte er sich an einen Baum, versuchte, seinen Atem zu kontrollieren und die alles beherrschenden Schmerzen in seinem Körper zu unterdrücken. Mit letzter Kraft horchte er zurück. Hatte er sie abgehängt? Es schien so.

Plötzlich hörte er Äste knacken. War das ein Tier?

Es musste ein Tier sein.

Er lauschte weiter.

Dann vernahm er ein lautes Fluchen.

Er hatte sie nicht abgehängt, sie waren sogar ganz in seiner Nähe. Zitternd vor Angst und Qual rannte er weiter. Er wollte noch nicht sterben.

Kapitel 1

2015
Göttingen, etwa 12 Jahre später

Die Tür flog auf, Max Leitner zuckte zusammen. »Mensch, hast du mich erschreckt«, grollte er wütend und warf die Akte, in der er gerade gelesen hatte, auf den Schreibtisch.

»Guten Morgen, Max«, erwiderte Tobias Heuward kleinlaut.

»Morgen.«

»Hast du schlechte Laune?«

»Nein, ich bin eben nur von einem ein Meter neunzig großen Wuschelkopf fast zu Tode erschreckt worden. Reiß die Tür beim nächsten Mal nicht so auf.« Leitner beruhigte sich und versuchte, das Lächeln seines jungen Kollegen zu erwidern.

»Sorry.« Tobias schloss die Tür bewusst leise und zappelte unentschlossen herum.

»Setz dich.« Leitner zeigte auf den Bürosessel vor seinem Schreibtisch.

Heuward flegelte sich in seiner ganzen Länge hinein und strich durch sein lockiges Haar. »Was liegt denn heute so an, Herr Hauptkommissar?«

»Du machst die Befragung weiter.«

»Ich? … Alleine?«

Leitner versuchte zu lächeln. »Hab heute keine Zeit.« Ohne auf eine Antwort zu warten, schleuderte er die Akte über den Tisch.

Widerspenstig klemmte sich Tobias den Vorgang unter die Arme. »Laut Dienstvorschrift sind Befragungen zu zweit durchzuführen.«

Leitner grinste. »Willst du mal gut werden?«

»Ja klar.«

»Dann fahr jetzt. Du weißt, wie das geht. Außerdem bist du dort nicht alleine, zwei Kriminaltechniker sind noch vor Ort. Improvisation gehört bei uns dazu.«

»Kann ich nicht morgen …?«

»Nein, jetzt.«

»Ihr Wort sei mir Befehl«, feixte Tobias, wälzte sich aus dem Stuhl heraus, salutierte und stürmte zur Tür.

»Lass den Quatsch. Ach, übrigens …«

Blitzschnell drehte sich der Lange herum. »Was noch?«

»Vergiss nicht wieder deinen Dienstausweis.«

»Oh Mann.« Tobias verdrehte die Augen, lächelte und verschwand.

Eine halbe Stunde später surrte Leitners Telefon. Ohne auf das Display zu achten, griff er nach dem Hörer. »Leitner.«

»Guten Morgen, Herr Leitner, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.« Es war sein Chef, Jochen Torheim.

»Morgen.«

»Sagen Sie: Ist Herr Heuward in Ihrer Nähe?«

»Nein, ist unterwegs.«

»Richten Sie ihm bitte aus: Ich erwarte ihn morgen um Punkt 9.00 Uhr in meinem Büro.« Das war es, was Leitner an Torheim als unangenehm und aufgesetzt empfand: kompromisslos klare Linie, Führungsnatur, kein Duzen.

»Richte ich ihm aus. Sonst noch was?«

Torheim verneinte und legte auf.

Ein weiterer Anruf kam von seinem Freund Hans Wespers, der in der Polizeidirektion seit fünfzehn Jahren Hauptkommissar im Bereich Organisierte Kriminalität war. Sie tauschten ein paar Neuigkeiten aus, dann kam Wespers schnell zur Sache. »Der eigentliche Grund meines Anrufes ist heute mal überhaupt nicht dienstlich.«

»Schieß los«, erwiderte Leitner.

»Du erinnerst dich doch sicher an unseren alten Kriminalpsychologen?«

»Klar, Doktor Wagenrodt. Wegen seiner piepsigen Stimme nannten wir ihn Spürnase, bis er es eines Tages gewagt hatte, zum Unterricht mit Ringelsocken zu erscheinen. Wie hatten wir ihn dann genannt?«

»Tote Socke«, lachte Wespers.

»Genau. Was ist mit ihm?«

»Er ist seit Jahren im Ruhestand, wie du weißt. Meine Frau und ich haben ihn gestern getroffen und ganz spontan zu einer Weinprobe eingeladen. Diesen Samstag, gegen 19.00 Uhr. Willst du nicht auch kommen? Dann können wir mal wieder ausgiebig plaudern. Oder hast du Bereitschaftsdienst?«

»Das würde mich schon reizen.«

»Heißt das, du kommst?«

»Das lasse ich mir nicht entgehen.«

»Toll. Also, wir sehen uns Samstag.«

»Bis dann, Grüße an deine Frau.«

Leitner schaute auf die Uhr. Der Termin bei Staatsanwältin Trentov drängte. Obwohl er spät dran war, entschied er sich gegen den Fahrstuhl und eilte die Treppen hoch.

Frau Trentov begrüßte ihn schon an der Tür und bat ihn, an ihrem überfüllten Schreibtisch Platz zu nehmen. »Möchten Sie Kaffee, Tee oder ein Wasser?«

»Nichts«, schnaufte Leitner.

»Sie sollten etwas Sport treiben«, gab sie zu bedenken.

