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Ulrike Dömkes
Roter Riesling

Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Chablis

Ulrike Dömkes, geb. in St. Tönis, wohnt in Wachtendonk. Sie absolvierte das Studium Textil-Design mit Diplomabschluss an der FH Niederrhein und eröffnete 1994 eine Buch- und Weinhandlung in Wachtendonk. 1998 besuchte sie die Wein- und Sommelierschule Koblenz und machte dort den Abschluss als Weinfachberaterin. Im Jahr 2000 verbrachte sie einen längeren Arbeitsaufenthalt im Weingut Aldo Vajra im Piemont und ist seit 2008 schriftstellerisch tätig. Ihre profunden Weinkenntnisse und ihr erzählerisches Talent fließen in ihre unterhaltsamen Weinkrimis ein.

www.ulrikedoemkes.de

Ulrike Dömkes

Roter Riesling 

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Vorwort

Die Rebsorte »Roter Riesling«

Er wird als Urform des Rieslings angesehen, der rote Riesling, aus dem die weiße Variante durch Mutation entstanden ist. Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert wurde er angebaut, doch danach verdrängte ihn der ertragreichere weiße Riesling erfolgreich aus den Weinbergen. Aber er überlebte unbemerkt und still bei Rebenzüchtern und Weinbauversuchsanstalten. So arbeitet die Rebenzüchtung der Hochschule Geisenheim seit 1991 mit dieser Sorte und entdeckte Erstaunliches. Er ist weniger anfällig für Fäulnis, und in der Praxis zeigt sich die Rebsorte widerstandsfähiger.

Während der weiße zu viel Wärme übel nimmt und Gefahr läuft, sein typisches Aroma zu verlieren, stellten die Rheingauer Weinbaubetriebe, die ihn angebaut haben, fest, dass er toleranter gegenüber der Klimaerwärmung ist.

Für den Winzer, der sich dem Weinklassiker der mitteldeutschen Regionen verpflichtet fühlt, kann der rote Bruder eine Beruhigung sein, denn mit ihm lässt sich das speziellen Säure-Süßespiel dieser Sorte erhalten, auch wenn die Temperaturen steigen.

Die Vermehrung erfolgt bis heute auf vegetativem Wege, d. h. durch Stecklinge, sodass man mit Recht von einer historischen Sorte sprechen kann, die in dieser Form schon vor Hunderten von Jahren angebaut wurde. Alleine das macht den roten Riesling zu einem Geschmackserbe, das bewahrt werden muss.

Leider geben die hellroten Trauben ihre Farbe nur ungern preis. Der Wein zeigt sich in kräftigem Gelb, der Winzer kann ihm aber durch bestimmte Kellertechniken eine dunkel- bis rotgoldene Färbung, ähnlich einer betagten Auslese, entlocken. Im Geschmack gleicht er der weißen Sorte, voller sommerlicher Fruchtaromen, aber fülliger und konzentrierter.

Im Rheingau wird er seit 2004 wieder angebaut, und aus Rheinland-Pfalz zeigen über hundert Betriebe Interesse. Noch ist der Anbau in diesem Bundesland nicht erlaubt, der Antrag auf Klassifizierung aber schon gestellt. In ca. zwei Jahren ist mit der Genehmigung zu rechnen, sodass auch im traditionsreichen Gebiet der Mosel die alte Sorte angebaut und gekeltert werden darf.

Im vorliegenden Roman habe ich der Zeit etwas vorgegriffen. Die Wingerte an der Mosel sind schon bepflanzt, und der erste Wein wird eingefahren. Ich bin allerdings fest überzeugt, dass die Zukunft diese Geschichte bald eingeholt hat.

Juni 2015, Mesenich

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1. Kapitel

1877, Anfang Juni

D ie Luft war voller Staub.

Er zog seine Jacke fester um sich und hielt den Kragen zu. Zwang sich, ruhig zu atmen. Was unmöglich war, weil es sofort Hustenreiz auslöste. Er zog ein Taschentuch aus der Hose und hielt es vor seine Nase. Atmete flach, bis sich die Schmutzwolke etwas gelegt hatte. Stille und Dunkelheit drangen in sein Bewusstsein. Sofort stieg die Panik an.

Langsam, dachte er, langsam. Eins, zwei, drei, Luft holen, eins, zwei, drei, ausatmen. So, jetzt denk nach. Was hast du?

Er fuhr mit den Händen in die Hosentaschen. Ein Taschenmesser, eine Tüte Nägel, ein Stück dünnes Seil, vielleicht ein Meter, ein Klumpen Kautabak in einer Blechdose und das Taschentuch.

Der Fels war abgerutscht, als er in die hintere Höhle wollte. Nachsehen, was der Vorarbeiter hier immer zu suchen hatte. Neugier ist der Katze Tod.

