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Ralf Kramp
Schuss mit lustig

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Tief unterm Laub

Spinner

Rabenschwarz

Der neunte Tod

Still und starr

... denn sterben muss David!

Kurz vor Schluss (Kriminalgeschichten) Malerische Morde

Hart an der Grenze

Ein Viertelpfund Mord (Kriminalgeschichten)

Ein kaltes Haus

Totentänzer

Nacht zusammen (Kriminalgeschichten)

Stimmen im Wald

Voll ins Schwarze (Kriminalgeschichten)

Starker Abgang (Kriminalgeschichten)

Mord und Totlach (Kriminalgeschichten)

Totholz

Ralf Kramp, geboren 1963 in Euskirchen, lebt und arbeitet als Krimiautor, Karikaturist und Veranstalter von Krimi-Erlebniswochenenden in der Eifel. Für sein Debüt »Tief unterm Laub« erhielt er 1996 den Eifel-Literatur-Förderpreis. Seither erschienen zahlreiche weitere Bücher bei KBV, unter anderem sechs schwarzhumorige Kurzkrimisammlungen und die bisher sechsteilige Romanreihe um den kauzigen Helden Herbie Feldmann. Im Jahr 2002 erhielt er den Kulturpreis des Kreises Euskirchen. Seit 2007 führt er mit seiner Frau Monika in Hillesheim das »Kriminalhaus« mit dem »Deutschen Krimi-Archiv« mit 30.000 Bänden, dem Krimi-Café »Café Sherlock« und der »Buchhandlung Lesezeichen«.

www.ralfkramp.de, www.kriminalhaus.de

Ralf Kramp

Schuss mit lustig

Originalausgabe

Für Ines und Peter
und
für Vanessa und Carsten

Inhalt

Verzweiflung

Der beste Service

Mit geübtem Blick

Immer nur das Eine

Ein Frühlingsgedicht

Kasperle im Zauberwald

Meine liebes Röschen

Die Falle

Das Tanzen der Wellen

Ein Notruf

Das Auge des Gesetzes

Hier ruhst Du nun

Das Grauen in der Bordtoilette

Die Buchhändlerin

Abwärts

Das Schweigen der Handys

Das Schweinchen

Jutta statt Plastik

Nix passiert

Eifeler Eifersucht

Der fiese Möpp

Weihnachtsfeier mit Chef

Lichterglanz

Verzweiflung

Ich such schon ein Jahr genau

Nach dem Mörder meiner Frau.

Das ist alles nicht zum Lachen.

Wirklich keiner will es machen!

Der beste Service

 

Frau Scheuermann ist unsere beste Kundin. Doch, doch, das wissen alle in meinem Team, und das erzähle ich auch jedem, der es hören will. Sie kommt pünktlich alle zwei Wochen, lässt sich von uns gerne die Termine so einrichten, wie sie uns am besten passen, und betont immer wieder, dass sie großen Wert darauf legt, dass wir nur die allerbesten Mittel verwenden. Waschen, färben, ondulieren … ganz egal, was es kostet. Sie bekommt von uns den besten Service. Natürlich lässt sie sich nicht von irgendwelchen Angestellten bedienen, sondern nur von mir, von der Chefin persönlich. Aber über den Zwanzig-Euro-Schein, der hinterher ins Schweinchen wandert, freuen sich dann am Ende immer alle.

Sie plappert zu gerne vor sich hin, wenn ich ihr die Spitzen schneide oder die Lockenwickler ins Haar drehe. Ich weiß noch genau, wie erschrocken ich war, als sie mir damals zum ersten Mal zugeflüstert hat: »Meinen Mann Erwin, wissen Sie, den bringe ich demnächst um.«

Natürlich habe ich gewusst, dass sie es nicht wirklich tun will. Also, das Umbringen ihres Ehemanns und so. Es klang zwar durchaus ernst gemeint, denn sie lieferte mir auch gleich eine ganze Wagenladung an Motiven für diesen Mord: »Der ist faul, verfressen, versoffen, lügt wie gedruckt und beschimpft mich auf Teufel komm raus.« Und dann schickte sie mit dramatischem Blick hinterher: »Und jetzt geht er auch noch fremd!«

