image

Heike Rommel
Das fremde Grab

Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Nacht aus Eis

Heike Rommel, geboren 1962 in Olpe, hat Psychologie und Visuelle Kommunikation studiert und lebt in Bielefeld. Sie arbeitet seit über zwanzig Jahren in verschiedenen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Ihre ersten Schreiberfahrungen machte sie beim Verfassen eines Fantasy-Romans, bevor sie zum Krimi-Genre wechselte, das ihr als leidenschaftlicher Krimileserin und Tochter eines Kriminalbeamten und einer Polizeiangestellten naheliegt. »Das fremde Grab« ist ihr zweiter Krimi mit dem Bielefelder Ermittlerteam um Kommissar Dominik Domeyer.

Heike Rommel

Das fremde
Grab

KBV

Originalausgabe
© 2015 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: info@kbv-verlag.de
Telefon: 0 65 93 998 96-0
Fax: 0 65 93 998 96-20
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von:
© Claudio Divizia, © Christian Müller – www.fotolia.de
Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
Print-ISBN 978-3-95441-265-5
E-Book-ISBN 978-3-95441-276-1

Für Willy
Und für meinen Vater

Prolog

Juli

Langsam kam er wieder zu sich. Benommen und mit einem Schmerz in seinem Schädel, der wie ein eiserner Ring um seinen Kopf lag, eine Schraubzwinge, die enger und enger gedreht wurde. Als er sich die Stirn massieren wollte, spürte er den rauen Strick um seine Handgelenke. Etwas lag auf ihm wie die leichte Berührung einer kalten Hand. Plastikfolie? Er öffnete die Augen und sah nichts als Schwärze. Eine lichtundurchlässige Plane? Er leckte sich über die Lippen, ertastete getrocknetes Blut in seinem Haar. Die Plane gab etwas nach, als er dagegen drückte. Er versuchte vergeblich, sie loszuwerden. Es schien ein großer Plastiksack zu sein, in dem sein Oberkörper steckte. Er tastete nach dem Rand, doch von der Hüfte abwärts war er so fest umschnürt, dass er die Knie nicht richtig anwinkeln konnte. Etwas rieselte auf seine Lippen, Sand knirschte zwischen seinen Zähnen, und er spuckte aus. Auf der Höhe seines Mundes befand sich ein Riss in der Folie. Als er das Loch vergrößerte, fiel Erde auf sein Gesicht. Er hörte ein Prasseln. Wurde er zugeschüttet mit Erde?

Er drückte die Plane hoch, sodass die Erde zu beiden Seiten hinunterrutschte und das Loch wieder frei wurde. Wo zur Hölle war er? Und wie war er in diese beschissene Lage geraten? Er musste sich am Kopf verletzt haben und dann … verdammt, er konnte sich an nichts mehr erinnern … Nur ein Wort blitzte auf: SCHLAMPE. Doch er konnte nichts damit anfangen. Wichtiger war, wie er aus dieser Nummer rauskam!

Er stöhnte. »Hallo? Hallo!« Es klang verwaschen. »Issajeman?« Er rief, so laut er es vermochte.

Die Antwort war fortwährendes Prasseln. Gierig sog er die modrig riechende Luft ein. Das Prasseln hörte sich jetzt dumpfer an, das Gewicht, das auf der Plane lastete, nahm zu. Er konnte das Loch nicht mehr freihalten. Schnell wurde die Luft knapp. Also besser flach atmen.

Mit einem Mal fiel ihm Kanada ein. Als sie damals am Ende eines romantischen Sommers in den Rockies gezeltet hatten. Im September war es bereits kühl gewesen, sodass er seinen Mumienschlafsack in der Nacht bis auf ein kleines Loch fest zugezogen hatte. Als er am nächsten Morgen aufgewacht war, hatte er Panik bekommen und von innen hektisch an der Schnur gezerrt … Er musste aufhören, daran zu denken, das führte zu nichts! Mumie … wieso hieß so ein Schlafsack Mumienschlafsack? Und wieso dachte er über so etwas Idiotisches nach? Eine spinnwebenverklebte Mumie mit Klauenfingern tauchte vor seinem inneren Auge auf. Er bemühte sich, das Bild wegzuschieben ... Scheiß auf die Mumie, denk nach, Idiot! Wenn er doch nur die Hände freibekommen würde …

Er riss mit den Zähnen an dem dicken Strick, der in seine Handgelenke schnitt, mühte sich ab, die Kunststofffasern durchzubeißen. Während seine Kiefer mahlten, krabbelte etwas an seinem Ohr. Ein Tausendfüßler? Er versuchte, das Insekt wegzuschlagen, doch es schien geradewegs in sein Ohr zu kriechen. Er wusste, er sollte sich beherrschen, doch er schrie, bäumte sich auf, stemmte sich vergeblich gegen das, was ihn von oben niederdrückte, ihm die Luft nahm. Erde rieselte auf sein Gesicht …

1. Kapitel

Neun Monate später.
Montag, 25. März

Der Schnee war gewichen, der Winter noch nicht. Was immer auch an Licht und Luft wollte, lag unter der modernden Laubschicht des Vorjahrs begraben. Kommissar Dominik Domeyer übersprang die Pfützen, während er den Hasenpatt bergab joggte, die kleine Ansammlung von Schrebergärten hinter sich ließ und in den Park abbog, der den Johannisbach umgab. Seine Atemwolken lösten sich in der Luft des grauen Morgens auf. Durch seine Laufschuhe drang allmählich Nässe und mit ihr die Kälte.

Er hatte unruhig geschlafen in der letzten Nacht, schlecht geträumt und war viel zu früh aufgewacht. Lag es an dem Streit mit seiner Frau am Vortag? Betty war ziemlich sauer, dass er den neuen Wagen gekauft hatte.

Oder war seine Bettlektüre der Grund? Er hatte abends eine Geschichte aus einem Buch seiner Tochter gelesen. Es gibt gewisse Themen, die zwar das Interesse ganz gefangen nehmen, die aber allzu grauenvoll sind, als dass sie echter Dichtung als Thema dienen dürften. Natürlich ließ sich Edgar Allan Poe danach lang und breit über die gewissen Themen aus. Als Teenager hatte er Poes Erzählungen verschlungen. Trotzdem würde er das Buch am liebsten verschwinden lassen, statt es zurück auf die Anrichte zu legen, wo Lissa es vergessen hatte. Unwillkürlich schüttelte er sich. Seine Schuhe lösten sich mit jedem Schritt schmatzend vom Boden. Das braune Wasser des Johannisbachs gurgelte, führte Zweige und Blätter mit sich. Es hatte viel geregnet in den letzten Wochen, Ostwestfalen versank im Morast. Dominik beeilte sich, nach Hause zu kommen.

Als er eine Stunde später die Tür der angenehm leeren Cafeteria des Präsidiums aufzog, kam ihm eine Mischung aus Kaffeeduft und dem Geruch warmer Brötchen entgegen. Er beglückwünschte sich zu der Idee, heute im Präsidium zu frühstücken, zumal er keine Lust auf eine weitere Auseinandersetzung mit Betty hatte. Er wollte gerade mit seinem Tablett den nächsten Tisch ansteuern, als er eine einsame Gestalt an einem Fenstertisch entdeckte. Der breitschultrige Riese saß mit dem Rücken zu ihm, doch Statur und militärisch kurzer Haarschnitt ließen keinen Zweifel zu. Der Erste Kriminalhauptkommissar Bent Andersen war aus dem Urlaub zurück. Dominik zögerte. Big Bents Büro lag zwei Türen von seinem eigenen Büro entfernt. Er hatte die letzte Mordkommission geleitet, der Dominik für kurze Zeit angehört hatte, bevor er von ihm rausgeworfen worden war. Aber es würde seltsam aussehen, wenn er sich in der verwaisten Cafeteria an einen anderen Tisch setzte.