Sport? Er war froh, seine tägliche Arbeit zu schaffen, antwortete nicht, zog stattdessen sein Notizbuch aus der Jacke und platzierte es zwischen zwei Aktenstapeln.

Das Gespräch der beiden zog sich in die Länge. Gegen 13.00 Uhr brummte sein Diensthandy in der Hosentasche. Das musste wichtig sein, denn diese Nummern wählte man nur an, wenn es unumgänglich war.

»Augenblick mal, Frau Trentov.«

Die Staatsanwältin nickte ihm verständnisvoll zu. »Kein Problem, Herr Leitner.«

»Leitner.«

Am anderen Ende vernahm er die aufgeregte Stimme von Jochen Torheim: »Herr Leitner, die Zentrale meldet einen neuen Fall. Sie müssen das übernehmen, möglichst gleich. Nehmen Sie Herrn Heuward mit, der braucht Praxis. Wo sind Sie gerade?«

»Ich melde mich gleich zurück.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, beendete er das Gespräch. Achselzuckend schaute er Frau Trentov an. »Ich muss weg.«

»Haben Sie einen Einsatz?«

»Ja.«

»Das geht vor. Sie melden sich bei mir noch mal wegen eines neuen Termins?«

»Mach ich.«

Die beiden verabschiedeten sich. Vor der Tür wählte er die Nummer seines jungen Kollegen. »Tobias, du musst abbrechen und ins Präsidium kommen.«

»Nichts lieber als das, Max. Es ist stinklangweilig hier, ich treffe kaum jemand an. Was gibt’s denn?«

»Ich warte unten vor der Tür.«

»Geil, ich fliege.«

»Fahr vernünftig.« Er wählte die Nummer von Jochen Torheim und ließ sich die Koordinaten des Einsatzortes geben, der westlich von Göttingen mitten im Bramwald lag, einem der großen Waldgebiete im Naturpark Münden.

Mit einer Spezialkarte vom Großraum Göttingen lief er nach unten und zeigte Tobias, der schon mit laufendem Motor vor dem Gebäude wartete, die Stelle. »Hier ungefähr. Ich kenne die Örtlichkeiten nicht. Du vielleicht?«

»Nö. Mit Blaulicht fahren?«

»Mit. Aber nicht so rasen wie beim letzten Einsatz. Zweihundert auf einer viel befahrenen Bundesstraße ist nicht drin«, brummte Leitner.

»Für mich schon. Hast ja doch schlechte Laune.«

»Nein. Bin müde.«

»Warst du auf einer Party?«, grinste Tobias.

»Party, ich? Schlecht geschlafen! Und nun fahr schon.«

»Okay. Maximal hundertfünfzig, dir zuliebe.«

Nachdem sie Göttingen hinter sich gelassen hatten, brauchten sie zwanzig Minuten, verließen die Bundesstraße, fuhren durch kleinere Ortschaften und bogen dann in ein Waldstück ab.

Der Weg wurde holprig. Vereiste Schneereste verwandelten große Flächen in Rutschbahnen, an anderen Stellen hatte der Regen den Boden zu einem weiß-braunen, matschigen Brei aufgeweicht.

Der Himmel verdunkelte sich, es sah nach weiterem Niederschlag aus. Während sie bergauf fuhren, ärgerte sich Leitner, seine Stiefel im Büro vergessen zu haben. »Hast du anständiges Schuhwerk mit?«

»Äh … warum?«

»Könnte da oben ziemlich unangenehm werden.«

»Ach so, nö.« Tobias vollführte eine heftige Lenkbewegung, um einem größeren Ast auszuweichen. »Vielleicht sind welche im Kofferraum.«

Sie schwiegen wieder. Plötzlich musste Tobias scharf bremsen, schlingerte und kam gerade noch rechtzeitig vor einem Wagen zum Stehen, direkt hinter einer Kurve an einem dicht bewaldeten Abschnitt. Eine ganze Kolonne von Fahrzeugen versperrte die Weiterfahrt. Leitner warf ihm einen bösen Blick zu, erkannte dann zwei ältere Kollegen aus dem Polizeidienst. »Hier muss es sein.«

Er stieg aus und grüßte in die Gruppe. »Wo geht’s denn lang?«

Einer der Polizisten zeigte bergauf. »Ist noch ein ganzes Stück da hoch. Kannst du die Markierung sehen? Da oben, Max.«

Nach angestrengtem Augenblinzeln sah er den Anfang eines rot-weißen Flatterbandes, das sich weiter aufwärts im schneebedeckten Wald verlor.

Tobias gesellte sich freudestrahlend dazu, mit Gummistiefeln in den Händen. »Ist nur ein Paar da. Willst du die haben, Max?«

»Nein.« Leitner bemerkte, dass Tobias am ganzen Körper zitterte. Vor Aufregung oder vor Kälte? Der junge Mann wechselte jedenfalls sofort das Schuhwerk und warf sein eigenes Paar auf den Vordersitz, was Leitner nur kopfschüttelnd registrierte.

Sie verließen die Fahrzeuge und stapften durch den klebrigen und nassen Schnee. Das Flatterband wollte nicht enden, sie rutschten und stolperten immer weiter aufwärts durch das teils weiße, teils aufgeweichte modrige Unterholz. Nebelschwaden zogen an ihnen vorbei, und ein leichter Regen verhüllte die Sicht. Aus der Ferne hörten sie endlich Stimmen. Und dann tauchten sie am dunklen Horizont auf – die weiß gekleideten Mitarbeiter der Spurensicherung.

