image

Marita und Jürgen Alberts
Die verliebten Zypressen

Bisher von den Autoren bei KBV erschienen:

Auf ein Mord
Die verliebten Zypressen

Marita und Jürgen Alberts, beide Jahrgang 1946, leben seit Beginn der 70er Jahre in Bremen. Zusammen schreiben sie Kriminalgeschichten und Reiseromane. Jürgen Alberts schreibt zudem Kriminalromane (Serie von zehn Büchern über die Hansestadt Bremen), sowie historische Romane. Den Deutschen Krimi-Preis erhielt er für »Tod eines Sesselfurzers«.

In diesem Jahr erhielt er den Ehrenglauser für sein Engagement für die deutschsprachige Kriminalliteratur und sein bisheriges literarisches Gesamtwerk.

Mehr unter: www.juergen-alberts.de

Marita und Jürgen Alberts

Die verliebten
Zypressen

Ein Reiseroman aus der
unbekannten Toskana

image

1. Auflage September 2011

2. Auflage November 2011

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH,

Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: info@kbv-verlag.de

Telefon: 0 65 93 - 99 86 68

Fax: 0 65 93 99 - 87 01

Umschlagillustration: Ralf Kramp

Print-ISBN 978-3-942446-34-1

E-Book-ISBN 978-3-95441-278-5

UN GELATO AL LIMONE

Libertà e perline colorate
ecco quello che io ti darò
e la sensualità delle vite disperate
ecco il dono, ecco il dono che io ti farò
donna che stai entrando nella mia vita
con una valigia di perplessità
ah, non avere paura che sia già finita
ancora tante cose quest’uomo ti darà
e un gelato al limone – gelato al limone

Freiheit und ein paar bunte Perlen
kann ich dir geben
und die Sinnlichkeit verzweifelter Leben
auch die kann ich dir geben
dir, Frau, die gerade mein Leben betritt
mit einem Koffer voller Ratlosigkeit
hab keine Angst, das Leben sei schon zu Ende
dieser Mann hält noch viel für dich bereit
auch ein Zitroneneis, ein Zitroneneis

Lucio Dalla »Banana Republic« (1979)

image

INHALT

Rasante Abfahrt

Bomarzo

Fattoria La Vialla

Trevor

Pieve di Gropina

Arezzo

Castiglion Fibocchi

Trevor

Anghiari

Le Balse

Die Quelle des Arno

Borro

Pecorino

Florenz

Trevor

Lucignano

Cortona

Monterchi

La Verna

Trevor

Das Konzert

Ein Besucher

I cipressi innamorati

RASANTE ABFAHRT

Ich bin dann mal weg!« Alto Pahl hatte das Zettelchen mit den kleinen Buchstaben hinter die Glasscheibe geklebt. Gleich neben den bronzenen Türgriff. Und dabei hätte er die fünf Worte am liebsten über alle quadratischen Scheiben der Eingangstür verteilt. In Großbuchstaben.

Er stülpte den Motorradhelm auf und startete die BMW K 1200 LT. Nicht mal einen Blick zurück gönnte er sich. Nur weg hier!

Die Weinsteige hoch schlängeln, raus aus dem Zentrum mit seinem immer falschen Klima. Der Stadtverkehr war selbst um diese frühe Uhrzeit enorm.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er die Autobahn erreichte. Slalom zwischen verärgerten Fahrern. Manch einer schimpfte hinter ihm her. Viel zu selten hatte er sich und seinem Motorrad Auslauf gewährt.

Die Autobahn rund um Stuttgart war eine einzige Baustelle. Die Bundesregierung bittet um Verständnis … Wir bauen für Sie! Für wen denn sonst?

Als er Kirchheim passierte, die Bahn war frei, fiel Alto ein, dass er gar nicht wusste, wohin er fahren wollte. Einfach nur weg. »Fahrn, fahrn, fahrn, auf der Autobahn« – dieser Song von Kraftwerk kam ihm in den Sinn. Er beschleunigte, wann immer er konnte. 130, 150, 180 km/h. Sollen sie mich doch blitzen. Vorbei an der Monotonie der Lärmschutzwände mit ihren lächerlichen Kunstanstrengungen.