Er trat näher. Bent hielt einen Kaffeebecher in seinen Pranken, an denen frühlingsgrüne Farbe klebte.

»Morgen, Bent.«

Bent zuckte zusammen, löste seinen Blick vom Fenster. »Dominik Domeyer!« Er räusperte sich. »Hallo.«

»Darf ich?«

Bent nickte und räusperte sich noch einmal. Sein Gesicht war sonnengebräunt, die zahlreichen Narben darin glichen feinen, hellen Linien. Nina hatte erwähnt, dass er auf eine Kanareninsel geflogen sei.

»Der Urlaub von Bielefeld hat gutgetan, hm?«, fragte Dominik.

»Allerdings. Bei dem Wetter kann man sich vorstellen, wie Varus mit seinen Legionen im Schlamm des Teutoburger Waldes stecken geblieben ist.« Er lächelte, was selten vorkam.

»Angeblich bei Kalkriese.«

Fragend blickte Bent ihn an.

»Das ist bei Osnabrück.« Dominik winkte ab. »Vergiss das. Die sind nur neidisch. Arminius gehört uns.«

»Ich habe den muskelbepackten Hermann schon in Stein nahe Detmold bewundern können.«

Eindeutig: schon wieder ein Lächeln. Hatte Andersen im Urlaub die Frau seines Herzens kennengelernt? Als hätte er damit bereits zu viel von sich preisgegeben, kippte Big Bent seinen Kaffee hinunter, räumte hastig die Reste seines Frühstücks auf das Tablett und stand auf. »Ich muss los. Die neue Sonderkommission trifft sich in fünf Minuten.«

Dominik runzelte die Stirn. »Welche Soko?«

»Der Brandanschlag in dem Mehrfamilienhaus heute Nacht.«

»Oh, ich …«

»Du bist nicht dabei, Dominik. Du sollst einen alten Vermisstenfall übernehmen, der neu aufgerollt wird. Ich hatte heute Morgen eine Unterredung mit dem Kommissariatsleiter und …«

»Wie viel hast du ihm geboten, um mich aus der Soko rauszuhalten?« Dominik biss sich auf die Lippen. Aber er konnte die Bemerkung nicht mehr rückgängig machen.

Bents graue Augen wurden schmal, dann fing er an zu grinsen. »War nicht billig. Vier Wochen in meinem Ferienappartement auf Gran Canaria. Für Nina Tschöke habe ich noch kostenlosen Spa-Besuch draufgelegt.«

Kaum zu glauben, ein Scherz vom EKHK!

Bent war schon dabei, sein Tablett im Ablagewagen zu verstauen, als Dominik ihm nachrief: »Soll das heißen, dass ich den Fall zusammen mit Nina bearbeite?«

Andersen hob den Daumen.

Na, immerhin etwas.

Dominik entdeckte auf seinem Schreibtisch eine dünne Akte, die am Freitag noch nicht dort gelegen hatte. Er hatte seine Jacke erst halb ausgezogen, als es klopfte.

Nina Tschöke steckte den Kopf zur Tür herein. Ihre Augen hinter der modischen Brille wirkten klein, und ihre Kurzhaarfrisur war heute ohne Styling. »Morgen, Dodo. Nimmst du Frank Tillmann Herbst bald mal wieder in euer Büro zurück? Sagen wir … heute?«

»Wie geht es eigentlich deinem Bruder?«, fragte er.

»Lenk nicht ab!« Nina setzte sich auf Franks Schreibtisch und grinste. »Seitdem Ottfried und ich im Dienstwagen vor der Behindertenwerkstatt aufgetaucht sind und Blaulicht und Martinshorn eingeschaltet haben, ist Kai der King dort.«

»Unser größter Fan, was? Du siehst müde aus.«

»Der geschätzte Kollege Herbst hat mich gestern Abend – oder soll ich sagen Nacht? Na, jedenfalls hat er mich privat angerufen und mir sein Leid geklagt.«

»Frauengeschichten?«

»Frauengeschichten. Oder der Mangel daran. Nimmst du ihn zurück? Mein Büro ist sowieso zu klein. Frank und du … ihr hattet euch doch wieder versöhnt, oder?«

»Kann man so sagen. Wieso nervt er dich? Versucht er etwa wieder, mit dem Rauchen aufzuhören?«

»Nein, aber er hat den Blues. Seit Wochen. Ich brauche eine Pause!« Sie hielt ihm ihre gefalteten Hände flehentlich unter die Nase. »Sag einfach: Ja!«

»Ja.«

Sie rutschte vom Schreibtisch und winkte zum Abschied.

»Halt! Nicht so schnell. Andersen hat etwas über einen Vermisstenfall erzählt, der wieder aufgerollt wird? Der hatte erstaunlich gute Laune. Vermutlich, weil er die nächste Zeit nicht mit mir zusammenarbeiten muss.«

»Du magst ihn nicht, stimmt‘s?« Nina musterte sich im Garderobenspiegel. »Du verzeihst ihm immer noch nicht, dass du die Mordkommission wegen Befangenheit verlassen musstest.«

»Falsch, Nina. Ich weiß, dass das damals nicht anders ging. Es ist Bent, der mir aus dem Weg geht, keine Ahnung, wieso. Also, worum geht es bei dem Fall?«

Ihr Blick begegnete seinem im Spiegel. Sie wandte sich um und deutete auf die Akte auf seinem Schreibtisch. »Vor etwa neun Monaten verschwand ein Mann namens Richard Heberlein. Ich habe damals Heberleins Beschreibung in die Datenbank für Vermisste eingegeben. Der Rechner hat bis heute keine Übereinstimmung von Heberleins Merkmalen mit denen unbekannter Toter oder nicht identifizierter Personen ausgespuckt. Der Mann war Anlageberater, hatte Schulden …«

»Der dümpelt vermutlich gerade auf einer Luftmatratze vor den Fidschi-Inseln, in einer Hand den Cocktail, in der anderen die Bikini-Schönheit, und freut sich, dass er den Koffer voll Geld hat retten können.«

»So sehen also deine Träume aus, Dodo. Ich schicke dir gleich Frank.«

Er grinste. »Das ist kein Ersatz. Das musst du doch einsehen.«

Sie zwinkerte ihm zu und verschwand.

Er schlug die Akte auf. Der achtunddreißigjährige Richard Heberlein wurde seit Juli des Vorjahres von seinen Eltern vermisst. Auch seine Lebensgefährtin Lara Kaspari war verschwunden, wie der Vermieter des Paares der Polizei mitgeteilt hatte. Kasparis Schwester, die in Bielefeld wohnte, hatte sie dagegen nicht vermisst gemeldet und als Grund angegeben, nur sporadisch Kontakt zu ihr gehabt zu haben. Die Befragungen von Richards Eltern, seinem Bruder Wolfgang und dem Vermieter hatten ergeben, dass er öfter in Geldnot gewesen war und vor seinem Verschwinden seine Miete nicht mehr hatte bezahlen können. Vor Kurzem wandten sich seine Eltern wieder an die Polizei, weil ein von ihnen engagierter Privatdetektiv zehn Tage zuvor Lara Kaspari in Ulm aufgespürt hatte. Der Detektiv hatte ihr eine Reihe von Fragen gestellt, die ihren Weg in die Polizeiakte gefunden hatten. Dominiks Blick blieb an einem Wort hängen: Schlampe.