Die ganze Woche über hatte er beobachtet, wie Alois Zimmer in die Höhle schlich. Spät in der Nacht, wenn er dachte, dass alle schliefen. Er bewegte sich verstohlen, zündete die Kerze erst im Keller an. Carlo war ihm einmal gefolgt, kam aber nicht nahe genug heran, um zu sehen, was Alois trieb. Er hatte nur leises Strohrascheln gehört.

Alois hatte klargemacht, dass keiner der Arbeiter in der letzten Höhle etwas zu suchen hatte. Er war Sprengmeister, lagerte hier die Sprengstoffe, und die gingen nur ihn etwas an. Er konnte unangenehm werden, wenn seine Männer nicht spurten. Oder wenn ihm danach war.

Der Blick seiner hellgrauen Augen hatte etwas Verwaschenes, er schien sein Gegenüber nicht fixieren zu können und war deshalb umso beunruhigender. Dauernd schnippte er die Fingernägel aneinander, zusammen mit dem unsteten Blick ein nervtötendes Verhalten, das die Männer reizbar und unsicher machte. Beim Heer war er Obergefreiter gewesen, das kam durch.

Er allein hatte Zugang zum Lager. Er ließ keinen in die Nähe seines Arbeitsmaterials. Zu gefährlich, womit er recht hatte, aber auch eine gute Möglichkeit, Anderes, Illegales zu verstecken. Was sonst hätte er Nacht für Nacht dort tun sollen? Dynamitstangen zählen?

Carlos Neugierde hatte ihm keine Ruhe gelassen, er musste wissen, was hier versteckt war. Heute war die Gelegenheit gekommen. Ein Stützbalken in dem schmalen Gang zum Felsenkeller war gebrochen und musste verstärkt werden. Er hatte sich freiwillig gemeldet. Alois hatte ihn angeblafft, sich nicht unnötig aufzuhalten. Carlo sägte Bohlen zurecht und legte sie neben den Balken, dann holte er Nägel und den Hammer. Zwei Bohlen waren angenagelt, als die Wand wegbrach. Der Gang wurde zugeschüttet, die ganze Luft mit modrigem Geruch durchsetzt. Aber er hatte Glück gehabt, die Steine hatten ihn nicht getroffen. Und er hielt den Hammer noch in der Hand. Sein kostbarster Besitz.

Die Kerze war erloschen. Wenn er sie wiederfand, konnte er sie anzünden und sich die Bescherung ansehen.

Manchmal ist es besser, wenn man sofort tot ist. Denk das nicht! Carlo, hör auf, such die Kerze, du hast Streichhölzer. Doch, die hast du. In der Jacke, linke Tasche, da sind sie immer. Ja. Deine Kameraden werden dich suchen. Hat ja genug Krach gemacht.

Carlo hielt die Luft an, als er das Streichholz anriss. Aber er war zu fahrig und ließ es fallen. Beim zweiten konzentrierte er sich. Er schützte die Flamme mit der Hand, bis sie ruhig brannte. Doch sie war wieder aus, bevor er die Kerze entdeckte. Er hockte sich auf den Boden und tastet umher. Er musste Streichhölzer sparen, suchte systematisch den Boden ab. Nichts. Ein paar Steine rollte er zur Seite, griff dahinter in die Dunkelheit. Ein seltsames Gefühl überkam ihn, als seine Hände so nackt im Ungewissen tappten. Als Kind hätte er gedacht, dass jetzt jemand oder etwas zubeißt.

Große, spitze Zähne, und du bist ganz allein.

Da, die Kerze! Er stöhnte vor Erleichterung, wartete bis er ruhiger war, redete sich gut zu.

Jetzt machst du sie vorsichtig an, pass auf!

Er tropfte etwas Wachs auf einen flachen Stein und stellte den Kerzenhalter in sicherer Entfernung ab. Im Kerzenschein sah er, wie knapp er den Steinen entgangen war. Verdammt viel, was da runtergekommen war. Vom Durchgang war nichts mehr zu sehen, er konnte nur hoffen, dass der Einbruch nicht den ganzes Tunnel verstopfte.

Das wären dann acht, neun Meter. Unsinn, so viel lockeres Gestein war da nie.

Er horchte auf Stimmen von der anderen Seite. Es blieb still. Er begann, die Steine wegzuräumen. Ab und zu gab er mit dem Hammer Klopfzeichen, hörte aber keine Antwort. Sie mussten doch da drüben sein! Er warf die Steine hinter sich, doch immer neue rollten nach. Erschöpft hockte er sich auf den Boden. Er war bestimmt schon eine Stunde hier eingeschlossen. Zeit war relativ, wenn man keine Anhaltspunkte hatte.

Vielleicht bin ich erst zehn Minuten hier drin.

