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Jürgen Ehlers
Die Hyäne von Hamburg

Bisher vom Autor bei KBV erschienen:

»Mann über Bord«

»Mitgegangen«

»Neben dem Gleis«

»Die Nacht von Barmbeck«

»In Deinem schönen Leibe«

»Der Spion von Dunvegan Castle«

»Blutrot blüht die Heide«

»Nur ein gewöhnlicher Mord«

»Der Wolf von Hamburg«

 

Jürgen Ehlers wurde 1948 in Hamburg geboren und lebt heute mit seiner Familie auf dem Land. Seit 1992 schreibt er Kurzkrimis, die in verschiedenen Verlagen im In- und Ausland veröffentlicht wurden, und ist Herausgeber von Krimianthologien. Er ist Mitglied im »Syndikat« und in der »Crime Writers’ Association«. Sein erster Kriminalroman »Mitgegangen« wurde in der Sparte Debüt für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert.

Jürgen Ehlers

Die Hyäne
von Hamburg

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Inhalt

Zwei Tote im Park

Die sechste Kugel

Ein falsches Wunder

Der V-Mann

Spurlos verschwunden

Sonderkommission

Die Stunde der Ratte

Aufgespießt

Auf der Spur

Der Tod

Zwei Tote im Park

Freitag, 13./Sonnabend, 14. November 2015

Von: hyena@styx.to

An: bernd.kastrup@polizei.hamburg.de

Zwei Menschen werden sterben, während Du schläfst. Ich werde sie erschießen, heute früh. Wenn Du diesen Brief liest, wird das, was ich beschreibe, schon geschehen sein. Du wirst es nicht verhindern können. Aber wenn Du es verhindern könntest, würdest Du es auch nicht verhindern wollen. Dennoch würdest Du es versuchen, obwohl Du es gar nicht willst. Du tust Dinge, ohne nach dem Sinn zu fragen. Du befolgst Regeln, von denen Du nicht einmal weißt, wer sie aufgestellt hat und warum. Wir haben uns noch nie gesehen, und doch kenne ich Dich. Du kennst mich nicht, aber Du wirst mich kennenlernen.

Die Hyäne.

* * *

Hauptkommissar Bernd Kastrup las nachts keine E-Mails, auch dann nicht, wenn er nicht schlafen konnte. Er hatte sich auf der Matratze herumgewälzt. Schließlich war er aufgestanden, hatte sich angekleidet und auf den Weg zu einer nächtlichen Wanderung gemacht. Er ging in Richtung Osten. Es wäre schön gewesen, am Ende dieses Spaziergangs direkt in die aufgehende Sonne zu marschieren, aber das ging nicht, jetzt im November ging die Sonne viel zu spät auf, und er musste ja schließlich zum Dienst. Außerdem war es noch nicht einmal Mitternacht.

Um diese Zeit ruhte die Stadt. Jedenfalls in den Bereichen, in denen Kastrup sich bewegte. Er ging über die Gleise des alten Rangierbahnhofs und überquerte schließlich den Oberhafen auf der Eisenbahnbrücke. Das war natürlich verboten, aber Kastrup hatte sich nie um Verbote gekümmert, die ihm unsinnig erschienen. Natürlich war es gefährlich, auf den Gleisen zu gehen, aber wenn wirklich ein Zug kommen sollte, würde er ihn schon von Weitem hören und hatte alle Zeit der Welt, rechtzeitig auszuweichen. Selbst jetzt, im Nebel. Aber es kam kein Zug.

Auch kein Schiff war in Sicht. Der Oberhafen hatte seine Funktion als Hafen längst verloren. Es war Niedrigwasser. Unter der Brücke glänzte matt der Schlick.

Der Hauptkommissar überquerte die Billhorner Brückenstraße. Es war auf die Dauer lästig, auf den Gleisen zu gehen. Die Schwellen hatten den falschen Abstand. Für einen normalen Schritt zu kurz. Aber er brauchte sich nicht länger zu mühen; jetzt war er in Rothenburgsort. Als er auf dem Bürgersteig angelangt war, blieb er stehen und schüttete seine Schuhe aus. Bei dem Abstieg vom Bahndamm war ihm Sand hineingefallen.

Kastrup ging weiter. Er stellte sich vor, am Elbufer entlang und dann an der Schleuse vorbei zum Bahnhof Tiefstack zu gehen. Um 0:30 Uhr fuhr der letzte Zug. Den würde er mühelos erreichen.

* * *

»Es ist alles ganz einfach«, behauptete Pedro.

»Ja.« Kai hatte Angst.

»Wenn wir jetzt losgehen, sind wir zuerst am Treffpunkt. Wir stehen im Schatten, in den Büschen am Zaun. Niemand kann uns sehen. Wir sehen die Hyäne, wenn sie kommt. Wir warten, bis sie den vereinbarten Treffpunkt erreicht hat.«

»Ja.«

»Du bist derjenige, der auf sie zugeht. Du sagst: Hast du das Geld dabei?«

»Warum können wir nicht zusammen gehen?«

»Weil vereinbart ist, dass wir allein zum Treffpunkt kommen: Die Hyäne kommt allein, und du kommst allein. Und wenn du hörst, dass sie das Geld dabei hat, dann schießt du sie ab.«

»Und wenn sie das Geld nicht dabei hat?«

»Sie wird das Geld dabei haben. Sie kann es nicht riskieren, dass du die Polizei anrufst.«

»Und wenn sie es nun doch riskiert?«

»Dann schießt du trotzdem«, sagte Pedro.

Kai schwieg. Er war 24 Jahre alt. Er hatte noch nie auf einen Menschen geschossen. Er hatte überhaupt noch nie geschossen, bevor Pedro mit diesen Revolvern angekommen war. Sie hatten natürlich geübt, die letzten Tage, draußen im Klövensteen. Sie hatten die Bierdosen getroffen, es war kinderleicht, aber da war es auch hell gewesen, und jetzt war es dunkle Nacht.

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, versicherte ihm Pedro. »Ich bin ja bei dir. Ich stehe schräg hinter dir. Ich halte dir den Rücken frei. Nur zur Sicherheit, falls die Hyäne nicht allein ist.«

»Und wenn sie dich sieht?«

»Sie sieht mich nicht. Ich stehe hinter der Plastik. Hinter diesem Bogen aus Stein. Das hast du doch gesehen, wo der ist.«

»Und dann?«

»Dann schnappst du dir die Tasche und rennst los. Du weißt ja, wo unser Wagen steht.«

Ja, das wusste Kai. Der Wagen stand hier, knappe 100 Meter vom vereinbarten Treffpunkt entfernt. Kai hatte grenzenlose Angst. Noch einmal überprüfte er den Revolver. Die Waffe war geladen. Seine Finger zitterten. Er hätte sich nie auf diese Geschichte einlassen dürfen.

