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Charly Weller
Finsterloh

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Eulenkopf

Charly Weller, geb. 1951 in Marburg a. d. Lahn, ist von Hause aus Filmemacher. Nach seiner Jugend in Gießen und Wetzlar studierte er zunächst Theologie, es folgte das Jura- und Publizistikstudium in Berlin. Zwischenzeitlich betätigte er sich als Fotograf, Journalist, Taxifahrer, Versicherungsvertreter und Kinobetreiber. Nach der Regieassistenz unter Peter Fleischmann drehte er erste eigene Filme und wurde ausgezeichnet u. a. mit dem »Prix du Jury« in Cannes und dem »Max-Ophüls-Förderpreis«. Er war Regisseur zahlreicher Folgen von TV-Krimi-Serien wie »Ein Fall für Zwei«, »Die Kommissarin«, »Im Namen des Gesetzes«, »Auf Achse« und anderen.

Sein erster Kriminalroman »Eulenkopf« wurde 2015 für den »Friedrich-Glauser-Preis« in der Sparte Debüt nominiert. Heute lebt er mit seiner Frau Ritchie als freier Autor und Regisseur in der Nähe von Gießen.

Charly Weller

FINS
TER
LOH

Kriminalroman

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Originalausgabe
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unter Verwendung von:
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Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
Print-ISBN 978-3-95441-259-4
E-Book-ISBN 978-3-95441-272-3

für Carlo

Während sich der Abstand zwischen ihnen allmählich verringerte, erkannte Mondaugen, dass ihr linkes Auge künstlich war. Als sie seine Neugier bemerkte, nahm sie es entgegenkommend heraus, legte es auf ihre Handfläche und hielt es ihm entgegen. Eine durchscheinende Kugel, deren »Weißes« in der Augenhöhle seegrün schimmerte. Ein feines Netz fast mikroskopisch kleiner Risse überzog die Oberfläche. In ihrem Inneren waren die winzigen Räder, Federn und Unruhe einer Uhr, die von einem goldenen Schlüssel aufgezogen wurde, den Fräulein Meroving am Hals trug. Dunkleres Grün und goldene Flecken, die ungefähr als die zwölf Tierkreiszeichen zu erkennen waren, bildeten gleichzeitig Iris und Zifferblatt.

Thomas Pynchon, V

PROLOG

Alexander Lapuschkow, Ex-Fremdenlegionär, Marburg

El Meridj war die Hölle. Es war unser vierter Einsatz, vielleicht der fünfte. Jedenfalls ziemlich direkt nach der Grundausbildung. Die war in Mascara, im Norden von Algerien. Sechs Monate lang. Sechs verdammte Monate lang. Von Anfang an das Schlimmste, was ich bis dahin erlebt hatte, physisch wie psychisch. Dabei war ich damals super in Form, von meinem Radrenntraining her.

Jeden Morgen nach dem Wecken stand erst einmal ein »kleiner Lauf zum Wachwerden« auf dem Programm. Fünfzehn Kilometer in anderthalb Stunden. Mit vollem Marschgepäck von fünfunddreißig bis vierzig Kilo. Wer nicht in der Zeit blieb, durfte die Strecke gleich noch mal hinter sich bringen. Dann allerdings ohne Schultergurte. Die wurden zur Strafe ausgetauscht gegen Telefondraht. Und der hat sich unterwegs ins Schulterfleisch eingeschnitten und hinterher zu bösen Entzündungen geführt.

Den Rest des Vormittags über waren dann weitere körperliche Ertüchtigungen angesagt, nachmittags Einweisung in Nahkampf und Französisch und abends dann Waffenkunde mit Reinigen und Zusammensetzen des Gewehrs. Immer und immer wieder, zig tausendmal, irgendwann blind oder im Schlaf.

Und die Ausbilder allesamt Arschlöcher. Nur darauf aus, sämtliche Reste an eigenem Willen und Persönlichkeit in uns zu brechen, sämtliche Werte unseres bisherigen Lebens aus uns rauszuschleifen. Wenn es finanziell vertret- und medizinisch realisierbar gewesen wäre, hätten sie uns das Gehirn oder bestimmte Teile davon amputieren lassen, damit wir einzig und alleine für ihre Interessen funktionierten.

Einer unserer Ausbilder – Caporal Feuerbach, ich werde seinen Namen nie vergessen – war ein ganz besonders ausgemachter Drecksack. Ein Schweizer mit SS-Vergangenheit. Manchmal wache ich heute noch auf, schweißgebadet, wenn er mal wieder in einem meiner Träume aufgetaucht ist. Bei uns hieß er nur »Der Kippenbestatter«.

Wenn wir gegen Mitternacht völlig erschöpft Aufstellung genommen hatten zum Nachtappell und er seinen Blick über den Boden des Kasernenhofs wandern ließ, wussten wir, was uns bevorstand. Dann suchte er so lange, bis er irgendwo eine Kippe finden konnte. Und irgendwo lag immer eine herum. Wenn er die entdeckt hatte, wurde einer von uns zu ihm gerufen.

Ich höre heute noch sein »Engagé Volontaire Lapuschkoooowe!«, wenn ich an der Reihe war. Das hieß, im Laufschritt hin zu ihm und Aufstellung genommen. Dann ging es los.

