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Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Schwaben-Rache

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Schwaben-Wut

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Schwaben-Engel

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Schwaben-Filz

Schwaben-Liebe

Schwaben-Freunde

Schwaben-Finsternis

Schwaben-Träume

Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, evangelischer Theologe, lebt in der Nähe von Stuttgart. Er veröffentlichte bisher sechsunddreißig Bücher. Seine Schwaben-Krimi-Reihe mit den Kommissaren Steffen Braig und Katrin Neundorf umfasst mittlerweile neunzehn Romane in einer Gesamtauflage von über 600.000 Exemplaren.

Klaus Wanninger

Schwaben-
Fest

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Originalausgabe
© 2017 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: info@kbv-verlag.de
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von © Wildis Streng - www.fotolia.de
Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-95441-381-2
E-Book-ISBN 978-3-95441-393-5

Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

1. Kapitel

Ende September befand sich die halbe Stadt im Ausnahmezustand. Straßen und Wege rings um den Neckarpark waren für den normalen Verkehr gesperrt, Zufahrten und Rampen abgeriegelt, Läden und Erdgeschosswohnungen im weiten Umfeld mit dicken Kartons und massiven Brettern verbarrikadiert. Arbeiter und Angestellte des Ordnungsamtes schoben seit Tagen Überstunden, die Beschäftigten der Straßenreinigung und der Müllabfuhr fügten sich in die lange zuvor angeordnete Urlaubssperre. Alle Polizeibeamten der Stadt und des Umlandes standen in Alarmbereitschaft. Private Sicherheitsdienste fahndeten seit Monaten im gesamten Land händeringend nach Personal, jedes menschliche Wesen, das eine einigermaßen aggressive, dazu noch abschreckende Miene aufzusetzen imstande war, wurde umgehend rekrutiert. Sämtliche Feuerwehren und Rettungsdienste im Umkreis von 100 Kilometern standen Gewehr bei Fuß. Die Notaufnahmen aller Krankenhäuser waren mit dem gesamten verfügbaren Personal besetzt, zusätzlich hielten sich siebzehn verschiedene Ärzte Tag und Nacht bereit. Schwerstarbeit für alle Einsatzretter der Umgebung war für die nächsten Wochen angesagt. Stuttgart feierte wieder sein Cannstatter Volksfest.

Tausende fleißige Hände hatten dafür gesorgt, das gesamte Areal des Cannstatter Wasens zwischen der stark frequentierten Mercedesstraße und dem Neckar in einen einzigen gewaltigen Rummelplatz zu verwandeln. Jeder Quadratmeter des weitläufigen Geländes war von den Behörden bis ins letzte Detail verplant, jedes Eck, jeder Platz mit akribischer Sorgfalt unter den großen Brauereien und Festwirten der Region aufgeteilt und von diesen mit Zelten, Bänken und Tischen möbliert worden. Kleine Bäume und Sträucher in großvolumigen Kübeln schmückten die Wege. Zelte, Pommes- und Wurststände reihten sich aneinander. Karussells, Autoscooter, Wurfbuden, Geisterbahnen samt gigantischem Riesenrad boten ihre Dienste an.

Wie in jedem Jahr zu Beginn des kalendarischen Herbstes üblich war auf und rund um das Gelände 17 Tage lang die Hölle los. Menschenmassen aus nah und fern zwängten sich durch die viel zu schmalen Wege. Alte wie Junge, Frauen und Männer genossen die hautnahen Kontakte, unverhofften Begegnungen, die Musik, das Essen, die Getränke.

Budenbetreiber, Wirte und Brauereien frohlockten angesichts der Umsätze. Je länger der Rummel währte, desto ausgelassener wurde die Stimmung. Bier und Wein flossen, spätsommerliche Wärme sorgte für Durst. Alkoholiker und Quartalssäufer ließen alle Hemmungen fallen. Mehr und mehr Besucher gerieten außer Rand und Band.

Am Freitagabend, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, schien ein vorläufiger Höhepunkt erreicht. Alexander Ratz, Oberbürgermeister einer kleinen Stadt im Umland, leerte sein sechstes oder siebtes Glas, erhob sich leicht schwankend von seinem Platz, klammerte sich mit der Linken am Tisch fest. Er blickte in die Runde: Parteimitglieder, Geschäftsleute, Familienangehörige, Freunde – allesamt Leute, die ihn in den vergangenen Jahren auf seinem erfolgreichen Weg nach oben begleitet hatten und ihm weitgehend wohlgesonnen waren. Er betrachtete ihre verschwitzten Mienen.

»Ond, was isch jetzt mit dem Misstrauensantrag von dene Herre Oppositionelle?«, rief eine kräftige, von allzu viel Alkoholkonsum gekennzeichnete Männerstimme. »Hent se dich ins Schwitze bracht, die Greane?«

Ratz thronte inmitten der Runde, sah die gespannten Gesichter der Leute. Er spürte die Schweißperlen auf seiner Stirn, wischte sie mit dem Handrücken weg. Der Politiker genoss die Situation, ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Im Mittelpunkt zu stehen, von einer Menschenmenge umringt, die sich der herausragenden Stellung, zu der er es gebracht hatte, bewusst war, gab ihm den ultimativen Kick. Momente wie diese, in denen Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung, einfache Leute genauso wie Einflussreiche, zu ihm aufsahen und auf seine Worte warteten, entschädigten für all den Stress und Ärger, der im Alltag in den verschiedensten Formen immer aufs Neue auf ihn wartete.

Ratz spürte alle Herrlichkeit des Lebens in sich pulsieren. Er reckte seinen Stiernacken in die Höhe. »Ob die mi ins Schwitze bracht hent?«, brüllte er in die laue Septembernacht. »Die – mi?«, verschärfte er seinen Ton. Ratz fühlte Wellen der Erregung durch seinen Körper laufen. Die Kapelle schmetterte die letzten Takte des Besoffen auf Malle – und verstummte. Für einen Moment war es überraschend ruhig im Zelt. Der Bürgermeister unterdrückte das Ziehen seiner vollen Blase, nutzte die Gunst des Augenblicks. »Nur über meine Leich, han i gsagt«, schrie Ratz in das vielstimmige Menschengemurmel, das vermischt mit verschiedenen Melodien aus den Nachbarzelten zu hören war, »anders kommet ihr net an meinen schöne Poste na!« Er reckte seinen kräftigen Stiernacken noch weiter in die Höhe.

Zustimmendes Johlen und Klatschen setzte ein.

Ratz schien über sich selbst hinauszuwachsen. »I bin Manns genug, dene zu zeige, wo’s langgeht!«, brüllte er in die grölende Menge. Er schwenkte sein leeres Glas durch die Luft, reichte es einem Mitarbeiter, der sich dienstbeflissen um den flüssigen Nachschub kümmerte.

»Und dann han i’s dene ihrem Rädels… äh, Fraktionsführer, dem Granatedackel ins Gsicht nei gsagt: I bin der Oberbürgermeister dieser wunderschönen, einzigartigen Stadt, ond deshalb wird bei uns immer no des gmacht, was i sag. Ond was ihr wellet, kümmert mi an Scheißdreck!« Er genoss die zustimmende Begeisterung seiner Zuhörer. »An Scheißdreck«, wiederholte Ratz laut, mit sich überschlagender Stimme, »verstandet ihr greane Pflanzefresser des überhaupt?«

Laute Ovationen brandeten über ihn herein.