Die Geislinger Steige, endlich eine Herausforderung für den geübten Motorradfahrer.

Es begann zu regnen. Immer wieder musste Alto mit dem Handschuh über den Helm wischen, der Fahrtwind verteilte das Regenwasser in dünnen Fäden. Wie ein Gitter.

Unfall. Stau. Stop.

Den nächsten Rastplatz anfahren? Ausruhen. Nachdenken. War es ein Fehler, so überstürzt die Flucht anzutreten?

Dass es eine Flucht war, daran bestand für ihn kein Zweifel. Warum rennst du weg? Und vor wem?

Ein Polizeiwagen raste mit Lalü-Lala heran und pflügte die Autobahn wie der Herrgott einst das Rote Meer. Pahl nahm die Verfolgung auf. Er konnte die neidischen Mienen der Fahrer erkennen, die ihm jedes erdenkliche Unglück wünschten.

Als er die Unfallstelle passiert hatte, konnte er wieder Gas geben.

Es war der Sekundentod eines nahen Freundes gewesen, der ihm vor ein paar Wochen einen Stich versetzt hatte. Benno, der immer lächelnde Redakteur der Stuttgarter Zeitung, ein Bonvivant, ein kritischer Beobachter, kein Besserwisser wie mancher dieser Medienmaulhelden, ein Beau, der sich nichts auf seine Schönheit einbildete. In der Redaktion vom Stuhl gefallen. Aus. Seitdem brodelte es in Alto. Aber bis zu dieser rasanten Abfahrt war es noch ein kurvenreicher Weg.

In seinem Gepäck hatte er ein Büchlein, das ihm für die nächsten Tage ein Leitfaden sein konnte.

»Sehnsuchtsorte« – ein Gästebuch der besonderen Art. Von Freunden für Freunde – jeder, der wollte, konnte den Ort eintragen, der sich in seinem Reisegedächtnis tief eingegraben hatte und an den er sehnsüchtig dachte.

Es gab Hinweise auf den Croagh St. Patrick in Irland, den Silser See in der Schweiz, Tromsø und Trondheim auf der Hurtigruten-Linie in Norwegen, die Seiser Alm in Südtirol. Bei einem kleinen Zwischenstopp studierte Pahl die Motorradkarte.

Er wollte Pässe fahren, hoch hinaus, keine langweiligen Autobahnfahrten. Die hatten ihn immer schon angeödet.

The day is short the night is long. Nun verstand Alto, warum er wochenlang das Lied von Jearlyn Steele aus dem Altman-Film A Prairie home companion mitgesungen hatte. Manchmal hatte er den CD-Player fünfmal hintereinander diesen Song abspielen lassen. Why do we work so hard for things that we don’t really want? - Warum hab ich all die Jahre so verdammt hart geschuftet?

Auf der Passhöhe ruhte er aus. Alto musste sich einen dicken Schal kaufen. Bei der rasanten Abfahrt hatte er vergessen einen mitzunehmen.

Kurz war er versucht, Karla anzurufen und sie von seinem Plan in Kenntnis zu setzen. Der Blick über die Berge ließ ihn gar nicht dazu kommen. Sie wird schon früh genug merken, dass ich ausgebrochen bin. - Ich bin dann mal weg!

Alto Pahl spürte trotz des konzentrierten Fahrens keinerlei Müdigkeit. Kalte, klare Luft, glitzernde Bergrücken, fantastische Aussichten, was für ein Vergnügen.

Hätte er auf einer Weltkarte überall dort Fähnchen aufgestellt, wo seine Freunde und Gäste schon einmal gewesen waren und begeistert davon berichtet hatten, die Karte hätte wie ein gespickter Rehrücken ausgesehen. Nur er war in den letzten sieben Jahren nirgendwo gewesen. Immer nur Stuttgarter Kessel zum Arbeiten und nach Degerloch zum Schlafen.

Das Stilfser Joch, Königin aller Alpen-Passstraßen.

Kleine Felsentunnel, die sich in Kurven winden, schmale Kehren, jede Menge Gegenverkehr. Wie muss es erst am Wochenende hier zugehen?