Leitner bekam Magendrücken und Sodbrennen, als sie eine kleine Waldlichtung erreichten.

»Halt, stehen bleiben«, brüllte eine Stimme. Ein aufgeregter Mann mit hochrotem Gesicht kam mit vorsichtigen Schritten auf sie zu und schob seine Kapuze vom Kopf. »Was wollen Sie hier, nicht weitergehen!«

Leitner kannte ihn nicht, zückte instinktiv seinen Ausweis und streckte ihn dem Sprecher entgegen. »Hauptkommissar Leitner, Kripo Göttingen. Dies ist Herr Heuward.«

»Das Foto fehlt noch«, rief der Mann zu einem der weißen Schatten zurück und wandte sich dann wieder den beiden zu. »Die Kollegen, endlich. Verzeihung, ich dachte erst, Sie seien hier unbefugt, Herr … wie war noch mal Ihr Name?«

»Leitner.«

»Ich nehme an, dass Sie den Fall übernehmen. Sie haben scheußliches Wetter mitgebracht.«

»Ja.« Leitner hatte jetzt keinen Sinn für Small Talk, denn seine Magenbeschwerden nahmen zu. »Wer sind Sie

»Entschuldigung. Mein Name ist Landers, Sven Landers. Ich bin neu hier. Habe mich vor Kurzem vom Landeskriminalamt Hannover nach Göttingen versetzen lassen, private Gründe, verstehen Sie?«

Leitner nickte. »Sie kommen vom LKA nach Göttingen? Dann müssten Sie ja beste Kontakte haben?«

Der Mann strahlte ihn kurz an und wurde sofort wieder ernst: »Ja, ich denke schon. Kommen Sie. Sehen Sie sich das mal an, aber vorsichtig. Treten Sie in meine Fußspuren! Widerliches Wetter.«

Nach wenigen Schritten blieb Landers abrupt stehen. Der Nebel verhüllte den Ort längst wie ein Schleier, alles schien grau zu sein. Für einen Moment sprach niemand; die kleinen Bäumchen, der Schneematsch, die durchdringende Nässe und das schaurige Krächzen einer Krähe erzeugten eine geradezu beängstigende Atmosphäre.

»Wo ist denn die Leiche?«, fragte Tobias mit etwas wackeliger Stimme.

Kapitel 2

2015
Bovenden, nördlich von Göttingen

Vorsichtig steuerte er seinen Vierzigtonner rückwärts. In seinem Rückspiegel beobachtete er Kalle, einen der Lagerarbeiter, der ihn mit wilden Armbewegungen an die Laderampe dirigierte. Ein Stück zurück, wieder vorwärts, Lenkrad abwechselnd links oder rechts einschlagen, der Anhänger musste einigermaßen gerade sein Ziel erreichen.

»Stopp«, brüllte Kalle und wedelte mit den Armen. Dies war das Zeichen, auf das er sehnsüchtig wartete. Ruckartig trat er auf die Bremse; mit einem gewaltigen Zischen kam sein Diesel zum Stehen. Endlich konnte er die dröhnende Maschine abschalten. Endlich hatte er Pause. Matthias Dassow, den hier alle nur Matze nannten, sprang aus seinem Führerhaus, machte Dehnübungen und versuchte, die anstrengende Rückfahrt zur Spedition zu vergessen. Er kletterte auf den Beifahrersitz und aß seine Brote, trank dazu Kaffee aus der Thermoskanne.

Nach einer halben Stunde kam Kalle und klopfte an die Tür. Matthias ließ das Seitenfenster herunter. »Hallo Kalle, was gibt es?«

»Matze, der Hänger is fertig. Kannste ma mit der Maschine zur Rampe fah’n? Kriegst noch Ladung für Hamburg.«

Jetzt war Matthias hellwach. »Wieso Hamburg? Ich habe jetzt eine Tour über Osnabrück nach Amsterdam.«

»Null Ahnung, geh ma zum Boss. Wir laden ein paar Sachen ab, und dann kriegste Paletten für Hamburg, mehr weiß ich auch nicht, Matze. Ich mach die Kupplung klar.«

»Ja, danke.«

Der Arbeiter gab ihm ein Zeichen, dass die Anhängerkupplung ausgeklinkt und die Anschlüsse für Bremsen und Elektrik entfernt waren. Dann manövrierte Matthias die Zugmaschine rückwärts an die Laderampe, was ohne Anhänger problemlos ablief.

»Na denn, auf zum Boss«, murmelte Matthias vor sich hin. Warum aufregen? Gelegentliche Änderungen von Routen und Ladungen waren durchaus normal. Er stopfte sich die Ladepapiere und Lieferscheine in die Jeansjacke und kletterte aus seinem Führerhaus.

»Ich kläre das, bin gleich zurück«, rief er Kalle zu, der wieder zu seinen Kollegen auf die Laderampe kletterte.

Pfeifend schlenderte Matthias über den riesigen Hof der Spedition und wich den Eisflächen aus. Ein Hauch von Diesel und Öl lag in der Luft. Ganz am Ende der Rampe gelangte man über eine schmale Steintreppe auf die Ladezone und zur ersten der drei Lagerhallen. Sportlich und groß genug war er, um mit einem seitlichen Schwung direkt auf die Rampe den Weg zur dritten Halle abzukürzen, wozu er aber keine Lust verspürte. So trottete er zur Treppe und nahm den Umweg in Kauf.