»Ratzfatz han i’s dene gsagt!«, donnerte der Bürgermeister. »I bin der Ratz ond hier wird gmacht, was i will! Merket euch des!«

Die abrupt einsetzenden Rhythmen der Musikkapelle stahlen ihm die Show. Ratz genoss die Szene trotzdem. Er hatte es zu etwas gebracht in seinem Leben, mit seiner eigenen Hände Werk, durch seinen Fleiß, Cleverness, die geschickte Wahl der wichtigsten Freunde. Seine Stadt war zwar nur eine unter vielen im Umkreis, weder besonders schön noch irgendwie von Bedeutung, er hatte es aber durch geschicktes Agieren und die treffende Wortwahl geschafft, dies vergessen zu machen. Mit bewusst großspurigem Auftreten und den richtigen Parolen war es ihm gelungen, immer mehr Einwohner vom Gegenteil zu überzeugen. Und jetzt kamen diese grünen Spinner daher und hielten die Finger auf die wunden Punkte der Stadt. Anstatt sein Lebenswerk zu bejubeln, wagten sie es, ihn mit immer neuen Attacken zu diskreditieren.

Voller Ärger über die aktuellen politischen Probleme nahm Ratz das Glas, setzte es an den Mund und leerte es unter dem Beifall der Tischnachbarn bis auf den letzten Tropfen. »Ihr hent wohl denkt, der packt’s net, wie?«, tönte er, spürte den Druck auf seine Blase. Der Drang im Unterleib ließ sich nicht länger unterdrücken.

Ratz schob sich vom Tisch weg, bewegte sich schwerfällig durch die eng stehenden, dicht besetzten Bankreihen. Überall intensive Gespräche, laute Stimmen, Gelächter. Er überhörte die Kommentare, die hinter ihm hergerufen wurden, steuerte in die Richtung der nächstgelegenen Toiletten. Weit über ein Dutzend Frauen und Männer standen wartend davor.

»Sie hent’s au eilig, wie?«, kommentierte ein unruhig hin und her tänzelnder, deutlich angetrunkener junger Mann.

Ratz fühlte sich unwohl, winkte ab. Er hatte weder Lust noch Zeit, sich auf ein Gespräch einzulassen oder gar darauf zu warten, bis er an der Reihe war. Dringende Probleme auf die lange Bank zu schieben, das war er nicht gewöhnt. Ohne die Leute vor den Toiletten länger zu beachten, bewegte er sich durch die dicht gedrängte Menschenmenge. Er spürte, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, kämpfte sich an einer Gruppe laut johlender Teenies vorbei. Ratz wusste genau, wo er sein dringendes Bedürfnis in aller Schnelle erledigen konnte, hatte das Volksfest in den vergangenen Jahren oft genug besucht. Man musste nur darauf achten, sich nicht von einem der diensthabenden Beamten dabei erwischen zu lassen, sonst …

Ratz starrte kurz nach rechts, dann nach links, bog in den dunklen Winkel unmittelbar hinter der Rückwand einer der Buden ab. Niemand folgte, kein Mensch hatte es bemerkt. Er bewegte sich noch drei, vier Schritte durch den Dämmer, nestelte an seinem Reißverschluss, öffnete den Schlitz. Jeder Augenblick zählte.

Als er endlich alles in die richtige Position gebracht hatte, schoss der Strahl in weitem Bogen auf den kaum erkennbaren Untergrund. Erleichtert schloss der Bürgermeister die Augen, atmete tief durch. Mehrere Gläser verdauten Gerstensaftes verschwanden im Dunkel der Nacht. Langsam ließen die Schmerzen nach, entspannte sich die Muskulatur.

Als Alexander Ratz die Augen wieder öffnete, erspähte er im Dämmerlicht die Umrisse eines menschlichen Körpers vor seinen Füßen. Genau an der Stelle, wo sein Strahl auf den Boden traf. Die Person bewegte sich nicht, unternahm keinen Versuch, der übel riechenden Flüssigkeit auszuweichen. Sie lag einfach leblos vor ihm, die bürgermeisterlichen Ausscheidungen mitten auf dem seltsam verrenkten Leib.

2. Kapitel

Der Fotograf wedelte mit seiner Rechten durch die Luft, formte mit den Lippen ein lautloses Cheese. Schlagartig veränderte sich der Gesichtsausdruck der meisten Leute vor ihm. Die Köpfe weit nach vorne gereckt, starrten sie mit breitem Grinsen in seine Kamera.

»Tschiiiiiiiiiiiiiiiiiiiissssssssss«, schallte es ihm vielstimmig entgegen.

Er nutzte die Gunst des Augenblicks, drückte auf den Auslöser. Die Begeisterung der Porträtierten schwoll unüberhörbar an. Laute Beifallsrufe, schnoddrige Kommentare, girrendes Gelächter.

»Wunderbar«, meldete er sich zu Wort, bevor die Gruppe wieder in Bewegung kam, »und jetzt noch einmal dasselbe!« Erneut nahm er seinen Arm zu Hilfe, um sich mit heftigen Bewegungen Aufmerksamkeit zu verschaffen, nutzte dann das disharmonisch-schrille Stimmenwirrwarr, das einem neuerlichen Cheese nahekommen sollte, zu einer weiteren Aufnahme.

Steffen Braig, leitender Hauptkommissar beim Stuttgarter Landeskriminalamt, hatte das Getöse schon von Weitem vernommen, als er kurz nach 17 Uhr an diesem Freitagabend nach Hause gekommen war. Aufgeregtes Geschnatter, kurze Kommentare kräftiger Männerstimmen, gefolgt von immer wieder neu aufflammendem, schrillem Gelächter, eine Handvoll hin und her wuselnder und Gesichter und Menschengruppen ins Visier nehmender Fotografen, und in der gesamten Umgebung kaum mehr passierbare Gehwege und verstopfte Straßen, weil alles kreuz und quer mit großen Karossen zugeparkt war. Erst das grimmige Gesicht Dr. Genkingers, seines Vermieters, hatte ihn wieder daran erinnert, was da auf dem Nachbaranwesen zugange war.

»Hätte ich mir doch in der Wilhelma eines von den Stinktieren besorgt und denen mitten ins Festbankett gesetzt«, hatte ihn der Tierarzt in seiner Wohnung oben empfangen. Gemeinsam mit Braigs Partnerin und Tochter hatte er die Einweihungsfeierlichkeiten betrachtet.

»Aber, aber, Herr Doktor. Wissen Sie denn unsere politische und wirtschaftliche Elite nicht zu schätzen?«, hatte er gefrotzelt.