Ich habe ihr damals in aller Ruhe die teure Fliedertönung in die Strähnen gepinselt und gedacht: Naja, das sagt man eben so. Aber ihre Augen haben mich im Frisörspiegel so feurig angefunkelt, und dann hat sie gezischt: »Ich habe überlegt, wie ich es mache. Ich drehe in seiner Werkstatt die Gasflasche auf. Da raucht er immer heimlich, da hat sich das ganz schnell mit einem Knall erledigt.«

In den folgenden Monaten hat sie mir immer wieder erzählt, was sie vorhat. Einmal wollte sie den Föhn in die Badewanne werfen, ein anderes Mal sollte ihr Erwin beim Reparieren der Regenrinne von der Leiter fallen. Ich glaube, sie hat mir in den letzten anderthalb Jahren sicher zwei Dutzend verschiedener Methoden genannt, mit denen sie ihren Mann ins Jenseits befördern könnte. Ich lächle dann immer nur freundlich und mache meine Arbeit. Mal mache ich ihr eine bombastische Hochsteckfrisur, mal Extensions, mal flechte ich ihr Schnecken, was in ihrem Alter ein bisschen albern aussieht, wenn Sie mich fragen. So eine Kundin hat man nicht alle Tage, die muss man immer gut behandeln. Reicht schon, dass die ganzen Friseusen schwarz Hausbesuche machen und mir die Kundschaft wegnehmen. Verstehen Sie doch, oder?

Gestern sollte es wieder ganz was Besonderes sein. Neue Farbe, neuer Look. Frau Scheuermann hat sich überlegt, dass ihr so ein kinnlanger Bob in Platin mal ganz gut stehen würde. Während ich Volumenschaum in ihr dünnes Haar knete, beobachte ich im Spiegel, wie ihre Wangenmuskeln zucken. Sie ist heute alles andere als entspannt.

»Frau Scheuermann«, sage ich leutselig, »Wo drückt denn der Schuh?« Dabei weiß ich es doch schon längst. Ihre Augen wandern nach rechts und links. Sie will sich vergewissern, dass außer mir niemand zuhört. Frau Pringel rechts sitzt unter der Haube und Frau Zöller links liest die Gala und ist fast taub. Also sagt Frau Scheuermann leise, aber voller Hass: »Er will sich scheiden lassen, der Dreckskerl. Jetzt mache ich Ernst!« Und dann öffnet sie vorsichtig ihre Handtasche und lässt mich einen Blick hineinwerfen. Ich erkenne zwischen dem ganzen Krimskrams, den sie darin hat, einen Revolver.

Heute scheint mir Frau Scheuermann irgendwie ein bisschen neben sich zu stehen. Ganz verwirrt, die Arme. Als wir beratschlagen, welche Farbe am besten zu ihrem schwarzen Kostüm passt, ist sie richtig unkonzentriert. Sie hat außerdem Angst, auf der Beerdigung eine allzu extravagante Frisur zu tragen. Kann man ja auch verstehen, oder?

»Bald haben Sie alles hinter sich«, sage ich tröstend. »Und dann fängt Ihr neues Leben an. Da probieren wir wieder ganz viele neue Frisuren aus, was?«

Sie lächelt mich schwach an. Sie kann es immer noch nicht fassen, dass jemand ihren Erwin überfahren hat. Einfach so, in der Abenddämmerung am Zebrastreifen, mit dem Auto drüber und abgehauen.

Na, ich bitte Sie, was hätte ich denn sonst machen sollen? Etwa warten, bis sie ihn tatsächlich selbst um die Ecke bringt? Ich habe nun wirklich keine Lust, meine beste Kundin an den Gefängnisfriseur zu verlieren.

Mit geübtem Blick

 

Gib dir wenigstens ein bisschen Mühe, Dietmar! Man könnte ja meinen, es wäre dir lästig!«

»Es ist mir nicht lästig, Liebes. Aber das Vorlesen fällt mir nicht gerade leicht, während ich hier durch das Unterholz stakse.«

»Es reicht, wenn ich verstehe, was du vorliest. Du musst es ja nicht deklamieren. Aber eben auch nicht nuscheln.«

»Gut, also, wo war ich stehengeblieben?«

Sie rollte mit den Augen. Kein Mensch konnte so mit den Augen rollen wie sie. Sie drehten sich mit weit nach außen gerichteten, hellblauen Pupillen tief in den Höhlen. Großes Drama.