»Was ist das Erste, was wir bei der Legion gelernt haben, Engagé Volontaire Lapuschkoooowe?«, brüllte er dann, und ich hatte zurückzubrüllen: »Das Erste, was wir bei der Legion gelernt haben, mon Caporal, ist, dass wir nichts und niemanden zurücklassen!«

»So, das ist also das Wichtigste, dass wir nichts und niemanden zurücklassen? Und warum, warum liegt dann diese arme Kippe hier?«

»Das weiß ich nicht, mon Caporal

»Du weißt es nicht? Soll das heißen, dass es dir egal ist, ob wir diese arme Kippe hier zurücklassen, oder was?«

»Nein, das ist mir nicht egal, mon Caporal

»Was, Engagé Volontaire Lapuschkoooowe, werden wir dann jetzt mit ihr machen, mit dieser armen Kippe?«

»Wir werden sie mitnehmen, mon Caporal

»Wir werden sie mitnehmen, aha. Und wozu werden wir sie mitnehmen, diese arme, tote Kippe?«

»Um sie mit all den militärischen Ehren zu bestatten, die jedem von uns auch zuteilwerden, wenn wir im Kampf getötet werden, mon Caporal

»Nun gut, wenn ihr das unbedingt wollt, dann soll es euch gestattet sein, obwohl es schon sehr spät ist und euer armer, geplagter Caporal einen anstrengenden Tag hinter sich hat und eigentlich nur noch endlich in sein Bett will – habt ihr das verstanden?«

»Ja, mon Caporal, das haben wir verstanden. Wir werden die Beisetzung so schnell und so ehrenvoll wie möglich durchführen, damit unser Caporal so bald wie möglich in sein Bett kommen kann!«

Dann hatten wir unseren Schaff, ein Grab mit den exakten Maßen von 2,20 Meter Länge auf 1,60 Meter Breite und 1,80 Meter Tiefe, in den steinigen Wüstenboden vor der Kaserne zu graben, um anschließend diese verdammte Kippe mit militärischer Grabrede, Fanfaren und Salutschüssen beizusetzen und zu guter Letzt das Loch hinterher wieder ordentlich zuzuschaufeln.

Entsprechend verkürzte sich unsere Nachtruhe um die drei bis fünf Stunden, die so ein Ritual jedes Mal in Anspruch nahm. Dieser Schlafentzug war eine systematische Strategie, um uns einer Gehirnwäsche zu unterziehen, an deren Ende wir nur noch als entmenschlichte Kampfmaschinen funktionieren sollten.

Manchmal hatten wir gerade mal zwei Stunden Schlaf, bevor es am nächsten Morgen wieder losging. Wir waren die ganzen sechs Monate lang nur müde und hungrig.

Irgendwann später habe ich gehört, dass ein Legionär, dessen Eltern in Auschwitz umgebracht worden waren, dem Caporal einen Trichter in den Hals gesteckt und ihn mit Nikotinwasser abgefüllt haben soll, bis er hinüber war. Anschließend sei er in einer Nacht-und-Nebel-Aktion neben seinen Kippengräbern verscharrt worden.

Womit wir ansonsten noch gleichermaßen ausgiebig wie sinnlos schikaniert wurden, war »Marschieren«: Stunden um Stunden stumm und tumb vor sich hin, unter sengender Sonne, meist einen Schritt vor der Besinnungslosigkeit, durch die Wüste zu marschieren.

Ich hätte es zuvor niemals für möglich gehalten, dass man angesichts des massiven Schlafentzugs, dem wir ausgesetzt waren, lernt, im Gehen zu schlafen. Dazu legt man seine linke Hand auf die rechte Schulter seines Vordermannes, um nicht auf seine Hacken zu treten, und stapft wie in Trance vor sich hin beziehungsweise hinter dem anderen her. Der Begriff »Schmerzen« erhielt in dieser Zeit eine völlig andere Bedeutung, weil wir unsere Körper zusehends weniger spürten.

Neben diesen unerbittlichen Strapazen waren unsere größten Feinde zu der Zeit die Sackratten, die wir mit Unmengen von Autan bekämpften. Bei uns hieß das Zeug nur »Sackrotan«.

Zum Ende der Grundausbildung stand ein Marsch von siebzig Kilometern mit vollem Marschgepäck auf dem Programm. Der musste innerhalb von achteinhalb Stunden absolviert werden. Wer den hinter sich gebracht hatte, wurde damit belohnt, fortan das Képi Blanc tragen zu dürfen. Als Zeichen dafür, fortan ein Légionnaire deuxième classe, ein Fremdenlegionär zweiter Klasse zu sein, was den untersten Dienstgrad in der Legion darstellte.

Wir hatten unsere Zeit bei der Legion im Fort St. Nicholas bei Marseille begonnen. Da waren wir eine Woche lang auf Herz und Nieren geprüft und über alles ausgefragt worden, was wir in der Vergangenheit hinter uns gebracht hatten. Von besonderer Wichtigkeit dabei war, dass man kein Mörder oder Vergewaltiger war, denn dann wäre man von der Legion abgelehnt worden. Den ganzen Rest, den man vielleicht angestellt hatte, interessierte kein Schwein.

Als wir diese Untersuchungen hinter uns hatten, wurden wir als Engagés Volontaires, als Fremdenlegionärs-Anwärter, von Marseille aus nach Nordafrika verschifft. Ich weiß noch genau, was das für ein Gefühl war, als wir da in den Hafen von Oran eingelaufen sind. Diese alles durchdringende erbarmungslose Hitze, die einem da entgegenschlug, dass man die Augen zusammenkniff. Diese Gerüche nach fremden Gewürzen, Schweiß, Ratten, Müll, Öl und Sperma, die da in der Luft hingen und in alles hineinkrochen, was man am Leibe trug.