* * *

Bernd Kastrup genoss die Ruhe. Mitten in der Nacht schien Hamburg vollkommen in Ordnung zu sein. Im Unterschied zu seinem Leben, das war nicht in Ordnung. Im Augenblick jedenfalls nicht. Antje hatte sich gemeldet, zum ersten Mal seit langer Zeit, aber sie hatte nur eine Postkarte aus dem Urlaub geschickt, ohne irgendwelchen persönlichen Inhalt. Wahrscheinlich war sie mit ihrem Mann auf Teneriffa, aber den hatte sie nicht erwähnt. Kastrup konnte sich nicht vorstellen, dass sie nicht irgendwann einen Moment für sich allein gehabt hatte, in dem sie ihm hätte schreiben können, was sie für ihn empfand.

Wahrscheinlich hatte sie genau das geschrieben, was sie für ihn empfand. Nichts. Sie empfand nichts für ihn. Jedenfalls jetzt nicht mehr, nachdem er sie letztes Jahr ungewollt in Lebensgefahr gebracht hatte. Bernd Kastrup seufzte. Nein, das stimmte nicht, was er sich da gerade in seiner trüben Stimmung ausmalte. Wenn sie gar nichts für ihn empfand, dann hätte sie ihm überhaupt nicht geschrieben. Aber so – so bestand noch immer Hoffnung.

Seine persönliche Situation hatte sich seit der Scheidung von seiner Frau nicht verbessert. Die Affäre mit Antje war natürlich auf die Dauer keine Lösung, das hatte er von Anfang an gewusst. Antje war mit einem reichen Kaufmann verheiratet. Sie ahnte nicht, dass er nach seiner Scheidung so knapp dran war, dass er illegal in einem Lagerraum in der Speicherstadt wohnen musste. Sie durfte es nie erfahren.

Und Gesche, die andere Frau, die im letzten Jahr kurzfristig in sein Leben getreten war, die war auch keine Lösung. Sie hatte Hilfe gesucht, für sich und ihre Tochter. Sylvia. Wie alt war Sylvia jetzt? 15 Jahre? Er hatte ihnen geholfen, und danach waren sie wieder verschwunden. Sollte er sie anrufen? Vincent hatte ihn gewarnt, Gesche sei die falsche Frau für ihn. Wahrscheinlich hatte sein Kollege recht.

Es war empfindlich kühl gegen Morgen, und Kastrup entschloss sich, nicht oben auf dem Deich weiterzugehen, sondern er wählte die Abkürzung durch Trauns Park. Der Weg war unbeleuchtet, aber die Nacht war nicht so finster, dass man sich nicht mehr orientieren konnte.

Plötzlich fiel ein Schuss. Kastrup blieb stehen. Noch ein Schuss. Dann weitere Schüsse in rascher Folge. Ein Mensch schrie, dann brach der Schrei abrupt ab. Bernd Kastrup rannte los. Er war unbewaffnet.

»Halt!«, rief er. »Polizei!« Er hatte eine laute Stimme. Vielleicht ließen sich die Unbekannten dadurch beeindrucken. Jedenfalls wurde jetzt nicht mehr geschossen.

Jemand lief auf ihn zu. Eine Frau. »Hilfe!«, rief sie. Sie hielt sich die linke Schulter.

»Was ist passiert? Sind Sie verletzt?«

»Ich brauche einen Arzt.« Sie blutete. »Ich bin angeschossen worden.«

Bernd Kastrup zückte sein Handy und alarmierte Polizei und Notarzt.

* * *

»Was ist passiert?«, wollte Vincent Weber wissen. Kastrups Kollegen waren inzwischen im Park eingetroffen. Sie hatten die Ausrüstung mitgebracht, und Kastrup war jetzt genau wie die anderen in einen weißen Schutzanzug gehüllt. Der Tatort wurde durch Scheinwerfer erhellt.

»Was passiert ist, wissen wir noch nicht«, brummte Kastrup. »Jedenfalls nicht genau. Eine junge Frau ist angeschossen worden, und da drüben auf dem Rasen liegen zwei Tote.«

»Ich seh nur einen.«

»Der zweite liegt weiter rechts. Da drüben, bei diesem Stein.«

Vincent kniff die Augen zusammen. Das Licht blendete.

»Und die Frau? Ist die ansprechbar?«

Kastrup nickte. »Sie hat gesagt, sie sei mit dem Hund draußen gewesen. Dann sei die Schießerei losgegangen, diese beiden Leute, die da auf dem Gras liegen, die haben sich offenbar gegenseitig umgebracht, und eine verirrte Kugel hat obendrein die junge Frau getroffen. Sie heißt Julia Dachsteiger und wohnt hier in Rothenburgsort. Der Notarzt hat sie ins Krankenhaus gebracht.«

»Und der Hund?«

»Der hat Reißaus genommen.«

Alexander Nachtweyh sagte: »Der beste Freund des Menschen ist auch nicht mehr das, was er mal war! Gibt’s hier irgendwo Kaffee?«

»Da drüben. Außerhalb der Absperrung.« Vincent hielt schon einen Styroporbecher in der Hand. Kastrup zeigte in Richtung Deich.

O du fröhliche ...

Bernd Kastrup erstarrte.

»Mein Handy«, sagte Alexander entschuldigend. Und dann: »Ja, Schatz, was gibt’s?«

Vincent räusperte sich.

Alexander ging einen Schritt zur Seite. Dann sagte er: »Du, Schatz, weißt du was? Ich glaube, das stört jetzt im Augenblick ein bisschen. Ich ruf dich gleich zurück, ja?«

»Deine Neue?«, fragte Bernd.

»Ja.« Alexander wurde rot. Er war 40 Jahre alt, sah gut aus, aber keine seiner zahlreichen Freundinnen hatte es länger als ein paar Monate mit ihm ausgehalten.

»Also, um auf unseren jetzigen Fall zurückzukommen – es ist schon komisch, dass die beiden Kerle sich gegenseitig erschossen haben.«

»Als komisch würde ich das nicht gerade nennen«, empörte sich Jennifer. Jennifer Ladiges war die Jüngste im Team.