Am Tor zur ersten Halle waren Paletten mit Bierkästen umgestürzt. Hunderte von zerschlagenen Flaschen lagen herum, der penetrante Geruch von Hefe hing in der Luft. Ein paar Lagerarbeiter schrien einander an, Matthias’ freundlicher Gruß ging im Trubel unter. Nachdenklich ging er weiter. Die Büroräume lagen im hinteren Teil der Halle 3 auf einer hoch gelegten Etage, zu der eine überdimensionierte Stahltreppe hinaufführte. Alle sechs Räume waren über einen nicht fertig renovierten, nach vorne offenen Flur miteinander verbunden.

Ein Elektrostapler surrte an Matthias vorbei und bog dann zwischen einigen Palettenstapeln so schnell ab, dass eine davon wegrutschte und mit lautem Krachen zu Boden knallte. Die fahren wie die Irren, dachte Matthias. Es war kein Wunder, dass dabei auch mal eine ganze Ladung Bierkisten draufging.

Schon von Weitem konnte er Ernst Meywald brüllen hören, da dessen Zimmer gleich vorn an der Treppe lag und die Tür offen stand. Matthias störte sich nicht daran und trat beherzt in den großen, von Zigarrenqualm vernebelten Raum.

»Ich soll euch zwanzig Mille nachzahlen? Das ist doch der reinste Wucher«, fluchte der beleibte Meywald mit hochrotem Kopf in das Telefon. »Irgendwann komme ich vorbei, schnappe mir jeden Tag einen anderen von euch undankbaren Finanzheinis, und dann …« Er stockte, als er Matthias sah, hielt den Hörer kurz zu und fuchtelte mit der freien Hand herum. »Matze, setzen!«

Dann brüllte er weiter. Seine Umsätze seien rückläufig, die Vorauszahlungen viel zu hoch, und die Beamten sollten alle nur mal einen Tag in seiner Firma malochen, dann wüssten sie, was sie ihm antaten. Wieder stockte er und starrte Matthias irritiert an. »Aufgelegt, der Sack. Na, macht nichts. Werde mit der Vorgesetzten von diesem Spargeltarzan reden, die kenne ich aus dem Schützenverein. Das ist doch die Höhe, legt einfach auf.«

Seine Stimme beruhigte sich, er wirkte fast väterlich. »Wie geht’s, Matze?« Meywald bewegte seine fleischige Hand über den Schreibtisch, ein kräftiger, freundschaftlicher Händedruck folgte.

»Geht so.«

»Was, was, was? Geht so?« Meywald wühlte in einem Haufen Papier und fluchte vor sich hin. Matthias verzichtete auf eine Antwort, da sein Chef ohnehin nicht zuhören würde.

»Hier hab ich’s. Also Matze, pass auf.« Meywald studierte das Papier und zog an seiner Zigarre. Nochmals kramte er in einem zweiten Papierberg und zog ein rötlich schimmerndes Dokument heraus, schüttelte den Kopf und nuschelte irgendetwas von Regress und Stornokosten. Dann schaute er zu Matthias. »Hier ist einiges schiefgelaufen, verdammt schief. Du musst fahren, zuerst nach …« Er zwang seinen massigen Körper aus dem zerschlissenen Chefsessel und drehte sich zur Rückwand des Zimmers, an der eine große Europakarte hing. Keiner der Fahrer hatte je begriffen, warum er sich bei Problemen immer an diese Karte begab und mit seinem schwulstigen Zeigefinger irgendwelche Routen abfuhr.

»Du musst zuerst nach Hamburg. Dann direkt nach Amsterdam, da dann noch mal für Hamburg laden, in Hamburg bei Spedition Heiersdorf abladen, Paletten mitnehmen und dann über Osnabrück zurück.« Meywald hielt inne und nickte selbstzufrieden. Dann pflanzte er sich wieder stöhnend in seinen Sessel und drückte eine Taste auf seiner Telefonanlage. Eine zarte Stimme meldete sich.

»Blümchen, habt ihr die Papiere für Matze fertig? Was, was, was … nein, nicht gleich, jetzt.« Wieder ging sein Blick zu Matthias. »Was macht die Familie, alles schön bei euch?«

Matthias überlegte einen Moment lang, was er antworten sollte. Die Wahrheit interessierte doch niemanden wirklich, also alles wie immer. Gerade als er sprechen wollte, klingelte das Telefon, was Meywald erneut ablenkte. »Ja«, brüllte er in den Hörer, »… was, was, was, liegen geblieben … keine Ahnung. Nein … ja … oh Mann, das kostet wieder. Sieh zu, dass …«

Der weitere Wortschwall ging an Matthias vorbei, jemand tippte ihm vorsichtig auf die Schulter. Frau Blume lächelte und hielt ihm einen Stapel Papiere und eine blaue Mappe entgegen. Statt sie zu begrüßen, strich er ihr über den Arm, kontrollierte instinktiv die Lieferadressen mit den engen Terminvorgaben und rechnete seine Standzeiten aus. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es langsam Zeit wurde, aufzubrechen.

Er grüßte zum Boss hinüber und verließ mit Frau Blume den Raum, den sie hinter sich schlossen, um dem Qualm zu entkommen und schnell noch ein paar Worte wechseln zu können.

»Matze«, donnerte es von drinnen. Frau Blume verschwand winkend im Zimmer nebenan, und Matthias schaute wieder zu Meywald hinein.

»Matze, noch was. Kannst du am Donnerstag um 14.00 Uhr wieder hier sein? Ich hab ’ne eilige Tour nach Mailand für dich.«

Matthias zuckte zusammen, denn das war fast nicht zu schaffen. Außerdem hatte er eine Woche Urlaub beantragt. Er war kurz davor, abzulehnen. Wann sollte er eigentlich mal wieder zu Hause sein? Vielleicht hatte Meywald einen anderen Fahrer? »Hör zu, Ernst. Ich wollte nach dieser Tour erst mal Urlaub machen.«

Unschuldig wie ein Lamm zog Meywald an seiner Zigarre. »Mensch, Matze. Mach das mal für mich, bitte. Ich hab keinen anderen Fahrer für Mailand.« Der bullige Mann wirkte hilflos wie ein neugeborenes Lamm.