Von Oran ging es dann mit LKWs vier Stunden lang weiter nach Sidi bel Abbès, wo das Mutterhaus der Legion in Algerien war. Dort fand die Aufteilung zu den Ausbildungsgarnisonen entsprechend der Kampfverbände statt. Ich hatte mich zu den »Paras« gemeldet, den Parachutistes, auf Deutsch: Fallschirmjäger.

Diese Entscheidung hatte ich getroffen, weil mein seinerzeit bester Freund, der Ludwig, auch dorthin wollte. Er sei schon im Zweiten Weltkrieg bei den Fallschirmjägern gewesen, hatte er gesagt. Außerdem bekam man dort ein wenig mehr Sold als bei den anderen Waffengattungen.

Im Anschluss an die Ausbildung, während der wir sechs Absprünge aus achthundert Metern Höhe absolvieren mussten, wurden wir ins Fort Ksar el Hirane in der Nähe von Leghouat versetzt, an den südlichen Rand des Atlas-Gebirges. Von dort aus fand dann auch unser Einsatz in El Meridj statt, einem Dreckskaff an der tunesischen Grenze: rissige Lehmstrohhütten, hässliche Gassen, dürre, von Ziegen angefressene Bäume.

Dort war eine Patrouille des REI, des Infanterieregiments der Legion, in einen Hinterhalt geraten und hatte innerhalb weniger Stunden sechs Kameraden verloren. Der Trupp hatte den Ort bereits passiert und nichts Besonderes beobachten können. Nur alte Frauen hatten vor den Eingängen gehockt und die Legionäre misstrauisch durch die Schlitze ihrer Schleier gemustert.

Dann, als die Infanteristen schon aus dem Ort heraus waren, wurde plötzlich von hinten auf sie geschossen, vier-, fünfmal. Zwei von ihnen hatte es sofort erwischt, beide tot. Es konnte nicht ausgemacht werden, woher die Schüsse gekommen waren.

Nachdem es in den nächsten Stunden weitere Kameraden von uns erwischt hatte und man immer noch nicht ausmachen konnte, von wo aus geschossen worden war, wurden wir angefordert.

Wir, die Paras vom 1. REP, dem Ersten Fallschirmjägerregiment der Fremdenlegion, waren generell dafür zuständig, anderen Einheiten zu Hilfe zu kommen, wenn die in Schwierigkeiten geraten waren. Wir galten gemeinhin als besser ausgebildet, schlagkräftiger und gefährlicher als die anderen Kampfverbände der Legion. Und letztendlich waren wir das auch.

Knapp anderthalb Stunden später, nachdem wir von Ksar el Hirane aus angefordert wurden, waren wir dreihundert Meter über El Meridj aus einer alten JU52 ausgestiegen. Noch im Niederschweben hatte es zwei von uns erwischt.

Und gleich nach unserer Gruppierung am Boden zog ein Samum auf, ein Sandsturm, der einem mit unerträglicher Hitze die Luft zum Atmen abschnürt und wie mit Fäusten auf die Augen schlägt, wodurch die Sicht nur noch für wenige Meter reicht.

Wir kämpften uns von einer der Lehmhütten zur nächsten, traten Türen ein und feuerten auf alles, was sich bewegte. Und zwischendurch peitschten immer wieder Feuerstöße durch den Ort, die nicht aus unseren halb automatischen MAS 49/56-Gewehren stammten, sondern nach russischen Kalaschnikows klangen.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie lange wir so zugange waren, bis auf einmal ein Fellagha, ein Aufständischer, vor mir stand. Ich hatte ihn zuerst gar nicht bemerkt, weil sein Kaftan farblich nicht von den Lehmhäusern und dem Sandsturm zu unterscheiden war. Er hatte sein Gewehr auf mich gerichtet, und ich wusste, dass ich keine Chance mehr hatte.

Es war mir in dem Moment klar wie Kloßbrühe, dass es nur noch das Krümmen seines rechten Zeigefingers brauchte, um mir den Garaus zu machen.

Meine Gedanken liefen Amok. Ich dachte an meine armen Eltern, wie sie reagieren würden, wenn sie von meinem Tod erfuhren, an meine Schwestern, an all das, was ich in meinem Leben noch erleben wollte, an den Flug hierher, daran, dass ich bis eben noch am Leben war, gleich aber tot sein würde. Tot für immer.

Und während diese Gedanken wie böse Tiere mein Hirn zerfraßen, bemerkte ich, wie sich in meiner Hose eine unangenehme, warme Nässe ausbreitete. Kein Zweifel, ich hatte mir vor Angst in die Hose gemacht, vorne und hinten. Und gleichzeitig begann ich auch noch so sehr mit den Knien zu zittern, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Dann erkannte ich plötzlich das Gesicht des Mannes in dem Kaftan. Er mochte knapp fünfzig gewesen sein, hatte einen schwarz-grauen Vollbart und musterte mich und meine ungewollte Entleerung, bis er plötzlich begann, mich zu beschimpfen. Ich konnte kein Wort von dem verstehen, was er da auf mich losließ. Aber der Tonfall seiner Schimpftirade ließ mich vermuten, dass er meinte, ich Grünschnabel solle mit meinen vollen Hosen gefälligst das Weite suchen.

Ich hatte keine Ahnung, was geschehen war. Hatte ich mehr Glück als Verstand gehabt oder wollte dieser Mann mich doch noch von hinten abknallen, wenn ich mich entfernen würde?

Nach drei, vier Schritten, bei denen ich irrsinnigerweise gedacht habe, wie gut es doch sei, dass die Gamaschen, die ich über meinen Schuhen trug, das Eindringen meiner Exkremente in die Schuhe verhinderten, vernahm ich hinter mir ein Geräusch, von dem ich meinte, dass es vom Hinfallen eines Getreidesacks hätte stammen können.