Plötzlich hörte er ein Räuspern. Frank stand in der Tür mit einem Karton, auf dem oben ein Kaktus thronte. Dominik hatte ihn nicht kommen hören.

»Hallo, Frank. Ein Blumenstrauß hätte es doch auch getan.«

»Hi.« Frank hievte den Karton auf seinen Schreibtisch, stellte den Kaktus neben die Geranie und begann ohne ein weiteres Wort, Aktenordner auszupacken.

Dominik überflog einen Absatz, in dem Frau Kaspari dem Detektiv gegenüber angab, dass sie sich nach Richards spurlosem Verschwinden bedroht gefühlt habe. Eine zuknallende Schublade ließ ihn aufblicken. Frank rammte seine Ordner ins Regal, riss Schubladen auf und warf Locher, Stifte und Klarsichtfolien hinein, bevor er sie wieder zuschmetterte. Das Ganze hatte etwas Verbissenes. Er war schon lange nicht mehr mit Frank Bier trinken gewesen, wie sie es früher regelmäßig getan hatten. Ihr Kontakt hatte sich in den letzten Wochen darauf beschränkt, ein paar Worte zu wechseln, wenn sie sich zufällig auf dem Flur begegnet waren. Aber an wem lag es?

»Bist du auch bei der neuen Soko?«, fragte Dominik.

»Nach dem Urlaub, ja.« Frank holte das Buch Polizeiarbeit im Stadtviertel aus einem Karton und warf es auf den Tisch, von wo es auf den Boden rutschte. Er tauchte mit wehendem Blondhaar ab, stemmte sich mit rotem Gesicht wieder hoch und donnerte das Buch zurück auf den Tisch.

Dominik brachte das gerahmte Foto von seinen drei Kindern auf seinem Schreibtisch in Sicherheit, bevor es umkippen konnte. Er räusperte sich. »Möchtest du darüber reden?«

»Worüber?« Frank warf sich auf den Drehstuhl, der ein klägliches Quietschen von sich gab. Sein Hemd mit dem Elefantenmuster war zerknittert, an einem Ärmel fehlte ein Knopf.

»Kaum leihe ich dich für ein paar Wochen an Nina aus, schon geht‘s bergab mit dir.« Dominik deutete auf den Ärmel. »Es geht um deinen Vierzigsten, oder? Weil die Traumfrau sich noch immer nicht bei dir vorgestellt hat? Frank, Traumfrauen gibt es nicht, das solltest du …«

»Wovon redest du eigentlich? Ich würde gerne in Ruhe einräumen, falls das möglich ist.«

»Sicher. Kein Problem.« Dominik versuchte, sich auf die Akte zu konzentrieren, während Frank mit Ordnern und Büchern rumorte, Kartons und Blumentöpfe herbeischleppte, mit seinem Drehstuhl quietschte und rollte.

Schließlich gab Dominik auf.

In der Teeküche traf er auf den Kollegen Weber, der sich Kaffee aus einer großen Thermoskanne eingoss.

»Na, Ottfried, was würdest du tun, wenn eine sympathische, attraktive, junge Dame vor dir steht, die Hände ringt und fleht: ›Sag einfach ja!‹?«

Ottfried Weber kratzte sich das Doppelkinn. »Hm, kommt darauf an …«

»Ich sehe schon … Was macht die Mucke?«

»Die Generalprobe war natürlich … vergeigt ist nicht ganz treffend. Aber doch schon, ohne dem geht‘s ja nicht.«

»Auf keinen Fall geht‘s ›ohne dem‹«, sagte Dominik. »Du hast recht, Ottfried, die Generalprobe muss schiefgehen, damit das Konzert gut wird.« Er füllte zwei Tassen mit Kaffee und ging damit zu Ninas Büro. Die Tür stand offen. Nina saß am Schreibtisch und leerte einen Aschenbecher von Frank in den Papierkorb aus.

Dominik reichte ihr eine Tasse und setzte sich auf den Besucherstuhl. »Du hast den Fall also vor einem Jahr bearbeitet«, begann er. »Wenn es denn einer im polizeilichen Sinne ist.«

»Zusammen mit Kux und Weber.« Nina verzog das Gesicht. »Ich hätte gerne weiterermittelt, aber die beiden kamen zu dem Schluss, es wäre nur ein Paar, das untergetaucht ist wegen der Schulden. Dafür sprach auch, dass die Kaspari von ihren Angehörigen nicht vermisst gemeldet wurde. Wir dachten, ihre jüngere Schwester wusste wohl schon, dass Lara sich dünne gemacht hatte. Tja, denn …« Sie nahm einen Schluck Kaffee, blickte zum Fenster. Am Himmel waren Regenwolken aufgezogen. »Ihre Schwester wollte uns weismachen, sie hätte selten Kontakt zu ihr, aber die Wände ihrer Wohnung waren mit Fotos tapeziert: Die beiden Schwestern Wange an Wange in die Kamera strahlend. Mal Skiurlaub, dann Paris. Und so weiter. Jedenfalls haben wir ihr nicht geglaubt. Und zumindest Kaspari ist ja tatsächlich nur untergetaucht.«

»Aber Heberleins Eltern haben ihren Sohn vermisst gemeldet und sogar einen Privatdetektiv engagiert.«

»Komm du mal gegen zwei ältere Herren an, die dir deutlich zu verstehen geben, dass sie mehr Erfahrung haben. Und Kux ist ja immer Webers Meinung. Da war ich erst ein halbes Jahr bei euch.«

»Du hast mein vollstes Verständnis. Aber was hat die Kaspari als Grund für ihren Wegzug angegeben? Ich hab die Akte noch nicht ganz gelesen.«

»Angst. Kurz vor Richards Verschwinden klebte ein Zettel unter ihrem Scheibenwischer. ›Schlampe‹ habe in Großbuchstaben drauf gestanden. Nach seinem Verschwinden habe sie seltsame Anrufe bekommen. Jemand, der in den Hörer atmete und dann auflegte.«

»Wieso Schlampe?« Dominik runzelte die Stirn.

»Ich habe ein Foto von Lara gesehen: Sie ist eine ausnehmend schöne Frau. Für manche kann das schon ein Anlass sein. Richard sah auch nicht gerade übel aus.« Sie lächelte.

»Du hättest mit ihm auf die Fidschis gehen sollen.«

Draußen ging ein Schauer nieder. Ein Rauschen und das Geräusch von Reifen auf nassem Asphalt drangen zu ihnen, bis Nina aufstand und das Fenster schloss.

»In der Südsee soll das Wetter besser sein. Tja, ich fürchte allerdings, da ist er nicht. Bei einem Anlageberater denkt man immer gleich an Geld als Grund für sein Verschwinden, aber womöglich ging es gar nicht darum. ›Schlampe‹ klingt nach eifersüchtigem Ex-Liebhaber von der Kaspari, wenn du mich fragst.« Sie deutete mit dem Kopf Richtung Fenster. »Nach dem Unwetter ist vor dem Unwetter. Ich fühle mich allmählich wie die Bewohnerin eines Schattenreiches.«

»Gefangen im ewigen Zwielicht.« Könnte auch von Poe stammen, dachte Dominik.