Dr. Genkingers Antwort hatte nicht lange auf sich warten lassen. »Doch. Genau deswegen wünsche ich ihnen doch den Kontakt mit ihren nächsten Verwandten.«

Braig konnte die Verstimmung des Tierarztes nachvollziehen, hatte ihn die Veränderung des benachbarten Anwesens im Gefolge des Verkaufs an neue Besitzer doch ebenfalls keineswegs ruhig gelassen. Über Monate hinweg hatten sie mit ansehen müssen, wie das alte, von einem rechteckigen Erker und zwei schmalen Dachgauben geprägte Haus unmittelbar neben Dr. Genkingers Grundstück von Bauarbeitern in Angriff genommen und Stück für Stück seines ursprünglichen Aussehens beraubt worden war. Nach Auskunft des Poliers hatte sich das Mauerwerk als marode erwiesen, sodass es notwendig geworden war, das Gebäude fast vollständig zu entkernen. Diesen Umstand hatten sie genutzt, es in deutlich modernerer Form wieder aufzubauen.

Der Erker und die Gauben waren auf der Strecke geblieben, stattdessen ein von vielen Glas- und Stahlelementen gekennzeichnetes Haus entstanden. Braig war gerne bereit, ihm einen gewissen Charme zu attestieren, hatte man die meisten neuen Elemente doch in überraschend filigranen Formen ausführen lassen. Die Atmosphäre der Umgebung hatte sich seiner Empfindung zufolge dennoch zum Nachteil verändert. Primäre Ursache dafür war der Verlust des alten, verwilderten Gartens. Einen großen Teil des üppigen Grüns hatten die neuen Besitzer durch eine, wie er urteilte, kahle Steinwüste ersetzen lassen. Helle Kieselsteine, terrassenförmig voneinander abgesetzt, betteten das Gelände auf drei Seiten ein, nur im unmittelbaren Eingangsbereich von einem halben Dutzend Bonsaisträuchern ergänzt.

Voller Neugier und mit steigendem Verdruss hatten sie in den vergangenen Monaten gemeinsam mit ihrem Vermieter die Veränderung des Nachbargrundstücks verfolgt, juristisch ohnmächtig, weil alle vorgeschriebenen Bauleitlinien wie auch die notwendigen Abstände zur Grenze eingehalten worden waren.

»Metzger, Autohändler oder Zahnärzte. Die Handschrift ist eindeutig.« Dr. Genkingers ironisch formulierte Mutmaßungen bezüglich des Berufs der neuen Nachbarn hatten sich nur zur Hälfte als korrekt erwiesen, war die Ehe der Bauherren doch – per Klatsch und Tratsch binnen kurzer Zeit in der gesamten Umgebung genussvoll verbreitet – schon in den ersten Wochen der Renovierungsarbeiten zerbrochen. Womit der abtrünnige Partner sein Geld verdiente, war unbekannt geblieben, dass die Bauherrin jedoch in ihrer Zahnarztpraxis mehr als genug zur Seite legen konnte, hatte sich in den folgenden Monaten am eifrig fortschreitenden Baugeschehen deutlich erkennen lassen. Die in der Nachbarschaft schnell aufgekeimten Hoffnungen auf ein Ende des Umbaus hatte der familiäre Umbruch jedenfalls nicht erfüllt – im Gegenteil: Der Elan der Bauherrin schien jetzt endgültig von allen Fesseln gelöst. Und dann hatte sie – offensichtlich kein Kind von Traurigkeit – nur wenige Wochen später einen neuen Mann an ihrer Seite präsentiert.

Braig erinnerte sich noch allzu gut an den Moment, als er die stämmige Gestalt zum ersten Mal über die Baustelle hatte spazieren sehen. »Was will der denn da?«, hatte er, eine dicke Schicht Gänsehaut auf seinem Rücken, laut geäußert.

Ann-Katrin hatte die immer häufigeren Auftritte des Mannes auf dem Nachbaranwesen nicht weniger erschrocken verfolgt, waren ihr die Unannehmlichkeiten, denen sich ihr Partner durch die berufliche Zusammenarbeit mit ihm ausgesetzt sah, doch seit Jahren zur Genüge bekannt. »Der wird doch nicht …«

Er hatte es aber doch getan. Etwa ein halbes Jahr, nachdem sie ihn zum ersten Mal die Fortschritte der Umbaumaßnahmen hatten begutachten sehen, war ihnen ein bunter, grafisch sehr gewitzt aufgemachter Brief ins Haus geflattert, auf dem er freundlich lächelnd Arm in Arm mit der mehr als einen Kopf kleineren und sicher um ca. 60 bis 70 Kilogramm leichteren Bauherrin sowie einer jungen Frau posierte.

Herzliche Einladung zur Einweihungsfeier
unseres neuen gemeinsamen Hauses!
Zusammen mit unseren neuen Nachbarn wollen wir
am Mittwoch, den 27. September ab 19 Uhr auf unsere
nachbarschaftliche Zukunft anstoßen.
Dr. med. dent. Nicolette Mander mit Katharina
und Eduard Söderhofer (Oberstaatsanwalt)
.

Ann-Katrins heftiges: »Oh nein, müssen wir da hin?«, hatte Dr. Genkinger sofort mit einem eindeutigen: »Ohne mich!«, gekontert und zielgerichtet einen seiner Vorträge auf diesen Abend terminiert. Dass der Tierarzt die Einladung so elegant umgehen konnte, hatte mit dem großen Erfolg seiner im Vorjahr kreierten Wunderpille für Hunde zu tun. Als Erfinder der Bad Cannstatter Dog-Power, deren Erlös er verschiedenen Tierheimen zukommen ließ, wurde er immer häufiger zu Vorträgen eingeladen, um über die Wirkung des neuen Präparates auf Tiere zu referieren.

Süffisant grinsend hatte er seinen Mietern mitgeteilt, wie sehr er es bedauere, sie zur Einweihung des Steinwüstenbunkers leider nicht begleiten zu können. »Ich hoffe aber, ihr werdet unsere alte Hütte gebührend vertreten.«

Vor den Nachbarn waren jedoch die bedeutenderen Persönlichkeiten geladen. Am Freitag Söderhofers Parteifreunde aus dem Gemeinderat, am Samstag die Kolleginnen und Kollegen der Zahnärzte und Juristen und am Sonntag die Familienangehörigen, wie der Oberstaatsanwalt Braig mitgeteilt hatte.

»Braig, wie Sie bemerkt haben, werden wir in Zukunft in unmittelbarer Nachbarschaft leben. Das wird für Sie und Ihre Frau sicher nicht einfach sein, ausschließlich akademisch gebildete Persönlichkeiten in Ihrer Nähe zu wissen. Das intellektuelle Niveau unserer Kommunikation wird Sie oft überfordern, zumal ich mich ohnehin überwiegend in den Kreisen unserer politischen und wirtschaftlichen Elite bewege. Aber, im Notfall, lieber Braig – einfach fragen. Einer von uns Gebildeten wird Ihnen schon helfen! Um von Anfang an eventuelle Berührungsängste erst gar nicht aufkommen zu lassen, haben wir unsere Einweihungsfeierlichkeiten gesplittet. Das ist doch ganz in Ihrem Sinn, lieber Braig. Stellen Sie sich vor, Sie als schlichter Polizeibeamter müssten den Abend inmitten all der wichtigen Entscheidungsträger unserer Stadt und des Landes verbringen. Mit wem sollten Sie und Ihre Frau sich denn unterhalten? Langer Rede kurzer Sinn: Lieber Braig, Sie und Ihre Frau sind herzlich zu unserer Einweihungsfeier am Mittwoch der nächsten Woche eingeladen!«

Braig war lange genug gezwungen, beruflich mit dem Mann zusammenzuarbeiten, um sich noch über irgendeine Äußerung oder Verhaltensweise des Oberstaatsanwalts zu wundern.