Wo blieben die anderen? Als er mit der Reparatur angefangen hatte, waren sie gerade von der Arbeit gekommen. Sicher saßen sie draußen, es war Hochsommer, eine brütende Hitze, da lud die Mosel zum Baden ein. Wer den ganzen Tag im Stollen arbeitete, war dankbar für jede Stunde Tageslicht. Sie waren an die dreißig Männer. Die meisten aus Italien, ein paar aus Bayern. Der Kaiser-Wilhelm-Tunnel, der seit drei Jahren im Bau war, war von zwei Seiten aus dem Berg gehöhlt worden. Von Cochem und von Eller aus bohrten und sprengten die Männer. Carlo gehörte zur Eller-Truppe, die in einer früheren Brauerei, gegenüber der Ortschaft Mesenich untergebracht war. Die Bierbrauerei, 1850 erbaut, war nur einige Jahre betrieben worden. Gleich in der Anfangszeit ertranken die drei Kinder der englischen Besitzer in der Mosel. Ein Schicksalsschlag, der in den Ruin führte. In den Lagerräumen der Brauerei, die direkt in den Fels gehauen und vom Haus aus zu begehen waren, befand sich Carlo jetzt.

Vielleicht hatten sie gar nichts gehört. Carlo sagte sich, dass er nur etwas Geduld brauchte. Er beschloss, den hinteren Raum zu inspizieren. Das wollte er sowieso, und jetzt würde es ihn ablenken.

Er setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, darauf bedacht, nicht über die herumliegenden Steine zu stolpern. Vor dem Eingang hing ein Stück Sacktuch. Er klappte es zur Seite und hielt die Kerze in die Finsternis. Auf dem Boden lag Stroh verstreut, im Hintergrund standen Kisten. Er schob sich in den Raum, die Luft war hier besser, der Vorhang hatte einiges an Staub abgehalten. Allein das war Grund genug, sich hier aufzuhalten.

Carlo stand jetzt vor einer Kiste, die mit einer Zahlenreihe und ein paar Buchstaben beschriftet war. Die Kennzeichnung kam ihm bekannt vor. So sahen die preußischen Waffenkisten aus, die er beim Militär gesehen hatte. Damals, Ende der Sechzigerjahre, hatte Italien mit den Preußen gegen Österreich gekämpft und endlich das Veneto und Friaul in italienischen Besitz bringen können. Carlo stammte aus dem schon lange eigenständigen Piemont, er konnte sich keine Fremdherrschaft vorstellen und war stolz darauf gewesen, für die Freiheit seiner Regionen zu kämpfen. Durch die Machtverschiebungen im deutsch-französischen Krieg 1870/71 fiel dann auch endlich Rom, der Rest des verhassten Kirchenstaates, an das jetzt vereinte Italien. Carlo hatte, so wie Tausende Italiener, an eine leuchtende Zukunft geglaubt. Aber die Jahre waren vergangen, ohne dass die erhofften Besserungen eingetreten waren. Die einfachen Menschen blieben arm wie zuvor. Die Mächtigen prassten wie eh und je. Die Kirche huldigte der Bigotterie wie einem Sakrament.

Carlo war enttäuscht gewesen und schloss sich einem Zug Wanderarbeiter an, die nach Preußen gingen, um sich bei Tunnelbauten zu verdingen. Die Italiener hatten Erfahrung auf diesem Gebiet und wurden gerne genommen.

Und jetzt saß er hier in einem preußischen Felskeller an der Mosel und sah auf die alten Waffenkisten. Er gestattete seiner Erinnerung einen kleinen Ausflug, der durchzogen war von Pulverdampf, dem Geruch nach schimmeligem Brot und Schlimmerem.

Vielleicht lagerte Alois das explosive Material in diesen Kisten.

Carlos Respekt vor dem Teufelszeug war groß – erst in der Vorwoche hatte es zwei Jungs erwischt, die nicht schnell genug in Deckung waren. Einer war sofort tot, doch der andere lebte lange genug, bis der Schock nachließ. An den Rest mochte er nicht denken, an die Schreie, den Beinstumpf … Er war weggelaufen, feige. Hatte die Bergung den anderen überlassen, er schämte sich und schob die Gedanken beiseite. Er hätte doch nicht helfen können, und jetzt hatte er ganz andere Probleme. Es war kühl und trocken hier im Berg, er zitterte. Trotzdem lief Schweiß über seinen Nacken, er fühlte ihn kitzelnd unter dem Kragen.

Nur ein schmaler Haken sicherte den Deckel. Er schob ihn beiseite, hob ihn an und lehnte ihn nach hinten. Er sah auf Holzwolle, die er vorsichtig beiseiteschob. Dynamitstangen, aber ohne Zündschnüre. Er öffnete noch fünf weitere Kisten – immer das Gleiche. Er war enttäuscht. Er wusste nicht, auf was er gehofft hatte, jedenfalls nicht nur auf Sprengstoff.