»Ich fange noch einmal bei der früheren Nachbarin des Paares an«, sagte Nina. »Die hat nämlich im letzten Jahr eine fremde Frau ums Haus schleichen sehen, kurz bevor Heberlein verschwand. Die Beschreibung war vage, aber immerhin.«

»Und ich höre mir an, was Heberleins Eltern zu sagen haben.«

»Ja, verschaff dir einen frischen Eindruck. Ich habe diese Leute schon letztes Jahr kennengelernt.« Nina schauderte kurz, wie von einer unangenehmen Erinnerung.

Der Citroën roch mistneu. Dominik drehte Keith Jarrets Death and the flower probehalber lauter, während er auf die Vilsendorfer Straße einbog und stadtauswärts fuhr. Die Boxen lieferten einen satten Klang, der von überall herzukommen schien. Nicht schlecht. Er konnte sich jetzt mühelos bei jenen jungen Männern einreihen, deren Autos vor roten Ampeln mit dumpfen Bässen rhythmisch vibrierten, durch die geschlossenen Scheiben eine amputierte Fassung der Musik nach draußen gaben. Obwohl er argwöhnte, dass es drinnen bei denen auch nicht viel besser klang. Lissa hatte so lange gequengelt, bis er das teure Klangpaket geordert hatte. Das wusste ihre Mutter noch gar nicht. Besser, Betty erfuhr es auch nicht.

Der grünspanbedeckte Adler des Grafschaftsdenkmals blickte gleichmütig auf den Stau, der sich am Kreisel in Jöllenbeck im Norden Bielefelds gebildet hatte. Nachdem ein liegen gebliebener Wagen von der Fahrbahn geschoben worden war, floss der Verkehr wieder, und er fand das Haus der Heberleins halb verborgen von ausladenden Rhododendron-Büschen am Ende einer Sackgasse. Dahinter begann ein Wanderweg. Als er einen der Äste streifte, traf ihn ein Schauer von Regentropfen. Auf dem gepflasterten Weg durch den Vorgarten lagen zahlreiche Zweige, die der Sturm abgebrochen hatte, der in der letzten Nacht über Ostwestfalen gezogen war. Eine Amsel hüpfte über den vor Nässe dunklen Gartenboden. Am Fuße einer Zierweide lagen ein Gartenzwerg mit Schubkarre und ein rostrotes Bambi einträchtig nebeneinander. Hinter einer Scheibe im Erdgeschoss verschwand ein Gesicht so schnell, dass er es nicht erkennen konnte. Nach dem ersten Klingeln öffnete eine kleine, weißhaarige Frau. Sie quittierte den gezückten Dienstausweis mit einem Nicken.

»Elisabeth Heberlein? Ich würde Ihnen gerne noch ein paar Fragen …«

»Bitte«, sagte sie nur und bedeutete ihm mit einer Geste hereinzukommen. Sie stieg ein paar Stufen der Treppe hoch, die vom Flur aus ins Obergeschoss führte, und drehte sich nach ihm um. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas.«

Es handelte sich um ein kleines Jugendzimmer mit schmaler Bettcouch, Minischreibtisch und Kleiderschrank. An einer Wand hing ein gerahmtes Foto von einem Herrn, der ihm vage bekannt vorkam. Als er den Titel Der Weg zur finanziellen Freiheit auf dem Bücherbord entdeckte, war ihm klar, wo er bereits ein Bild von ihm gesehen hatte: im Buchladen auf einem Büchertisch mit Werken von Finanzgurus und Motivationstrainern.

Frau Heberlein war seinem Blick gefolgt. »Richard war ein Fan von dem. Er war mehrmals bei seinen Auftritten.« Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Danach war er immer so voller Ideen. Und schauen Sie.« Sie deutete auf eine Reihe von Pokalen in einer schmalen Vitrine. »Er war begeisterter Tänzer, hat bei einigen Turnieren gewonnen.« Sie nahm ein anderes Foto von der Wand und hielt es ihm hin. »Richard und Cecilie. Sie haben lange zusammen getanzt. Wir hatten uns eigentlich gewünscht, dass … Sie wissen schon.«

Das Foto zeigte einen gut aussehenden, jungen Mann mit Siegerlächeln, der seine hübsche Tanzpartnerin an ihrer biegsamen Taille umfasst hielt. Sie hatte den Kopf keck zurückgeworfen, eines ihrer schlanken Beine war angewinkelt. Das Bild hatte etwas von den Fünfzigern.

»Richard ist jetzt achtunddreißig?«, begann er.

»Seit dem 5. Januar neununddreißig. Er hat vor ein paar Jahren noch einmal bei uns gewohnt, weil er … aus beruflichen Gründen umziehen musste. Und Sie wissen ja, bezahlbare Wohnungen sind heutzutage nicht so leicht zu bekommen.«

»Seit dem letzten Juli haben Sie Ihren Sohn also nicht mehr gesehen?«

»Eigentlich seit Mitte Juni. Da habe ich nämlich meinen Sechzigsten gefeiert. Da ist er gekommen. Mit dieser … mit seiner Lebensgefährtin, wie man heute sagt. Aber bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Sie wies auf die Bettcouch, und er ließ sich nieder. Sie setzte sich auf den einzigen Sessel im Zimmer. Über ihr begann schon die Dachschräge, und er begriff, warum sie ihm die Couch und nicht den Sessel zugewiesen hatte. Sie zupfte eine Blume des Strohblumenstraußes zurecht, der in einer Vase auf dem Couchtisch stand.

»Frau Heberlein …«

»Mein Mann ist letztes Jahr am 24. Juli fünfundsechzig geworden. Wir haben natürlich gefeiert, auf der Sparrenburg. Richard wollte auch kommen mit seiner …«

»Mit Lara Kaspari?«

»Mit dieser … mit der Kaspari, ja. Aber sie sind nicht gekommen. Richard hat sich weder gemeldet, noch war er telefonisch erreichbar. Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Mein Mann und ich, wir haben kurz hintereinander Geburtstag, und da gab es im letzten Jahr ausgerechnet gleich zwei größere Feiern. Vielleicht war ihm das zu viel, habe ich noch gedacht. Wolfgang – das ist der Ältere unserer beiden Söhne – war sehr aufgebracht. Wir haben uns natürlich Sorgen gemacht, sind am nächsten Tag bei Richard vorbeigefahren, doch da schien niemand zu Hause zu sein. Wolfgang hat uns vor Augen geführt, wie unzuverlässig Richard sein kann. Also gut …« Ihre Hände flogen kurz hoch, um dann wieder in ihrem Schoß zu landen. »Es stimmt schon. Richard hat manchmal kurzfristig abgesagt oder eine Familienfeier verpasst. Auch schon mal einen Geburtstag. Aber dann ist er am nächsten Tag oder in der Woche danach angekommen, manchmal mit nichts oder nur mit einer Rose oder mit einem Schmuckstück, das er sich gar nicht leisten konnte. Er ist ein bisschen unberechenbar, unser Jüngster, aber wenn er kam, dann haben wir immer viel gelacht.«

Dominiks Blick wanderte vom Karomuster der Couch über das Karomuster des Sessels zum Karomuster der Vorhänge. Selbst Frau Heberleins Hose war kariert. Doch alle Muster waren verschieden. Nichts passte hier zusammen.