Seine Frau hatte einen regelrechten Luchsblick. Er als Optiker konnte das schließlich beurteilen. Trotz ihrer zweiundfünfzig Jahre hatte sich noch keinerlei Sehschwäche eingestellt. Das würde ihr auch nicht schmecken. Eine Brille? Niemals! Eher würde da gelinst und gelasert. Aber das war, wie schon gesagt, alles noch in weiter Ferne.

Manchmal war ihm ihr Blick einfach zu scharf. Ständig sah sie ihm auf die Finger, nichts machte er ihr gut genug, wirklich nichts. Dietmar fühlte sich oft wie ein ungebetener Gast im eigenen Haus. Und er hatte den Eindruck, dass es von Jahr zu Jahr schlimmer und schlimmer wurde.

»Ich dachte, das wäre mal eine Abwechslung«, maulte sie, während sie tapfer vorweg in ihren bunten Designer-Gummistiefeln durch den Wald stapfte. »Und du magst doch auch Pilze!«

Eigentlich nicht so richtig, aber das durfte er nicht zugeben, dann wäre ihre Stimmung gleich wieder im Gefrierbereich.

»Dahinten sind Brombeeren«, sagte er, um überhaupt etwas zu sagen. »Und Hagebutten. Marmelade, Schatz, was hältst du davon?«

»Erst die Pilze. Lies mal weiter vor.«

»… ist die Färbung der Lamellen ein eindeutiges Unterscheidungsmerkmal. Sind sie rosafarben, ist er genießbar und sogar eine echte Delikatesse. Sind sie jedoch blassgrün, handelt es sich um den hochgiftigen Zwillingsbruder …«

»Du nuschelst!« Sie war schon wieder zehn Meter weiter vor ihm. Er musste aufpassen, dass er nicht über das Wurzelholz stolperte. »Ich verstehe überhaupt nichts!«

Wenige Schritte weiter, auf dem Weg oberhalb von ihnen, winkte jemand mit dem Arm. Ein Mann im Lodenmantel. Der alte Kosanke mit seinem Hund. Einer seiner Kunden.

»Herrlicher Sonntagnachmittag, was?«, rief der Alte fröhlich. »Frische Luft und die Köstlichkeiten aus dem Garten von Mutter Natur!« Schnaufend bahnte er sich einen Weg die Böschung herab zu ihnen herunter. Der kleine, zitternde Mischlingshund wollte nicht so richtig, aber Kosanke zerrte ihn hinter sich her.

»Ihre Frau Gemahlin?«, fragte Kosanke und neigte formvollendet den Kopf.

Sie reichte ihm ein wenig irritiert die Hand, ein Lächeln zuckte in ihren Mundwinkeln. Kavaliere alter Schule verfehlten bei ihr niemals ihre Wirkung.

»Liebes, das ist Herr Kosanke«, sagte Dietmar und schlug das Pilzbuch zu. Sie schenkte ihm einen kurzen, schnellen Seitenblick, in dem etwas Triumphierendes lag. Schau her, schien er sagen zu wollen, es gibt auch Männer, die wissen, wie man mit Frauen umgeht. »Sehr angenehm«, säuselte sie und ließ sich von Kosanke die Hand schütteln.

»Herr Kosanke ist ein Kunde von mir«, sagte er.

»Reizend, Ihre Gattin«, schnarrte Kosanke, »wirklich reizend.« Der Borstenpinsel an seinem Hut wippte fröhlich hin und her. Sein ausgestreckter Finger deutete auf den Korb. »Fantastisches Pilzjahr, oder? Kennen Sie sich aus?«

Ihre Mundwinkel zuckten wieder, und erneut traf ihn einer ihrer Seitenblicke. »Mein Mann hat da dieses Pilzbuch …«

Kosankes Lächeln verschwand. »Ein Pilz…buch

»Ja«, murmelte er. »Mit sehr guten Abbildungen. Eigentlich idiotensicher. Zuhause wollte ich dann alles noch einmal ganz genau nachprüfen.«

»Idiotensicher?«, kicherte der Alte. »Hören Sie, mein Lieber, ich war über vierzig Jahre lang Förster in diesem Wald. Glauben Sie, bei Pilzen kann man sich nie sicher genug sein!« Er beugte sich über den Korb. »Darf ich mal schauen?«

»Aber sicher.« Sie schob das karierte Tuch zur Seite und präsentierte stolz die üppige Ausbeute. »Sehen die nicht prachtvoll aus?«

Kosanke nickte langsam. Sein Hund umwickelte unterdessen seine Beine in den Kniebundhosen mit der Leine und winselte dabei ununterbrochen. »Da haben Sie ja allerhand zusammengesammelt.« Mit dem spitzen Zeigefinger stocherte er zwischen den Pilzen herum.