»Wenigstens bleibt euch so der direkte Kontakt mit diesen öffentlichkeitsgeilen Wichtigtuern erspart«, hatte Dr. Genkinger sie getröstet.

Kurz vor 18 Uhr an diesem Freitagabend schien die Anzahl der Gäste auf ihrem Zenit angelangt. Jeder Quadratzentimeter der Umgebung, ob Gehweg, Hauseinfahrt oder Straße, war zugeparkt, kaum noch ein Durchkommen möglich. Paar für Paar strebte dem neu eröffneten Anwesen zu, Fotografen wuselten durch die Menge, das Stimmengewirr erreichte volksfestähnliche Ausmaße. Braigs Partnerin hatte längst die Flucht ergriffen, um samt ihrer Tochter ihre Schwester zu besuchen, die in einer Stuttgarter Gemeinde als Pfarrerin tätig war.

»Lust auf eine kleine Fahrradtour?«

Braig sah das verschmitzte Grinsen des Tierarztes, wusste sofort, was sein Vermieter im Schilde führte. »Oh nein, nicht schon wieder!«

»Zwei Jungs sind noch da. Die wollen in die Freiheit«, konterte Dr. Genkinger.

»Und wo spielt die Freiheit?«

»Wo leben die Reichen und Schönen? Immer noch Richtung Killesberg, oder?« Der Tierarzt grinste übers ganze Gesicht. »Noch ist es warm draußen. Eine kleine Radtour durch den Rosenstein-Park. Unsere Gesundheit wird es uns danken.«

Wenige Minuten später waren sie unterwegs. Zwei Männer auf Fahrrädern, der eine mittleren, der andere fortgeschrittenen Alters, sportlich gekleidet, die am stärksten von Autos terrorisierten Straßen möglichst meidend. Vom Cannstatter Kurpark über den Neckar, an der Wilhelma vorbei die Anhöhe des Rosensteinparks erklimmend. Jenseits des Nordbahnhofs über die Gleise den Killesberg hoch, ab und an von seltsam schrillen Schreien vom rückwärtigen Teil ihrer Fahrräder her begleitet.

Die Dämmerung war längst hereingebrochen, das Tageslicht der Dunkelheit mehr und mehr gewichen. Die Häuser inzwischen niedriger, von großen Schwimmbecken, millimetergenau geschnittenen Rasenflächen und hohen Mauern gesäumt, die Autos noch größer, breiter, wuchtiger.

»Hier sind wir doch richtig, oder?« Heftig atmend kam der Tierarzt zum Stehen.

»Das sind wirklich die letzten zwei?«, vergewisserte sich Braig.

»Wenn mir keine Neuen gebracht werden, ja«, versicherte Dr. Genkinger. Er machte sich an dem kleinen Kasten auf seinem Gepäckträger zu schaffen, schob eine Klappe hoch, sah dem mit einem schrillen Zirpen eilig in der Dunkelheit untertauchenden, flinken Vierbeiner nach. »Viel Glück und guten Appetit«, scherzte der Veterinär, öffnete dann die Klappe auf Braigs Fahrrad und schenkte dem zweiten Tier die Freiheit.

Die Luft war immer noch angenehm warm, der Herbst in weiter Ferne, als sie sich auf den Rückweg machten.

»Wie viele waren das in diesem Jahr?«, fragte Braig.

»Vierunddreißig, wenn ich mich richtig erinnere.«

»Na ja, Hauptsache, sie sind wieder in Freiheit.«

»Und ein paar Karossen weniger auf den Straßen unterwegs«, ergänzte Dr. Genkinger.

Vor mehreren Jahren schon hatte sich der Tierarzt bereit erklärt, in der Umgebung gefangene Marder zu pflegen und sie dann später fern der Stadt irgendwo im Wald wieder auszusetzen. Seit mehreren Jahren genoss er es, den Tieren ihre Freiheit zu schenken, auf seine Art.

Die Straßen und Gehwege waren weitgehend leer, nur noch wenige Fahrzeuge zu sehen, als sie wieder zu Hause ankamen. Keine Menschenansammlungen mehr, keine Fotografen, kein Stimmengewirr.

»Was ist jetzt los?«, wunderte sich Braig. »Die werden doch unsere politische Elite nicht schon nach Hause geschickt haben?«

Sie hatten gerade die erste Bierflasche geöffnet, als sich sein Handy meldete. Mit einer ihm allzu gut bekannten, Unheil verkündenden Melodie. Er griff in seine Tasche, nahm das Gespräch an.

»Wo immer Sie sich aufhalten, Braig, ich benötige Sie auf der Stelle!«

Die altbekannte Stimme brachte ihn augenblicklich in Wallung. Konnte das wahr sein? War der Kerl nicht mehr mit seinen Einweihungsfeierlichkeiten beschäftigt? Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten und Gänsehaut über seinen Rücken kroch. »Söderhofer«, flüsterte er Dr. Genkinger zu.

Braig musste an sich halten, nicht sofort loszubrüllen, gab seinen Missmut deutlich zu verstehen. »Wieso rufen Sie mich an? Sind Sie nicht mehr beim Feiern?«

»Feiern? Was faseln Sie da? Braig, ich benötige Sie! Auf der Stelle!« Der Oberstaatsanwalt schien zu explodieren. Übertönt von unzähligen Hintergrundgeräuschen polterte er in sein Handy, dass es Braig in den Ohren schmerzte. Er feierte anscheinend doch noch. Aber, wie es klang, eher irgendwo im Freien.

»Was ist passiert?«

»Was wohl? Erinnern Sie sich noch an Ihren Beruf? Mitten auf dem Volksfest! Ich gebe Ihnen zehn Minuten!«

Oh nein, schoss es Braig durch den Kopf. »Ein Anschlag?«, fragte er mit gedämpfter Stimme.

»Nix da!«, brüllte Söderhofer. Er schien den Ausdruck bewusst zu vermeiden. War er etwa darum bemüht, in seiner Umgebung keine Panik auszulösen? So viel Sensibilität war Braig von dem Mann nicht gewöhnt. »Wo sind Sie?«, erkundigte er sich.

»Wo wohl? Direkt an Ort und Stelle. Klassisches Delikt«, hörte er die Antwort. Jetzt mit nicht mehr ganz so kräftiger Stimme.

Klassisches Delikt. Braig war sofort klar, was das zu bedeuten hatte. Söderhofers geschwollene Ausdrucksweise war allen, die mit dem Mann zu tun hatten, bekannt. Ein Mensch war ums Leben gekommen, auf welche Weise auch immer. Und das anscheinend mitten in diesem Massenbesäufnis!