»Wie alt war er, als er wieder bei Ihnen eingezogen ist?«

»Vierunddreißig. Aber dann hat er sich selbstständig gemacht. Er hat nur ein halbes Jahr hier gewohnt.«

»Sie mögen Lara Kaspari nicht?«, hörte er sich sagen

Frau Heberlein schob ihre Hände zwischen die zusammengepressten Knie. »Ein paar Tage nach dem Fünfundsechzigsten meines Mannes habe ich Richards Vermieter angerufen. Ich dachte, der hat einen Schlüssel und kann uns da vielleicht reinlassen. Aber dieser Vermieter …« Sie zog am Deckchen unter der Vase mit den Strohblumen, bis es parallel zur Tischkante lag. »Er sagte, in dem Haus stünden zwar noch Möbel, aber die Schränke wären leer geräumt, die beiden wären auf und davon. Sie wären mit einigen Monatsmieten im Rückstand, und er hätte vorgehabt, eine Räumungsklage einzureichen. Die Haustürschlüssel fand er bei sich im Briefkasten, aber er hätte zur Sicherheit die Schlösser ausgewechselt. Wir haben Richards Mietschulden natürlich beglichen. Und seine Möbel hier eingelagert.« Sie zupfte an den Strohblumen. »Er hätte auch wieder zu uns ziehen können, keine Frage. Allerdings ohne diese Frau.«

»Ihnen ist nicht der Gedanke gekommen, dass er vor seinen Gläubigern davongelaufen sein könnte?«

»Vor dem Vermieter? Es waren doch nur drei Mieten! Ich habe jeden Tag versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen. Ich besaß nur diese Handynummer von ihm. Wir haben noch eine Woche gewartet, dann sind wir zur Polizei. Die haben uns gesagt, dass er vielleicht gar nicht gefunden werden will. Ich habe das nie geglaubt, Herr …«

»Domeyer. Und warum nicht?«

»Er hätte sich in jedem Fall früher oder später bei uns gemeldet. Richard ist nicht herzlos, wissen Sie. Er ist … er hat ein sehr einnehmendes Wesen.«

Ein helles Prasseln ließ ihn aufblicken. Ein Graupelschauer trommelte gegen die Dachfenster.

»Und dann spürte der Privatdetektiv, den Sie engagiert haben, Frau Kaspari auf.«

Sie nickte. »In Ulm. Erst nach einem Dreivierteljahr ist es ihm gelungen. Angeblich …«

»Ja?«

»Angeblich hatte Richard angedeutet, dass ihre Geldsorgen bald ein Ende hätten. Ohne nähere Erklärung. Und dann wäre er spurlos verschwunden.«

»Wann?«

»Laut Kaspari Anfang Juli des letzten Jahres. Das hätte sie so sehr beunruhigt, dass sie aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen wäre, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Düster, oder?« Sie stand auf und knipste eine Stehlampe an.

Ein leises Donnergrollen war zu hören.

»Bei wem hat Ihr Sohn Schulden gehabt? Können Sie mir eine Liste seiner Gläubiger erstellen?«

»Das ist es ja gerade. Ich weiß nichts von neuen Schulden, wir haben seine Schulden doch beglichen! Richard hatte 2008 selbst viel Geld bei einer Anlage verloren und später auch seine Stelle bei der Bank. Aber wir haben ihm Geld gegeben, mein Mann und ich. Richard hatte eben Pech …«

»Ist Ihr Mann auch zu Hause?«

»Der liegt im Krankenhaus. Er hatte vor Kurzem einen Schlaganfall. Er kann sich nicht mehr verständlich machen. Das war alles zu viel für ihn. Er regt sich schnell auf, wissen Sie, und das bei seinem hohen Blutdruck.«

»Ihr Sohn war also selbstständig, als er verschwand?«

»Als Anlageberater, ja. Aber was weiß ich schon? Diese Kaspari ist eine ganz Ausgebuffte, von wegen beunruhigt. Was, wenn sie uns nur Märchen erzählt und sie steckt selbst hinter Richards Verschwinden? Ich glaube, die hat ihn ausgenommen, und als er dann … Sie müssten die Frau mal sehen, dann wüssten Sie, was ich meine! Glauben Sie mir, da ist etwas faul!«

Betty Domeyer bewegte die klammen Zehen. Es war eine blöde Idee gewesen, den einsamen Spaziergang durchs Moorbachtal mit Wildleder-Pumps anzutreten. Ihre Freundin Christiane behauptete immer: Egal, wie es dir geht, in einem schicken Outfit fühlst du dich gleich besser. Also hatte sich Betty für ihr feuerrotes Lieblingskostüm entschieden, auch wenn es inzwischen zu eng geworden war, wie fast alles in ihrem Kleiderschrank.

Als sie sich auf den Sitz ihres Twingos fallen ließ und der Wollstoff des Kostüms hörbar riss, musste sie sich auf die Lippen beißen, um nicht einfach loszuheulen. Was war bloß los mit ihr in letzter Zeit? Waren das etwa schon die Wechseljahre? Sie war doch sonst nicht so ein Seelchen. Betty forschte nach dem Riss, der sich auf ihrer Hüfte befand. Der Reißverschluss war ausgerissen. Sie zuckte zusammen, als ein Fichtenzapfen auf ihre Windschutzscheibe prallte, seufzte und startete den Wagen. Kurz nachdem sie vom Horstheider Weg auf die Theesener Straße abgebogen war, wurde es so dunkel, als ob das Ende der Welt bevorstünde, aber es war nur der nächste Guss.

Ihr Reihenhaus in Schildesche kam in Sicht. Direkt vor der gemeinsamen Garageneinfahrt zwischen Hörstkötters Haus und ihrem eigenen parkte ein Leichenwagen, der gerade losfuhr und ihr die Zufahrt freimachte. War Oma Horstkötter gestorben?

Betty hielt in der Einfahrt, stieg aus und öffnete die Garagentür. Das Auto, das in der Garage stand, leuchtete so hell, dass es aussah, als hätte es ein weißes Loch in die Düsternis geschnitten. Sie machte das Licht an. Der nagelneue Citroën, den sie sich nicht leisten konnten, glänzte in kühlem Weiß. Sie ballte die Faust um ihren Autoschlüssel und hatte nicht übel Lust, Betty was here in den makellosen Lack zu ritzen. Was man eben so ritzte. Sie war siebzehn gewesen, als sie das letzte Mal etwas geritzt hatte. Während eines grottenlangweiligen Wanderurlaubs mit ihren Eltern. Eine Strafe für Betty, die damals jeden Monat einen neuen Jungen anschleppte.

Bis zu jenem Frühsommer, als sie ihn kennenlernte, diesen Jungen, der aus riesigen, braunen Augen zu bestehen schien. Ihre Eltern konnten noch nicht wissen, was das bedeutete. Dass er alles auslöschte, was bisher gewesen war und noch kommen würde. Also zwangen sie sie, mit nach Tirol zu fahren. In irgendeiner Schutzhütte hatte sie Dominik & Betty ins Holz geritzt, mit einem Herzen umkringelt. Es war ein Akt der Verzweiflung gewesen. War es die Distanziertheit, die sie herausgefordert hatte? Das Melancholische in seinem Blick? Alles, was sie wusste, war, dass sie ihn kriegen musste. Drei endlose, verregnete Wochen Tirol. Vermutlich war die Schutzhütte längst abgerissen worden.