»Schön abgeschnitten und mit dem Pinsel gereinigt, wie es sich gehört«, sagte Dietmar unsicher. »Alles in Ordnung, oder?«

Kosanke seufzte. »Ich esse seit Jahren keine Pilze mehr. Der Magen. Nur noch gedünsteten Kram, mageres Hühnchen und dünne Wassersuppen.« Dann hob er den Kopf, und sein Blick suchte den von Dietmar. Seine Miene ließ jetzt alles Leutselige vermissen, seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Wissen Sie eigentlich, was eine Pilzvergiftung anrichten kann?« Es klang ungewöhnlich scharf. »Wissen Sie, was für Qualen über den armen Menschen hereinbrechen, wenn er sich in all seiner Unwissenheit auf ein Pilzbuch verlässt und dann irrtümlich die falschen Pilze in den Kochtopf wirft?« Das Wort Pilzbuch spuckte er regelrecht aus.

Jetzt wurde der Blick von Dietmars Frau leicht unsicher. Er wanderte zwischen den beiden Männern hin und her.

Dietmar begann zu stammeln. »Nun ja, ich bin ja kein Fachmann … dieses Buch … Und es war ja auch gar nicht meine Idee …« Damit hatte er schon zu viel gesagt. Seine Frau reckte jetzt energisch den Korb nach vorne. »Können Sie mir denn helfen, Herr Kosanke? Ich möchte keinesfalls … vergiftet werden!«

Kosanke nickte stumm, atmete tief durch, und begann sehr konzentriert, einzelne Pilze hervorzuholen, die er dann achtlos hinter sich auf den Waldboden warf. »Wichtig ist die Färbung der Lamellen«, murmelte er. »Ein untrügliches Kennzeichen. Leicht rötlich, nicht blassgrün. Weg damit!« Er sortierte weiter aus. »Und der hier auch … der hier …« Seine Stimme wurde immer leiser. Er schüttelte ab und zu den Kopf, und Dietmar glaubte etwas zu hören wie »unverantwortlich« und »lebensgefährlich«.

Schließlich richtete Kosanke sich wieder auf, stieg umständlich aus der Schlaufe, mit der sein Hund ihn umwickelt hatte und blickte jetzt Dietmar geradewegs ins Gesicht. Zuerst sagte er ein paar Sekunden lang gar nichts. Seine Augen versuchten nur in Dietmars Blicken zu lesen. Was sah er? Schuldgefühle? Angst? Scham? Das Gefühl, ertappt worden zu sein? Dietmar musste laut hörbar schlucken.

»Das, was da jetzt noch im Korb liegt, ist nicht mehr gerade viel, aber es reicht noch aus für eine kleine Pilzmahlzeit«, sagte der Alte mit grabestiefer Stimme. »Was für ein Glück, dass wir einander begegnet sind.« Es folgte wieder ein Moment eisiger Stille, in der er Dietmar mit unbarmherzigem Blick fixierte. »Und nun wünsche ich ihnen beiden noch einen schönen Sonntagabend!«

Wieder deutete er eine leichte Verbeugung an, und sie hauchte matt: »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Gern geschehen«, knurrte Kosanke. Dann stapfte er über den knisternden und knackenden Waldboden davon. Sein Hund, den er hinter sich herzerrte, zog dabei eine Schneise durch den dichten Laubteppich.

Dietmar seufzte lang und verstaute langsam das Buch in seiner Manteltasche. Seine Frau drehte sich erst gar nicht mehr zu ihm um, als sie mit tonloser Stimme sagte: »Ich denke, das reicht. Wir gehen!«

Stumm trottete er hinter ihr her.

Es waren wirklich nicht mehr viele Pilze übriggeblieben. Die würde er ihr großzügig überlassen, um sie zu besänftigen. Konnte sie ruhig alle alleine essen.

Es herrschte betretenes Schweigen, während sie zum Auto gingen und dabei über die Pilze hinwegtrampelten, die Kosanke aussortiert hatte. Nur irgendwo im Blätterdach über ihnen rätschte ein Eichelhäher.