»Zehn Minuten, Braig!«, schallte es ihm ins Ohr. »Zwei Beamte warten am Eingang hinter dem Cannstatter Bahnhof.«

Er seufzte laut auf, steckte das Handy weg.

»Ein Toter?«, fragte Dr. Genkinger.

Braig nickte. »Auf dem Volksfest. Und Söderhofer mit dabei. Lässt einfach seine Gäste im Stich. Seltsam.«

Wenige Minuten später hatte er den Augsburger Platz, die nahe Haltestelle der Stadtbahn erreicht. Er nahm einen der angesichts des Volksfestes auch um diese Zeit noch in kurzen Abständen verkehrenden Züge, suchte nach einem Platz. Die Bahn war gut besetzt. Überall, wohin er auch sah, bestens gelaunte Menschen. Er drückte sich an einer Gruppe laut lachender, junger Frauen vorbei, ließ sich auf einem freien Zweier nieder.

Dass ein im privaten Kreis verbrachter Abend ein dienstlich bedingtes, abruptes Ende fand, war nichts Neues. Zwar kam es selten vor, dass die Kollegen der Nachtschicht nach einem der erfahreneren Kommissare riefen, ausschließen konnte er es jedoch nicht. Sahen sie sich einem Delikt gegenüber, das mit einer aktuellen Untersuchung in Verbindung zu stehen schien, war es ratsam, den zuständigen Ermittler sofort hinzuzuziehen. Ebenso, wenn es sich um ein besonders schweres oder Aufsehen erregendes Geschehen handelte, das nach einer intensiven Begutachtung verlangte. Zu fast jeder Stunde des Tages beruflichen Aufgaben zur Verfügung zu stehen gehörte zu den Pflichten seines Berufes – Braig hatte lange benötigt, sich damit abzufinden. Verbrecher gleich welcher Couleur hielten sich nun einmal nicht an die üblichen Bürozeiten – im Gegenteil, Wochenenden und Feiertage waren ähnlich bevorzugte Aktionszeiten wie die Stunden nach dem Einbruch der Dunkelheit. Wann und wohin er gerufen wurde – er wünschte sich nur, konzentriert und in Ruhe arbeiten zu können, mit den gewohnten Kollegen und den seit Jahren bewährten Methoden. Und genau diese elementare Voraussetzung einer erfolgreichen Ermittlung schien heute in Gefahr. Söderhofer, dieser arrogante Phrasendrescher, hatte nicht nur seine Einweihungsfeierlichkeiten sausen lassen, nein, seinen Worten nach befand er sich an Ort und Stelle, weshalb auch immer. Braig wusste nur zu gut, was das an zusätzlichem Kraftaufwand bedeutete.

Er lehnte sich in seinem Sitz zurück, seufzte laut. Eine der jungen Frauen bedachte ihn mit einem überraschten Gesichtsausdruck. Er wandte den Kopf zur Seite, schaute aus dem Fenster. Die Bahn hatte den Uff-Kirchhof erreicht, war genau vor dem Kirchengebäude zum Stehen gekommen. Die Scheinwerfer eines Polizeifahrzeugs tauchten die Straße vor der Friedhofsmauer in ein grelles Licht. Braig sah die beiden ineinander verkeilten Autos mitten auf dem Asphalt, bemerkte das heftige Gestikulieren zweier Männer, die einen uniformierten Polizeibeamten zu beeinflussen versuchten. Menschen schienen nicht zu Schaden gekommen zu sein, jedenfalls waren keine Verletzten und auch kein Krankenwagen zu sehen.

Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, pflügte durch das nächtliche Bad Cannstatt. Braig streckte seine Beine von sich, genoss jede Sekunde, in der ihm die Begegnung mit dem Oberstaatsanwalt erspart blieb. Bahnfahren, ob in der Stadt oder über Land, schenkte ihm oft die einzigen Momente der Ruhe inmitten seines meist von Stress und Hektik geprägten Alltags. In einem Zug Platz zu nehmen und sich in einem der Sitze zurückzulehnen, ermöglichte es ihm, wenigstens für eine kurze Zeit aus der Realität abzutauchen und sich von all dem Dreck und Elend zu befreien, in dem zu wühlen er beruflich ständig gezwungen war. Wann immer es möglich war, nutzte er die Minuten oder auch Stunden unterwegs, um innezuhalten und neue Kraft zu schöpfen. Wie andere sich einen ruhigen Platz irgendwo in der Natur suchten oder sich in einem stimmungsvollen Café mit einem Cappuccino für ein paar Augenblicke aus ihrem Leib und Seele belastenden Stress ausklinkten, genoss Braig die Zeit in einem Zug, um unbehelligt von ständig neuen beruflichen Anforderungen aus dem Fenster zu schauen und meditierend in der vorbeifliegenden Landschaft zu versinken. Oft gab er sich der unauffälligen Beobachtung anderer Reisender hin, er lauschte ihren Gesprächen und erhielt so innerhalb kurzer Zeit unverstellte Einblicke in die Lebenswirklichkeiten anderer Menschen.

Er müsse lernen, sich nicht den ganzen Tag über von den Ermittlungen in Beschlag nehmen zu lassen, hatte er während seines Studiums auf der Polizeihochschule in Villingen-Schwenningen gelernt, er solle immer wieder nach kurzen Auszeiten suchen, die es ihm ermöglichen, den Kopf freizubekommen und neue Energie zu tanken. Er solle jeden Tag aufs Neue für kurze Phasen der Regeneration sorgen, sonst hätte er auf Dauer keine Chance, die berufliche Belastung zu bewältigen. Er erinnerte sich noch genau an die Gewohnheit seines Ausbilders, eines älteren Hauptkommissars an seiner ersten Dienststelle in Mannheim, mitten während der Ermittlungen für eine viertel oder halbe Stunde auf einem an der Strecke gelegenen Friedhof abzutauchen, um dort auf einer stillen Bank neue Kraft zu gewinnen. Von vielen Kollegen für seine Marotte verspottet, hatte sich der Mann nicht beirren lassen; seine weit über die Dienststelle hinaus bekannte, hohe Aufklärungsquote hatte Braig angespornt, sich daran ein Beispiel zu nehmen. Nicht Friedhöfe jedoch, sondern die ständig wiederkehrenden Momente in der Bahn hatte er als seine Chance entdeckt, für kurze Zeit aus der Realität auszusteigen und neue Kräfte zu mobilisieren. Dem Chauffeur vorne an der Spitze des Zuges oblag es, sich um das Erreichen des Ziels zu kümmern, Braig lehnte sich derweil in seinem Sitz zurück und überließ sich seinen Gedanken.

An diesem Abend allerdings blieb ihm keine Zeit, länger abzutauchen. Der Fahrer hatte den Wilhelmsplatz ausgerufen und war kurz darauf an der Haltestelle zum Stehen gekommen. Als Braig gemeinsam mit dem größten Teil der Fahrgäste auf die Straße trat, fand er sich in einem unübersehbaren Pulk lärmender Volksfestbesucher wieder. Bier-, Sekt- und kleine Schnapsflaschen in den Händen bewegte sich die grölende Masse durch den Cannstatter Bahnhof auf das Festgelände zu. Selbst zu dieser schon recht späten Stunde quollen aus fast jedem der in kurzen Abständen eintreffenden Züge immer neue Mengen bestens gelaunter, teilweise bereits alkoholisierter, meist junger Leute, viele in bunte Dirndl und kurze Lederhosen gekleidet.