Auch jetzt trommelte der Regen aufs Garagendach. Sie ließ ihr Auto in der Zufahrt stehen. Im Haus war es still und dunkel. Sie kickte die engen Pumps von den Füßen. Unter der Tür zum Keller war ein Streifen Licht zu sehen. Dominik schraubte vermutlich das neue Teleskop unten in seinem Hobbyraum zusammen. Lissa und Robin schienen noch nicht zu Hause zu sein. Ihr Sohn hatte irgendetwas von einem Vortrag in der Bürgerwache erzählt. Lissa erzählte dagegen selten, was sie vorhatte. Nachdem Betty ihr lädiertes Kostüm gegen bequeme Sachen getauscht hatte, ging sie in die Küche. Geistesabwesend band sie sich die dicken, roten Haare zurück. Dieses neue Auto … neigte Dominik noch mehr als früher dazu, sie außen vor zu lassen? Oder fiel es ihr nur stärker auf?

Nach einem Blick in die Speisekammer entschied sie sich für Kartoffelsalat und Würstchen. Nach kurzer Zeit stieg Dampf aus dem Kartoffeltopf, machte aus der warmen Küche eine Art Dampfbad. Sie öffnete das Fenster, als ihre Tochter hereinschwebte. In einem hochgeschlossenen, schwarzen Kleid mit Spitzenbesatz, das aus dem 19. Jahrhundert zu stammen schien. Das sei ein besonderer Stil, hatte ihr Robin mal erklärt. Gothic oder so ähnlich.

Lissa hob den Deckel vom Topf und wich vor dem Dampf zurück. »Und – was wird das?«

»Es gibt Kartoffelsalat mit Würstchen.«

»Aha?!« Lissa verzog den Mund. »Für mich also nur Kartoffelsalat.«

»Ich kann noch Veggie-Schnitzel aus dem Supermarkt für dich holen.« Dominik stand lächelnd in der Tür.

Betty spürte, wie ihr heiß wurde. Als ob sie unter Dampf stünde wie der Kartoffeltopf. »Was willst du eigentlich zum Fünfundsiebzigsten deiner Großmutter anziehen?«, fragte sie beiläufig.

»Dieses Kleid.« Lissa setzte sich an den Tisch, stützte das Kinn in die Hand und schlug eine Zeitschrift auf.

»Ist das dein Ernst?« Betty prüfte die Kartoffeln mit der Gabel.

Die hübschen Züge ihrer Tochter entgleisten. »Und wieso nicht?«

Dominik setzte sich neben Lissa und legte den Arm um ihre Schultern. »Weißt du was? Warum gehen wir nicht zusammen shoppen? Ich brauche auch noch ein passendes Hemd, und für dich kaufen wir dann was Schickes, Zeitloses, hm?«

»Okayyy«, sagte Lissa gedehnt. »Aber nur, wenn ich nicht nach Kotz-Stadt muss. Ich will in meinen eigenen Laden.«

Betty schüttete die Kartoffeln ab. »Lissas Kleiderschrank platzt aus allen Nähten. Da sind dieser Faltenrock und die weiße Bluse, die du vor drei Jahren zur Konfirm…«

»Mama! Da war ich dreizehn!«

»Aber du bist kaum gewachsen. Und dass du dir Watte in deine Push-up-BHs …«

»Ja, danke schön!« Lissa sprang auf und rannte aus der Küche.

Betty drehte Dominik weiter den Rücken zu, pellte die Kartoffeln entgegen ihrer Gewohnheit am Ausguss. Sie hörte, wie er seinen Stuhl zurückschob. Sie wünschte, er würde sie nur ein einziges Mal berühren, ihr die Hand auf den Rücken legen oder den Arm um die Schultern, so wie er das bei Lissa tat.

»War das wirklich nötig?«, fragte Dominik leise.

»Wenn jemand neu eingekleidet werden muss, dann sicher nicht Lissa, sondern Robin.« Sie öffnete das Glas Bockwürstchen.

»Neu einkleiden?«, rief Robin aus dem Flur und kam in die Küche. »Gibt‘s was Leckeres? Ich hab vielleicht Hunger!« Er warf einen prüfenden Blick über ihre Schulter. »Würstchen! Krass!«

Betty musterte seine alte Lederjacke. Darunter trug er einen ausgeblichenen Kapuzenpullover undefinierbarer Farbe und eine ausgefranste Jeans.

»Es geht um den Geburtstag deiner Großmutter«, erklärte Dominik.

»Muss ich mir da einen Seitenscheitel kämmen? Mit nassem Kamm und so?«

»Robin, ich rede davon, dass du neue Sachen brauchst!«, sagte Betty.

Ihr Sohn verschränkte die Arme. »Du bist also der Meinung, dass man dem Warenfetischismus Vorschub leisten sollte.«

Betty stemmte die Hände in die Hüften. »Ich bin dafür! Absolut!«

»Das Spektakel ist der Moment, in dem die Ware zur völligen Besetzung des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist«, gab Robin zurück.

Dominik pfiff anerkennend.

»Das ist nicht von mir. Das ist von Guy Debord.«

»Und wenn‘s vom lieben Gott wär!«, rief Betty. »Ich bügele deine Hemden, und du knüllst sie in deinen Schrank …«

»Weil ich keinen Platz hab! Wann kann ich endlich in Nils‘ Zimmer umziehen? Das ist viel größer als meins!«

»Wie wäre es mal mit Ausmisten, Robin?«

Robins Nasenflügel blähten sich. »Wenn du glaubst, dass Nils hier wieder einzieht, kann ich nur sagen – träum weiter, Mama!«

Betty, die sonst nie um eine Antwort verlegen war, starrte ihn mit offenem Mund an.

»Zieh erst mal die Jacke aus.« Dominik schob ihn aus der Küche. »Das besprechen wir später.«

»Man darf die Wahrheit ja nicht mal erwähnen«, erklang es halblaut aus dem Flur.

Betty stützte sich auf die Spüle. Für einen Moment gestand sie sich ein, wie sehr sie ihren Ältesten vermisste. Dass sie sich insgeheim genau das vorstellte: Dass Nils eines Tages wieder einziehen würde. Sie ergriff eine Kartoffel, verbrannte sich, ließ sie fallen, erstach sie mit der Gabel, worauf sie in zwei Teile zerbrach, die auf dem Boden landeten. »Ach, Mist!«

Dominik hob die Kartoffel auf. »Ich mach das schon.« Er nahm ihr behutsam das Messer aus der Hand, brachte das Kunststück fertig, sie dabei nicht zu berühren. Nicht einmal flüchtig.

Antiquariat Roland Marx stand auf dem Messingschild, darunter klein Detektei.

Ja, was denn nun, Buchhändler oder Privatschnüffler?, dachte Nina und versuchte, etwas hinter den halb heruntergelassenen Rollläden der beiden Schaufenster zu erkennen. Sie drückte auf den Klingelknopf neben dem Schild. Durch eine Schallschutzmauer drang gedämpft das Rauschen des Verkehrs vom Ostwestfalendamm an ihr Ohr. Das Viertel wirkte verschlafen. Die einzigen Passanten waren zwei Frauen, die bei Ferdis Pizza Pinte die Straße überquerten. Sie trugen weite, dunkle Gewänder, die nur das Gesicht freiließen. Hier in der Nähe gab es inzwischen eine Moschee, fiel Nina ein. Sie war früher öfter zu Ferdi gegangen. Die alte Studentenkneipe kam ihr jetzt vor wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. War das ehemalige Arbeiterviertel mit den günstigen Mieten immer noch bei Studenten beliebt?