Serpentinenstau nannte Alto das zweideutige Fahrvergnügen. Auf 2300 m Höhe fand er kaum einen Stellplatz für seine Maschine. Ein Junge in Tiroler Tracht verkaufte Würste mit Krautsalat und Fladenbrot. In vier Sprachen. Ganz schön auf dem Quivive, der kleine Chefkoch.

Nicht mal eine viertel Stunde hielt es Alto Pahl in dem Trubel aus. Er hatte allerdings eine ganz schöne Strecke zurückzulegen, wenn er heute noch die Seiser Alm in der Nähe von Bozen erreichen wollte. Ein Hochplateau auf 1800 Metern Höhe, das ein Gast in seinem Buch »Sehnsuchtsorte« so beschrieben hatte: »Wenn du einmal dort oben bist, von hohen Bergen umgeben - Schlern, Langkofel und Plattkofel - kommst du dir wie an der Himmelspforte vor. Ganz gleich, ob du eingeschneit wirst oder zwischen den hügeligen Almwiesen wanderst, auf der Seiser Alm spürst du die Ketten des Alltags nicht mehr.«

Durchs Vinschgau ging seine Route, über Schlanders, Naturns, Meran hinüber nach Bozen. Bevor Alto Pahl zur Seiser Alm hochfahren konnte, musste er ein Wärterhäuschen passieren. »Können Sie eine Hotelreservierung vorweisen?« Er ließ sich ein Verzeichnis der Unterkünfte geben.

Die Zufahrt zur Seiser Alm war streng reglementiert. Zwischen neun und achtzehn Uhr konnten nur Hotelgäste mit dem Wagen oder Motorrad hochfahren, andere Touristen mussten die moderne Kabinenbahn nehmen.

Der Weg vom Parkplatz, auf dem kaum Autos standen, bis zum Hotel Mignon war nicht weit. Alto schulterte die beiden Packtaschen. Das Ausschreiten tat ihm nach dem langen Sitzen gut. So viele Stunden hatte er noch nie auf dem Bock gesessen. Wo liegt dieses Stuttgart überhaupt? Hinter den Bergen, irgendwo. Ganz weit weg.

Beim Frühstück schlug ihm die Hotelbesitzerin Wanderungen vor. »Am besten, Sie fangen mit einem leichten Weg an.« Sie wollte ihm sogar die Bergschuhe ihres Mannes leihen. »Der hat die gleiche Schuhgröße wie Sie!«

Sie fragte, wie lange er bleiben würde.

Alto Pahl mochte sich nicht festlegen.

Er fuhr mit dem Sessellift zum Puflatsch hinauf, eine kurze Strecke, begab sich auf die empfohlene Rundwanderung. Wandern muss ich erst noch lernen, dachte er. Ob ich versuchen sollte, Karla anzurufen? Er hielt sein Blackberry in der Hand. Kein Netz. Du willst doch nicht schon am zweiten Tag aufgeben?

Als er das Hotel Mignon wieder erreicht hatte, stand ein Wagen mit Stuttgarter Kennzeichen neben seiner BMW.

Er entschuldigte sich wortreich bei der freundlichen Hotelbesitzerin, er habe einen dringenden Anruf erhalten, zahlte bar und stieg wieder auf seine Maschine. Weg, nur weg hier! Ganz gleich, ob ihn die Wärter anhalten würden, er musste so schnell wie möglich fort. Wenn mir jetzt ein Bekannter begegnet …

Er brauste die Serpentinen hinunter, über sich die Kabinenbahn, schlängelte sich an Traktoren vorbei und erreichte die Autobahn in einer knappen Stunde.

Bozen, Trento, Padua. In Bologna bog er auf die A 1 ein, autostrada del sole, der italiensüchtigen Deutschen liebste Autobahn, auch wenn sie über die ständig steigenden Mautgebühren jammerten.

Die Strecke nach Florenz war wieder Fahrtvergnügen pur, kaum eine Baustelle behinderte die schnelle Fahrt.

Was Karla wohl denken wird? Hat sie die Polizei schon eingeschaltet? Wird nach mir gefahndet?