»Nein, entschuldige, sagen wir einfach: Es ist seltsam. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir das schon jemals gehabt haben. Normalerweise, wenn zwei aufeinander schießen, dann ist am Ende im ungünstigsten Fall einer tot und einer lebt. Aber dass gleich beide tot sind ...«

»Aber möglich ist das schon?«

»Ja, möglich ist das.«

»Sind die Toten schon identifiziert?«

»Ja. Der eine jedenfalls. Er heißt Pedro Sanchez, ist 23 Jahre alt, wohnhaft in St. Georg. Er hatte seinen Führerschein in der Tasche.«

»Und der andere?«

»Der nicht. – Aber der Sanchez ist kein Unbekannter. Ein kleiner Dealer. Die Leute von der Drogenfahndung wussten, dass er mit einem gewissen Kai Sundberg zusammengearbeitet hat. Womöglich ist das der andere Tote.«

»Können sie ihn nicht identifizieren?«

»Wir haben das Foto ins Präsidium geschickt. Aber sie sind sich nicht sicher. Das Gesicht – weißt du, er hat einen Schuss mitten ins Gesicht gekriegt.«

»Haben wir denn seine Fingerabdrücke im Archiv?«

»Ja, haben wir. – Ich verstehe das Ganze nicht. Wer sucht sich denn solch einen Ort aus?«, brummte Kastrup.

»Was sagst du?«

»Wer sucht sich solch einen dämlichen Ort aus, wenn er eine Schießerei anfangen will?«

»Was hast du gegen Trauns Park? Wenn du jemand umbringen willst, ist der so gut geeignet wie jeder andere einsame Fleck in unserer schönen Freien und Hansestadt. Selbst bei Tag ist hier nicht viel los. Und wenn du nachts durch den Park gehst, jetzt im November, dann kannst du ziemlich sicher sein, dass du keiner Menschenseele begegnest.«

»Außer irgendjemandem, der seinen Hund spazieren führt!«

»Es ist jedenfalls ein einsamer Ort.«

»Und schlaflose Kriminalkommissare laufen hier auch noch rum!«

»Meistens nicht.« Bernd Kastrup war noch nie zuvor bei Nacht hier gewesen. »Mir gefällt der Tatort nicht. Wenn ich eine Straftat vorhätte, dann würde ich nicht ausgerechnet hierher gehen. Auf der einen Seite ist das Wasser, da kannst du nicht weg. Und auf anderen Seite sind die Hamburger Wasserwerke ...«

»Hamburg Wasser heißt der Betrieb jetzt!«

»Ganz egal, wie das jetzt heißt. Jedenfalls ist das Gelände von einem wunderschönen, hohen Zaun umgeben, den du nicht ohne Weiteres übersteigen kannst. Und wenn du ihn doch übersteigst, dann gibt es da drinnen garantiert irgendeinen Nachtwächter, der dir in die Quere kommt. Und auf der Wasserseite, da ist außerdem diese Fabrik. Cargill. Da ist auch Tag und Nacht was los, von dort aus kann man Trauns Park hervorragend einsehen, sodass du immer mit Zeugen rechnen musst.«

»Bis jetzt haben sich keine Zeugen gemeldet«, gab Vincent zu bedenken.

»Doch, der Pförtner von der Fabrik, der hat die Schüsse gehört.«

»Keine Augenzeugen, meine ich.«

»Die kommen ja vielleicht noch.«

»Wenn der Park im Dunkeln liegt, sieht man von da drüben nichts.«

»Was ist das überhaupt für eine Fabrik?«, fragte Jennifer.

»Cargill Texturizing Solutions«, wusste Alexander. Er hatte sich im Internet schlaugemacht.

»Das sagt alles«, brummte Bernd ärgerlich. Verdammte Fremdworte!

»Ich kann es dir ja erklären!«

»Ich bitte darum!«

»Cargill ist eigentlich ein amerikanisches Unternehmen. Es ist aber heute auch in Europa an zahlreichen Standorten vertreten. In Deutschland besitzt die Firma zwölf Niederlassungen. Drei davon sind in Hamburg. Dieser Standort hier in Rothenburgsort, das ist die alte Lucas Meyer GmbH &Co

Bernd Kastrup trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Dach des Streifenwagens.

Der Fahrer ließ die Scheibe herunter und fragte: »Ist was?«Kastrup schüttelte den Kopf. »Kurz bitte«, sagte er zu Alexander.

»Ich fasse mich ja schon kurz! – Irgendwann ist die Firma an SKW verkauft worden, und SKW hat dann wiederum mit der Degussa fusioniert ...«

»Und was produziert diese Firma?« Auch Jennifer war inzwischen ungeduldig geworden.

»Lecithine und Phospholipide.« Alexander machte eine bedeutungsvolle Pause, aber niemand beging den Fehler nachzufragen, wozu man diese Produkte brauche. Schließlich sagte Alexander: »Die HOBUM in Harburg, die haben sie auch gekauft.«

»Fein. Das wissen wir jetzt also. Und die Wasserwerke produzieren Wasser, das wissen wir auch. Aber das macht diesen Park für mich als Mordszene nicht attraktiver.«

»Bernd, ich weiß gar nicht, was du hast. Ganz gleich, wer diese Schießerei angezettelt hat, er wird sicher nicht geglaubt haben, dass er am Ende tot auf der Wiese liegen würde. Er wird sich überlegt haben, wie er von hier wegkommt. Und es gibt hier zwei wunderbare Fluchtwege. Du kannst auf dem Ausschläger Elbdeich sowohl nach Westen als auch nach Osten hervorragend entkommen. Und ganz gleich, für welche Richtung du dich entscheidest, auf jeden Fall bist du innerhalb weniger Minuten auf der Autobahn.«

»Ja, wenn du so weit kommst.« Bernd Kastrup war nicht überzeugt. »Die Schüsse sind gehört worden. Der Nachtwächter von Cargill hat sofort Alarm geschlagen. Der erste Streifenwagen war Minuten später am Tatort.«

»Minuten zu spät.«

»Schneller ging’s nicht. Und die Kollegen haben zunächst einmal gar nichts gesehen. Keinen Täter und kein Opfer. Sie sind von Osten gekommen. Und gleich danach war dann auch die zweite Funkstreife da. Von Westen. Keiner der Besatzungen ist auf der Fahrt zum Tatort irgendetwas Verdächtiges aufgefallen. Die Kollegen sagen, ihnen sei auch kein Fahrzeug entgegengekommen. Jedenfalls nicht in der Nähe des Tatortes.«

»Was sagt das schon?«

»Das sagt, dass es wahrscheinlich wirklich so war, wie die Frau es beschrieben hat: Die beiden jungen Männer haben sich gegenseitig totgeschossen.« Bernd Kastrup schüttelte den Kopf.