Braig ließ sich treiben, versuchte, über die jetzt schon sichtbaren Auswüchse hinwegzusehen. Glasscherben, leere Flaschen und Dosen auf dem Boden, würgende und sich übergebende Männer und Frauen an den Seiten, aggressiv aufeinander einschreiende, angetrunkene Gestalten. So sehr er vor Jahren noch das ausgelassene Treiben amüsiert zur Kenntnis genommen hatte, stand er ihm inzwischen wesentlich reservierter gegenüber. Wochenlang mit Glasscherben, Essens- und Getränkeresten, Verpackungsmüll und Kotze in allen Variationen verschmutzte Gehwege, Plätze und Bahnen in der gesamten Region, dazu die drastische Zunahme alkoholbedingter Unfälle, Schlägereien und Verletzungen waren inzwischen Jahr für Jahr die normalen Begleiterscheinungen der fünfzehntägigen Festivitäten. Angetrunkene, pöbelnde, auch dem Sicherheitspersonal gegenüber immer aggressiver und rücksichtsloser auftretende Männer gehörten fast schon selbstverständlich zu den Belustigungen auf dem Wasen.

So hatten sich das der württembergische König Wilhelm I. und seine Frau Katharina vor 200 Jahren wohl kaum vorgestellt, als sie 1818 das Volksfest ins Leben riefen, ging es Braig durch den Sinn. Drei Jahre zuvor waren bei den mehrere Wochen andauernden Ausbrüchen des Vulkans Tambora im fernen Indonesien gigantische Massen an Staubpartikeln in die Atmosphäre eruptiert worden, aus denen sich riesige, ganze Länder bedeckende Wolkenkomplexe gebildet hatten. Die gewaltigen Staubformationen waren innerhalb kurzer Zeit von den Winden über weite Bereiche der nördlichen Erdhalbkugel verteilt worden, was das Eindringen der solaren Strahlung in die Lufthülle auf ein Minimum reduzierte. Die daraufhin folgende globale Abkühlung führte 1816 in großen Teilen Asiens, Europas und Nordamerikas zum Ausbleiben des Sommers. Die Ernten fielen so gering aus, dass flächendeckende Hungersnöte und Seuchen das Leben zur Hölle machten. Württemberg mit den kargen Karstböden der Alb und seiner nach den napoleonischen Kriegen ohnehin geschädigten Wirtschaft war von den Folgen dieser Klimaveränderung ganz besonders betroffen: Ganze Landstriche versanken in Armut und Elend, Auswanderungswellen nach Russland und Amerika setzten ein. Um Unruhen und Aufständen vorzubeugen, verfiel das Königspaar auf die Idee, ein Volksfest ins Leben zu rufen. Das Festvergnügen der damaligen Zeit ließ sich mit dem heutigen Geschehen allerdings kaum vergleichen, wusste Braig. Schausteller und Alkoholausschank spielten in den ersten Jahrzehnten nämlich eine absolute Nebenrolle. Angesichts der ausgelassen feiernden, teilweise unübersehbar alkoholisierten Menschen um ihn herum ein kaum vorstellbarer Zustand.

Er hatte den hell erleuchteten Eingang des Volksfestgeländes erreicht, steuerte auf die Gruppe uniformierter Kollegen zu, die die an ihnen vorbeiströmende Menschenmenge aufmerksam musterten. Er zog seinen Ausweis, hielt ihn einer jungen Beamtin hin, erkundigte sich nach dem Vorfall. Die Frau hatte Mühe, ihn zu verstehen, begriff erst im dritten An lauf, worum es ging. Lautes Lachen, Kreischen, Schimpfen, quietschende Karussells, lärmende Achterbahnen drohten jede Unterhaltung zu ersticken.

»Ich begleite Sie«, versuchte sie den Lärmpegel zu übertönen. Sie verständigte einen ihrer Kollegen, winkte Braig, ihr zu folgen.

Er bemühte sich, sie nicht aus den Augen zu verlieren, drückte sich hinter ihr durch die Menge. Der Weg war hell ausgeleuchtet, auch die Buden, Zelte und Achterbahnen um sie herum erstrahlten in grellem Licht. Wohin er auch sah, überall fröhliche Mienen. Sie kamen nur langsam vorwärts, hielten sich an der rechten Seite. Und dann, mitten in diesem Wirrwarr ausgelassen feiernder, miteinander scherzender und vor Vergnügen kreischender Menschen sah er den Mann. Söderhofers wuchtiger Schädel ragte unmittelbar neben einer der unzähligen Buden im Zentrum eines grell ausgeleuchteten Areals aus der Menge.

Braig signalisierte der jungen Beamtin, dass er sein Ziel entdeckt hatte. Die Leute standen jetzt dicht gedrängt nebenund hintereinander, fast alle in die Richtung des hell aus der Umgebung getauchten Geländes starrend. Er zwängte sich mühsam nach vorne, erntete unwillige Bemerkungen, lautes Schimpfen, aggressive Kommentare. Eine Melange aus den verschiedensten menschlichen Ausdünstungen und biergetränktem Atem in der Nase erreichte er die von mehreren uniformierten Kollegen bewachte Absperrung. Er wies sich aus, schlüpfte unter dem rot-weiß gestreiften Band durch. Als er sich wieder aufrichtete, hatte er den Oberstaatsanwalt unmittelbar vor sich.

Braig blieb stehen, schnappte nach Luft. Er glaubte, nicht richtig zu sehen, musste an sich halten, nicht laut loszuschreien.

»Was will denn jetzt au noch der Kerl?«, kreischte eine tiefe, von reichlich Alkoholgenuss gezeichnete Stimme direkt hinter ihm.

»Die sollet jetzt endlich bekannt gebe, was da bassiert ischd«, krakeelte ein anderer.

Braig nahm das Geschrei kaum wahr, hatte nur Söderhofer im Blick. Die füllige, über 1,90 Meter große Gestalt versuchte, wild mit den Händen gestikulierend, mitten in dem hell ausgeleuchteten Areal auf Helmut Rössle und Dr. Kai Dolde, zwei der profiliertesten Spurensicherer des Landeskriminalamtes, einzuwirken. Er war mit einer kurzen, nicht einmal zur Mitte seiner Oberschenkel reichenden Lederhose, einem rot-weiß karierten Hemd und auf der Brust gekreuzten, ledernen Hosenträgern bekleidet.