Alto Pahl lächelte bei dem Gedanken, wie sich die Freunde vor der Tür versammelten, kopfschüttelnd auf den kleinen Hinweis starrend. Er glaubte sogar die Stimmen von Marlies oder Felix zu hören: Der Alto spinnt mal wieder! - Ich hab’s doch immer gesagt, eines Tages haut der in den Sack! Am lautesten posaunte Sven: Der macht sich nen schönen Lenz, während wir hier verdursten und verhungern.

Das Kloster La Verna in der Provinz Arezzo war sein Ziel, auch davon hatte Pahl in den »Sehnsuchtsorten« gelesen. Ein Franziskanerkloster, zugleich ein Wallfahrtsort am steilen Südhang des Monte Penna. Dort, wo der Heilige Franz von Assisi mit den Vögeln gesprochen und seine Wundmale empfangen haben soll. Eine Einsiedelei auf 1400 Metern Höhe.

»Vom Kloster La Verna hat man eine weite Aussicht über Hügel und Wälder. Du bist in der Toskana und trotzdem jeglichem Toskanaklischee entronnen. In Rilkes Stundenbuch findet sich über Franz von Assisi der Satz: ›Und da versucht er, auf dem Stein zu liegen und aufzustehn, wie er bei andern sieht …‹«

Es dauerte eine ganze Weile, bis Alto die Straße fand, die nach La Verna hinauf führte.

Die Abendluft war noch warm, er fuhr mit offenem Visier. Näherte sich dem Kloster eher langsam. Die Serpentinen waren nicht aufregend im Vergleich zu den Alpen-Passstraßen vom Vortage.

An der Rezeption des Klosterhotels bat er um ein Zimmer. Soviel Italienisch hatte er gelernt, als er kurz nach dem Abitur mit einer Freundin ein paar Monate in Siena verbracht hatte. In seinem Alltag kam die schöne Sprache leider nur selten vor.

»Wollen Sie an der Abendmesse teilnehmen?«, wurde er gefragt.

Alto Pahl nickte.

Auf dem Gang zur Chiesa delle Stimmate, die Kapelle der Wundmale, betrachtete er die Fresken, die das Leben des Heiligen Franz darstellten.

Naive, eindringliche Malerei. Bilder zu betrachten gehörte zu Altos Sonntagsvergnügen, er sammelte großformatige Foto- und Bildbände. Die alte Malerei hatte es ihm besonders angetan.

Durch eine schmale Tür gelangte man zu der Höhle, in der Franz von Assisi 1224 gelebt hatte. Ein Eisenbett in einer Felsennische, mehr war nicht zu sehen.

Während der Messe, es waren kaum zwanzig Mönche in der Kapelle, keine weiteren Besucher, liefen ihm die Tränen übers Gesicht. Er brauchte sich ihrer nicht zu schämen.

Es kam Alto Pahl so vor, als habe er den Ort gefunden, den er seit seiner rasanten Abfahrt gesucht hatte.

BOMARZO

Hellena Rothermund war zum ersten Mal im sacro bosco, dem heiligen Wald in Bomarzo, jenem Park aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, den der Fürst Orsini hatte anlegen lassen. Groteske Giganten, inmitten von Wäldchen und Buschwerk, Drachen und Ungeheuer, versteckt zwischen üppiger Natur, eine riesige Frauenfigur mit zwei Fischschwänzen und ein flügelleichter Pegasus – allesamt aus vulkanischem Peperinstein gehauen. Die Skulpturen im Laufe der Jahrhunderte von Moos bewachsen, manche kaum sichtbar zwischen den immergrünen Sträuchern.

Hellena hatte ihr Stativ aufgebaut, um das schiefe Haus zu fotografieren. Sie sah zum Himmel. Wann zieht diese Wolke endlich vor die Sonne? Das Nachmittagslicht war noch zu hell für die Aufnahme, sie würde zwei Blenden unterbelichten müssen. Das Haus, im Winkel von zehn Grad auf die Seite gekippt, sollte symbolisieren, wie schnell das Leben aus dem Gleichgewicht geraten kann. Wer versucht, in dem zweistöckigen Haus aufrecht zu stehen, erspürt dies am eigenen Leib: Der Horizont kippt in die Höhe, Bäume und Büsche scheinen zu schwanken. Der Besucher empfindet sich als »ver-rückt«.