Der Staatsanwalt kam und ließ sich unterrichten. Joachim Kruse, einer der jungen Leute. Kastrup kannte den Mann. Sie begrüßten sich per Handschlag. Die Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft war erheblich besser geworden, seit vor zwei Jahren die Spezialabteilung für Kapitaldelikte eingerichtet worden war. Das waren lauter hoch motivierte Juristen, die großen Wert darauf legten, von Anfang an und schon vor Ort bei den Ermittlungen mit dabei zu sein. Es gab eine Rufbereitschaft, und auf diese Weise war sichergestellt, dass es durch den Einsatz der Staatsanwaltschaft keinerlei Verzögerungen gab.

»Seltsam«, sagte Kruse. »Verstehst du das, was hier abgelaufen ist?«

Bernd Kastrup schüttelte wieder den Kopf. »Wir werden es herausfinden«, sagte er.

* * *

Es war hell geworden. Etwa auf halbem Wege zwischen dem Sperrwerk und der Fabrik saß ein älterer Mann auf einem Klappstuhl am Ufer der Billwerder Bucht und angelte. Ein Zeuge? Wahrscheinlich nicht. Aber natürlich konnte man es nicht ausschließen.

»Na, haben Sie schon was gefangen?«, fragte Alexander.

»Nö.« Der Angler würdigte ihn keines Blickes.

»Sind Sie jeden Tag draußen zum Angeln?«, versuchte Alexander es erneut.

Der Mann trug eine Pudelmütze in HSV-Farben. »Nö.«

»Wie oft denn?«

»Nicht jeden Tag.«

»Aber manchmal auch nachts?« Alexander Nachtweyh hatte selbst noch nie geangelt, aber er hatte gehört, dass viele Angler davon überzeugt seien, dass die Fische nachts besser bissen.

»Jo.«

»Letzte Nacht auch?«

»Nö.«

»Aber Sie haben gehört, was hier passiert ist?«

»Jo.« Es schien ihn nicht sonderlich zu interessieren.

»Wenn Sie so oft hier draußen sind, dann sehen Sie doch sicher all die Menschen, die hier vorbeigehen. – Haben Sie vielleicht irgendetwas Verdächtiges gesehen in der letzten Zeit?«

»Was denn?«

»Das weiß ich auch nicht. Vielleicht irgendjemand, der sich auffällig benommen hat?«

»Nö.« Der Angler machte eine kleine Pause. Als Alexander schon gehen wollte, fügte er noch hinzu: »Ich interessiere mich nicht für Menschen. Ich interessiere mich nur für Fische.«

»Und für den HSV«, sagte Alexander. »Ich weiß.«

* * *

Jennifer Ladiges hatte sich die Reihe der Fahrzeuge vorgenommen, die am Rande des Ausschläger Elbdeiches geparkt waren. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass eigentlich niemand einen Grund hatte, sein Auto ausgerechnet hier abzustellen. Und die Campingwagen, die hier standen, gehörten sicher nicht den Alten aus dem Seniorenwohnsitz. Sie notierte sich jedes Kennzeichen. Eines der Fahrzeuge erschien ihr besonders verdächtig: ein großer, alter, cremefarbener Campingbus ohne Kennzeichen, bei dem jemand die Fenster von innen mit Papier zugeklebt hatte. Auf dem Beifahrersitz vorn saß ein riesengroßer, rosafarbener Teddybär.

Jennifer probierte die Tür, aber natürlich war das Fahrzeug verschlossen. Sie fotografierte den Wagen von allen Seiten. Sie würde den Halter schon herauszufinden.

»Wollen Sie den kaufen?«, fragte jemand.

Jennifer drehte sich um. Vor ihr stand ein grobschlächtiger Kerl mittleren Alters.

»Ist das Ihr Wagen?«

»Nee.« Der Mann lachte. »Meiner steht da drüben.« Er wies auf einen grüngelben Abschleppwagen.

Jennifer war schon aufgefallen, dass hier am Ausschläger Elbdeich einige dieser Geier auf ihren nächsten Auftrag warteten. »Stehen Sie öfter hier?«, fragte sie.

»Kann man so sagen.«

»Und wissen Sie zufällig, wem dieses Fahrzeug gehört?«

»Nee, das weiß ich nicht. Aber Sie, Sie sind doch Polizei, oder? Und dieses Fahrzeug, das ist nicht in Ordnung. Steht hier auf der Straße herum und hat nicht einmal ein Kennzeichen. Wissen Sie was? Lassen Sie doch die Karre einfach abschleppen! Ich bringe sie Ihnen eben rüber zur Ausschläger Allee, zur Fahrzeugverwahrstelle. Oder von mir aus auch direkt zum Präsidium, und dann wird sich der Besitzer schon melden, schätze ich.«

»Danke für den Tipp.«

»He, was soll das denn jetzt?«

»Reine Routine«, sagte Jennifer. Sie hatte den Abschleppwagen fotografiert. Jetzt notierte sie sich zusätzlich das Kennzeichen.

* * *

Bernd Kastrup war inzwischen über das Sperrwerk nach Kaltehofe hinübergeschlendert. Aber hier gab es nicht viel zu sehen. Hinter dem Gelände der Niederdeutschen Wanderpaddler gab es eine Werft für Yachten, ein paar Liegeplätze für Sportboote, ein paar primitive Wochenendhäuschen und sonst nichts. Der größte Teil der Halbinsel wurde durch das ehemalige Elbwasserwerk Kaltehofe eingenommen – heute ein Museum. Wenn man nicht in das Museum wollte, konnte man außen auf dem Deich um das Gelände herumlaufen und schließlich – aber das wusste Kastrup nicht so genau – wahrscheinlich auch auf irgendeine Weise nach Kirchwerder gelangen. Zu Fuß. Hier kam man mit dem Auto nicht durch.

Das Café hatte geöffnet. Zu dieser frühen Stunde war Bernd Kastrup der einzige Gast. Er bestellte einen Cappuccino.

»Haben Sie beruflich hier zu tun?«, fragte die junge Frau, die ihm den Becher brachte.

»Ja«, bestätigte Kastrup.

»Sind Sie der Elektriker, der hier im Museum die defekte Leuchte austauschen soll?«

Kastrup verneinte. »Ich bin von der Polizei«, sagte er.

