image

Carola Clasen

Sechs in der Eifel

Bisher von der Autorin bei KBV erschienen:

»Novembernebel«

»Das Fenster zum Zoo«

»Tot und begraben«

»Auszeit«

»Schwarze Schafe«

»Wildflug«

»Mord im Eifel-Express«

»Spiel mir das Lied vom Wind«

»Tote gehen nicht den Eifelsteig«

»Die Eifel sehen und sterben«

»Nirgendwo in der Eifel«

Seit 1998 schreibt Carola Clasen Kriminalromane, die in der Eifel spielen. »Sechs in der Eifel« ist ihr achter Roman mit der eigenwilligen Kommissarin Sonja Senger. Auch mit ihren Kurzgeschichten und Lesungen hat Carola Clasen sich einen Namen in der Region gemacht. Die »Queen of Eifel-Crime« ist Mitglied im Syndikat, lebt und arbeitet in Hürth.

Carola Clasen

Sechs in der Eifel

Der achte Fall von Sonja Senger

image

Originalausgabe

Für Marie-Luise und Ina
Ihr wisst schon, warum
.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

»Das verstehe ich nicht«, sagte Martin Beck.

Kommissar der Riksmord-Kommissionen in Stockholm,
in Und die Großen lässt man laufen
von Maj Sjöwall und Per Wahlöö

1. Kapitel

Kaum hatte Anselmo die Tür des kleinen Mansardenzimmers hinter sich geschlossen, stürmte Sandra ans Fenster, zog die Gardinen zurück und riss beide Flügel auf. Es war kurz nach Mitternacht, ein zunehmender Mond hing in einem wolkenlos schwarzen Himmel voller Sterne. Alle sechs Birnen der Deckenlampe brannten, die ganze Welt sollte sehen, wenn Sandra sich auszog.

Obwohl sie eigentlich niemand sehen konnte, wie Anselmo wusste, denn Uwe hatte ihnen die absolute Einöde in Weyer in der Eifel versprochen, und tatsächlich stand weit und breit kein anderes Haus am Waldrand. Der alte Hof Bergrath mitsamt Scheune und Schuppen gehörte Uwes Vater, der aber keinerlei Interesse daran zeigte, sondern ihn leer stehen und verkommen ließ. Er wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass sein eigener Sohn hier jeden Sommer mit sechs Kommilitonen ein paar Wochen lang immer wieder das gleiche aufregende Rollenspiel veranstaltete. Sie nannten das »Sommermärchen«.

In Karnevalskostüme verkleidet konnten sich die Studenten neu erfinden. Jeder Tag stand unter einem anderen Motto. Gestern war es um Vertrauen gegangen, vorgestern um Loslassen. Eifersucht war das heutige Thema. Ein spannendes Problem aus psychologischer Sicht. Ging es doch bei der Eifersucht ursprünglich vor allem darum, die eigene Stellung innerhalb einer Gruppe und damit letztlich den Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen zu sichern.

Das war schon der vierte Sommer, und jeder verlief anders, obwohl die Themen immer dieselben waren. Jeder der ausgewählten Probanden ging anders mit den künstlich gestellten Situationen um. Einmal hatten zwei schon in der ersten Nacht den Hof panikartig verlassen, und letzten Sommer, da hatte es eine ziemlich heftige Prügelei unter den Männern gegeben, und die Frauen hatten sich beinah die Augen ausgekratzt.

Und in diesem Jahr? Noch war alles paletti. Keine Katastrophen in Sicht. Eine Woche lang hielten alle tapfer durch. Drei Wochen hatten sie noch vor sich. An ihm sollte es nicht liegen, dachte Anselmo und freute sich auf eine Nacht ganz allein mit Sandra Klemens.

Er musterte sie ausgiebig. Sie war hübsch, nicht gerade schlank, ihr Krankenschwesterkostüm machte ihre Kurven unübersehbar. Und sie hatte diese ungeheure Lust auf alles, was sich jenseits der Konventionen befand. Verglichen mit den beiden anderen jungen Frauen, Schneewittchen und Dirndl, mit denen Anselmo schon das Vergnügen gehabt hatte, war Krankenschwester Sandra eindeutig das große Los. Im wirklichen Leben war sie – wie alle anderen auch – Studentin der Psychologie.

Sie stand noch immer am Fenster. Sie breitete die Arme aus, schüttelte ihre langen, blonden Haare unter dem Schwesternhäubchen und rief in die Finsternis hinein: »Die Show beginnt!« Sie öffnete den breiten, roten Lackledergürtel, den sie um ihren engen Schwesternkittel, der knapp ihren runden Po bedeckte, gebunden hatte. Lasziv ließ sie den Gürtel hinter sich fallen, sodass er sich um ihre roten Highheels schlängelte, ehe sie sich wieder Anselmo zuwandte und aufgeregt rief: »Da ist jemand!«

Anselmo schielte über ihre Schulter und entdeckte tatsächlich gegenüber im kleinen Fenster des Schuppens ein wackliges Licht, das gegen die Dunkelheit kämpfte. Unmöglich, Sandra sah Gespenster. »Ach wo! Das ist nur unsere Deckenlampe, die sich in der Fensterscheibe spiegelt.«

»Nein«, behauptete Sandra. »Echt! Da ist jemand!«

»Und wenn schon!«, sagte Anselmo und legte seine weißen Vampirhandschuhe um ihren Hals. »Dann bieten wir ihm was!«

Von der Musik, die durch das Haus dröhnte, kamen im ersten Stock nur die rhythmischen Bässe an. Sandra und Anselmo bewegten sich dazu im Takt. Die ersten Motten segelten herein und steuerten auf die Deckenlampe zu. Anselmo streifte die weißen Handschuhe von seinen Händen und öffnete den Haken seines schwarzen Umhangs mit dem hohen Kragen des Vampirkostüms, ließ ihn von den Schultern gleiten und schleuderte ihn durch die Luft wie ein Torero seine Muleta.