Die Anspannung hatte ihn von seiner Situation abgelenkt, jetzt fiel sie in ihrer ganzen bleiernen Schwere auf sein Gemüt. Er war plötzlich wie ausgelaugt, völlig kraftlos, sein Puls brauste in den Schläfen, seine Panik war größer, als direkt nach dem Unglück. Eine Hoffnungslosigkeit ergriff ihn, die mit kalten Krallen sein Herz zerquetschte. Wie Wasser aus einem Schwamm troff sein Lebenswille aus ihm, sammelte sich auf dem kalten Boden und wurde von der Dunkelheit aufgesogen.

Dio mio, sie müssen mich finden. Oder mach, dass ich sofort sterbe. Dio mio.

Er sackte schluchzend zusammen.

2. Kapitel

2012, Mitte Juli

Die Glocke schallte durch das ganze Haus. Sie riss Boris de Beers aus einem Albtraum, in dem er, herbeizitiert von Gott persönlich, die Messweine jeder einzelnen Kirche Irlands verkosten musste. Die irischen Priester hatten ein Faible für Bier, null Ahnung von Wein – und entsprechend schmeckten die Proben. Womit er diese Strafe verdient hatte, verpasste er, die Glocke kam dazwischen. Dass sie im Kirchturm hing, empfand Boris als besonders perfide. Gott missgönnte ihm die Auflösung, das war ausgesprochen gemein. Boris nahm das übel.

Er rappelte sich vom Sofa auf und schlurfte in die Küche. Seine kurzen Haare standen in alle Richtungen, das Weiß darin wurde immer deutlicher, bemerkte er, als er im Vorbeigehen in einen Spiegel sah. Der Mittagsschlaf hatte sich bis fünf Uhr ausgedehnt. Er fühlte sich benommen und ließ das kalte Wasser laufen. Er spritzte es ins Gesicht, fuhr mit den nassen Händen über den Kopf und trank direkt aus dem Kran. Dann ging er zum Kühlschrank, holte eine angebrochene Flasche Riesling Hochgewächs heraus und goss einen Schluck in eine Teetasse, die umgedreht im Abtropfgitter gestanden hatte.

Er prostete Richtung Kirche: »Du hättest die Iren besser beraten sollen! Das kann ich auch nicht mehr geradebiegen!«

Boris sah aus dem Fenster auf den Fluss. Er war beruflich an der Mosel. Als freier Journalist arbeitete er für Wein- und Gourmetmagazine. Er schrieb sich in lockerer Folge durch die Weingebiete Europas. Das Hauptgewicht lag auf Interviews mit guten Winzern. Sie mussten nicht unbedingt bekannt sein, wichtiger waren ihm ihre Liebe zum Beruf und die Leidenschaft, mit der sie sich für ihn einsetzten. Die Persönlichkeiten hinter den Weinen interessierten ihn. Guten Wein machten viele, er suchte das Besondere, die neue Idee, den speziellen Zugang. Sein Respekt vor der harten Arbeit und dem Risiko, das sie eingingen, war hoch. Boris zog den Hut vor all den kleinen Betrieben, die mit Qualität dem Mainstream von ewig gleich schmeckenden Weinen trotzten.

Neben seiner anderen journalistischen Arbeit besuchte er pro Jahr ein Weinanbaugebiet Europas. Nach Piemont, Toscana und Nord-Burgund war es in diesem Jahr das mittlere Moseltal. Er hatte sich einen gewissen Ruf erworben und konnte sich seine Arbeitsgebiete aussuchen. Spätestens seit er eineinhalb Jahre zuvor mit einer frechen Kolumne herausgekommen war, kauften die Verlage alles, was er schrieb. Mehr Schein als Wein hatte ihn in Weinkreisen berühmt gemacht und ihm den Ruf eines Enfant terrible eingebracht, den er durchaus genoss. Türen öffneten sich, wo früher nicht einmal ein Mauseloch gewesen war, andere schlossen sich, denn Boris nahm kein Weinblatt vor den Mund.

Was ihm nicht gefiel, war, dass er nicht mehr so unbeobachtet leben konnte wie vorher. Natürlich war er nicht Brad Pitt, er konnte noch alleine am Strand liegen und fremde Mädchen küssen. Aber er fühlte sich nicht mehr so anonym, wie er einmal gewesen war. Die Eskapaden mit seinem Freund Claudio Manera fanden inzwischen den Weg zu seinen Kollegen, was nichts anderes hieß, als dass außer seinem Weinwissen auch seine »kriminelle« Laufbahn bekannt wurde. Ispettore Manera war beim Morddezernat in Cuneo, Piemont – und Boris besaß das Geschick, in dessen Fälle zu stolpern.