»Oh.«

»Ja, man glaubt es gar nicht. Dies ist so eine friedliche Gegend, hier kann man sich gar nicht vorstellen, dass es irgendwelche Verbrechen gibt.«,

»Oh, sagen Sie das nicht! Geklaut wird hier auch. Es ist schon mehrfach vorgekommen, dass Besucher versucht haben, irgendwelche Gegenstände aus der Ausstellung einfach mitzunehmen. – Meistens können wir es verhindern. Wir sehen es ja auf der Videoüberwachung. Aber es ist immer sehr peinlich, wenn man die Leute darauf ansprechen muss.«

Kastrup fragte, was für Gegenstände denn bevorzugt geklaut würden.

»Alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Löffel und Tassen hier aus dem Café. Aber auch größere Dinge. Das Letzte, was uns geklaut worden ist, das war eine Tür.«

»Eine Tür?«

»Ja. Die Tür von einem der Schieberhäuser da draußen.«

»Wozu klaut jemand eine Tür?«

»Keine Ahnung. Dekorativ sieht sie ja aus, mit den gewaltigen Beschlägen, aber die passt doch nirgendwo hin. Das sind doch ganz ungewöhnliche Maße.«

»Unglaublich«, sagte Bernd Kastrup.

Der Hauptkommissar trank seinen Cappuccino aus und machte sich wieder auf den Weg. Er wäre gern noch eine Weile im Park spazieren gegangen, aber das war nicht drin. Kastrup kehrte zurück zum Tatort.

Trauns Park war einer der kleinsten Parks in ganz Hamburg. Er war etwa 500 Meter lang und an keiner Stelle mehr als 100 Meter breit. Die Anlage bestand überwiegend aus Rasenflächen. Lediglich entlang des einzigen Weges, der in geringem Abstand dem Zaun des Wasserwerkgeländes folgte, gab es Bäume. Zwei Gebäude standen im Park. Das eine war eine schöne alte Villa. Kastrup studierte die Schilder am Eingang. Hier residierte die Lebenshilfe. Das andere Gebäude war das Spielhaus Trauns Park, eine Art kostenloser Kindergarten für Kinder zwischen drei und 14 Jahren.

Bernd Kastrup ging um das Spielhaus herum. In einiger Entfernung stand ein großer, blauer Container, der hier im Park wie ein Fremdkörper wirkte. Kastrup sah ihn sich aus der Nähe an. Es war ein ganz normaler Zwanzigfußcontainer. Er gehörte dem Spielhaus. Die Tür war verschlossen. Jemand hatte einen Zettel angeklebt, auf dem stand: Wir bitten um Mithilfe: am Wochenende 1. März/2. März 2014 wurden aus unserem Container unter anderem folgende Sachen gestohlen: Mehrere Party-Zelte, blau und blau/weiß gestreift, unser großer Bollerwagen aus Holz, unser Jahresvorrat an Seife ...

Bernd Kastrup stellte sich einen ganzen Kindergarten voller Kinder vor, die sich seit dem März letzten Jahres nicht mehr hatten waschen können. Aber im Augenblick waren Kinder weder zu sehen noch zu hören. Auch nicht zu riechen. Das Spielhaus schien geschlossen.

Der Kommissar wandte sich nun dem formalen Garten zu. Ein kleiner Park im Park. In der Mitte prangte eine steinerne Kugel. Der Garten war der bescheidene Rest einer ursprünglich wesentlich größeren Anlage. Westlich des quadratischen Gartens standen in knapp 20 Metern Abstand voneinander zwei Vögel aus Stein.

»Raben sind das«, sagte ein alter Mann.

Bernd Kastrup nickte. Er hatte bemerkt, dass der Mann ihn schon länger beobachtete.

Ja, es konnten Raben sein. Überlebensgroße Sandsteinvögel mit kräftigen, spitzen Schnäbeln. Sie sahen weder freundlich noch böse aus. Eher wie Wächter, mit denen man rechnen musste. Aber in der letzten Nacht hatten sie versagt.

»Unglücksraben«, sagte der Mann. »Sie fressen Aas, sie fressen Leichen, sie bringen Unglück.«

Kastrup schüttelte den Kopf.

»Wenn ein Rabe dreimal schreit, stirbt ein Mann, wenn er zweimal schreit, eine Frau.«

Diese Raben hatten jedenfalls nicht geschrien.

»Zwei Raben und zwei Tote!«

Kastrup räusperte sich. »Da gibt es keinen Zusammenhang«, sagte er. Und dann, einer plötzlichen Eingebung folgend: »Sind Sie öfter hier in Trauns Park?«

»Ja, ich bin öfter hier.« Manchmal traf er sich mit einem anderen Rentner zum Schachspiel, manchmal, wenn der andere nicht kam, ging er nur spazieren. Er wohnte in einem der Seniorenwohnsitze.

Kastrup hatte die Neubauten gesehen. »Blick auf die Elbe«, sagte er.

Der Alte schüttelte den Kopf: »Blick auf das Nachbarhaus. Öder Beton. Wie im Gefängnis. – Ich gehe nach draußen, so oft ich kann. Wenn es mir gut geht, gehe ich bis nach da drüben, nach Kaltehofe. Oder auch nach Entenwerder. Aber es gibt zu wenig Bänke hier draußen, viel zu wenig Bänke.«

Kastrup nickte zustimmend. »Gehen Sie auch manchmal nachts raus, wenn Sie nicht schlafen können?«

»Wenn ich nicht schlafen kann? – Ich kann gut schlafen. Wie ein Stein. Nein, nachts gehe ich nicht raus. Aber am Tag so oft wie möglich. Auch wenn es regnet.«

»Und – ist Ihnen bei Ihren Spaziergängen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Ein Mörder vielleicht?« Der Alte lachte.

Bernd Kastrup blieb ernst. »Es muss ja nicht gleich ein Mörder sein. Irgendetwas, was anders war als sonst. Nicht unbedingt gestern, aber doch im Verlauf der letzten Tage.«

»Nein, hier war nichts Besonderes. – Das heißt – einmal ist einer hier gewesen, der hat sich auch alles ganz genau angesehen. Genau wie Sie. – Aber das ist schon etwas länger her. Zwei Wochen vielleicht. Oder drei.«

»Das muss nichts bedeuten.«

»Nein, das muss nichts bedeuten. Natürlich nicht.«

»Aber?«

»Aber er ist auch zu der Bank da drüben gegangen.« Der Alte deutete auf die Baumgruppe.