Sandra öffnete den ersten Knopf ihres Kittels. Der Ausschnitt gab den Blick auf ihren roten Spitzenbüstenhalter und das kleine Tattoo auf der rechten Brust frei. Anselmo konnte seinen Blick kaum von der schwarzen Rose abwenden, deren Blätter sich öffneten.

Der zweite Knopf, der dritte Knopf, der Kittel sprang auf. Die schwarzen, halterlosen Strümpfe endeten eine Handbreit unter dem knappen Slip. Im Bauchnabel glitzerte eine Perle.

Anselmo riss sich das weiße Rüschenhemd vom Leib. Sein Amulett – ein silbernes Pentagramm – verdrehte sich am Lederband, ehe es auf seiner nackten Brust zur Ruhe kam.

Sandra warf die roten Highheels von den Füßen, kam mit tänzelnden Schritten auf Anselmo zu, legte ihre Hände auf seine Schultern und ließ sie langsam über seine Brust und seinen flachen Bauch bis zu seinem Gürtel gleiten. Anselmo knirschte mit seinen Vampirzähnen und fauchte leise.

»Beiß mich«, hauchte sie.

»Wenn du die Strümpfe anlässt«, forderte er.

»Wie du willst«, flötete Sandra und drehte sich zum offenen Fenster. Für den unsichtbaren Mann im Schuppen streichelten sie sich. Anselmo trat hinter sie, hakte ihren BH auf, streifte die Träger von ihren Schultern. Sandra warf den Kopf zurück.

»Leg dich hin!«, verlangte Anselmo.

Sandra winkte dem Licht im Schuppen zum Abschied zu, schickte ihm einen Luftkuss, gewährte ihm einen letzten Anblick ihrer Rückseite, ehe sie umständlich aufs Bett kletterte auf der Suche nach einer malerischen Position. Sie rekelte sich auf den Laken, kreuzte die Arme unter dem Kopf und winkelte ein Bein an. Das Schwesternhäubchen mit dem roten Kreuz rutschte ihr über den Pony.

Mit einem Hechtsprung warf Anselmo sich auf sie. Sie schrie auf. Das Bett ging in die Knie. Er presste seine Lippen an ihren Hals und begann an ihrer Schlagader zu knabbern. Von dort wanderten seine Vampirzähne über ihre Brüste und ihren Bauch und nagten zart an der Innenseite ihrer Oberschenkel.

Vergessen waren das offene Fenster, die Festbeleuchtung, das Schwirren der Motten, die schwarze Nacht, das Licht im Schuppen, die Freunde, die Bässe, die Welt.

Und ungehört öffnete sich die Tür.

2. Kapitel

Wenn möglich, bitte wenden, riet Alexander fürsorglich.

»Ach, nee!« Hauptkommissarin Sonja Senger hielt an, beugte sich vor, legte ihr Kinn aufs Lenkrad und blinzelte durch die Windschutzscheibe: Keine Straßenlaternen, keine Ampeln, keine Häuser, keine anderen Autos, rein gar nichts war zu erkennen, nur die Stele einer einsamen Bushaltestelle, die das Licht der Scheinwerfer reflektierte. Sonja bog in die Parkbucht ab und entnahm der Inschrift, dass sie sich an der Haltestelle Siedlung Weyer befand. Sie stieg aus und studierte den Fahrplan. Die Linie 821 fuhr auf dieser Seite in Richtung Kall.

»Kall?« Das war völlig unmöglich! Sie kam aus Bonn und wollte nach Hause, nach Wolfgarten. Kall lag keinesfalls auf ihrer Strecke.

Der 821er war ein sogenannter Taxi-Bus, der nur auf telefonische Anforderung fuhr und das nur zu zivilen Zeiten und erst dreißig Minuten, nachdem man auf die Idee gekommen war, mit einem Bus fahren zu wollen. Aber auf keinen Fall um 1.27 Uhr mitten in der Nacht.

Gegenüber, wo es nicht nur eine weitere Stele, sondern auch ein marodes Wartehäuschen mit Bank gab, fuhr der 821er nach Zingsheim – wenn man ihn vorher angefordert hatte. Zingsheim! Das war genauso unmöglich. Und perfide zugleich. Der VRS spielte der Frau Hauptkommissarin einen bösen Streich. Anders konnte es nicht sein. Einziger Trost war, dass Sonja nun wusste, wo sie sich befand. Aber auch das war kein Anlass zur Zuversicht.

Als sie wieder ins Auto stieg, schnurrte Alexander wieder: Wenn möglich, bitte wenden.

»Klugscheißer!«, fluchte sie, was ungerecht war, denn sie hatte ihr Navigationsgerät erst vor wenigen Kilometern eingeschaltet, als sie feststellte, dass sie die Orientierung verloren hatte. Und Alexander hatte bis eben noch vergeblich versucht, Kontakt zu einem Satelliten herzustellen.

Sonja tippte auf das Display, der Kartenausschnitt verkleinerte sich, weitere Ortschaften tauchten auf: Urft, Weyer, Zingsheim, Nettersheim. Die Straße, auf der sie stand, war die L 206.

Wenn möglich, bitte wenden.

»Ja, ja, ist ja schon gut.« Sonja hatte eine männliche Stimme gewählt, als sie ihr neues Navi einrichtete, weil sie es liebte, mit einem Mann zu diskutieren und nicht zu tun, was er sagte. Ihn Alexander zu nennen, war nicht Sonjas Idee gewesen, sondern die des Herstellers, der auch noch eine Frauenstimme namens Daniela im Programm hatte. Wütend koppelte Sonja das Navi aus seiner Befestigung und warf es neben sich, trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad und sprang wieder aus dem Auto.