Doch die Mosel versprach einen ruhigen Aufenthalt. So wie der Fluss dahintrieb, nicht übermäßig schnell, aber doch mit einer steten Strömung, so sah er seinen Aufenthalt hier. Er wollte vier Wochen bleiben, in Ruhe die neuen Weine probieren und einige vielversprechende Restaurants aufsuchen. Vor allem aber wollte er die Winzer besuchen, die er zum Teil schon seit zwei Jahrzehnten kannte. Gewöhnlich wohnte er auf einem Weingut oder einem dazugehörenden Haus. Doch in diesem Jahr hatte er das Ferienhaus eines Pressefotografen gemietet, einen Riesenkasten direkt an der Mosel. Der Kollege hatte es geerbt und liebevoll restauriert. Sieben Schlafzimmer, eine gut ausgestattete Küche mit Terrasse und Garten zum Wasser, komplett mit Bootssteg und Kahn.

Boris hoffte auf ein paar entspannte Tage beim Angeln, mit anschließendem Grillen der Beute am Ufer. Das Wetter war ideal, Mitte Juli, schön warm, aber nicht so heiß, dass man sich nicht rühren konnte. Gegenüber auf der anderen Seite lag eine Ruine, dort in Ufernähe sah er vielversprechende Stellen, denen er ein paar Zander oder Hechte entlocken würde.

Boris angelte seit vielen Jahren und war überzeugt, dass nicht Glück, sondern Können zum Erfolg führte. Dass seine Freunde sich immer vorsorglich nach der Adresse des nächsten Fischhändlers erkundigten, konnte ihn nicht bremsen.

Er gähnte, riss sich aus seinen Träumereien und ging duschen. Dann zog er eine Jeans und ein weißes Leinenhemd an und begann mit den Essensvorbereitungen. Nach dem ersten Olivenölspritzer griff er zur Schürze.

Gerade als er die Nudeln abschüttete, klopfte es an der offenen Terrassentür.

Karl Petit kam mit einem »Bissduda?« herein. Er hielt eine Flasche hoch. »Der Rote, im Mai abgefüllt. Jetzt hat er sich beruhigt.« Er sah sich suchend nach Gläsern um.

Boris zeigte hinter ihn und fragte: »Isst du mit?«

»Nee, ich muss gleich zu Hause essen, sonst krieg ich Ärger.« Karl zog einen Korkenzieher aus der Tasche und öffnete die Flasche.

»Der erste, oder?«

Karl nickte.

»Hast du schon probiert?« Boris sah ihn an.

»Vor dem Abfüllen, ja. Den machen wir jetzt zusammen auf, hatte zwei Monate Ruhe. Ist, glaub ich, ziemlich gut.« Er nahm Weingläser vom Regal und goss in jedes zwei Fingerbreit ein.

Der Wein floss in sattem Gold in die Gläser, deutlich kräftiger im Ton als ein weißer Riesling in Kabinettqualität.

Boris stellte sein Essen warm und setzte sich zu Karl an den Küchentisch. Er nahm das Glas hoch und hielt es ins Licht. Die Farbe war bemerkenswert. Sie changierte leicht wie das Seidenfutter eines Pelzmantels. Er ließ den Wein kreisen und tauchte seine Nase in das Glas.

Kurz bevor Boris probierte, zögerte er. Er war so gespannt, wie schon lange nicht mehr. Wann hatte man schon die Möglichkeit, den Wein einer fast unbekannten deutschen Traubensorte zu probieren? Er hatte einiges darüber gelesen, jetzt kam die Praxis.

Die Sorte war uralt, aber aus den verschiedensten Gründen in Vergessenheit geraten. In den letzten paar Jahren hatte es eine kleine Renaissance gegeben. Das Institut für Rebenzüchtung der Hochschule Geisenheim hatte geforscht, ein, zwei Winzer im Rheingau bauten ihn an, aber zu mehr war es bisher nicht gekommen.

Karl Petit, dessen Weingut über Mesenich hinaus bekannt und geschätzt war, hatte vier Jahre zuvor eine seiner besten Lagen mit der alten Sorte bepflanzt. Im Vorjahr hatte er die erste Lese eingefahren. Und jetzt war der erste Wein im Glas.

Karl sagte: »Los, jetzt!«

Sie nahmen noch eine Nase Aroma, dann einen Schluck und schmeckten konzentriert, geradezu andächtig das ganze Spektrum von in Alkohol gelöstem Sommer.