»Vielleicht wollte er sich ausruhen?«

»Nein. Jedenfalls hat er sich nicht auf die Bank gesetzt. Das ist einfach nur so eine alte Bank, wissen Sie. Völlig im Schatten. Es gibt keinen Weg, der dorthin führt. Da sitzt eigentlich nie einer. Höchstens Liebespaare. Manchmal. Oder Jugendliche, die in Ruhe ihre Drogen nehmen wollen. Da ist auch dieser abgesägte Baumstamm. Wie ein Tisch ist der.«

Kastrup nickte. Der Baumstamm war ihm auch aufgefallen. Eigentlich war es gar kein Baumstamm, sondern ein gut einen Meter langes Stück, das jemand aus einem Stamm herausgesägt und dort aufgestellt hatte.

»Und der Mann hat einfach nur da gesessen?«

»Nein.«

»Wie nein?«

»Nicht gesessen. Gestanden hat er da, eine ganze Weile, so als ob er auf jemand wartet. Jedenfalls habe ich gedacht, dass er auf jemand wartet. Und ich war neugierig. Ich wollte sehen, auf wen er wartet.«

»Und auf wen hat er gewartet?«

»Wenn ich stehen geblieben wäre, dann hätte er mich bemerkt. Sonst bemerkt mich keiner. Alte Menschen sind unauffällig, wir sind eigentlich so gut wie gar nicht vorhanden. Aber wenn man stehen bleibt und glotzt, das fällt schon auf. Also bin ich nicht stehen geblieben.«

»Schade.«

Aber der Alte war noch nicht am Ende mit seiner Geschichte. »Ich bin bis nach Hause gegangen und dann wieder zurück. Und jetzt war der Mann nicht mehr allein. Er hat da gestanden, und der andere hat vor ihm gestanden, und sie haben diskutiert.«

»Können Sie einen der Männer beschreiben?«

»Nein, kann ich nicht. Der eine hat mir ja den Rücken zugedreht. Und der andere – nein, das weiß ich nicht mehr.«

»War er alt oder jung?«

»Eher jung.«

»Und was hatte er an?«

»Normales Zeug.«

Normales Zeug! Der Alte hatte einfach nicht darauf geachtet. Schade. Aber der Mann sah den Kommissar so an, als wüsste er noch etwas anderes. »Was ist es?«, fragte Kastrup. »Was gibt es noch, was Sie mir erzählen wollen?«

»Auf dem Baumstamm lag etwas«, sagte er. »Natürlich konnte ich es vom Weg aus nicht genau sehen. Es war zu weit weg. Und ich hatte meine Fernbrille nicht dabei. Aber – wenn ich es mir recht überlege, dann könnte das, was da gelegen hat, wohl eine Pistole gewesen sein. Oder zwei.«

* * *

Der engere Bereich des Tatortes war noch immer abgesperrt.

»Was macht ihr denn so lange?«, fragte Kastrup.

»Wir suchen die Projektile.«

Kastrup rief im Präsidium an. Der zweite Tote war inzwischen identifiziert. Es handelte sich tatsächlich um Kai Sundberg.

Alles, was an Müll herumlag und möglicherweise mit der Tat im Zusammenhang stand, war inzwischen eingesammelt worden. Kastrup fand unter den Büschen noch einen durchgeweichten Reklamezettel. Bio-Garnelen waren im Angebot. Außerdem Lachs-Lasagne für 1,99 Euro. Erstaunlich, was es alles gab.

Einen Kaffeebecher der Schanzenbäckerei hatten die Kollegen zuvor sichergestellt. Sie hatten geglaubt, der könne von Bedeutung sein; die Schanze lag immerhin über sieben Kilometer von hier. Aber dann hatte sich herausgestellt, dass es eine Filiale der Schanzenbäckerei in unmittelbarer Nähe gab.

Die Nachsuche am Tatort dauerte ungewöhnlich lange. Eigentlich hätte alles ganz einfach sein müssen. Die beiden Männer hatten die gleichen Waffen verwendet. Zwei Revolver. Eigentlich praktisch; da Revolver die Geschosshülsen nicht auswerfen, brauchten sie nur nach den Projektilen zu suchen. Durch Auszählen der nicht verschossenen Patronen ergab sich, dass nur fünf Schüsse abgefeuert worden waren. Bernd Kastrup glaubte aber, mehr Schüsse gehört zu haben, mindestens acht. Auch der Nachtwächter von Cargill hatte viele Schüsse gehört, sicher mehr als fünf, und der Nachtwächter von Hamburg Wasser hatte sogar angegeben, mehr als zehn Schüsse gehört zu haben.

Die Suche nach den Projektilen auf der Rasenfläche war keine einfache Aufgabe. Schließlich mussten sie einen Zug Bereitschaftspolizei einsetzen und obendrein einen Sprengstoffspürhund. Kastrup hatte gezögert, den Hund anzufordern. Er hatte keine allzu gute Meinung von den vierbeinigen Mitarbeitern der Polizei. Aber in diesem Fall musste er seine Meinung revidieren. Während die Polizisten lediglich drei rostige Nägel und einen alten Angelhaken aus dem Rasen klauben konnten, fand der Hund die gesuchten Geschosse.

* * *

»Da habe ich ja noch einmal Glück gehabt«, sagte die junge Frau.

Jennifer wusste inzwischen, dass Julia Dachsteiger 28 Jahre alt war, drei Jahre älter als sie selbst. »Der Arzt hat gesagt, dass die Verletzung zwar schmerzhaft aber nicht gefährlich ist«, bestätigte Jennifer. Eigentlich hätten sie zu zweit sein sollen, aber um die Verletzte nicht unnötig zu belasten, war Jennifer allein gegangen. »Sind Ihre Angehörigen benachrichtigt worden?«

»Ich habe keine engeren Verwandten, die benachrichtigt werden müssten. Ich habe vorhin in der Firma angerufen und gesagt, dass ich nicht kommen kann.«

Jennifer betrachtete den Blumenstrauß, der auf dem Nachttisch stand. »Hübsche Blumen«, sagte sie.

»Die sind von der Firma. Eine Kollegin ist hier gewesen und hat den Strauß vorbeigebracht.«

»Das ist nett.« Jedenfalls war Julia auch ohne nahe Angehörige nicht allein.