Sie trug ein dunkelrotes, schmal geschnittenes Abendkleid aus leichtem Jersey, das nicht besonders tief ausgeschnitten, aber ärmellos und eng anliegend war und ihr bis auf die Knöchel reichte. Sie zog die schwarze Stola vom Rücksitz und raffte sie um ihre Schultern. Ratlos strich sie mit den Händen über das feuchte Autodach und beobachtete ihre Atemstöße, wie sie sich im Dunst der Nacht verloren. Unruhig blickte sie sich um. Kälte und Dunkelheit und Stille und Einsamkeit. Sie redete sich gut zu: Polizisten kennen keine Angst.

Die Frage, wie sie hier wieder wegkam, war weniger brisant als die Frage, wie sie bloß hierhergekommen war.

Sie war zu einer Party in die Staatsanwaltschaft Bonn eingeladen worden, hatte ein Glas Rotwein zu viel getrunken, zu viel geredet und gegessen. Als Krönung hatte sie ihren obersten Dienstherrn, Oberstaatsanwalt Bernd Wesseling, dazu überredet, mit ihr ein Tänzchen zu wagen. Zur Belustigung der Kollegen waren sie sich gegenseitig auf die Füße getreten und sich dabei nähergekommen, rein physisch, als je zuvor. In einem Anfall von Übermut hatte sie nicht widerstehen können, als er ihr lange vor Ende der Veranstaltung unbedingt seine neue Wohnung zeigen wollte. Sie war hinter ihm hergefahren und fragte sich, ob sie von allen guten Geistern verlassen sei. Ja, sie war es.

Bernd Wesseling hatte sich vor zwei Jahren aus unklaren Gründen von Aachen nach Bonn versetzen lassen. Nach einem halben Jahr war er das Pendeln satt geworden und hatte nach einer kleinen Dienstwohnung gesucht, denn Hilde, seine Frau, hatte nicht umziehen wollen. Sie hatte ihn noch nie in Bonn besucht. Das Ehepaar Wesseling führte nun eine Fernbeziehung, die beiden sahen sich nur am Wochenende, und nicht an jedem, was – wie Wesseling betonte – ihrer Ehe guttat. Obwohl er nicht mehr ganz so korrekt gekleidet war wie zu der Zeit, als Hilde noch auf seine Bügelfalten geachtet hatte, saß sein blonder Mittelscheitel doch immer akkurat am selben Platz, und seinen Herrenduft hatte er auch nicht gewechselt. Jene Mischung aus Sandelholz, Tabak und Zedern, von der er offenbar annahm, dass sie Frauen betörte.

Seine neue Wohnung lag unterm Dach in einer alten, hochherrschaftlichen Villa an der Poppelsdorfer Allee. Unten wohnte die Eigentümerin, eine ältere Dame, Elisabeth Hornschuh, Kunsthistorikerin im Ruhestand und Witwe, im ersten Stock ihr Sohn Theo, ein junger Anwalt, der aber die meiste Zeit in seiner Kanzlei verbrachte. Einen Staatsanwalt im Haus zu haben, empfand Frau Hornschuh als beruhigend, noch dazu einen älteren, seriösen Herrn, der gewiss kein Lotterleben führen würde.

So konnte man sich irren.

Die alte Dame war noch wach, hinter den Vorhängen brannte ein schummriges Licht. Die geschwungene Holztreppe knarrte unter den Schritten der verstohlenen Heimkehrer, sie kicherten und stolperten. Als sie oben angekommen waren, wurde unten eine Tür geöffnet.

»Herr Oberstaatsanwalt?«, krähte Frau Hornschuh.

»Psst!«, machte Wesseling und zog Sonja zu seiner Wohnungstür.

»Alles in Ordnung?«

»Aber sicher«, antwortete er, trat an das Geländer und sah hinunter. »Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie geweckt haben sollte.« Ganz Gentleman vom Mittelscheitel bis zum handgenähten Lederschuh.

»Nein, nein, das haben Sie nicht«, beteuerte Frau Hornschuh und trat in die Diele.

Sonja konnte sie nicht sehen, aber sie hatte sich längst ein Bild von ihr gemacht. Weiße Haare, aufgesteckt zu einer Vogelnestfrisur, teure Perlenkette auf einem grauem Twinset, Plüschpantoffeln – so musste sie aussehen.

»Ich bin froh«, rief die alte Dame, »dass Sie endlich da sind. Ich kann einfach nicht schlafen, wenn ich allein im Haus bin, und Theo ist noch unterwegs.«

»Ein fleißiger Junge«, lobte Wesseling. »Aus dem wird mal was.«

»Das will ich hoffen«, sagte Frau Hornschuh. »Eine gute Nacht wünsche ich Ihnen, Herr Oberstaatsanwalt, und der Dame auch.«

Wesseling wollte protestieren, aber sie hatte ihre Wohnungstüre schon zugedrückt. Er schloss seine Wohnung auf, küsste Sonja auf den Handrücken und schob sie sanft hinein. Im Halbdunkel streifte er ihr die Stola von den Schultern, hängte sie an den Türgriff und fragte: »Was möchtest du trinken?«

»Wasser!«, stieß Sonja hervor, balancierte voraus und hörte, wie die Wohnungstür mit einem kleinen Seufzer zufiel.

Der Flur war lang und schmal. Die Zimmertüren standen weit offen. Wohn- und Schlafzimmer seines Asyls zeigten zum dunklen Garten, Küche und Bad blickten über die Straße hinweg zur gegenüberliegenden Häuserzeile, ebenfalls Villen mit hohen, halbrunden Fenstern, Erkern und Giebeln.