Als ich mich umgewandt hatte, stand dort aber der Befehlshaber unseres Einsatzes, Colonel Heidorn. Er hatte ein großes Opinel in der Hand, ein französisches Klappmesser, mit dem er ganz offensichtlich den Fellagha von hinten erstochen hatte. Der Mann lag tot am Boden. Aus seinem Mund rann Blut, und Colonel Heidorn streifte die Klinge seines Messers an dem Kaftan des Mannes sauber.

Ich schrie: »Warum denn das? Er hat mir doch gar nichts getan!«

»Ta gueule!«, schrie er zurück, was so viel hieß wie: »Halt die Fresse!« Dann fuhr er nach einer kurzen Pause erstaunlich ruhig fort: »Ich weiß, er war ein feiner Kerl.«

»Aber warum musste er dann sterben, warum konnten wir ihn nicht einfach gefangen nehmen?«

»Weil er es nicht verdient hätte«, entgegnete der Colonel, »wir hätten ihn zur Vernehmung ans Deuxième Bureau überstellen müssen. Du weißt, was da mit ihm geschehen wäre?«

Ich wusste, dass das Deuxième Bureau der Geheimdienst der französischen Armee war. Dessen Aufgabe war es seinerzeit, aus gefangen genommenen FLN-Mitgliedern Informationen herauszufoltern. Dies geschah in sogenannten »Räumen zur Informationsbeschaffung« oder »Laboratorien«. Die am meisten angewandten Foltermethoden waren der Chiffon und die Gégène.

Beim Chiffon wurde ein Lappen in einen Eimer mit Kot und Urin getränkt, um ihn dem Gefolterten in den Mund zu stecken, bevor er sodann mit Wasser vollgepumpt wurde.

Bei der Gégène wurde der Gefolterte auf eine Bank gefesselt und mit Wasser überschüttet, während man ihm an den Genitalien und anderen Extremitäten Kontakte anklemmte, um schmerzhafte Stromstöße durch seinen Körper zu jagen. Unterwegs im Feld wurde der Strom mit handbetriebenen Dynamos erzeugt, die auch für den Betrieb von Funkgeräten eingesetzt wurden.

Nach ausgiebigem Einsatz dieser beiden Foltermethoden wurden die Opfer dann zumeist mit den Händen nach oben derart an ein Rohr oder eine Wand gefesselt, dass ihre Füße knapp über dem Boden hingen. In dieser Position wurden sie dann zwischen acht und zwölf Tage lang ohne Essen und Trinken hängen gelassen, bis sie schließlich tot waren.

»Nur die wenigsten überleben ein Verhör des Deuxième Bureau, nur die allerwenigsten. Und die sind hinterher gezeichnet für den Rest ihres Lebens.«

»Ja, aber ...«, wollte ich sagen, aber der Colonel kam mir zuvor: »Kein Aber. Wenn du in die Hände der Fellagha gerätst, kann ich dir nur wünschen, dass du auch an jemanden gerätst wie mich; an jemanden, der dir ein Messer in den Rücken jagt, bevor sie dir dein Gemächt abschneiden und in den Mund stecken, bis du daran erstickst. Hast du mich verstanden, Legionär deuxième classe, Lapuschkoooowe?!«

»Oui, mon Colonel, ich habe Sie verstanden!«

Am Ende dieses Tages hatten wir fast zwei Dutzend unserer Kameraden verloren. Dem Ludwig hatten sie ein Auge weggeschossen, und einem von uns, einem Italiener namens Elio, der auf eine Mine geraten war, hatte es beide Beine weggefetzt. Und alles, was ihn hinterher interessiert hat, war, ob untenrum noch alles dran wäre bei ihm.

Ich weiß nicht mehr wie, aber irgendwann waren wir tatsächlich wieder zu Hause in unserer Kaserne und konnten auch mal wieder schlafen.

Ich erinnere mich noch genau an die erste Nacht nach dem Einsatz in El Meridj. Ich hatte von der Kaserne in Sidi bel Abbès geträumt, von der Kaserne und dem Spruch über dem Eingang: Legionär, du bist hier, um zu sterben.

GÖTZ’ GARTEN

Stefan Kolb, Polizeihauptmeister im Streifendienst, Gießen

Er war ein alter Mann, und er saß leblos in einem Ohrensessel. In seiner Brust steckte ein Messer, und neben ihm auf dem Boden lag ein Papierstreifen. Darauf stand: letzte Nacht in Finsterloh.

Das Messer in der Brust sah aus wie ein großes, französisches Opinel. Daneben waren Spuren von weiteren Einstichen zu sehen. Das hellblaue Hemd und alles um ihn herum war eingesaut mit Blut bis runter zu seiner schicken, beigefarbenen Manchesterhose.

Der Ohrensessel, auf dem er saß, war aus genopptem Rindsleder und hatte bestimmt mal eine schöne Stange Geld gekostet. Der Papierstreifen sah aus, als wäre er aus einem Text oder einem Brief herausgerissen worden. Die Wörter von Hand geschrieben, akkurat, mit leichter Schrägung nach rechts. Die blaue Tinte bereits verblasst – letzte Nacht in Finterloh.

Keine Frage, der Mann war tot. Sein Kopf nach hinten in den Nacken abgeknickt, sein leerer Blick zur Decke des Raums gerichtet, vor ihm im Fernsehen eine Dokumentation über Gorilla-Nachwuchs im Frankfurter Zoo.