Obwohl Matthias dringend Erholung brauchte, sollte es irgendwie machbar sein. Meywald vergaß solches Entgegenkommen nicht und würde sich bei anderer Gelegenheit auch wieder großzügig zeigen. Zudem hatte Matthias eine Sonderstellung unter den Fahrern, da er auch mal größere Speditions- und Umzugsprojekte eigenständig abwickelte. Für diese Großaufträge hatte man ihm vor einigen Jahren im hinteren Bürobereich einen eigenen Schreibtisch eingerichtet und Visitenkarten drucken lassen. Er übernahm dann die gesamte Logistik, Auftragsvergabe und auch die Gespräche mit den Kunden, die Kalkulation hatte ihm Meywald beigebracht. Dieser und die beiden Disponenten waren mit solchen Aufgaben wegen des Tagesgeschäfts überfordert. Was sollte er also anderes machen als zuzusagen?

»Ich bekomme das schon hin«, antwortete Matthias zögerlich, und Ernst Meywald strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

Noch ein Händeschütteln zum Abschied, dann verschwand Matthias schnell über die Stahltreppe, da Meywald schon wieder telefonierte. Mit dem Finanzamt, was trotz verschlossener Tür unüberhörbar war.

Draußen empfing ihn Kalle, der ihm beim Ankoppeln des Hängers half. Mit einem dreifachen Hupen rollte Matthias vom Hof.

Um gegen die aufkommende Müdigkeit anzukämpfen, sprach er zwischendurch laut mit sich selbst und zählte die Namen der Raststätten zwischen Hamburg und Amsterdam auf.

Der Kurierdienst im Süden Hamburgs schloss um 18.00 Uhr. Die gesamte weitere Routenplanung hing davon ab, dass er diesen Termin halten konnte. Er schaute auf seine Uhr. Selbst die kleinste Pause durfte er sich jetzt nicht mehr leisten. Auch glatte Straßen und allzu viele Staus mussten ausbleiben!

Sein rechtes Bein drohte einzuschlafen. Die Dämmerung setzte ein, was seinen Zustand nur noch verschlimmerte. Sein Körper versagte ihm ganz allmählich den Dienst. Nur der sture Wille war gefragt, kein Selbstmitleid, keine seelische Schwäche, bloß nicht an Probleme denken. Nur ankommen wollen!

Er musste sich beschäftigen: Eine kurze Strecke fuhr er mit dem linken Fuß auf dem Gaspedal, um das rechte Bein auf dem Beifahrersitz massieren zu können. Immer schön den vor ihm fahrenden Laster im Blick behalten, die Rücklichter anstarren, bis sie anfingen zu tanzen, dann nach oben schauen, dann wieder die Rücklichter fixieren …

Später schlug er sich mit geballter Faust an den Beinen entlang, einmal hoch, einmal runter. Das hatte ihm seine siebenjährige Stieftochter Celina beigebracht, die diesen Trick aus ihrem Kinderchor mitgebracht hatte. Das sei gut für die Durchblutung und für alles überhaupt, hatte sie ihm leise ins Ohr geflüstert. Der Gedanke an seine beiden adoptierten Mädchen ließ ihn für einen Moment hellwach werden, es war ihm, als redeten sie auf ihn ein.

Dann kam die Dunkelheit. Es war ihm zumute, als führe sein Körper ganz allein und er schaute von oben zu. Immer wieder schüttelte er sich wach, öffnete und schloss die Scheibe an der Fahrerseite, um den eiskalten Fahrtwind einzusaugen und in Bewegung zu bleiben. Die Lichter der vorbeiziehenden Fahrzeuge verschwammen zu grell tanzenden Lichterketten, seine Augen brannten wie Feuer. Er steuerte wie eine programmierte Maschine geradeaus, links, rechts, geradeaus.

Nur mit dem letzten Rest an Überlebenswillen erreichte er sein Ziel. 17.51 Uhr! Die Lagerarbeiter vor Ort fluchten über den späten Gast, beruhigten sich aber schnell, da sie bemerkten, dass seine Augen selbst im Stehen immer wieder zufielen. Jede Bewegung schmerzte ihn. Abladen, Liefer- und Palettenscheine austauschen, alles war reine Routine und schnell erledigt.

Mit letzter Kraft steuerte er den Lkw zur Seite, stellte den Wecker auf zwei Stunden später. Eigentlich wollte er nie wieder aufstehen, in Ewigkeit schlafen. Auf dem Beifahrersitz meldete sich sein Handy mit dem typischen Klingeln der Sechzigerjahre, aber Matthias lag bereits in der Schlafkabine, konnte nicht mehr aufstehen. Er hörte noch die Arbeiter verschwinden, es wurde stockfinster und ganz still auf dem Hof. Nur ein Hund jaulte in der Ferne und begleitete ihn in den kurzen, traumlosen Schlaf.