Sonja konstatierte Gediegenheit: alte Dielenböden, Stuck an den Zimmerdecken, weiß lackierte Kassettentüren. Wesseling hatte seine Wohnung minimalistisch eingerichtet, kein Nippes, keine Blumen. Allein ein Balkon fehlte, wie Sonja im Stillen bemängelte.

Wesseling hängte sein Jackett ordentlich über eine Stuhllehne. Er trug ein blau-weiß gestreiftes Hemd und eine rote Krawatte. Er schenkte Rotwein in zwei Gläser. Sie ließ sich auf das schwarze Ledersofa fallen, er legte eine Platte auf – er hatte tatsächlich einen Schallplattenspieler –, setzte sich auf die Armlehne und reichte ihr ein Glas. War es das Glas, das ihre nackte Schulter kurz berührte, oder seine Finger? Sie prosteten sich zu, leise Piano-Musik begann im Hintergrund zu plätschern.

»Gershwin«, erklärte Wesseling überflüssigerweise. Sonja hatte Summertime aus Porgy and Bess längst erkannt. Sie nippte am Wein, er trank gar nichts, beide stellten ihre Gläser zurück. Er beugte sich hinunter zu ihr, näherte sich ihrem Ohr und flüsterte hinein: »Endlich.«

Sonja zog die Stirn kraus. Moment! Was ging hier vor? Sollte dieses »Endlich« sich auf ihren letzten gemeinsamen Fall vor über einem Jahr beziehen, als er darauf bestanden hatte, sie nach Hause zu fahren, nachdem sie sich auf dem Eifelsteig bei einem Gerangel mit Tätern und Opfern ihr rechtes Bein verletzt hatte? Seine Fürsorge im Schlafzimmer des Forsthauses war damals nur durch den Kollegen Neugebauer gestört worden, der Wesseling seinen Dienstwagen brachte, kurz bevor ... oder hatte er etwa schon länger ... etwa schon seit ihrer ersten Begegnung auf dem Feuerwachturm ... oder immer schon? Und sie selbst? Wollte sie das? Nein, hämmerte es in ihrem Kopf. Nein, nein, nicht jetzt, nicht hier, nicht so!

»Ich muss gehen«, sagte sie entschlossen, stieß ihn beiseite, erhob sich und strich ihr Kleid glatt. Ehe er aufstehen konnte, war sie schon an der Tür und nahm ihre Stola von der Klinke.

»Tut mir leid«, sagte sie, wartete seine Worte nicht ab, balancierte auf Zehenspitzen die Holztreppe hinunter und hörte, wie hinter ihr die Wohnungstür mit einem kleinen Seufzer zufiel.

Sonja floh hinaus und in ihr Auto wie auf eine rettende Insel, warf den Motor an und scherte aus. Ohne Hinweisschilder zu beachten, irrte sie umher, sie wollte nicht nach Hause. Noch nicht. Nach einigen Kilometern entkam sie endlich der Stadt Bonn und geriet auf freie Strecke, wo sie Gas geben und mit jedem Kilometer dem entsetzlichen Gedanken davonbrausen konnte: Was wäre geschehen, wenn sie geblieben wäre?

»Mist! Mist! Mist!«, fluchte Sonja und schlug dreimal mit der Faust aufs Autodach. Als der dumpfe Knall verhallt war, blinzelte sie hilfesuchend in den Himmel. Es war eine klare, wolkenlose Nacht. Die blasse Mondsichel war ab-, nein, zunehmend, und um sie herum tummelten sich die für einen Julihimmel üblichen Sternenkombinationen. Hilfe war von dort oben nicht zu erwarten. Auf keinen Fall würde jemand eine gepflegte Damentoilette herunterfallen lassen.

Sie stieg wieder ein, rollte einige Meter weiter, bog in einen Forstweg ein und parkte vor einer geschlossenen, rot-weißen Schranke. Die Scheinwerfer leuchteten ihr den Weg, als sie auf der Suche nach einem geeigneten Plätzchen unter der Schranke herkroch und hinter der Informationstafel Grabhügel der vorrömischen Eisenzeit über die Böschung kletterte.

3. Kapitel

Ein Poltern, lang anhaltend, kurze Stille, spitze Schreie. Sie gellten durchs Haus und riefen nach und nach die anderen auf den Plan: Schneewittchen, Dirndl und Cäsar, alle drei kaum bekleidet, aufgeschreckt, mit erhitzten Gesichtern, hielten sich an den Händen. Ungläubig kamen sie näher, schnell versuchten ihre Blicke die Situation zu erfassen.

Sandra lag am Fuß der Treppe auf dem Steinboden, wie dahingestreckt, Arme und Beine seltsam verdreht und verwinkelt und schlaff wie bei einer Puppe. Das Schwesternhäubchen mit dem roten Kreuz saß schief, der kurze Kittel hatte sich geöffnet und legte einen braun gebrannten Busen und den Spitzenansatz eines Slips frei. Die halterlosen Strümpfe waren verrutscht und durchlöchert. Schuhe trug sie keine. Ihr Gesicht war kreidebleich, die Augen starrten unbeweglich in das Licht des Kronleuchters. Anselmo kniete neben ihr.

»Was ist passiert?«, schrie Dirndl und schlug sich die Hand vor den Mund.

»Sie ist gestürzt!« Die Stimme kam von oben. Dort stand Uwe in seinem Piratenkostüm auf dem Treppenabsatz und hielt sich am Geländer fest, als wäre ihm schwindlig.