Ich wollte auf Nummer sicher gehen und tastete nach seinem Puls, derweil mein Kollege, der Andreas Richling, den Raum mit seinem Smartphone abfotografierte. Eigentlich gehört das nicht zu seinen Aufgaben. Aber vor ein paar Wochen war ihm ein Fotoband mit dem Titel Feuerteich in die Hände gefallen. Das Buch war aus dem Jahr 1989 und enthielt Fotos, mit denen seinerzeit ein Polizist namens Fred Prase seine Arbeit im Frankfurter Bahnhofsviertel dokumentiert hatte.

Diese Fotos haben den Andreas so sehr beeindruckt, dass er angefangen hat, ebenfalls während seiner Arbeit zu fotografieren. Ich hatte ihm gesagt, er solle sich besser vorher das Einverständnis der Präsidiumsleitung einholen – nicht, dass es Ärger gab – aber er hat nur gemeint, so etwas würde erst anstehen im Falle einer Veröffentlichung.

Während ich das linke Handgelenk des Mannes abtastete, ging plötzlich die Tür zum Flur auf. Zum dritten Mal, seitdem wir den Raum betreten hatten. Wieder wollte sich jemand persönlich davon überzeugen, dass Roland Engel mit einem Messer in der Brust tot in seinem Sessel saß. Diesmal eine ältere Dame mit hochgesteckten, grauen Haaren und einem Morgenmantel mit aufgestickten Asia-Ornamenten.

Vom Flur aus rief eine Frauenstimme: »Geh da nicht rein, Margit, tu dir das nicht an!«

»Bleiben Sie draußen, bitte!«, rief ich zu der Frau.

»Oh Gott, nein ...!«, entfuhr es ihr, bevor der Andreas sie höflich, aber bestimmend zur Tür hinausbugsieren konnte.

Der Raum befand sich im dritten Stock der Seniorenresidenz Götz’ Garten, der ersten Adresse unter Gießens Altenheimen. Wer hier, in unmittelbarer Nähe des Schwanenteichs, seinen Lebensabend verbringt, der hat eine fette Altersversorgung im Rücken. Der Flur vor dem Raum war voll mit Bewohnern, die mitbekommen hatten, dass etwas mit Roland Engel geschehen war.

Die Nachricht, dass er möglicherweise ermordet wurde, hatte sich in dem Haus verbreitet wie ein Lauffeuer. Weil man nicht glauben wollte, dass so etwas in diesem Haus passiert sein könnte, waren einige Bewohner nicht davon abzuhalten, sich eigenmächtig Zugang zu Roland Engels Appartement zu verschaffen.

»Kümmer dich um sie«, hatte ich dem Andreas zugerufen, »und geh raus aufpassen, dass nicht noch jemand reinkommt!«

Der Andreas und ich, wir waren sozusagen die Vorhut. Die Einsatzleitstelle hatte uns hergeschickt, weil beim Notruf eine Meldung eingegangen war, dass es hier einen Toten gegeben habe. Der Anrufer war offenbar so durch den Wind gewesen, dass er sofort nach der Meldung aufgelegt hatte.

Weil es ja nun mal nichts Ungewöhnliches ist, dass in Altersheimen Menschen sterben – jedenfalls eher, als in anderen Häusern –, sollten wir erst mal die Lage sondieren, erst mal rauskriegen, was überhaupt passiert sei.

Als wir eintrafen, kam uns im Foyer schon der Hausmeister entgegen.

»Haben Sie uns gerufen?«, hatte ich gefragt.

»Ja, kommen Sie schnell«, hatte er geantwortet, »im dritten Stock, besser die Treppe hoch, nicht mit dem Fahrstuhl!«

So sind wir dann hinter ihm her hoch in den dritten Stock zu dem Appartement des Dr. Roland Engel. Das bestand aus zwei durch einen großzügigen Rundbogen miteinander verbundenen Räumen. Der größere der beiden war eine Mischung aus Büro und Wohnzimmer, der kleinere ein Schlafzimmer.

Auf dem Nachttisch im Schlafzimmer stand ein vergoldeter Bilderrahmen mit einem Foto des toten Mannes und einer eleganten Dame in seinem Arm, vermutlich seine Ehefrau. Beide freudig in die Linse lachend, der Kleidung nach mochte die Aufnahme zwanzig Jahre alt sein. Der Büroteil vollgestellt mit Regalen. Darin Bücher, Aufbewahrungskartons und Aktenordner ohne Ende. Daneben ein Akkordeonkoffer und an den Wänden rundherum irgendwelche moderne Kunst.

Am linken Rand des Durchgangs zum Schlafzimmer-Trakt eine mannshohe Glasvitrine mit drei eleganten Hüten darin. Auf kleinen Beschriftungsplaketten war zu lesen, dass es sich um einen Homburger von Stetson handelte, einem Heisenberg von Goorin und einen Pork-Pie von der ehemaligen Hutmanufaktur Bramm in Gießen.

In der Mitte der Vitrine befanden sich zwei aufgeklappte Holzschatullen, die mit blauem Samt ausgekleidet waren – mit jeweils fünf hochwertigen Armbanduhren darin.

Neben dem Schreibtisch eine Pinnwand aus Kork an der Wand. Daran befestigt Ansichtskarten, Quittungen, Fotos und übergroß ein Artikel aus der Frankfurter Rundschau. Überschrift: Alter schützt vor Kampflust nicht.

In den Textfluss eingebunden ein Foto von Roland Engel auf einer Demo mit einem Transparent: Wir sind alt und nicht doof. Darunter als Bildzeile: Ein engagierter Kämpfer für menschenwürdige Behandlung im Alter.