Als sein Wecker rasselte, wusste er einen Moment nicht, wo er war. Instinktiv suchte er den Lichtschalter, tastete nach einer halb vollen Mineralwasserflasche, goss sich einen Teil der Flüssigkeit ins Gesicht und trank den Rest aus. Vor seinem Vierzigtonner machte er seine Dehnübungen und sog den eiskalten Wind tief in die Lungen. Die zwei Stunden Schlaf reichten ihm, um wieder fit zu sein. Genüsslich verzehrte er eine Frikadelle, startete dann den Dieselmotor und fuhr pfeifend in die Nacht hinein. Sein nächster Halt war die Raststätte Bentheimer Wald, direkt an der niederländischen Grenze, hier musste er tanken und die vorgeschriebene Pause von fünfundvierzig Minuten einlegen.

Er drehte das Radio laut auf und grölte die alten Schlager mit, bis ihm die Stimme den Dienst versagte.

Seine gute Stimmung verflog, als es plötzlich im Stil der Sechzigerjahre klingelte. Das Display zeigte ihm an, dass es seine Frau Birte war. Sie hatten nun vier Tage nicht mehr miteinander gesprochen. Augenblicklich übermannte ihn sein schlechtes Gewissen, aber er ließ es klingeln. Wie sollte er ihr erklären, dass wieder ein Wochenende zu Hause ausfiel, er stattdessen irgendwo in Bella Italia festsitzen würde? Oder sollte er rangehen und es ihr ohne Umschweife mitteilen? Sie würde ganz sicher wütend werden …

Das Klingeln hatte aufgehört. Was sollte er ihr morgen sagen? Er wusste es nicht, verzweifelt drehte er die Musik noch lauter.

Nach dem Tanken fuhr er zu den Lkw-Rastplätzen und wählte den Platz ganz am Ende der Parkbuchten. Da er sich nicht müde fühlte, ging er zurück zum Servicebereich und bestellte sich eine Portion Spaghetti bolognese.

Seine Familie ging ihm nicht aus dem Sinn. Birte und er kannten sich vier Jahre, vor drei Jahren heirateten sie. Die beiden Kinder, Celina und Jessica, waren zum Zeitpunkt der Hochzeit vier und sieben Jahre alt. Für ihn war es keine Frage: Er hatte sie selbstverständlich adoptiert, da der Vater der beiden an Krebs verstorben war. Es dauerte nicht lange und die beiden Kinder nannten ihn erst Matze-Papa, später nur noch Papa.

Wenn er damals nach längerer Abwesenheit zurückkam, stürmten alle auf ihn ein, sie tollten herum, und es folgten zärtliche Nächte mit Birte. Er war der Hahn im Korb, und alles drehte sich um ihn, was für tolle Zeiten! Vor zwei Jahren veränderte Birte plötzlich ihr Verhalten. Sie wurde strenger zu den Kindern und fing an, seinen Job als Fernfahrer zu verachten.

Hatte er sich verändert? Was war bloß die Ursache dafür, dass Birte ihn nicht mehr begehrte? Waren es die Kinder, denen er vielleicht zu viel Aufmerksamkeit widmete in den wenigen Tagen, die er zur Verfügung hatte? Was sollte er bloß tun?

Es wurde Zeit, weiterzufahren. Grübelnd durchquerte er das nächtliche Holland.

Kapitel 3

2015
Friedland, südlich von Göttingen

Celina und Jessica verließen das Haus. Birte hatte Kopfschmerzen vor lauter Stress, den ihre Töchter jeden Morgen verursachten, nahm eine Tablette und legte sich auf das Sofa. Sie genoss die Stille und schlief ein.

Stunden später klingelte es an der Tür, und ganz überraschend kam Evi Suderbach, ihre einzige Freundin, zu Besuch. Müdigkeit und Kopfschmerz verflogen augenblicklich; eine ganze Weile lagen sie sich in den Armen, bis Birte sie in das Wohnzimmer zog. »Setz dich, Evi, oh, ich freu mich so, dich zu sehen. Was wollen wir trinken? Das ist ja endlich mal eine richtig schöne Überraschung.«

Evi klatschte in die Hände. »Na, was wohl? Hast du Sekt oder so was da?«

»Wir feiern mit Champagner, was denn sonst! Der Haushalt kann warten.« Im Kühlschrank standen noch zwei edle Flaschen vom letzten Geburtstag. Sie gab Evi eine davon zum Öffnen.

Evi war, anders als sie selbst, eine große, selbstbewusste und attraktive Frau. Sie kannten sich aus der Kindheit und waren zehn Jahre lang gemeinsam zur Schule gegangen. Schon immer war Evi unternehmungslustig gewesen und stachelte die zierliche Birte immer wieder an, manch einen Schabernack mitzumachen. Sie kletterten auf Bäume, fingen Frösche, klauten Gemüse von den Feldern. Wenn Birte keine Lust mehr hatte, ließ sich Evi sofort etwas Neues einfallen. Und sie hatte Birte geradezu liebevoll beschützt. Immer, wenn diese in der Schule von Jungen angepöbelt wurde, verprügelte Evi die Burschen, bis sie von ihr abließen.

Als die beiden im Alter von dreizehn Jahren in die Pubertät kamen, ging Evi eines Tages mit Birte tief in einen Wald hinein. Sie zogen sich aus, streichelten und küssten sich. Anfänglich zierte sich Birte, später fand sie es großartig.

Nach der Schulzeit verloren sie sich aus den Augen. Birte ging auf Anraten ihrer Eltern auf eine Haushaltsschule und wollte eigentlich Köchin werden. Evi machte mit Ach und Krach noch ihr Abitur, widmete sich dann ihrem Motorradführerschein und fuhr in ganz Europa herum. Nach diesen Touren jobbte sie so lange, bis sie wieder genügend Geld für eine neue Reise zusammenhatte. Von ihren verstorbenen Eltern hatte sie ein kleines Vermögen geerbt, das sie Birte gegenüber als ihre Altersvorsorge beschrieb und niemals angriff.