Anselmo legte seine Hand an Sandras Hals, dorthin, wo seine Vampirzähne rote Flecken hinterlassen hatten. Er fühlte keinen Puls, schlug ihr gegen die Wangen und schrie: »Sandra! Sandra! Hörst du mich?« Er knetete ihren Brustkorb, er blies ihr seinen Atem in den offen stehenden, rot bemalten Mund, nichts, nichts, sie reagierte nicht. »Sandra! Bitte! Sandra!« Er hob ihren Kopf vorsichtig an und entdeckte eine Blutspur, die durch ihre Haare sickerte. »Nein!« Langsam legte er den Kopf wieder ab und strich ihr über die Wangen. »Nein!«

»Wieso?«, stieß das Dirndl hervor.

Schneewittchen griff sich ans Herz, ihre Stimme kippte um: »Wie konnte es ...?«

»Das ist doch unmöglich!«, winselte Cäsar.

»Wir müssen den Notarzt rufen!«, forderte Anselmo.

»Warum? Du siehst doch, dass sie tot ist!«, schrie Uwe von oben.

»Oh mein Gott!«, schrie Cäsar mit hochrotem Kopf. Seine Worte prallten an den Wänden ab. Als das Echo im Treppenhaus verhallt war, breitete sich entsetztes Schweigen aus.

»Das war kein Unfall!« Anselmos Stimme durchschnitt die Stille.

Uwe lachte drohend auf. Schneewittchen und Dirndl und Cäsar blickten fragend von einem zum anderen und rissen entsetzt die Augen auf.

Das Dirndl fasste sich mit beiden Händen an den Hals: »Aber ...«

Schneewittchen erbleichte, sie schwankte, drohte in Ohnmacht zu fallen: »Was denn sonst?«

Cäsar stand der Schweiß auf der Oberlippe: »Was denn sonst, etwa ...?«

»Mord!«, schrie Anselmo erbost. »Mord! Es war Mord!«

Uwe setzte einen Fuß auf die oberste Treppenstufe. »Gut, wenn du es unbedingt so willst, dann kannst du auch gleich zugeben, dass du es warst, der sie heruntergestoßen hat.«

»Anselmo?«, kreischten Schneewittchen und Dirndl im Chor und wandten sich ihm zu.

»Ich war es nicht!«, fluchte Anselmo.

»Du?«, stieß nun auch Cäsar hervor. Nervös nestelte er an seinem goldenen Gewand, das völlig verknautscht war, und wackelte nervös an seinem Lorbeerkranz aus Plastik, der ihm über den Kopf bis auf seine Schultern gerutscht war und aussah wie eine zu enge Kette. »Du? Ausgerechnet du?«

»Anselmo Lopes!«, ertönte Uwes unheilschwangere Stimme von oben. »Wir haben einen Mörder unter uns!« So sicher und endgültig hörte sich das an wie das Jüngste Gericht.

Mit weit aufgerissenen, schwarz geschminkten Augen starrten die beiden Frauen ihn an, als sei er tatsächlich zum Vampir mutiert.

»Ihr seid ja alle wahnsinnig!«, fluchte er, war mit zwei Schritten an der Haustür und stürzte hinaus, flog mit einem Satz die Stufen hinunter und stolperte in die Dunkelheit. Gehetzt blickte er sich um, aber niemand folgte ihm. Im Laufen riss er das Vampirgebiss aus seinem Mund und trug es in der geballten Faust, so fest, dass sich die Zähne in seine Handballen bohrten. Der Schmerz tat gut. Anselmo griff fester zu. Nicht genug Schmerz. Sein Herz schlug bis zum Hals.

Er kannte den Weg zur Landstraße. Was er dort tun könnte, wusste er erst, als durch das Unterholz die Scheinwerfer eines Auto aufblinkten, das vor der geschlossenen Schranke angehalten hatte. Atemlos hielt er inne, zerrte den schwarzen Umhang aus dem Hosenbund, schlug ihn über die Schultern und hielt ihn vorne zusammen, damit seine nackte, helle Haut und das glänzende Amulett ihn nicht verraten konnten. Dann sprang er von Deckung zu Deckung. Während er hinter dem letzten Baum beobachtete, wie der Fahrer ausstieg, wünschte er, dass er sich nicht kalkweiß geschminkt hätte.

Der Fahrer war eine Frau. Sie trug ein langes Kleid und blickte sich suchend um. Was trieb sie hier mitten in der Nacht? Hatte sie sich verfahren? Hatte sie eine Verabredung? Ein dunkles Geschäft? Wütend fluchte und schimpfte sie herum, während sie unter der Schranke hindurchkroch und hinter der Informationstafel Grabhügel der vorrömischen Eisenzeit über die Böschung kletterte. Als sie zwischen den ersten Baumstämmen verschwand, war Anselmos Stunde gekommen, und er sprang mit einem Satz über die Schranke.

4. Kapitel

Mitten in das erleichterte Aufatmen drangen hastige Schritte und ein Schnaufen an Sonja Sengers Ohr, gefolgt vom leisen Klacken einer Tür, einem vorsichtigen Brummen, dem schabenden Rollen von Reifen auf Asphalt. Sonja richtete sich auf. Die zwei Lichtkegel entfernten sich und wandten sich ab. Hastig stolperte sie über die Böschung, kroch unter der Schranke hindurch und lief zur Landstraße, stellte sich mitten auf den Asphalt und stemmte die Hände in die Hüften. »Das darf doch nicht wahr sein!«

Ihr neuer Dienstwagen, ein dunkelblauer Passat, ihr ganzer Stolz, der lang ersehnte Nachfolger ihres altes Polos, hatte sich mitsamt allem Zubehör einschließlich Alexander aus dem Staub gemacht und zeigte ihr nur noch seine beiden schwankenden, roten Rücklichter. Hämisch, wie sie fand.