Ich rief mit meinem Handy die Einsatzleitstelle an: »So wie es aussieht: Mord«, meldete ich mich, »wir brauchen das volle Programm: Absperrung, Kripo, Spurensicherung, Rechtsmedizin, alles.«

AUFSTELLUNG

Melanie Pospyschil, Fahrstuhlprüferin, Frankfurt am Main

Du bist meine Tochter«, hatte er gesagt und mir seine Hand auf die linke Schulter gelegt.

Daraufhin bin ich aufgestanden und zu der Bühne in den vorderen Teil des Raums gegangen. Dort waren bereits seine Ex-Frau von ihm aufgestellt worden, sein Sohn, sein Bruder, seine Mutter, sein Vater und auch eine Person, die für ihn selbst stehen sollte.

Der ebenerdige Raum maß insgesamt ungefähr sechzig Quadratmeter und lag im Parterre des Gemeindehauses der Luthergemeinde in der Licher Straße in Gießen. Ansonsten wurde der Raum offenbar für kleinere, kulturelle Veranstaltungen genutzt. Außer mir und dem Roman, der mich ausgewählt hatte, für seine Tochter aufgestellt zu werden, waren noch circa zwanzig weitere Personen sowie die Therapeutin Marion Wintergaard, die die Veranstaltung leitete, anwesend.

Die Menschen, die an einer solchen Familienaufstellung teilnehmen, suchen in der Regel nach einer Antwort auf ein traumatisches Erlebnis, das sich innerhalb ihrer Familie ereignet hat und nicht oder nur sehr schwer zu verarbeiten ist. Alle wollen entweder eine Aufstellung ihrer eigenen Familie vornehmen oder anderen Teilnehmern, die ihre Familien aufstellen, als Vertreter deren Familienmitglieder zur Verfügung stehen.

Dieser unmittelbaren Aufstellung geht für jeden Teilnehmer ein einführendes Gespräch mit dem Leiter der Veranstaltung voraus. Dabei legt der Aufsteller seinen Lebenszusammenhang dar und formuliert die Frage, deren Beantwortung ihm für die nachfolgende Aufstellung am Herzen liegt. Dann führt er Personen aus dem Teilnehmerkreis zu einer Fläche, auf der er sie so aufstellt, wie sie seiner Ansicht nach in Beziehung zueinander stehen sollten.

Anschließend formulieren die Personen, die stellvertretend für die Familienmitglieder des Aufstellers stehen, wie sie sich auf den ihnen zugewiesenen Positionen im Zusammenhang mit den anderen Personen fühlen.

Für mich war dies bereits die dritte Aufstellung, an der ich teilgenommen hatte. Eine Freundin hatte mir ein Jahr zuvor erzählt, dass sie an einer solchen Veranstaltung teilgenommen hätte, und mir empfohlen, das doch auch zu tun.

Bei ihr ging es darum, dass ihr an dem Tag, an dem sie ihr Abiturzeugnis erhalten hat, ein Brief vom Jugendamt in die Hände geraten war, in dem ihr Vater aufgefordert wurde, die Vaterschaft für ein uneheliches Kind anzuerkennen. Wie sich herausstellte, hatte er neben der Familie meiner Freundin noch mit einer anderen Frau ein Kind gehabt.

Ich hatte dieser Freundin anvertraut, dass mein Vater sich drei Wochen vor meinem Examen zur Fahrstuhlprüferin die Pistole in den Mund gesteckt hatte. Ohne Abschiedsbrief, ohne nachvollziehbaren Grund, nichts. Ich hatte damals noch zu Hause gewohnt, und als ich an diesem Tag heimgekommen war, hatte ich ihn in der Küche gefunden.

Dieses Bild hat sich wie ein Raster in meinen Kopf eingebrannt. Mein toter Vater mit offenem Mund und leerem Blick auf den schwarz-weiß schachbrettartig verlegten Küchenfliesen mit dem ganzen Blut und Gehirn, das da aus seinem Hinterkopf herausgespritzt war. Und genauso wenig, wie dieses Bild mich wieder loslassen wollte, konnte ich mir erklären, warum er das getan hatte. Warum um alles in der Welt hatte er mir das angetan? Diese Frage hat mein Leben zerfressen.

Dann, vor vier Jahren, war mein Verlobter ums Leben gekommen. Er war am Zoo in Frankfurt aus der UBahn gesprungen und wollte eine Straßenbahn erreichen, die dort bereits stand. Deshalb ist er offensichtlich wie blind über die Schienen gehechtet und hatte nicht bemerkt, dass ein anderer Zug von hinten angefahren kam und ihn erfasste.

Im Krankenhaus saß dann eine Frau auf dem Flur vor dem Operationssaal, die sich mir als seine Freundin vorgestellt hat. Ich hatte in dem Moment, als ich das gehört hatte, gedacht, es schnüre mir den Atem ab. Er war, wie sich im Nachhinein herausstellte, seit drei Jahren mit ihr zusammen gewesen und hatte vor, sie zu heiraten, genau wie mich auch. Drei Tage später war er tot. Wir hatten nie wieder miteinander reden können.

Wieso hatte ich nichts davon mitgekriegt, dass ich all die Jahre betrogen worden war? Ich, die ich meine, dass Intuition zu meinen größten Stärken zählt, jedenfalls beruflich. Denn unter den Fahrstuhlprüfern gibt es im Geheimen zwei Lager. Und zwar die Intuitionisten und die Technokrationisten. Die Intuitionisten, zu denen ich mich zähle, spüren über ihre konzentrierte Wahrnehmung Mängel an einer Fahrstuhlanlage auf, während die Technokrationisten jede Schraube auf und wieder zu ziehen, um auf diese Weise zu prüfen, ob das Prüfobjekt den wartungstechnischen Richtlinien entspricht oder nicht.