Als Birte dann heiratete, meldete sich Evi überhaupt nicht mehr.

Nachdem Birtes erster Ehemann verstorben war, nahm Evi wieder Kontakt mit ihr auf. Dabei vergingen oft Monate, bevor sie sich wiedersahen. Denn sie war immer lange unterwegs, und ihre Reisen wurden, nach Birtes erneuter Heirat, zunehmend exotischer und waghalsiger.

Evi füllte die Gläser, und sie prosteten einander zu.

Birte bekam glänzende Augen vor Freude. »Wo bist du denn gewesen?«

»In Südamerika.«

»Mit dem Motorrad?«

»Logisch.«

Evi schien nicht sonderlich gesprächig zu sein und wirkte abwesend. Sie trank hastig, schenkte sich schnell nach.

Birte platzte vor Neugierde. »Jetzt erzähl mal ein bisschen, Evi. Ich kann’s immer noch nicht fassen, dass du jetzt hier sitzt. Nun mach schon.«

Evi lächelte gedankenversunken und streichelte Birtes Wangen. »Ich musste oft an dich denken.«

»Ja, ich auch«, tuschelte Birte etwas verunsichert. Irgendetwas musste Evi auf dem Herzen haben. »Ist was passiert?«

»Ich habe eine anstrengende Fahrt von Rotterdam hinter mir.«

»Du bist bestimmt wieder gerast, oder?«

»Ich wollte dich sehen, so schnell wie möglich. Südamerika war nicht so toll.«

Birte fing an, sich Sorgen zu machen. »Was ist denn los mit dir?«

Ihre Freundin trank ein weiteres Glas. »Hatte lange keinen Champagner mehr, superlecker. Ich glaube, ich muss mal wieder nach Frankreich«, wich sie aus.

»Ich habe noch eine zweite davon, trink ruhig weiter, wenn du magst«, erwiderte Birte artig und holte die Flasche.

Evi gab sich einen Ruck und begann zu erzählen.

Sie war mit einem Tankschiff nach Cartagena in Kolumbien gefahren. Von dort aus hatte sie mit dem Motorrad kleinere Tagestouren unternommen, um die Küstenlandschaft zu genießen. Zwei Wochen später war sie dann ins Landesinnere aufgebrochen, wobei ihr das tropische Klima, der Regen und fiebrige Erkältungen zugesetzt hatten.

Ihr Ziel war die Hauptstadt Medellín, die die Einheimischen Stadt der Blumen nennen. Aufgrund angenehmerer Temperaturen war sie abends oft unterwegs, umringt von fröhlichen und hilfsbereiten Menschen.

In einer Bar hatte sie Jesus Salvatore und Miguel kennengelernt, die ebenfalls mit Motorrädern unterwegs waren. Sie verständigten sich mit Händen, Füßen und einem Kauderwelsch aus Englisch und Spanisch. Die beiden Freunde kamen aus Ecuador und betrieben in Quito eine kleine Kfz-Werkstatt, mit der sie neun Personen ernähren mussten. Sie wollten in Kolumbien den ersten Urlaub ihres Lebens verbringen, wofür sie fast zwanzig Jahre gespart hatten.

Evi erzählte den beiden von ihrem Vorhaben, Südamerika von Nord nach Süd durchqueren zu wollen. Sie waren davon so begeistert, dass sie ihre eigenen Pläne verwarfen, ihr Ecuador zeigen und ihre Familien vorstellen wollten. Außerdem hielten sie es für zu gefährlich, dass sie als Frau allein unterwegs war. Evi hatte dies zunächst als Machogehabe abgetan. Dann fand sie die Idee einer gemeinsamen Reise nach Ecuador aber spannend, zumal die beiden sie einfach als weiblichen Motorradfreak bewunderten und sie nicht belästigten.

Eine Woche später fuhren sie südwärts. Der nächste große Zwischenstopp sollte Ipiales sein, eine Grenzstadt zu Ecuador, in der die Männer für ihre Familien billig Schuhe einkaufen wollten. Als Fahrstrecke einigten sie sich auf den Pan American Highway, den Jesus Salvatore als Touristenroute für dicke Amis zunächst abgelehnt hatte.

Unterwegs hatte Miguel die Idee, einen Abstecher in den Regenwald zu machen. Das Wetter war gut, Evi und Jesus Salvatore hatte er damit überzeugt, dass man schließlich die drei Motorradspuren gut zurückverfolgen konnte. Es klang einfach, nur mal ein oder zwei Stunden hineinfahren und dann zurück. Außerdem versprach es Fahrspaß und Abwechslung vom eintönigen Reisen auf dem Highway.

Sie folgten einem verrotteten Hinweisschild zu einem Dorf, zwei tiefe Furchen von Autoreifen deuteten darauf hin, dass dort irgendwo Menschen leben mussten. Schnell wurde der Weg zum Trampelpfad, verschwand dann mit den Autospuren ganz. Es ging kreuz und quer durch das schier endlose Grün, erforderte das ganze fahrerische Können der drei.

Nach etwa einer Stunde verdunkelte sich der Himmel, es begann zu regnen. Innerhalb weniger Minuten verwandelten sich die Tropfen in Wasserfluten, dann schüttete es wie aus Eimern, bis sie nichts mehr sehen konnten.

Sie hatten die zerstörerische Kraft dieser Wassermassen völlig unterschätzt, denn von ihren eigenen Reifenspuren war nichts mehr zu sehen. Stellenweise hatten sich tiefe Tümpel gebildet, die sie nun zu Fuß umgehen mussten. Höchste Wachsamkeit war geboten, um im Gestrüpp nicht von Giftschlangen gebissen zu werden.