Aufgelöst lief sie auf und ab. Als ihr klar wurde, dass ihre Handtasche, ihre einzige Abendtasche, die schwarze Clutch, dass Mantel, Hut und Schirm, einfach alles, was sie besaß, bis auf das, was sie wie üblich im Forsthaus vergessen hatte – nämlich Dienstausweis, Pistole und Handy – im Passat gelegen hatte, ließ sie sich resigniert auf die Bank im Wartehäuschen fallen. Die morschen Balken krachten. Sie streifte die Pumps von den Füßen und begann zu schluchzen. Niemand konnte sie sehen oder hören – wenn das keine Gelegenheit zum hemmungslosen Heulen war. Und sie glaubte, nicht mehr aufhören zu können. Nie mehr!

Aber irgendwann waren doch sämtliche Tränen vergossen, sie schluckte und schniefte und stieg wieder in die Pumps, um bereit zu sein, wenn ein Auto vorbeifuhr. Sie würde den Daumen heben und winken und hoffen, dass sie keinem Triebtäter in die Hände fiel. Am besten gar keinem Mann, sondern einer Frau. Von Männern hatte sie für heute genug, denn selbstverständlich ging sie davon aus, dass auch der Autodieb ein Mann gewesen war.

Aber es kam kein Auto.

»Ich hasse dich!«, knurrte sie leise vor sich hin und raffte die Stola enger um ihre Schultern. Wen hasste sie mehr? Wesseling? Alexander? Den Autodieb? Sich selbst? Vermutlich alle zusammen und in dieser Reihenfolge.

Ihre Augen hatten sich längst an die Dunkelheit gewöhnt. Schemenhaft tauchten einzeln stehende Bäume auf, ferne Gehöfte, Scheunen und Silos, aber nach einer Weile glaubte sie, hinter der rot-weißen Schranke ein kleines, rotes Licht zu erkennen. Ein beständig flackernder, roter Fleck.

Sonja raffte ihr Kleid hoch und marschierte entschlossen dem Licht entgegen, kroch dazu wieder unter der Schranke hindurch, ließ die Informationstafel Grabhügel der vorrömischen Eisenzeit rechts liegen und folgte dem Forstweg. Wenn das rote Licht eine Kapelle war, malte sie sich aus, wollte sie dort auf den Tag warten, sich auf einer der harten Bänke ausstrecken, die Augen schließen und Maria oder wem auch immer das Häuschen geweiht war, um Verzeihung und Verständnis bitten, um Erlösung von allem Übel sowieso. In Ewigkeit. Amen.

Immer wieder verschwand das rote Licht für eine Sekunde oder mehr aus ihrem Blickfeld, kehrte aber kurz darauf flackernd zurück und zeigte ihr den Weg. Bald wurde es größer und ruhiger. Ein zweites gesellte sich dazu. Nach und nach entpuppte sich die vermeintliche Kapelle als ein Bauernhaus, und das Bauernhaus als ein altes Gehöft mit Nebengebäuden, das U-förmig einen Hof umschloss und hinter einer mannshohen Hecke lag, die um einen alten Baum mit ausladenden Ästen und Zweigen einen kleinen Bogen machte.

Sonja betrat das Gelände durch zwei Torpfosten ohne Tor.

Drei Motorräder mit Kölner Kennzeichen parkten vor einer halb offenen Scheune. Aus dem Schornstein im Wohnhaus quollen Rauchwolken, und hinter den Fenstern schien in beiden Stockwerken Licht durch die Ritzen der Vorhänge. Drei ausgetretene Steinstufen führten zur Eingangstür, an der ein selbst gemaltes Pappschild an einer Kordel baumelte. Kein Zutritt stand dort in krakeliger Handschrift geschrieben. Leise Musik erfüllte das Gelände, vermischt mit Stimmengemurmel.

»Das wollen wir doch mal sehen«, sagte sich Sonja und wollte klopfen, aber die Haustür war nur angelehnt. Sie steckte ihren Kopf durch den Spalt.

In einer großen und hohen Diele, am Ende einer steilen Holztreppe, standen mit dem Rücken zu ihr einige Leute und hielten sich an den Händen. Zwei Männer und zwei Frauen, die vor sich auf den Boden blickten, als hätten sie dort einen Schatz entdeckt. Unter der Treppe türmte sich schwarzes Motorradzubehör: Helme, Stiefel, Lederkombis. Das Erdgeschoss reichte bis hinauf zur dunklen Balkendecke, von der ein antiker Kronleuchter, von Spinnweben durchzogen, auf die Köpfe der Männer und Frauen schien.

Sie waren verkleidet, obwohl es doch Sommer und nicht Karneval war. Ein Pirat und ein Cäsar, ein Dirndl und ein Schneewittchen. In allen Fällen gab es mehr Haut als Stoff zu sehen. Schneewittchens langes, weißes Kleid war durchsichtig wie eine Gardine, der Rock des grellgeblümten Dirndls war schwindelerregend kurz. Der Pirat trug seine Lederweste auf nackter Haut, Cäsar nur einen goldenen Lendenschurz und eine lose flatternde Schärpe.

Sonja räusperte sich.

Mit einem Ruck ließen die Männer und Frauen einander los und drehten sich zu ihr um. Von vorne besehen waren die Kostüme nicht weniger freizügig. Der Ausschnitt des Dirndls reichte fast bis zum spitzenbesetzten Latz der weißen Halbschürze. Schneewittchen schien nichts unter seiner Gardine zu tragen. Der Pirat stellte mehr als drei Viertel seiner schwarz behaarten Brust zur Schau, und unter Cäsars goldenem Lendenschurz ragte ein Paar stramme Oberschenkel heraus.

Das seltsame Völkchen musterte Sonja erschrocken.