Braig musste unwillkürlich an eine dieser unsäglichen als Heimatfilme deklarierten Klamotten denken, in denen urwüchsig aussehende Gestalten jodelnd und in einem primitiven Takt mit den Händen auf ihre Oberschenkel klatschend im Kreis umhersprangen und eine Art heiserer Brunftschreie von sich gaben. Er hatte noch nie verstanden, was Menschen veranlasste, sich freiwillig in solch lächerlichen Posen zu präsentieren, fand Söderhofers Darbietung derart peinlich, dass er ohne jede Überlegung in ein unablässiges Kopfschütteln verfiel. Es mochte ja angehen, wenn Jugendliche in überschäumender Lebenslust das Volksfest zum Anlass nahmen, sich so folkloristisch zu kleiden. Ein mitten im Leben stehender Erwachsener jedoch, dessen Körper die ersten Alterserscheinungen nur noch schwer zu verbergen imstande war …?

Er warf einen letzten Blick auf den Staatsanwalt, fühlte sich zunehmend abgestoßen. Ober- und unterhalb der kurzen Lederhose quollen dicke Fleischwülste hervor, das rot-weiß karierte Hemd wölbte sich kugelförmig wie bei einer Hochschwangeren über dem Bauch. Dazu die speckigen, dicht behaarten Beine des Mannes …

»Hier erteile allein ich die Anweisungen«, hörte er ihn rufen.

Braig riss sich aus seiner Erstarrung, trat ins Licht.

»Alle Idiote von Sindelfinge, Sie hent uns gar nix zum Sage!«, kam die Antwort Rössles nicht weniger laut zurück.

Er sah, wie sich der Spurensicherer von Söderhofer abwandte, prallte mit dem Kollegen zusammen.

»Ah, du bisch es!«, schimpfte Rössle. »Na prima. Dann viel Vergnüge mit dem Lederhoseseppl da!«

Braig hatte Mühe, nicht laut loszulachen, verkniff sich einen zustimmenden Kommentar. Er nickte seinen Kollegen freundlich zu.

»Da sind Sie endlich! Noch eine Runde geschlafen?« Söderhofers Begrüßung ließ ihn jede Zurückhaltung vergessen. Der Mann hatte eine Bierfahne, dass es ihm fast den Atem raubte. Seltsam, wo er doch sonst immer den Konsum dieses proletarischen Getränks vehement ablehnte.

»Wie sehen Sie denn aus?«, blaffte er zurück. »Frisch aus dem Bierzelt, was?«

»Richtig, Braig. Mit meiner kompletten Gemeinderatsfraktion. Der Heimat wie der Tradition ergeben, falls Ihnen diese Verpflichtung noch etwas bedeutet.«

»Heimat?«, wandte Braig ein. »Seit wann ist Stuttgart Ihre Heimat? Sonst jammern Sie doch ständig über das kleinbürgerliche Niveau unserer Region.«

»Richtig, mein lieber Braig. Aber wie Sie wissen, habe ich gerade meiner staatsbürgerlichen Verantwortung Tribut gezollt und mich in Ihrer Nähe niedergelassen. Und um die Verbundenheit meiner Partei mit Stuttgart zu demonstrieren, haben wir beschlossen, unsere Einweihungsfeier hier auf dem Volksfest fortzusetzen. Ich glaube, das kann selbst so ein schlichtes Gemüt wie Sie verstehen.«

Braig wandte sein Gesicht zur Seite, weil Söderhofers Bierfahne vehemente Ekelgefühle in ihm auslöste. »Aha«, sagte er. »Schön, dass auch so ein schlichtes Gemüt wie ich über die spießige Umgebung hier aufgeklärt wird. Aber sagen Sie, seit wann trinkt eine intellektuell so abgeklärte Person wie Sie so ein proletarisches Getränk wie Bier?«

»Wie Sie wissen, neige ich normalerweise zu weniger gewöhnlichen Genüssen. Um aber meine Verbundenheit mit dem normalen Volk öffentlich zu demonstrieren, ist mir kein Opfer zu groß.«

Zum zweiten Mal an diesem Abend spürte Braig, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten und eine Gänsehaut über seinen Rücken kroch. Er kannte das politische Engagement des Staatsanwalts zur Genüge, fühlte sich seit Jahren schon von den heuchlerischen und polemischen Parolen genervt. In Lederhosen ins Bierzelt, der Tradition und der Heimat verpflichtet, das passte zu der scheinheiligen Bande. Und es offenbarte, wo deren Wählerklientel zu Hause war. Garantiert hatten sie vorher sämtliche Fotografen und Fernsehteams über ihre volksverbundene Unternehmung benachrichtigt, damit ja alle im Land über das heroische Verhalten der Truppe informiert waren.

»Was genau ist passiert? Und weshalb rufen Sie mich, wieso nicht die ordnungsgemäße Bereitschaft?«

»Braig! Begreifen Sie nicht, wo wir hier sind?« Söderhofer streckte seinen Arm aus, drückte ihn von der Menge weg an die Rückwand der nahen Bude, wo eine blickdichte Plane jede Einsicht versperrte. »Wir haben ein klassisches Delikt, hier, mitten in diesem Trubel! Wissen Sie, was das bedeutet? Diskretion und noch einmal Diskretion und sehr viel Fingerspitzengefühl. Sie glauben doch nicht, dass Ihre impertinente Kollegin … Die Festivitäten, sie müssen ungestört weiterlaufen, wir dürfen den Menschen doch nicht ihren wohlverdienten Spaß verderben, um Gottes willen!«

Braig hatte augenblicklich verstanden, welche Befürchtung den Mann umtrieb. Was immer geschehen war, die Geschäfte der Veranstalter durften nicht gestört werden. Auf keinen Fall. Das war das A und O, das Einzige, was zählte. Und wenn das Leben sämtlicher Besucher gefährdet war, der Betrieb musste weiterlaufen, die Umsätze und die Profite durften auf keinen Fall beeinträchtigt werden. Deshalb hatte Söderhofer vermieden, die ordnungsgemäße Bereitschaft zu rufen, aus Angst, seine Kollegin Neundorf könne sich damit nicht einverstanden zeigen und eine Räumung des Geländes verlangen, um einer ordentlichen Durchführung der Untersuchungen gewachsen zu sein. »Frau Neundorf hat heute wieder ein Wochenendseminar an der Polizeihochschule in Villingen-Schwenningen übernommen. Sie steht uns erst wieder am Dienstag zur Verfügung.« Er bemerkte Söderhofers überraschte Miene, sah, wie der Mann die Plane zur Seite schob.

»Lassen wir das, Braig. Kommen wir endlich zur Sache.«

Braig versuchte, sich zu beruhigen, folgte ihm zu dem vor allen unbefugten Blicken gesicherten Areal hinter der Bude. Es handelte sich um einen schmalen Streifen asphaltierter Fläche am Rand des Volksfest-Geländes, der mit leeren Flaschen, Dosen, zerfetzten Kartonagen und unzähligen Steinen übersät war. Mittendrin die auf dem Boden kniende Gestalt des Gerichtsmediziners, der sich an einem vor ihm hingestreckten, leblosen Körper zu schaffen machte. Um die obere Körperhälfte des Toten erstreckte sich eine dünnflüssige, dunkle Lache.