Während Nina noch überlegte, ob sie in Ferdis Pizza Pinte ihr Abendessen einnehmen sollte, schloss jemand die Tür zum Antiquariat auf. Der Mann mit der Schiebermütze und dem freundlichen Durchschnittsgesicht sah sie fragend an. Wer so harmlos und unauffällig aussah, hatte es als Privatdetektiv vermutlich leicht.

»Roland Marx?«

Er nickte lächelnd. »Das Antiquariat hat schon geschloss…«

»Ich möchte kein Buch kaufen.« Sie hielt ihren Polizeiausweis hoch. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, was sie an diesem Gesicht irritierte: Er hatte keine Haare, nicht einmal Wimpern oder Augenbrauen. Eine Krankheit, nahm sie an.

»Es ist wegen Heberlein, nicht wahr?«, sagte Marx.

»Ja. Nur ein paar Fragen.«

Sie folgte ihm in einen düsteren Raum mit hohen Bücherregalen, Büchertischen und Bücherkisten und weiter durch den engen Gang, den die Bücher freiließen, in ein Büro. Er zog einen Vorhang zurück, und spärliches Hinterhoflicht fiel auf eine staubige Zimmerpflanze der Spezies Plastikgrün, einen überladenen Schreibtisch und Rollschränke. Er bot ihr einen Besucherstuhl an und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.

»Mir war klar, dass die Polizei bei mir auftauchen wird. Ich bezweifele allerdings, dass ich Ihnen weiterhelfen kann. Ich habe alles an die Familie Heberlein weitergegeben, was ich durch Lara Kaspari erfahren habe.«

»Sie ahnten, dass wir kommen, weil …«

»Weil ich mich geirrt habe. Ich bin zuerst davon ausgegangen, dass Richard Heberlein zusammen mit seiner Freundin untergetaucht ist. Frau Kaspari hat nämlich Lebenszeichen von sich gegeben.«

»Und doch hat es lange gedauert, bis Sie sie fanden.«

Marx lächelte. »Sie wollte nicht gefunden werden. Sie hat sich telefonisch bei ihren Eltern gemeldet, die ihr Rentnerdasein in Andalusien verbringen. Lara sagte ihnen, sie sollten sich keine Sorgen machen, sie würde eine Weile verreisen und wäre nicht mehr unter ihrer Bielefelder Telefonnummer zu erreichen. Sie würde sich wieder bei ihnen melden.«

»Hat sie etwas über den Zweck ihrer Reise gesagt?«

»Sie hat ein Foto-Shooting auf Mallorca erwähnt, das sie begleiten würde. Die Frau ist Kosmetikerin und Visagistin. Aber wenn Sie mich fragen, dann hat sie ihren alten Eltern einen vom Pferd erzählt.«

»Und ich frage Sie.«

»Mallorca ist ein schöner Ort, um zu recherchieren. Man kann auf den Spuren von George Sand wandeln … Kennen Sie George Sand?«

»Herr Marx …«

»Schon gut. Was ich sagen wollte, es ist dennoch frustrierend, wenn man so gar nichts findet, was auf einen Aufenthalt des lieben Töchterleins hindeutet.«

»Warum hat sie gelogen?«

»Weil sie ihre Eltern nicht beunruhigen wollte. Jedenfalls behauptet sie das.«

»Und ihre Eltern hatten die ganze Zeit über Kontakt mit ihr?«

»Keineswegs. Die haben danach vergeblich versucht, sie unter ihrer Handynummer zurückzurufen.«

»Gab es sonst noch ein Lebenszeichen von ihr?«

»Ihre Schwester Eveline hat einen ähnlichen Anruf bekommen und konnte sie danach ebenso wenig unter der angezeigten Nummer erreichen.«

»Ihre Eltern wussten also nichts.«

»Richtig. Die haben erst später durch die Polizei erfahren, dass ihre Tochter ebenso wie Richard Heberlein die gemeinsame Wohnung verlassen hat und die beiden spurlos verschwunden sind. Als sie das hörten, dachten sie, dass dieser – ich zitiere – ›windige Anlageberater‹ ein krummes Ding gedreht und ihre Lara da hineingezogen hat. Dann sei er bestimmt ins Ausland geflüchtet, um den hiesigen Strafverfolgungsbehörden zu entgehen.«

»Halten Sie das für möglich?«

»Möglich schon. Richard ist unauffindbar und die Kaspari hat offenbar Angst.«

»Sie hat sich versteckt?«

Er hob die Hände. »Weder ihre Familie noch ihre Freunde wussten, wo sie sich aufhält.«

Durch das Fenster sah Nina, wie eine Frau mit Kopftuch Wäsche von einer Leine nahm. Ein Mädchen mit langem, dunklem Zopf half ihr dabei.

»Wie haben Sie Lara Kaspari gefunden?«

»Ende Februar dieses Jahres erhielten ihre Eltern einen kurzen Brief von ihr, dass sie gesund und munter sei und sich wieder melden würde. Der Brief war in Davos abgestempelt. Ich habe dort die Hotels abgeklappert, und siehe da …« Er gestattete sich ein Lächeln. »Lara Kaspari und ein Mann namens Geronimo Kilian hatten zu der Zeit für zehn Tage ein Doppelzimmer in einem Fünf-Sterne-Hotel gemietet. Herr Kilian ist mit einer Zweitwohnung in Ulm gemeldet. Und wie sich herausstellte, ist Frau Kaspari bei ihm untergekrochen. Übrigens ist Kilian ein älterer Herr mit solider Finanzlage. Die Kaspari scheint eine Vorliebe für solche Herren zu haben.«

»So? Richard Heberlein war nicht von dieser Sorte.«

»Stimmt, aber ich habe im Zuge meiner Nachforschungen herausgefunden, dass sie sich schon einmal von einem älteren Herrn, wie soll ich das ausdrücken …« Seine nicht vorhandenen Augenbrauen ruckten nach oben.

»Das schaffen Sie schon.«

»Nun, eine äußerst attraktive, junge Frau und ein mindestens dreißig Jahre älterer Herr mit Geld … Ich bezweifele, dass sie sich auf den ersten Blick in seine Tränensäcke verliebt hat.«

Nina lachte.

»Das ist natürlich der pure Neid«, fügte er mit einem Grinsen hinzu. Er schaute auf seine Uhr. »Und zum Ausgleich für diese Ungerechtigkeit der Welt muss ich jetzt ein Glas Rotwein trinken. Ab 18 Uhr ist das erlaubt, finde ich. Möchten Sie auch eins?« Er zog eine Lade aus seinem Schreibtisch auf und förderte eine Flasche Beaujolais und zwei Gläser hervor.

»Ich dachte, Privatdetektive trinken immer Whisky. Aber nein, lassen Sie nur, ein andermal vielleicht«, sagte sie, als er ihr mit fragendem Blick ein Weinglas entgegenhielt. »Noch einmal zurück zu Heberlein. Von ihm haben Sie keinerlei Spur entdeckt?«

Es gluckerte leise, als er sich Wein eingoss. Ein schräger Sonnenstrahl, der es bis in den Hinterhof geschafft hatte, ließ den Wein rot funkeln. »Banker sind komisch, oder?« Er trank einen Schluck, leckte sich die Lippen. »Der Mann hat die Kontakte zu seinen früheren Freunden, die gleichzeitig seine Arbeitskollegen waren, abgebrochen, als er vor Jahren seine Stelle bei der Bank verlor.«

»Sie haben nichts herausgefunden?« Sie konnte die Enttäuschung, die in ihrer Stimme schwang, nicht ganz verbergen.