Der Pirat verließ als Erster den Kreis, riss seinen Dreispitz vom Kopf, warf seine Haare zurück und trat hervor. »Können Sie nicht lesen?«

»Doch«, sagte Sonja zögernd. Durch die Lücke im Kreis erspähte sie eine Person, eine Frau, die auf dem schwarzweiß gefliesten Boden lag, Arme und Beine verwinkelt, den Hals verdreht. Sie musste eine von ihnen sein, denn sie war ebenfalls verkleidet – als Krankenschwester. Das Häubchen mit dem roten Kreuz saß schief, der kurze Kittel hatte sich geöffnet und legte einen braun gebrannten, nackten Busen und den Spitzenansatz eines roten Slips frei. Die halterlosen Strümpfe waren verrutscht und durchlöchert. Schuhe trug sie keine. Das Gesicht war kreidebleich, die Augen starrten unbeweglich in das Licht des Kronleuchters. Kein Wimpernschlag. Die knallroten Lippen waren geöffnet. »Was ist mit ihr? Wollen Sie ihr nicht helfen?«, fuhr Sonja den Piraten an und zeigte auf die Gestalt am Boden. Sie reckte sich und versuchte, mehr von der Frau zu erkennen. Lebte sie noch? »Haben Sie einen Arzt gerufen? Die Frau braucht einen Arzt, sehen Sie das denn nicht?«

Der Pirat blickte Sonja mitleidig an. »Keine Sorge, das ist nur ein Spiel.«

»Komisches Spiel.«

»Und außerdem geht Sie das nichts an. Raus hier!«, brüllte er plötzlich, zog seinen Plastiksäbel und zielte damit auf Sonja. Und als hätten alle nur auf sein Kommando gewartet, packten sie Sonja, schoben sie rückwärts Richtung Haustür und stießen sie über die Türschwelle die Stufen hinunter. Sonja stolperte und sank in ihrem schmal geschnittenen Kleid draußen auf die Knie. Das Pflaster nahm sie ungnädig auf.

»Kein Zutritt, kapiert?«, schnauzte der Pirat boshaft und zeigte auf das Pappschild.

»Vielleicht wollte sie mitmachen?«, gackerte das Dirndl und lehnte sich an ihn.

»Nein, danke«, meinte der, »verzichte, kommt, lasst uns wieder reingehen, wir wollen uns doch von der da nicht den Spaß verderben lassen.«

»Aber die Frau!«, schrie Sonja und rappelte sich auf.

»Wir kümmern uns schon um sie.«

»Ich bin Polizistin!«

»Tolle Uniform!«, rief der Pirat anerkennend, gab dem Dirndl einen Klaps auf den Po. »Hinein mit dir!«

Sie kicherte und lief voraus.

»Können Sie mir wenigstens ein Taxi rufen?«, fragte Sonja kläglich, als die Haustür schon so heftig vor ihrer Nase zugefallen war, dass der Putz von den Wänden rieselte. Sie erhielt keine Antwort. Sonja schniefte und sah an sich hinunter. Ihr Kleid war schmutzig, Knie und Handflächen brannten vom Sturz, ihr Auto war gestohlen worden, sie hatte Kopfschmerzen und nichts und niemanden auf der ganzen Welt. Sie war am Ende.

Erschöpft ließ sie sich auf der niedrigen Bruchsteinmauer vor der Hecke nieder und wickelte sich in ihre Stola. In einem der niedrigen Nebengebäude, einer Art Scheune oder Schuppen, schien jemand zu sein. Das Licht einer Taschenlampe wanderte unruhig umher. In ihrem Schein nahm Sonja einen Schatten wahr.

Als im gleichen Augenblick das Blaulicht ohne Martinshorn näher kam, erlosch das Licht und Sonja vergaß es wieder. Der rot-weiße Rettungswagen, der kurz darauf vor ihr hielt, kam vermutlich aus dem Kreiskrankenhaus in Mechernich. Zwei Rettungssanitäter und ein Arzt sprangen heraus und kamen auf sie zu.

»Was ist passiert?«, fragte der Mann, auf dessen roter Weste in gelben Lettern Notarzt stand. Er war extra lang und extra jung, vermutlich ein Assistenzarzt, der die beste Zeit seines Lebens im Nachtdienst verbrachte.

»Oh, da könnte ich Ihnen einiges erzählen«, antwortete Sonja. »Aber es geht nicht um mich. Im Haus liegt eine Frau, sie ist die Treppe heruntergefallen.«

Die Sanitäter holten eine Trage. Alle drei verschwanden im Laufschritt ins Haus. Sonja blieb wie gelähmt auf der Mauer hocken.

Es dauerte nicht lange und der Notarzt kam allein heraus, er stellte seinen Koffer neben Sonja ab und sagte: »Zu spät.« Er rief von seinem Handy aus den Leichenwagen und fragte Sonja: »Haben Sie gesehen, wie es passiert ist?«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie lag schon da, als ich reinkam. Wer hat Sie eigentlich gerufen?«

»Anonymer Anruf. Das lieben wir.«

»Gibt es Anzeichen für Fremdeinwirkung?«

Skeptisch blickte der Notarzt auf sie herunter.

»Reine Routine«, erklärte sie und breitete die Arme aus. »Ich bin bei der Kripo Euskirchen.«

Er musterte sie von Kopf bis Fuß. »So sehen Sie nicht aus.«

»Danke«, meinte Sonja.

»Können Sie sich ausweisen?«

Sie zeigte ihm ihre leeren Hände. »Ich komme von einer Party.«

Er zeigte ungläubig hinter sich. »Hier?«

»Natürlich nicht, ich war in Bonn, in der Staatsanwaltschaft. Danach habe ich mich verfahren, mein Auto wurde gestohlen, mit allem Drum und Dran. Ich kam zu Fuß hierher, weil ich dachte, hier würde mir jemand helfen.«

»Wo wollten Sie denn hin?«

»Ich wohne in Wolfgarten.«

»Da haben Sie sich aber ordentlich verfahren«, kommentierte er. »Haben Sie etwa Alkohol getrunken?«

»Natürlich«, antwortete Sonja, »aber offensichtlich nicht genug. Ich wünschte, das hier wäre nur ein Delirium.«

»Ihr Name?«, fragte er weiter.