Julia erzählte, dass sie oft spät abends mit dem Hund draußen sei. Je nachdem, ob sie vormittags oder nachmittags Dienst habe. Sie arbeite halbtags bei einer Softwarefirma in Rothenburgsort. »Ich hätte nie gedacht, dass so etwas passieren könnte«, sagte sie. »Ich habe mich immer vollkommen sicher gefühlt. Besonders, wo ich doch Rocko dabei hatte.«

»Rocko – das ist Ihr Hund?«

»Ja, ein Schäferhund. Ich habe ihn aus dem Tierheim. – Haben Sie ihn inzwischen gefunden?«

Jennifer schüttelte den Kopf.

»Ich mache mir ernsthaft Sorgen. Er muss doch Hunger haben. Wo soll er denn etwas zu fressen finden?«

Jennifer glaubte nicht, dass der Hund verhungern würde. Irgendjemand würde sich sicher um ihn kümmern. Aber wieso konnte er überhaupt weglaufen? »Hatten Sie den Hund an der Leine?«

Julia schüttelte den Kopf. »Frau Kommissarin, das ist mir peinlich, aber – haben Sie einen Hund?«

Nein, Jennifer hatte keinen Hund.

»Dann können Sie sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wie das ist. So ein Tier, wenn das den ganzen Tag in der Wohnung eingesperrt ist, dann braucht das ganz einfach Bewegung. So ein Hund, der will herumlaufen. Und wenn das so ein großer Hund ist wie mein Rocko, dann will der nicht nur an der Leine spazieren geführt werden, sondern sich austoben. Und hier im Park – ich habe nicht gedacht, dass das irgendwelche Probleme gibt, wenn ich ihn hier losmache.«

Die Kaninchen sehen das wahrscheinlich anders, dachte Jennifer. Aber für den Schutz von Kaninchen fühlte sie sich nicht zuständig. Für sie war zunächst einmal wichtig, zu wissen, warum Julia nachts im Park gewesen war.

»Er ist noch nie weggelaufen«, sagte Julia. »Aber er ist natürlich noch nie beschossen worden.«

»Ist denn auch auf den Hund geschossen worden?«

»Ich weiß es nicht. Es ging alles so schnell, und bevor ich irgendetwas tun konnte, hatte ich schon die Kugel abgekriegt und lag am Boden. Und dann – dann war alles genauso schnell wieder vorbei, wie es begonnen hatte. Und ich – ich habe mich aufgerappelt und bin losgerannt – direkt Ihrem Kollegen in die Arme. Ein glücklicher Zufall. Der Kommissar hat dann dafür gesorgt, dass ich erst einmal ins Krankenhaus gekommen bin.«

»Es gibt noch eine Kleinigkeit, die ich gerne klären würde«, sagte Jennifer. »Es gibt im Park einen Blutfleck, ein ganzes Stück abseits vom Weg, an der Stelle, wo diese Bank steht.«

Julia nickte. »Ja, das ist richtig. Das ist die Stelle, wo es passiert ist. Ich hatte den Hund freigelassen und mich einen Moment lang auf die Bank gesetzt ...«

»War Ihnen das nicht zu kalt?«

»Warm war es nicht gerade, aber, wissen Sie, wenn man viele Stunden im Büro herumgelaufen ist, dann freut man sich auch, wenn man sich mal einen Augenblick ausruhen kann.«

»Aber Sie haben nicht auf der Bank gesessen, sondern gestanden ...«

»Ich hatte auf der Bank gesessen. Aber dann habe ich plötzlich etwas gehört. Und ich hatte das Gefühl, dass irgendwelche Leute im Dunkeln herumliefen. Das kam mir unheimlich vor. Ich wollte nicht gesehen werden, verstehen Sie? Deshalb bin ich aufgestanden und hinter die Bank gegangen. Hinter der Bank, da ist dieses Gebüsch, und da ist man eigentlich nicht zu sehen.«

»Und wo war der Hund?«

»Rocko war an meiner Seite.«

»Und irgendjemand hat Sie dann doch gesehen und auf Sie geschossen.«

»Ich weiß nicht. – Nein, eigentlich glaube ich, dass das Ganze ein Zufall gewesen ist. Ich denke, diese beiden Männer, von denen Ihre Kollegen geredet haben, die haben aufeinander geschossen, und dabei ist vielleicht eine der Kugeln danebengegangen und hat mich an der Schulter erwischt.«

»Das ist Pech.«

»Ja, das ist wirklich Pech. Aber – wie gesagt – irgendwie habe ich auch Glück im Unglück gehabt. Die Ärzte sagen, ein Schuss in die Schulter, das sei nicht so schlimm.«

»Frau Dachsteiger, ich möchte noch einmal nachfragen, was Sie beobachtet haben. Diese beiden Männer – haben Sie die tatsächlich gesehen?«

»Ich habe sie mehr gehört als gesehen.«

»Und was haben Sie gehört?«

»Schritte, denke ich.«

»Schritte? Auf dem Rasen?«

»So genau weiß ich das nicht mehr. Irgendein Geräusch halt. Oder mehrere Geräusche, und ich wusste, dass das nicht mein Hund ist, der dort herumläuft.«

»Weil er an Ihrer Seite war.«

»Nein, erst nicht. Ich habe nach ihm gerufen, ganz leise, und dann kam er.«

»Sonst haben Sie nichts bemerkt?«

»Nein, sonst nichts. Ich habe ja schon gesagt, es war eigentlich nur so ein Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, und da bin ich aufgestanden und ...«

»Haben Sie Stimmen gehört?«

»Stimmen?«

»Haben die Männer miteinander geredet, bevor geschossen wurde? Haben sie sich vielleicht gestritten? Sich angeschrien?«

»Ich habe nichts gehört. Keine Stimmen jedenfalls. Nein, sie haben sich ganz sicher nicht angeschrien. Es gab diese Geräusche, und dann ist sofort geschossen worden. Und den Rest wissen Sie ja.«

* * *

Als Bernd Kastrup schließlich ins Präsidium kam, hatte Torsten Bartels, der Spezialist vom LKA 38, die Laserscanaufnahmen des Tatortes schon aufbereitet. Dreidimensionale Abbildungen der Wirklichkeit hatten etwas Faszinierendes. Kastrup hatte Alexander zur Präsentation mitgebracht, weil der sich mit allem, was mit Computern zu tun hatte, wesentlich besser auskannte als er selbst. Aber es war dann doch Kastrup, dem etwas auffiel.

»Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte er.

»Was stimmt nicht?«, fragte Bartels.

Alexander wusste sofort, was Kastrup meinte.