Boris nahm einen zweiten Schluck, der seine Eindrücke bestätigte. »Karl, Karl, das ist enorm! Das ist einer der besten Rieslinge, die ich kenne.« Er ließ erneut die Düfte durch seine Nase streichen. Im Ganzen war das Bouquet verhaltener als bei einem »normalen« Riesling Hochgewächs, wies aber doch die typischen Aromen auf. Pfirsich und Aprikose, Apfel und Rose und dann noch etwas anderes. Boris hielt die Nase tief in das Glas: »Du, ich rieche tatsächlich feine Pilze, nichts Starkes wie Steinpilze aber ein frischer Wiesenchampignon, ja, das kommt hin. Wenn ich es nicht wüsste, würde ich auf eine Cuvée von Grauburgunder und Riesling tippen, viel Riesling, wenig Grauer.«

»Eine Nase wie ein Bluthund!« Karl lachte. »Aber du hast recht. Das macht ihn spannend und anders. Und doch bleibt er ein klassischer Riesling, ist doch enorm.«

»Was ist mit der Farbe?« Boris hielt das Glas gegen das Licht.

»Ja, das ist schade. Ich hätte gerne etwas mehr Orange rausgekitzelt, aber das will er nicht. Ich hab alles Mögliche probiert und die Standzeit auf der Maische schon ausgedehnt, aber nix zu machen. Die Geisenheimer haben ihn sogar erhitzt, auch nur mit mäßigem Erfolg, den Geschmack lassen wir mal weg.«

Jetzt lachte Boris: »Von Geburt an Glühwein, der Knüller. Unser Glühwein wächst am Stock! Klasse!«

»Und danach gehst du am Stock!«

»Vorsicht – autochthone Glühweine!«

»Aber, ernsthaft, ist schon schade, dass er keine Farbe bekennen will.« Boris musste wieder lachen. »Das Zeug birgt ungeahnte Möglichkeiten!«

»Ich könnte eine gute Werbestrategie gebrauchen.« Karl runzelte die Stirn und goss nach.

»Zu welchem Preis verkaufst du ihn?«

»Zwölf bis fünfzehn Euro. Das muss er bringen.«

»Ist er wert, aber zu Anfang werden die Kunden zögern. Du brauchst schon etwas Zeit, um ihn einzuführen. Kannst du nicht knapp unter zehn bleiben? Erhöhen kannst du im nächsten Jahr.« Boris war überzeugt, dass die Kunden positiv auf etwas Neues reagieren würden. Er war nicht der Einzige, den die Neugier trieb. Und wenn das Produkt überzeugte, und das tat es, sah er keine Schwierigkeiten. Nur die Anfangshürde sollte nicht zu hoch sein.

»Sollte schneller gehen, sonst wird’s knapp. Ich hab viel eingesetzt.« Karls Stimmung sank, er wurde stiller, dann gab er sich einen Ruck, trank erneut und grinste. »Wird schon klappen.«

Das Weingut Boffa war ein Synonym für Qualität. Es trug noch immer den Namen seines Gründers Carlo Boffa, Karls Ururgroßvater. Carlo Boffa war in den 1870er Jahren als Wanderarbeiter hierhergekommen und geblieben. Die Liebe hatte ihn gehalten, und wohl auch die Aussicht auf eine bessere Zukunft. Die Nachfahren Carlos waren in der Regel leidenschaftliche Winzer, die den guten Ruf des Hauses begründeten. Als Karl zusammen mit seiner Schwester Helene 2000 den Betrieb von ihren Eltern übernahm, hatten sie auf einem soliden Fundament das Gut in die Spitzenklasse geführt. Ihre Hochgewächse gewannen eine Auszeichnung nach der anderen und wurden ihnen trotz der hohen Preise aus der Hand gerissen.

Karl hatte in Geisenheim Önologie studiert und den Kontakt zu seiner Hochschule gehalten. Als dort Anfang der Neunzigerjahre im Institut für Rebenzüchtung mit dem »Roten Riesling« experimentiert wurde, hatte er die Entwicklung verfolgt. Er sah in dieser Sorte die Möglichkeit, das Vergnügen am Riesling zu erweitern, ohne ihn zu verfremden. Und das war ihm gelungen.

Nur zu welchem Preis, das war noch ungewiss. Er hatte eine seiner besten Lagen, sowie drei Jahre investiert. Was nichts anderes bedeutete, als dass er auf die Einkünfte von drei Jahrgängen Riesling Hochgewächs verzichtet hatte. Er hatte Rebstöcke entfernt, die er zehn Jahre zuvor gesetzt hatte. Die Lage war perfekt, über dem Dorf gelegen in südwestlicher Ausrichtung. Ein von der Sonne bevorzugter Platz. Er war vom Erfolg seines Frevels fest überzeugt, denn als solchen oder als puren Irrsinn sahen die meisten seiner Kollegen das Zerstören der Rebstöcke an. Karl war selbst nicht ganz wohl bei der Sache, er hatte lange versucht, eine gleich gute, brachliegende Lage zu kaufen, war aber am störrischen Besitzer gescheitert. Er sei nicht besser, hatte seine Schwester gemeint, als er Vergleichbares in den Nachbargemeinden ablehnte, weil er darauf beharrte, auf Mesenicher Grund zu bleiben. Doch sie hatte zugestimmt, nicht zuletzt, weil sie seit einigen Jahren mit ihrem Mann in Hamburg lebte und nur noch stille Teilhaberin war. Karl trug die Verantwortung und hatte den Überblick, der Betrieb stand gut da, sie konnten sich dieses Experiment leisten.