Es bestand kein Zweifel daran, dass dieser Kosanke ihn vor seiner Frau wie einen waschechten Idioten hatte aussehen lassen. Das war natürlich wieder Wasser auf ihren Mühlen. Wie der ihn angeguckt hatte! Wie einen leibhaftigen Mörder! Der würde sicher nicht mehr so schnell in seinem Laden erscheinen.

Obwohl er doch sicherlich dringenden Bedarf hatte, dieser alte Trottel. Eine bemerkenswerte Rot-Grün-Farbenblindheit, doch, musste man schon sagen. Der würde sicher an jeder Verkehrsampel scheitern.

Dietmar hätte jetzt fast begonnen, fröhlich zu pfeifen, Aber das hätte seine Frau nur unnötigen Verdacht schöpfen lassen.

Immer nur das Eine

 

Es sind immerhin vier Beamte, die ihn zu den Einsatzfahrzeugen zerren. Er wehrt sich mit Händen und Füßen und brüllt wie am Spieß. »Papierschiffchen! Zahngold! Mottenkugeln! Ich kann an tausend verschiedene Sachen denken, hört ihr!«

Sie versuchen, ihn in einen Wagen zu verfrachten. Immer wieder reckt er den Kopf in die Höhe und schreit unentwegt. »Eine Million Dinge! Ich habe Milliarden von Gedanken in meinem Kopf, wirklich! Ich kann an binomische Formeln denken und an Daktari! An braunen, süßen, klebrigen Hustensirup! Hundekuchen! An runde, mit Loch, und an die kleinen, eckigen Bröckchen! An den Tag, an dem Papst Johannes XXIII gestorben ist! Es geht! Es geht wirklich!«

Schließlich wird die Tür zugeschlagen und das Motorengeräusch überlagert den letzten Rest seiner Stimme.

»Du denkst immer nur an das Eine«, sagte Kirsten und meinte es auch so. Was für andere Menschen eine dahingeworfene Floskel, eine leere Worthülse war, stellte für sie tatsächlich eine ernst gemeinte, unumstößliche Wahrheit dar. Sie glaubte wirklich, er sei sexuell überstimuliert, er stehe ständig unter Strom, weil seine Gedanken angeblich immer nur um ein und dasselbe Thema kreisten. Dass ihr das möglicherweise nur so vorkam, weil sie selbst ständig mit anderen Dingen beschäftigt war und während ihrer bis jetzt achtmonatigen Beziehung bislang noch nie die sexuelle Initiative ergriffen hatte, weil Erotik bei ihr stets auf dem letzten Tabellenplatz rangierte, daran dachte Kirsten wohl kaum. Weil Fleischeslust nun mal einfach nicht ihr Thema war.

Karsten vermutete, dass Kirsten so etwas war wie frigide, aber das gestand er sich nicht ein. Er liebte seine Freundin so, wie sie war. Kirsten und Karsten, sie waren ein Traumpaar, sie würden in drei Wochen heiraten und dieses Glück wollte er nicht durch unnötige Diskussionen aufs Spiel setzen. Oder durch schmutzige Gedanken. Es konnte ja nicht so schwer sein, einfach mal ein paar Tage nicht an Sex zu denken.

Dachte er.

Und Kirsten dachte das auch: »Es kann ja wohl nicht so schwer sein, mal einfach ein paar Tage nicht an Sex zu denken!«, hatte sie verächtlich gesagt.

Aus dieser Erwägung heraus war ein Versprechen entstanden. Karsten würde bis zu ihrer Hochzeit nicht mehr an Sex denken. In den Zeiten, in denen er im Materiallager einer Rohrleitungsbaufirma arbeitete, war er nicht gefährdet, da war er beschäftigt und keinerlei weiblichen Reizen ausgesetzt. Frau Köndgen aus der Registratur verfügte jedenfalls nicht darüber. Nein, die Freizeit war es, die sich als bisher vermintes Gelände herausgestellt hatte, durch das Kirsten ihn mit weiblicher Sensibilität zu leiten versprochen hatte.