»Sonja Senger.«

Der Notarzt tippte eine Nummer in sein Handy. Als sich eine Stimme meldete, fragte er, ob eine Sonja Senger bekannt sei, und nickte. »Aha. Hauptkommissarin. Wie sieht sie aus?« Er betrachtete sie während er die Antwort hörte. Sein Lächeln war umwerfend. »Stimmt. Moment, ich frage sie mal.« Er wandte sich an Sonja und fragte, »Wo wohnen Sie?«

Sonja verdrehte die Augen. »In einem Forsthaus am Ende der Stromleitung.«

»Alles klar.« Der Notarzt beendete das Gespräch. Das Gelächter am Ende der Leitung war nicht zu überhören. »Hat es eine Bewandtnis mit dieser Location?«

»Die hat es«, stimmte Sonja zu.

Er beließ es dabei und entledigte sich seiner Einmalhandschuhe, fuhr sich durch die Haare und streckte ihr seine Hand entgegen. »Ich bin übrigens Henning Schumacher.«

»Mit oder ohne Doktor?«

»Ohne.«

Sonja lag die Frage auf den Lippen, ob er sich ausweisen könne, da kamen die beiden Rettungssanitäter mit der leeren Trage aus dem Haus.

»Auf Ihre Frage, ob es Anzeichen für Fremdeinwirkung gibt, bin ich Ihnen noch eine Antwort schuldig, Frau Hauptkommissarin«, sagte Schumacher, während er beobachtete, wie die Trage im Rettungswagen verstaut wurde und die Sanitäter einstiegen. »Die Treppe im Haus ist lang und steil. Ich habe vierundzwanzig Stufen gezählt. Wenn die Frau von oben heruntergefallen ist, hat sie einen ziemlich langen Weg hinter sich. Ich habe keinen Hinweis auf eine sogenannte sturzfremde Gewalt gefunden. Schätze, die junge Frau hat sich bei dem Sturz das Genick gebrochen, denn sie hat nur eine kleine Platzwunde am Kopf. Schrammen an Beinen und Armen. Und rechts am Hals in Höhe der Halsschlagader zwei tiefe Abdrücke.« Er zeigte mit Daumen und Zeigefinger einen Abstand von etwa vier Zentimetern.

»Ein Vampir war bei dieser illustren Gesellschaft aber nicht dabei«, meinte Sonja nachdenklich.

»Was glauben Sie, was die da drinnen gespielt haben?«, fragte Schumacher.

»Ringelpietz mit Anfassen«, antwortete Sonja lakonisch.

Er genehmigte sich ein Lächeln.

»Ich möchte schon gern die Leiche beschlagnahmen und in die Rechtsmedizin bringen lassen«, sagte Sonja nachdenklich. »Denn normal ist das hier nicht.«

Schumacher nickte. »Das dachte ich mir. Ich kreuze auf dem Totenschein mal ungeklärt an.«

»Und ich hole mir das staatsanwaltliche Okay dafür.« Nur kurz dachte sie an Bernd Wesseling, aber dann wischte sie den Gedanken schnell beiseite, er hatte nichts von einer Bereitschaft für heute Nacht erzählt.

»Meinen Sie nicht, in Bonn wird immer noch gefeiert?«, fragte Schumacher, während er den Totenschein ausfüllte.

»Möglich. Aber das ist wie bei Ihnen, es gibt immer einen Notdienst. Wenn Sie mir Ihr Handy leihen würden, könnte ich die Staatsanwaltschaft anrufen.«

»Kennen Sie die Nummer auswendig?«, fragte Schumacher erstaunt, als er ihr sein Handy reichte.

»Nein«, antwortete Sonja. »Ich frag mich durch. Keine Sorge.«

Von der Kripo Euskirchen zur Staatsanwaltschaft Bonn war es eine kurze Verbindung, und zu ihrer Erleichterung erfuhr Sonja, dass nicht Wesseling, sondern ein gewisser Staatsanwalt Herbst Bereitschaft hatte. Den Namen hatte sie noch nie gehört. Sie atmete tief durch, ehe sie ihm die Lage der Dinge ausführlich schilderte. Er machte keine Umstände, wollte auch nicht den Fundort der Leiche sehen, hatte vermutlich Besseres zu tun, und bot sich aber immerhin an, per Fax oder Mail die Rechtsmedizin Bonn mit der Obduktion der Leiche zu beauftragen.

»Das Schreiben ist eher in Bonn als die Leiche«, versicherte er. »Ich schicke Ihnen auch die Spurensicherung.«

»Danke, danke«, sagte Sonja und gab Herbst die Lage des Tatortes durch. »Wir lassen das Blaulicht an, damit die Kollegen uns finden.«

»Geht klar. Und Gratulation zu Ihrer Präsenz!«

»Wie ...?«, fragte Sonja zurück, aber da hatte er das Gespräch schon beendet.

Sie gab Schumacher das Handy zurück und bat ihn, noch einmal mit ihr zusammen ins Haus zu gehen, wenn sie die Personalien aufnahm.

»Kein Problem, solange ich nicht angepiepst werde«, antwortete er und gab den Sanitätern ein Zeichen. »Haben Sie etwa Angst vor denen da drinnen?«

»Vielleicht?«, gab sie zögernd zu und sah an sich hinunter. »In Stola und Abendkleid bin ich nicht gerade eine Respektsperson, oder?«