Nicht lange, dann stritten sie über den richtigen Weg zurück, stapften verärgert durch das grau-grüne, dampfende Nass, an Motorradfahren war nicht mehr zu denken.

Der Regen ließ nach, aber noch immer verbarg sich die Sonne, die die ungefähre Richtung zurück zum Highway hätte zeigen können, hinter einem stockfinsteren Himmel.

Evi Suderbach schwieg und trank. Birte wurde unruhig und schenkte ihr nach. Wieder nahm Evi einen kräftigen Schluck und sprach dann langsam weiter: »Wir hatten uns hoffnungslos verirrt. Und dann tauchten mitten im Wald Badewannen auf und …«

»Badewannen?«, redete Birte dazwischen.

»Ja, alte, verrottete Badewannen! Miguel erklärte mir, dass diese Dinger für die Herstellung von Kokain benutzt werden.«

»Kokain? Ich fass es nicht.«

»Ja, du musst dir vorstellen: Die Koka-Pflanze wächst dort in den Feuchtgebieten an jeder lichten Ecke. Die Einheimischen kauen die Blätter wegen der belebenden Wirkung oder trinken sie als Tee gegen Zahnschmerzen. Aber aus der Koka-Pflanze wird im Dschungel auch Kokain hergestellt. Ich hatte schreckliche Angst, Jesus Salvatore und Miguel diskutierten laut und so schnell, dass ich nichts mehr verstehen konnte. Und dann passierte es …« Evi bekam feuchte Augen.

»Oh Gott«, rief Birte.

Evi weinte. »Plötzlich kamen fünf maskierte Männer mit Maschinengewehren auf uns zu, wollten …«

»B… bitte?« Birte verschluckte sich vor Aufregung.

»Wir konnten nichts machen, wir mussten mitgehen und die Motorräder mühsam durch den nassen Wald schleppen, bis wir wieder einen Weg erreichten. An einer alten, heruntergekommenen Hütte sollten wir halten. Dann fing Jesus Salvatore an zu schimpfen, und einer der Männer erwiderte etwas, bis sich die beiden nur noch angeschrien haben. Der Typ machte dann eine Handbewegung, dass Salvatore ihm folgen sollte. Die beiden stritten weiter, gingen ein Stück in den Wald, und dann hörte man Schüsse und …« Evi weinte jetzt hemmungslos. Birte sprang zu ihr und nahm sie in die Arme.

»Dieses Schwein hat Jesus Salvatore hingerichtet, verstehst du, Birte, einfach abgeschlachtet wie ein Stück Vieh!«, brach es aus Evi heraus.

Birte wusste nicht, was sie machen sollte, blieb einfach bei ihr sitzen und streichelte ihrer schönen Freundin über die Haare. Schluchzend fuhr diese fort: Miguel und sie wurden getrennt, sie musste in der Hütte bleiben und wurde von einem der Maskierten bewacht. Die anderen vier gingen mit Miguel tiefer in den Wald. Um den toten Jesus Salvatore kümmerte sich niemand mehr.

Ihre anfänglichen Versuche, mit dem Mann zu sprechen, scheiterten. Er gab ihr unmissverständlich zu verstehen, dass sie still sein sollte, und drohte dabei mit der Waffe. Am Mittag bekam sie dann schrecklichen Hunger. Der Maskierte warf ihr ein Bündel Bananen zu und deutete wieder an, dass sie schweigen solle.

Trotz ihrer Höllenangst, die sie förmlich lähmte, musste sie einen Fluchtplan entwickeln. Vor der Hütte waren die Motorräder abgestellt, das Reisegepäck war unversehrt, niemand hatte die Zündschlüssel an sich genommen. Sie musste vor der Dämmerung weg sein, denn in der schnell einsetzenden Dunkelheit hätte sie keine Chance gehabt. Die grobe Richtung, in die sie fliehen musste, hatte sie herausgefunden, indem sie die Bewegung der Sonne studiert hatte. Diese stand wieder hoch am Himmel und knallte erbarmungslos durch ein kleines Dachfenster.

Im hinteren Teil der Hütte war es so dunkel, dass sie nur einen Tisch erkennen konnte, auf dem irgendwelche Gegenstände herumlagen. Vielleicht würde der Mann einschlafen? Oder sollte sie den nächsten Tag abwarten? Möglicherweise würde man Miguel und sie einfach wegschicken?

Plötzlich stöhnte der Mann laut auf, riss sich die Maske vom Kopf und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Dann murmelte er ein paar spanische Wortfetzen, die sie verstanden hatte – er sagte so etwas wie große, schöne Frau und Liebe machen.

»Nein, Evi«, rief Birte entsetzt.

Evi winkte ab. »In diesem Moment war klar, ich musste sofort etwas unternehmen.« Wieder rollten ihr ein paar Tränen über das Gesicht, die sie schnell mit den Händen wegwischte. »Ich musste diesen schmierigen Kerl von seiner Knarre weglocken. Und ich musste ihn schwindelig machen. Den ganzen Tag über hatte er Koka-Blätter in sich hineingestopft und war ziemlich benebelt. Und dann habe ich etwas gemacht, was ich noch nie zuvor getan habe.«

Entgeistert starrte Birte sie an und warf vor Aufregung ihr Glas um. Es zersprang mit einem hellen Knall auf dem Tisch. »Ist nicht schlimm, mach ich nachher weg. Das ist ja eine furchtbare Geschichte, sprich weiter«, bettelte sie.