Außenstehende können sich keinen Begriff davon machen, was es für mich bedeutet, dass ich den funktionstechnischen Zustand einer hochkomplizierten Maschine einzig aufgrund meiner emotionalen Wahrnehmung erkennen kann, wogegen mir bei Menschen in meiner nächsten Umgebung diese Sensibilität abgeht.

Ich war für diese Familienaufstellung extra von Frankfurt nach Gießen gekommen, weil ich nicht wollte, dass vielleicht jemand unter den Teilnehmern sein könnte, der mich kennt.

Bei dem Roman, der mich als seine Tochter in die Aufstellung geführt hat, ging es darum, dass er nach dem Tod seiner Tochter, die mit vierundzwanzig Jahren an Krebs gestorben war, von seiner Ex-Frau erfahren hat, dass er gar nicht ihr leiblicher Vater gewesen und von der Beerdigung ausgeladen worden sei.

Für ihn war es wichtig zu erfahren, warum er nichts davon mitgekriegt hat, wo fast sein gesamter Bekanntenkreis wusste, dass sie nicht seine Tochter war, nur er nicht.

Als wir den vorderen Teil des Raums erreicht hatten, hat dieser Roman mich dorthin dirigiert, wo er meinte, dass er mich am liebsten stehen haben wollte.

Ich muss sagen, es war mir nicht unangenehm, von ihm berührt zu werden. Er hatte eine sehr einfühlsame Art, die aber keinen Zweifel ließ, dass sich dahinter eine große Stärke verbarg, etwas Bärenhaftes. Überhaupt hatte seine ganze Erscheinung etwas von einem Bär, mit seinem rundlichen Bauchansatz und seinen tapsigen Pranken.

Marion Wintergaard wollte dann, dass ich beschreibe, wie ich mich auf der mir zugewiesenen Position fühlte. Es dauerte einen Moment, bis ich spürte, dass es mir nicht gefiel, von dieser Position aus keinen guten Blick auf den Roman beziehungsweise auf die Person zu haben, die für ihn aufgestellt worden war. Diese Situation war nicht einfach für mich, weil man vollkommen in sich hineinhören muss, da alles, was man in dem Moment von sich gibt, zu großer Wichtigkeit erwächst.

»Ich kann meinen Vater nicht sehen«, sagte ich schließlich, »ich wäre gern näher bei ihm.«

Noch bevor ich eine Antwort erhielt, erklang ein Geräusch, das daher rührte, dass dieser Roman auf seinem Handy angerufen wurde. Er griff umgehend in seine Tasche und nahm den Anruf entgegen. Das war natürlich streng gegen die Regeln einer Familienaufstellung, wo Handies strikt verboten waren. Entsprechend genervt verzogen einige der Teilnehmer ihre Mienen.

Aber noch bevor Marion Wintergaard auch nur ein einziges Wort sagen konnte, sagte er kurz: »Entschuldigung«, und war aus dem Raum hinaus in die Vorhalle verschwunden. Wir anderen konnten durch die Glasscheibe der Eingangstür beobachten, wie er draußen telefonierte.

Als er das Gespräch beendet hatte, blieb er einen Moment ruhig stehen und blickte auf sein Handy, dann trat er wieder ein und eröffnete, dass er die Sitzung leider verlassen müsse, er habe einen wichtigen beruflichen Termin.

Marion Wintergaard und auch wir anderen wollten in dem Moment nicht glauben, was für diesen Mann wichtiger sein konnte, als etwas darüber zu erfahren, warum seine Tochter ihm gerne näher gewesen wäre.

Aber er sagte, es sei jemand umgebracht worden, und verabschiedete sich mit den Worten: »Es tut mir leid, ehrlich, aber ich muss da hin.«

DONATA

Regina Maritz, Kriminaloberkommissarin, Gießen

Ich habe schon mal eine Polin kennengelernt«, hatte sie gesagt, »das war die Nachbarin meiner Cousine Berta in Offenbach. Das war mit Abstand die dümmste Person, der ich in meinem ganzen Leben je begegnet bin. Außerdem hat sie gestunken und gestohlen.«

»Mutti!!!« Ich wollte nicht glauben, was meine Mutter da zu Donatas Begrüßung von sich gegeben hat. »Hörst du auf, sofort!«, schrie ich sie an. Verdammte Kacke, was war nur in sie gefahren, mir so etwas anzutun, mir und der Frau, die ich extra für ihre Betreuung engagiert hatte.

Ich hatte die letzten Wochen nichts anderes im Kopf, als jemanden zu finden, der sich um sie kümmert, um meine Mutter. Ich hatte das Internet durchgepflügt, ich hatte mit Gott und der Welt telefoniert, war kurz davor gewesen, nach Polen zu fahren, um mir vor Ort ein Bild von den Pflegekräften zu machen, die ihre Dienste von dort aus anboten.

Dann hatte ich durch Zufall eine Handynummer zugespielt bekommen. Von dem Herrn Bosch, dem Betreiber der Tankstelle, der sich um mein Auto kümmert, wenn was dran ist. Der hatte mir nämlich zuvor gesagt, dass er eine Pflegekraft aus Polen für seinen Vater im Haus habe.

Als ich die Nummer angerufen hatte, neben der der Herr Bosch Donata notiert hatte, meldete sich am anderen Ende eine Frauenstimme nur knapp mit »Hallo«. Auf meine Frage hin, ob ich mit Donata spreche, hat sie nur knapp gemeint: »Schreibe du SMS«, und das Gespräch beendet.