Jetzt ließ er die Früchte seiner Arbeit im Glas kreisen. Sie hatten ihn zum guten Schluss doch mehr gekostet, als er vermutet hatte.

»Hast du Schwierigkeiten?«, fragte Boris.

»Nichts, was sich nicht lösen lässt.« Karl trank den Rest und stand auf. »Schreibst du drüber?«

»Klar, das ist ein Knaller, Karl. Ich recherchiere noch ein bisschen, dann kommt der Artikel übernächsten Monat in die Vinivin.«

»Geht’s auch schon nächsten Monat?«

Boris zögerte. »So eilig?«

»Schon, ja.«

»Ich seh, was ich tun kann.«

»Danke, Boris. Ich muss jetzt, Marina wartet mit dem Essen.« Er klopfte mit dem Knöchel auf den Tisch und ging pfeifend aus der Küche.

* * *

Boris' engste Freunde hatten Gefallen daran gefunden, ihn während seiner Arbeitsreisen heimzusuchen. Die Orte lagen in Weingegenden, was ihnen sowohl beruflich als auch persönlich entgegenkam. Seine Unterkunft bot meist Platz für mehrere Gäste – und so hatte sich aus dem ersten Besuch, im piemontesischen Barologebiet, eine liebe Gewohnheit entwickelt. Während Boris seiner Arbeit nachging, machten sie Urlaub. Er besuchte Winzer und Restaurants, sie gingen auf Entdeckungsreise oder begleiteten ihn – wie seine Freundin Marlene, die als Weinhändlerin das Angenehme mit dem Nützlichen verband.

Boris war das recht, er war nicht gerne allein. Auch jetzt wartete er auf seine Freunde, die die nächsten drei Wochen in unterschiedlicher Besetzung bei ihm verbringen wollten. Er hatte die Zimmer vorbereitet und einen kalten Imbiss zusammengestellt.

Die Bande würde im Laufe des Abends eintrudeln. Ihre Anfahrtswege waren weit und staugefährdet. Marlene und ihr Lebensgefährte Claudio kamen aus dem Piemont. Aus Tonnerre im Nordburgund kamen Yves Romain und seine Freundin Claire. Yves war genau wie Claudio bei der Kriminalpolizei. Sie hatten sich im Vorjahr bei einer länderübergreifenden Polizeiaktion kennengelernt, in die auch Boris verwickelt gewesen war.

Er hatte schon am Morgen einige Flaschen Riesling kaltgestellt. Er überlegte kurz, dann packte er noch zwei mehr in den Kühlschrank. Sie würden durstig sein.

Als nichts mehr zu tun blieb, setzte er sich hinaus auf den Bootssteg und beobachtete ein Frachtschiff, das, mit Bergen von Altmetall beladen, vorbeifuhr. Hinter der Steuerkabine befand sich eine Art Terrasse, auf der Wäsche trocknete und zwei Fahrräder standen. Ein roter Kleinwagen parkte dahinter. Boris wusste nicht viel über Schiffe, aber sie faszinierten ihn. Wie so ein Leben wohl war? Den ganzen Tag unterwegs, gemächlich, eintönig, auf engstem Raum.

Er sah so gebannt auf dieses Stück fremdes Leben, das mit dem tiefen Brummen der Dieselmotoren an ihm vorbeizog, dass er das Auto nicht hörte, das in seine Einfahrt bog. Eine kalte Nase schnupperte an seinem Nacken. Boris drehte sich erschreckt um. Nerolinas lange, weiche Zunge fuhr einmal über sein Gesicht, dann sprang Boris auf und begrüßte den aufgeregten Labrador.

»Da seid ihr ja!« Boris öffnete die Arme, wirbelte Marlene herum und küsste sie, dann gab er Claudio einen Klaps, der sich gähnend streckte und die Augen rieb. Er trug die Haare relativ lang und nach hinten gekämmt, was ihm einen Fünfzigerjahre-Touch gab.

Wenn er sich als Kriminalbeamter vorstellte, brauchte er sich gewöhnlich nicht auszuweisen. Er war die Idealbesetzung eines jeden Fernsehkrimis. Marlene, die sich darüber amüsierte, hatte ihm einen Trenchcoat geschenkt – sozusagen ein Overkill.