Nicht dass sie sich extra zu diesem Zweck besonders hochgeschlossen und unzugänglich gekleidet hätte, das tat sie ohnehin immer. Vielmehr hatte Kirsten ein Programm für ihn aufgestellt, das es in sich hatte. Natur, Kultur, Sport lautete das Motto. Also erkundeten sie an den Sonntagen Gebiete rund um Unna, die ihnen völlig fremd waren. Sie absolvierten Tagesmärsche mit an sich unnötigem, aber durchaus zweckmäßigem Gepäck. Und sie lernten eine Konzertlandschaft und einen musealen Reichtum der Region am Hellweg kennen, die dem Rohrleitungsbauer Karsten vermutlich für immer verborgen geblieben wären. Theater, Ausdruckstanz, Blockflötenkonzert, Autorenlesung, Bergwerksbesichtigung … Karsten stand die Kultur, wenn er ehrlich war, bis zur Oberkante Unterlippe.

Jetzt waren es noch zwei Tage!

Wirklich nur noch zwei lächerliche Tage und die wären schneller vorbei, als er sich’s versah, so prall, wie sie mit keuscher Aktivität und sittsamer Aktion gefüllt waren.

Am Morgen, als er wach geworden war, hatte er sich erst einen Moment lang besinnen müssen, was heute auf dem Keuschheitskalender stand.

»Volkshochschule. Die Ausstellungstour«, hatte Kirsten gesagt und mit den Augen gerollt. »Hatten wir doch so geplant.«

Ja, hatte sie.

»Natürlich, natürlich.« Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es höchste Zeit war. Er hegte den Verdacht, dass sie ihn in den letzten Tagen extra lange schlafen ließ, damit er ihr morgens nicht mehr im Badezimmer begegnete. Irgendwie war es wirklich rührend, wie ernsthaft und überlegt sie ihn vor jeder Versuchung zu bewahren versuchte.

Wie etwa mit der Ausstellungstour, einer Busfahrt nach Schloss Cappenberg und Haus Opherdicke, organisiert von der VHS Unna-Holzwickede-Fröndenberg. Alles in allem eine Unternehmung, bei der nicht die allergeringste Gefahr bestand, dass seine Gedanken dabei auf sündige Seitenwege geraten könnten.

Auf dem Parkplatz vor dem in moderner Schlichtheit erstrahlenden Kreishaus hatte sich eine kleine, kulturinteressierte Gruppe versammelt, deren Zusammensetzung ebenfalls eine hundertprozentige Garantie für die völlige Abwesenheit etwaiger erotischer Irritationen und hormoneller Herausforderungen darstellte. Zwei Drittel Rentner, der Rest bestand aus drei pickligen Studenten und zwei jungen Müttern mit quengeligen Babys. Das sah gut aus.

Undeutlich nahm er am Rande des Parkplatzes eine Plakatwand wahr und im selben Bruchteil der Sekunde, in der er etwas Hautfarbenes darauf zu erkennen glaubte, drehte sich sein Kopf auch schon ganz automatisch um hundertachtzig Grad zur Seite. Zack! Nackte Haut in der Werbung bedeutete Gefahr. Das hatte er längst im Griff. Da war er mittlerweile hervorragend konditioniert. Auch wenn möglicherweise nur Putenschenkel, extra fleischig, offeriert wurden.

Schnell an was anderes denken: Räucherstäbchen, Ohrenkneifer, gebrannte Mandeln, Tintenkiller …

Die Frau von der Volkshochschule war eine Hosenanzugträgerin unbestimmten Alters, mit kleinen, graublonden Löckchen, einer Nickelbrille und einem Hauch von Damenbart. Sie trug einen langen Doppelnamen, den sich Karsten nicht einmal hätte merken können, wenn er es gewollt hätte.

Der Busfahrer war ein kleiner, rundlicher Kerl mit grauem Schnurrbart, der sich launig mit »Hereinspaziert, ich bin der Gisbert« vorstellte. Beim Einsteigen half Karsten zuerst den Müttern mit ihren Kinderwagen und dann einem einbeinigen Rentner mit seiner Gehhilfe. Fahrer Gisbert schwenkte derweil den letzten Schluck Kaffee im Becher seiner Thermoskanne und schüttete ihn aus dem Seitenfenster. Dann ließ er die Finger knacken und startete den Bus.

»Viel Spaß, Schatz«, sagte Kirsten und drückte ihrem 26 künftigen Ehemann einen Kuss auf die Wange. Der einbeinige Opa rechts von ihm beobachtete das, reckte aufmunternd den Daumen nach oben und grinste verschwörerisch.