»Das soll keine Kritik an Ihrer Arbeit sein«, sagte Kastrup rasch. »Aber das hier, das sind doch die Punkte, wo die beiden Toten gelegen haben. Und da drüben, da hat die Frau Dachsteiger gestanden. Das kann so nicht sein. Da stimmt irgendetwas nicht. Wir sind bisher davon ausgegangen, dass die beiden Dealer sich aus irgendeinem Grund gegenseitig erschossen haben, und dass die junge Frau, diese Julia Dachsteiger, zufällig von einer verirrten Kugel getroffen worden ist. Das setzt aber voraus, dass die drei Personen in einer Linie gestanden haben.«

Das war, wie sich jetzt am Bildschirm zeigte, nicht der Fall gewesen. Es gab eine Abweichung. Diese Julia hatte zu weit rechts gestanden.

»Glauben Sie«, fragte Bartels, »dass die junge Frau in Wirklichkeit woanders gestanden hat?«

Nein, das hatte sie nicht. Julia war mit Sicherheit dort angeschossen worden, wo sich der Blutfleck befand. Ihre Position ließ sich eindeutig rekonstruieren.

»Aber die anderen beiden Akteure – die haben doch mehrere Schüsse aufeinander abgegeben. Da war Dynamik im Spiel. Was wir haben, sind ja nur die Fundorte der beiden Toten. Es könnte doch sein, dass sie zu Beginn der Schießerei anders gestanden haben.«

Kastrup schüttelte den Kopf. Er deutete auf die Punkte, an denen die vier Projektile im Gras gesteckt hatten. Diese Punkte lagen alle in Verlängerung der Linie, auf der die beiden Toten gefunden worden waren. Es war alles sehr schnell gegangen, fast wie bei einem Duell. Lediglich ein einzelner Schuss war in eine andere Richtung gegangen, und der hatte Julia getroffen.

»Vielleicht hat der eine der beiden Schützen die Frau bemerkt«, schlug Bartels vor. »Dann hat er einen Schuss auf sie abgegeben und sie getroffen.«

»Trotz der Dunkelheit und der großen Entfernung?«

»Ja, offensichtlich.«

»Das sind 15 Meter?«, fragte Kastrup.

»Etwas über 20 Meter. – Wahrscheinlich ist deshalb auch die Kugel in der Schulter stecken geblieben.«

»Möglich«, brummte Kastrup.

»Oder vielleicht hat der Mann den Schuss im Fallen abgegeben. Das wäre doch auch eine Möglichkeit. Ein Fehlschuss, der dann zufällig die Frau getroffen hat.«

»Auch möglich.«

»Irgendwie muss es ja schließlich passiert sein!«

* * *

»Was ist das denn für ein Schwachsinn!« Bernd Kastrup starrte auf seinen Bildschirm. Er hatte erst jetzt die Ankündigung des Doppelmordes in seiner Mailbox gefunden.

»Das ist eine E-Mail, würde ich sagen.« Alexander Nachtweyh stand hinter ihm.

»Und was soll das?«

»So wie es aussieht, ist das ein Bekennerschreiben.«

»Ja natürlich, das sehe ich auch. – Alexander, wo kommt diese Mail her?«

»Von hyena, das steht doch da.« Alexander wies auf die Kopfzeile der anonymen Botschaft.

»Ich kenne keine Hyäne.«

»Ich auch nicht. Jedenfalls keine, die E-Mails verschickt. Wenn du mehr wissen willst, dann kannst du da oben auf dieses Icon klicken – das Zeichen mit dem Rad da rechts in der Ecke –, und dann kannst du dir den Quelltext dieser Nachricht anzeigen lassen.«

Bernd Kastrup ließ sich die Mail im Quelltext anzeigen.

»Und jetzt kannst du ganz einfach unter Received From nachlesen, wer dir diese originelle Botschaft geschickt hat. Das heißt – ich sehe schon, dein Freund, die Hyäne, möchte nicht, dass man ihm so leicht auf die Schliche kommt. Hier steht nur die IP-Nummer.«

»Und jetzt?«

»Jetzt hast du die IP-Nummer. Damit kannst du schon einmal ausschließen, dass diese Mail zum Beispiel von meinem Rechner kommt. Vorausgesetzt natürlich, dass ich nicht irgendeinen Trick anwende und die Mail über allerlei Umwege und Tarnadressen schicke. Dann hast du gar nichts.«

»Aber ich kann den tatsächlichen Absender herausfinden?«

»Vielleicht ja, vielleicht nein.«

»Und was ist deine Einschätzung?«

»Eher nein, würde ich sagen.«

»Wir versuchen es trotzdem. Wir schicken den Antrag per Fax an die Staatsanwaltschaft; die soll sich darum kümmern. Das ist doch der richtige Weg, oder?«

»Ja, das ist der Weg.«

»Wie lange dauert das?«

»Keine 24 Stunden, sagen sie.«

»Und diese – diese Hyäne – wie kommt die an meine EMail-Adresse?«

»So wie jeder denkende Mensch, würde ich sagen. Solange wir unsere eigenen Namen für die E-Mail-Adressen verwenden, ist es nicht besonders schwierig, jemanden anzumailen. Das Kürzel hinter dem @ ist ja auch klar, das kannst du überall nachschlagen.«

»Wie kann er wissen, dass ausgerechnet ich diesen Fall bearbeite?«

»Vielleicht weiß er es gar nicht. Aber dein Name ist im letzten Jahr mehrfach in der Zeitung aufgetaucht, da hat er den eben genommen.«

Eins stand damit fest: Die beiden Toten hatten sich nicht bloß gegenseitig erschossen. Auf irgendeine Weise war auch die Hyäne mit im Spiel gewesen. Aber wie? Wie hatte sie eingreifen können, wenn nur fünf Schüsse abgefeuert worden waren, fünf Schüsse aus den Revolvern der beiden Toten? Bernd Kastrup nahm an, dass in Wirklichkeit mehr Schüsse gefallen waren.

* * *

Bernd Kastrup hatte mit Thomas Brüggmann, seinem Chef, abgestimmt, was auf der Pressekonferenz gesagt werden sollte und was nicht. Sie hatten sich darauf geeinigt, die Bekenner-E-Mail nicht zu erwähnen und auch sonst so wenig Informationen wie möglich preiszugeben. So schilderte der Hauptkommissar mit knappen Worten nur das, was sie am Tatort vorgefunden hatten und ließ sich auf keinerlei Spekulationen ein.

»Aber die beiden Toten sind der Polizei bekannt?«

»Ja, das ist richtig.«

»Es handelt sich um Kleinkriminelle?«