»Ihr seht k. o. aus.«

»Autofahren macht keinen Spaß mehr.« Marlenes braune Locken waren zerzaust, die Bluse durch den Gurt zerknittert, sie wirkte erschöpft. »Nur Idioten und Staus.«

»Und ihr mittendrin.«

»Genau, zwei Idioten mehr, die die Autobahnen verstopfen. Aber egal, jetzt sind wir hier. Du siehst schon unverschämt erholt aus. Du bist doch erst eine Woche hier.«

»Tja, der heilsame Einfluss von Angeln und Wein.« Boris grinste.

Claudio stöhnte: »Gibt’s hier in der Nähe einen Fischhändler?«

»Gib uns erst mal ein Bier, wir verdursten«, sagte Marlene. Sie war auf den Steg getreten und sah die Mosel rauf und runter. »Ist das schön hier!«

Nerolina hatte schon ein Bad genommen und sich in den Schatten eines Nussbaumes geworfen. Das Flusstal war hier recht eng, die Hänge mit Weinbergen und Waldflecken bedeckt. An den Ufern wuchs dichtes Gesträuch, das Wasser spiegelte die vielfältigen Grüntöne wider. Die Nachbarorte versteckten sich hinter den nächsten Windungen des Flusses, nur gegenüber konnte man die leeren Fensteröffnungen eines alten Gebäudes erkennen. Jetzt, im Sommer, war es zur Hälfte von Büschen und Bäumen verdeckt. Boris erzählte, dass es sich um die Überreste einer ehemaligen Brauerei handelte. Sie stammte aus dem 19. Jahrhundert und war zu einer idyllischen Ruine verfallen. Die Geschichte dahinter war das weniger.

Die Besitzer des Betriebes waren aus England gekommen und hatten Porter und Ale in ausgezeichneter Qualität gebraut. Aus England folgte auch ein Kapitän a. D., sowie eine Witwe mit drei Kindern. Der Seemann brachte den Kindern, drei Jungen, das Schwimmen bei, um sie für den Fall eines einen unbedachten Sturzes in den Fluss zu wappnen. Eines Tages schwammen sie allein, der Jüngste geriet in einen Strudel, die beiden Geschwister wollten ihn retten, und am Schluss ertranken sie alle. Die Anteilnahme der Bevölkerung am Tod der Kinder war groß. Sie waren allgemein beliebt gewesen, und man trauerte genauso um sie, wie man die untröstliche Witwe und den verzweifelten Kapitän bedauerte.

Einige Zeit später verunglückte der Direktor, er fand den Tod durch den Sturz in eine Schachtanlage. Er war die Seele des Unternehmens gewesen, das sich nie wieder von den Schlägen erholte. Diverse Unternehmungen versuchten in der Folgezeit ihr Glück, von der Unterkunft der ausländischen Tunnelarbeiter über Zimmer für Waidmänner vom Niederrhein bis zur Geflügelfarm. Aber auf dem Gelände schien ein Fluch zu liegen. Jeder Versuch, dort ein Geschäft aufzubauen, scheiterte nach kurzer Zeit.

Heute war der Anblick des gegenüberliegenden Ufers wild-romantisch, und der üppige Pflanzenwuchs ließ diesen Abschnitt des Moseltals traulich und freundlich wirken.

»Haben sich die Burgunder schon gemeldet?«, fragte Claudio.

»Nein, aber ich schätze, sie kommen bald. Sie sind mittags los, und es sind ja nur fünfhundert Kilometer.«

Boris zeigte seinen Freunden das Haus. Sie entschieden sich für eines der Zimmer mit Moselblick in der ersten Etage. Nerolina wollte nach der langen Fahrt ihre Ruhe haben und rutschte sofort unter das Bett.

3. Kapitel

1877

Carlo beruhigte sich, suchte nach seinem Taschentuch und schnäuzte sich die Nase. Er musste nur die Nerven behalten, seinen Geist beschäftigen. Er rappelte sich auf und tastete sich bis zu der Einbruchstelle, die Kerze ließ er im hinteren Raum, durch den offenen Vorhang drang ein Lichtstrahl, der kaum bis zu dem Geröllhaufen reichte. Aber wenn er sich umdrehte, leuchtete im Hintergrund ein schwacher Hoffnungsschimmer. Er klopfte erneut gegen die Steine und warf wieder einige hinter sich. So arbeitete er eine ganze Zeit in stetem Wechsel von Klopfen und Werfen, Hoffen und Bangen. Als er eine Pause einlegen musste, setzte er sich wieder in den beleuchteten Keller. Die Kerze nahm ab. Er konnte sich aber nicht durchringen, sie zu löschen.

Nur noch ein bisschen, Dio mio, nur noch ein bisschen.