»Er hatte nur noch mit einem der ehemaligen Kollegen sporadisch Kontakt, und das eher oberflächlich. Man trifft sich alle paar Monate auf ein Bier, schickt sich Urlaubspostkarten, so in der Art. Er konnte mir leider keinen Hinweis geben, wo Richard sich aufhalten könnte.« Er nippte an seinem Glas. Für einen Moment sah es so aus, als würde er den Wein kauen.

Nina wurde bewusst, dass sie die Enden ihres Halstuches zu einer Wurst gedreht hatte, und ließ sie los. »Wollen Sie mir noch etwas …«

»Dieser Freund, ein gewisser Jens Vogeler, hat mich vor Kurzem angerufen. Er hätte seinen Dachboden entrümpelt und Postkarten von Richard gefunden. Warten Sie …« Er stand auf, holte einen Schuhkarton aus einem der Rollschränke und gab ihn ihr. Obenauf lag eine Postkarte mit einem Strandmotiv. »Belangloses Zeug. Urlaubspost eben. Nur diese Karte …« Er wühlte im Karton und zog eine Karte mit der Ansicht eines Schlosses hervor, das von einem Park und Wäldern umgeben war. »Heberlein war dort wegen einer Sportverletzung in der Reha. Die Karte ist im Januar des letzten Jahres gekommen, also fünf Monate vor seinem Verschwinden.«

Lieber Jens, las Nina, ich dachte immer, man könnte sich in einer Kur erholen. Stattdessen hetze ich von einer öden Therapie-Maßnahme zur anderen. Und abends: nichts als Langeweile. Immerhin habe ich ausgerechnet bei der Aquafitness eine Bekanntschaft gemacht, die noch sehr interessant werden könnte! Ein Smiley rundete diesen Satz ab. Grüße aus der Klinik am Schlossberg, Richard.

»Mehr haben Sie nicht für mich?«

»Ich könnte Ihnen noch ein Glas Wein anbieten.«

Nina lehnte wieder dankend ab.

Die einzigen Geräusche auf der Büroetage waren das Heulen des Windes und ein gelegentliches Knacken in der Heizung. War sie die Letzte hier? Nina schloss den Deckel des Kartons, den der Privatdetektiv ihr überlassen hatte. Der Inhalt gab in der Tat nicht mehr her als den vagen Hinweis einer Bekanntschaft, die Heberlein in der Reha gemacht hatte. Ob sein Freund Jens Vogeler, den sie am nächsten Morgen treffen würde, Näheres darüber wusste?

Nina lauschte. Vor einer Stunde hatte sie das letzte Mal die schwere Glastür auf dem Flur ihrer Büroetage klappen hören. Auch aus Bent Andersens Büro, das ihrem gegenüberlag, kam kein Mucks. Die Soko versammelte sich in einem anderen Trakt mit größeren Räumen, aber vielleicht waren die Kollegen auch schon nach Hause gegangen. Zeit, Feierabend zu machen. Sollte sie vorher noch einmal versuchen, die ehemalige Nachbarin von Richard Heberlein und Lara Kaspari zu erreichen? Die Babysitterin hatte gesagt, dass Frau Adler gegen zwanzig Uhr aus ihrer Kanzlei zurück sei. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Also jetzt.

Frau Adler meldete sich nach dem sechsten Klingeln. Sie klang müde. Im Hintergrund heulte ein Kind. »Tut mir leid, Frau Tschöke, in den nächsten Tagen werde ich bis spätabends im Büro sitzen müssen, vor Ostern habe ich Einiges zu erledigen. Aber wenn Sie heute Abend kommen möchten …?«

Nina willigte ein. Es würde vermutlich ein kurzes Gespräch werden. Sie hatte die Nachbarin des Paars schon im letzten Sommer befragt und nicht viel von ihr erfahren. Aber man wusste ja nie. Sie schnappte sich ihre Tasche.

Der Flur war schwach erhellt von der Notbeleuchtung und dem Licht der Straßenlaternen, das durch das große Fenster am Ende des Flurs fiel. Hier klang das Heulen des Windes lauter. Irgendwo musste ein Fenster nicht richtig geschlossen worden sein. Plötzlich knarrte eine Tür, öffnete sich einen Spaltbreit, aber niemand trat heraus. Der Wind?

»Dodo, Frank?«, rief Nina halblaut.

Es war deren Büro am Ende des Gangs. Zögernd ging sie darauf zu. Sie hatten wohl vergessen, das Büro abzuschließen. Sie wollte die Tür gerade zudrücken, als sie den Umriss einer Person am Schreibtisch gewahrte. Nina schrie auf. Die Person wandte den Kopf.

Mit pochendem Herzen tastete sie nach dem Lichtschalter. Frank blinzelte in die plötzliche Helligkeit. Durch das schräg gestellte Fenster wehte ein kühler Wind.

»Mensch, Frank! Hast du mich erschreckt! Sitzt hier in der Dunkelheit allein in einem eiskalten Büro und rührst dich nicht!«

»Ich habe nachgedacht.«

»Soso. Lust auf einen Feierabendkaffee zum Aufwärmen?«

Frank nickte.

In der Teeküche holte Nina eine saubere Tischdecke mit blau-weißem Bayernkaro aus dem Schrank und breitete sie auf dem Tisch aus. Der Kaffee, den Frank aufgesetzt hatte, sah mehr aus wie Tee.

»Was ist denn das wieder für eine Scheiße?«, fluchte er. Seine Laune schien sich nicht gebessert zu haben.

Nina schaute ihm über die Schulter. »Die Filtertüte ist umgeklappt, das Wasser läuft nebenher. Ich setze neuen auf.«

Brummelnd reichte er ihr die Dose mit dem Kaffee.

Sie schaufelte Pulver in den Filter. »Worüber hast du denn nachgedacht, Frank?«

»Darüber, wie dämlich ich war, mich damals auf diese Affäre einzulassen.«

»Das Übliche also. Dass du nur draufzahlst und …«

»Ich weiß, ich muss sie endlich vergessen. Das will ich ja auch.«

»Wäre allerdings besser. Ich meine, du sitzt jetzt wieder mit Dodo in einem Büro und …«

»Ja, Nina, ich weiß ja!«

Nina begutachtete die röchelnde Maschine. Der Kaffee lief jetzt in normaler Stärke durch. Sie holte eine Tüte Honigwaffeln aus ihrer Tasche und bot Frank davon an. »Nervennahrung?«

Frank biss herzhaft in seine Waffel.

»Warst du mal wieder im Netz?«, fragte sie. »Du hast doch früher öfter Frauen übers Internet kennengelernt.«

»Ja – und was für welche! Da wird gelogen und betrogen, was das Zeug hält. Falsche Altersangaben sind das Mindeste. Und dann die Fotos, da wird der Damenbart und Was-weiß-ich-nicht-alles wegretuschiert … Nina, ich hab einfach keine Lust mehr!«

»Suchst du ein Model mit Traummaßen, oder was?«

»Als ob ihr keine Ansprüche hättet!«

»Doch, sicher.« Nina nahm sich noch eine Waffel. »Willst du die Geburtstagsfeier zum Vierzigsten wirklich abblasen?«

»Ich habe dem Vermieter dieser Deele schon Bescheid gesagt.«