Also hatte ich ihr eine SMS geschrieben, dass ich sie gerne kennenlernen würde.

Warum?, war ihre unmittelbare Antwort, woraufhin ich eine weitere SMS verfasste, in der ich meine Notlage hinsichtlich der Versorgung meiner Mutter schilderte.

Donata antwortete schließlich, dass ich am kommenden Sonntagvormittag um 10.45 Uhr pünktlich im Eiscafé Maxim in Egelsbach sein sollte.

Die Fahrt nach Egelsbach dauerte knapp eine Stunde, während der ich nur daran dachte, was ich wohl machen sollte, wenn es mir nicht gelingen würde, Donata für die Betreuung meiner Mutter zu gewinnen.

Im Eiscafé Maxim erfuhr ich dann, dass Donata mit Nachnamen Zlota hieß, zweiundvierzig Jahre alt war, geschieden und zwei Söhne von zwölf und siebzehn Jahren hatte, die bei ihrer Mutter in der Nähe von Lodz lebten. Um ihre Tätigkeit in Deutschland aufnehmen zu können, hatte die Agentur, die sie vermittelt hat, ihr abverlangt, sich als freie Unternehmerin selbstständig zu machen. Auf dieser Grundlage erwuchs ihre Beschäftigung einem Dienstleistungsvertrag, von dem die besagte Vermittlungsagentur missbräuchlich ableitete, ihre Bezahlung als steuerfreie Reisespesen zu deklarieren. Ihr war sozusagen eine gesetzeswidrige Scheinselbstständigkeit abverlangt worden, um bestehende rechtliche Regelungen zu umgehen.

Ursprünglich war Donata zur Versorgung einer achtzigjährigen, bettlägrigen Frau nach Egelsbach engagiert worden. Dann sei aber auch der Mann dieser Frau bettlägrig geworden, und die Angehörigen verlangten ihr sodann auch die Versorgung dieses Mannes ab.

Sie erklärte mir, der Umgang mit diesem Mann sei besonders schwierig, weil er sich aus Eifersucht gegenüber seiner Frau ohne ersichtlichen Grund überall hinfallen lasse, wo es ihm gerade einfalle. Dann sei es an ihr, ihn mit seinen fast hundert Kilogramm Körpergewicht in sein Bett zu hieven. Außerdem würde er sie ständig mit exhibitionistischen Attacken und Grapschereien sexuell belästigen.

Und dass man sich jetzt miteinander treffen könne, sei nur dem Umstand zu verdanken, dass sie darauf bestanden habe, jeden Sonntag in die Kirche gehen zu können. Ansonsten sei sie vierundzwanzig Stunden am Tag im Einsatz.

Vor drei Wochen habe sie dann noch – und das sei der »absolute Hammer« gewesen – mitgekriegt, dass die Agentur für sie 2.500 Euro kassiere, sie aber nur 1.000 Euro davon für ihre Arbeit bekomme. Als sie das erfahren habe, sei für sie die unverrückbare Entscheidung gefallen, sich von der Familie, für die sie noch tätig war, zu trennen. Für den Fall, dass sie zukünftig für mich arbeiten würde, erklärte sie, dass sie 1.200 Euro »netto auf Kralle« haben wolle und am Tag eine Stunde frei für sich.

Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie mich über den Tisch ziehen wollte. Sie hatte ein sehr offenes Wesen. Ich willigte ein, und nachdem ich ihr einigermaßen erklärt hatte, dass es sich bei meiner Mutter um eine nette, ältere Dame handele, waren wir uns einig.

Hinsichtlich des Beginns ihrer Tätigkeit machte sie keine Umschweife: »Komme du übermorgen 17.00 Uhr zu meine Haus«, sagte sie und nannte mir ihre Anschrift in Egelsbach.

Als ich zu der verabredeten Zeit bei dem Haus vorfuhr, war dort ein ziemlicher Auflauf. Offenbar hatte die gesamte Familie sich vor der Haustür versammelt, um Donatas Abreise zu verhindern. Unmittelbar nachdem ich mein Auto gestoppt hatte, kam ein schlanker Mittvierziger auf mich zu in schickem Anzug und mit einer blau-rot gestreiften Krawatte.

»Was wollen Sie hier?«, fragte er, als ich ausgestiegen war.

Lächelnd entgegnete ich: »Ich bin hier mit Frau Zlota verabredet.«

»Ich fürchte, da werden Sie Pech haben. Frau Zlota ist nämlich nicht zu sprechen.«

Während der Mann sich vor mir aufbaute, wanderte mein Blick zum Rest der Familie am Eingang des Hauses. Eine einzige Kampfbereitschaft, die mir da entgegenschlug.

»Vielleicht ist es ja wirklich so, dass Frau Zlota nicht zu sprechen ist«, fuhr ich fort, während meine Rechte sich in meiner Handtasche um den Griff meiner Dienstwaffe legte, »aber dann möchte ich das bitte von ihr selbst gesagt bekommen.«

Nach wenigen Schritten in Richtung der Haustür spürte ich die Hand des Mannes an meiner linken Schulter. »Sie haben mich wohl nicht richtig verstanden ...«

»Obacht, ja«, sagte ich, »äußerste Vorsicht. Anfassen habe ich nämlich überhaupt nicht gern.«

Im nächsten Moment hatte er meinen Dienstausweis unter der Nase: »Kriminalpolizei. Ich will sofort mit Frau Zlota sprechen. Haben Sie mich jetzt richtig verstanden?«