Braig hielt einen Moment inne, atmete kräftig durch. So oft er sich in seinen mehr als zweieinhalb Jahrzehnten Berufserfahrung auch schon mit dem Anblick und der Untersuchung toter Menschen konfrontiert gesehen hatte, zur Routine war ihm dieser Vorgang nicht geworden. Smarte, mit coolem Grinsen von einer Leiche zur nächsten spazierende Kommissare gab es nur in primitiven Fernsehkrimis – mit der Realität, wie er sie kannte, hatte das nichts zu tun. Einen gerade verstorbenen Menschen zu begutachten, gehörte zu den unerfreulicheren Momenten seines Berufes – auch langjährige Praxis hatte daran nichts geändert. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es Kollegen gab, die das anders empfanden.

»Der Stein hier könnte es gewesen sein. Ich bin mir ziemlich sicher«, erklärte der Arzt, an den Spurensicherer gewandt. »Sie haben ein gutes Auge, Herr Rössle.« Er drückte sich vorsichtig vom Boden hoch, nahm überrascht Braigs Anwesenheit wahr. »Na, da haben wir ja gleich den Richtigen informiert.« Er streifte den Plastikhandschuh von seiner Rechten, reichte sie dem Kommissar.

»Hallo, Doktor«, grüßte Braig. »Auch nichts Besseres vor heute Abend.«

Dr. Schäffler ließ ein kurzes Lachen hören. »Nein. Wie auch. Das ist schon der Dritte innerhalb der letzten Stunde. Erst zwei 18-jährige Raser in einem BMW, jetzt der hier. Passt gut zu der Stimmung der Umgebung, nicht wahr?«

Braig verstaute seine Hände und Schuhe in Plastiküberzügen, beugte sich zu dem Toten nieder. Ein nur noch schwer zu identifizierender, älterer Mann, mit einem langen, ursprünglich wohl hellen Hemd und einer weiten Freizeithose bekleidet. Seine rechte Schädelhälfte war stark deformiert und von unzähligen Wunden, Rissen und Hämatomen übersät, sein Gesicht wie nach einer Säure- oder Pfeffersprayattacke zu einer grauenhaften Fratze entstellt. Und dann ging noch ein sonderbarer Geruch von ihm aus …

»Ich habe mit dem bloßen Auge Hautreste und Haare an dem Stein erkennen können«, erklärte Dr. Schäffler. »Fehlt nur noch die Vergleichsanalyse.«

»Dann wurde er hier erschlagen«, überlegte Braig laut. »Angesichts der Menschenmenge dort vorne wohl nicht anders zu erwarten. Woher rühren die Verätzungen im Gesicht? Pfefferspray?«

»Das ist möglich, ja«, stimmte der Gerichtsmediziner zu. »Ich könnte mir vorstellen, dass er damit außer Gefecht gesetzt wurde. Pfefferspray oder ähnliches Material, das muss ich mir noch genauer anschauen. Anschließend konnte ihn der Täter mit dem Stein malträtieren. Regelrecht totschlagen. Einiges von den Verletzungen im Gesichtsbereich stammt vielleicht auch noch von einem ungeschützten Aufprall auf den Boden. Aber dazu kann ich jetzt noch nichts Genaueres sagen.«

»Wann etwa ist es passiert?«, erkundigte sich Braig.

Der Gerichtsmediziner musterte den Toten. »Ich schätze, er ist seit etwa zwei Stunden tot.« Er warf einen Blick auf seine Uhr, hörte Braigs Schlussfolgerung.

»Gegen 20 Uhr.«

»So etwa, ja. Auf jeden Fall war zu der Zeit hier auf dem Wasen die Hölle los. Da wagt es selbst der skrupelloseste Killer nicht, eine Leiche übers Gelände zu schleifen und hier abzulegen.«

»Es gibt keinen anderen Zugang hierher?«

»Noi«, meldete sich Rössle zu Wort, »des han i als Erschtes überprüft. Da hinte an der Mauer isch Schluss.«

»Und normalerweise ist es hier in dieser Ecke nicht besonders hell. Sehe ich das richtig?« Braig zeigte auf die Strahler der Kriminaltechnik, die den schmalen Bereich hinter der Bude in grelles Licht tauchten.

»Richtig. Des isch a düsteres Loch. Moment. Des hent mir glei.« Der Spurensicherer eilte zur Plane, drückte sich mühsam an Söderhofers massiger Gestalt vorbei, machte sich am Boden zu schaffen.

Braig hörte ein leises Klacken, hatte plötzlich Mühe, die Umgebung zu erkennen. Mit dem Verlöschen der gleißenden Strahler lag das Areal tatsächlich in tiefem Dämmer. Nicht einmal die Überschriften einer Zeitung waren jetzt mehr zu lesen.

»Die Plane ghört nadierlich weg. Aber viel ändert sich dadurch net.« Rössle richtete sich auf, schob den Sichtschutz zur Seite. Viel mehr Licht fiel jetzt wirklich nicht ein. Braig sah sich nur vom Schein der Beleuchtung auf dem Volksfestgelände geblendet.

»Von drauße siehsch du nicht, was hier passiert. Vom Licht ins Dunkel – unmöglich!« Er trat drei Schritte zurück, wartete, bis der Kommissar es ihm nachgetan hatte.

Braig stimmte ihm augenblicklich zu. »Der ideale Platz also für ein Verbrechen«, seufzte er. Er schaute auf, weil die Menschenmenge hinter der Absperrung in Bewegung gekommen schien, merkte, dass die uniformierten Kollegen alle Hände voll zu tun hatten, sie in Schach zu halten.

»Was isch jetzt los?«, hörte er eine laute Stimme. »Warum hent die des Licht ausgmacht?«

»Die Plane isch weg! Kasch du was erkenne?«

»Noi, du Dackel, des isch zu dunkel!«

Braig wartete, bis die Strahler wieder aufleuchteten und Rössle die Plane erneut angebracht hatte, lief zu der Leiche zurück. »Mit diesem Stein also«, sagte er. »Wo habt ihr ihn entdeckt?«

Der Spurensicherer wies auf einen kleinen Metallständer etwa zwei Meter von dem Toten entfernt. »Den Platz han i extra markiert.«

»Dann hat ihn der Täter einfach zur Seite geworfen.« Er musterte den Stein. »Wie schwer ist er? Ich möchte ihn nicht auch noch berühren«, fügte er hinzu.

»Sechs, siebe Kilo«, schätzte Rössle. »Eher noch mehr.«

»So schwer? Wir haben es mit einem kräftigen Täter zu tun, oder?« Er sah nur unschlüssige Mienen um sich herum, merkte selbst, wie hypothetisch seine Überlegung war. »Aber nicht nur ein einziger Schlag.«

Dr. Schäffler zögerte mit der Antwort. »Noch habe ich ihn nicht untersucht.« Er wies auf den Toten. »Sie wissen …«

»Nur eine erste Einschätzung, bitte.«

»Wahrscheinlich mehrere Schläge. Fünf, sechs, vielleicht sogar zehn. Angesichts der starken Deformationen des Schädels …« Er ersparte sich den Rest seiner Aussage.

»Wie muss ich mir das vorstellen? Der erste Schlag im Stehen«, spekulierte Braig. »Er war so heftig, dass der Mann zu Boden ging. Anschließend weitere Attacken?«