Kirsten hatte darauf bestanden, ganz vorne zu sitzen, um die Fahrt in ihrer ganzen Schönheit genießen zu können. Mit einem Ruck setzte sich der Bus in Bewegung und rollte durch Königsborn stadtauswärts. Gisbert drehte WDR4 an und zu den Klängen von Hallo, NRW! gaben die beiden Babys auf den Sitzen hinter Karsten gut gelaunte Quieklaute von sich. Die Mütter schnatterten über das Fernsehprogramm vom vergangenen Abend. Von rechts kamen der rasselnde Atem des Opas und das Pochen seiner Gehhilfe, mit der er den Takt zu Helene Fischer klopfte: »Atemlos durch die Nacht …« Die Sonne ließ die weißen Frisuren der beiden Omas auf den Sitzen vor Karsten und Kirsten aufleuchten. Es versprach ein entspannter Tag zu werden.

Die Hosenanzugfrau verteilte Prospekte und erklärte den Tagesablauf. Erst Schloss Cappenberg, dann Haus Opherdicke, wo es einen kleinen Imbiss geben würde. Zwei völlig gegensätzliche Ausstellungen, der totale Kulturgenuss in einer Tour.

»Wir verstehen hier hinten nichts«, quakte einer der Studenten von der letzten Bank. Die Doppelnamen-Dame bekam von Gisbert ein Mikrofon gereicht und wiederholte alles noch einmal. Als sie fertig war, ließ sie sich erschöpft in ihren Sitz neben dem Einstieg fallen.

Aus den Lautsprechern plärrte jetzt Semino Rossi »Meine Sonne bist du« und in Karsten gewann die ungewisse Furcht Gestalt, dass sich irgendwann aus diesen Lautsprechern auch der Wendler über sie ergießen würde.

Der Verkehr hielt sich in Grenzen, es ging zügig in Richtung Kamen.

»Fahren Se mal rechts ran«, rief plötzlich der Opa ganz aufgekratzt, als sie auf der Kamener Straße fuhren. Ein roter Backsteinbau mit der Werbetafel Club Bad Königsborn.

Ein Bordell!

Hundertachtzig Grad – zack! Karsten riss den Kopf nach links.

… Frühstücksbrettchen, Kaffeetassen, Butterdose …

Der Busfahrer lachte dröhnend. »Auf der Rückfahrt vielleicht«, blökte er zurück.

… Kirschmarmelade, Erdbeermarmelade, Quittengelee …

»Woran denkst du?« Kirsten runzelte die Stirn.

»An Quark, Frischkäse, Wurst … nein, nicht an Wurst

… Schinken roh, Schinken gekocht …«

Sie wandte sich irritiert ab und blickte aus dem Fenster. Lag da etwa schon Skepsis in ihrem Gesicht?

»Gehört das Ding nicht dem Puffkönig, der mal Bürgermeister werden wollte?«, fragte eine Oma.

»So weit kommt es noch«, empörte sich die andere. »Nee, nee, nee!«

»Wenn ich es dir doch sage! Dem wäre es aber langweilig geworden, da im Rathaus. Keine nackten Weiber mehr.«

Karsten begann, leise und mit zusammengebissenen Zähnen, die Namen der vorbeihuschenden Firmen vor sich hin zu murmeln.

… Burger King, ATU, Kentucky Fried Chicken …

Huch! Hatte er da gerade Ficken gesagt?

Wenn ja, hatte Kirsten es nicht gehört. Sie guckte weiter aus dem Fenster. Ficken, das fehlte gerade noch. Dann wäre der Ofen aber ganz schnell aus. Er fummelte die Prospekte der Kulturtour aus der Tasche und begann, darin zu blättern, um sich ein bisschen abzulenken. Eine Otmar-Alt-Ausstellung auf Schloss Cappenberg. Knallbunte Kringel, Punkte, Striche, lustige Fantasiefiguren. Und in Haus Opherdicke? Hans Trimborn, depressiver Künstler aus dem letzten Jahrhundert. Frauen mit züchtig geschlossenen Blusen, finstere Selbstporträts, einsame Landschaften. Super, da lauerte ja überhaupt keine Gefahr. Karsten atmete auf. Hätten unter Umständen auch Aktgemälde …

… Hustensaft, eine Büchse Erbsen und Möhren …

… mit Brüsten und üppigen Hinterteilen …

… Dackel, Zylinderkopfdichtung und … und … Inge Meysel

Kirstens Kopf ruckte zu ihm herum. Hörte sie seine Gedanken?

Erotikmesse Hamm