Das Handy klingelte. Hellena sah auf das Display.

Robert, na gut. Der durfte sie bei der Arbeit stören.

»Wo steckst du? Wann kommst du? Schaffst du es auch rechtzeitig hier zu sein?«

Drei Fragen, schnell hintereinander abgefeuert.

»Keine Sorge, mein Lieber!«, antwortete Hellena. »War ich je unpünktlich?«

»18 Uhr, La Vialla. Weißt du, wie du hinkommst?«

»I c h weiß es nicht, aber mein Navi kennt den Weg.«

»Sei pünktlich, bitte, es ist ganz wichtig.«

Schon hatte er aufgelegt. Mein Bruder Robert, wie immer ausgesprochen hektisch, sogar an seinem 40. Geburtstag.

Wie unterschiedlich hatten sich die Geschwister in letzter Zeit entwickelt. Während sie Steine fotografierte, in allen Formen, in aller Ruhe, jettete Robert immer noch durch die Welt und recherchierte für internationale Reisemagazine ausgefallene Menschen. Den fast hundertjährigen Züchter von Wasserhunden in Portugal oder eine bulgarische Spitzenklöpplerin, die für Hollywood Kostüme herstellte.

Die Geschwister waren Singles. Hellena Rothermund aus Überzeugung, Robert Rothermund aus Angst. Immer, wenn eine Beziehung zu eng wurde, war er geflüchtet. Sie hatte ihm schon vor Jahren den Spitznamen der fliehende Robert gegeben.

Hellena schaute auf die Uhr. Mehr als zwei Stunden würde sie nicht brauchen, um diese Fattoria in der Nähe von Arezzo zu erreichen. Zur Sicherheit hatte sie sich bei Google Maps die Route ausdrucken lassen. Wie schön, nun endlich Roberts Ruhepol selbst kennen lernen zu können. Wenn es ihm zu hektisch geworden war, hatte er sich gerne auf der Fattoria eine Auszeit gegönnt.

Wie sehr hatte Robert ihr im vergangenen Jahr zur Seite gestanden. Immer zur Stelle, ganz gleich, von wo er einfliegen musste. Jetzt würde sie ihn wieder in die Arme nehmen können. Zu lange hatten sie sich nicht mehr gesehen.

Hellena konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit. Noch fehlten ihr der zerfressene Januskopf und die große Liegende mit dem Hündchen. Die war besonders schwer zu fotografieren, um ihre laszive Art zur Geltung zu bringen.

Wenn Hellena Rothermund fotografierte, vergaß sie die Zeit, tauchte ein und verlor sich, machte Umwege und landete in Seitenstraßen, erreichte aber meistens ihr Ziel.

Das Leben kann schnell aus dem Gleichgewicht geraten, wie oft hatte sie das erleben müssen. Plötzlich nahm die Lebensstraße eine heftige Wendung und führte in allerlei Unwegsamkeiten, manchmal zu Trennung, Krankheit oder Tod.

Als das Handy zum zweiten Mal klingelte, sah Hellena auf dem Display: Unbekannter Anrufer. Nichts zu machen. Bevor sie es ausschaltete, schaute sie auf die Uhr.

Viertel nach vier. Verdammt.

Heute würde sie es nicht mehr schaffen, alle Bilder vom heiligen Wald in Bomarzo aufzunehmen.

Hellena musste einen Gang höher schalten, wenn sie ihren Bruder nicht enttäuschen wollte.

Gemeinsam in seinem Ruhepol auftanken, was für eine wunderbare Vorstellung. Die autostrada del sole war um diese Zeit stark befahren. Wer macht sich wohl die Mühe, bei Roberts 40. Geburtstag dabei zu sein? Die Gästeliste hatte er vor ihr geheim gehalten.

Stau. Unfall. Einspurig. Mist! Hätte ich doch wenigstens einen kleinen Zeitpuffer eingebaut. Immer wieder schaute sie auf die Uhr. Sollte sie es doch nicht schaffen, würde sie Robert anrufen. Punkt 18 Uhr.

Es war zwei Minuten vor sechs, als Hellena Rothermund mit ihrem roten Alfa Romeo die Einfahrt der Fattoria hoch sprintete. Keine Zeit mehr mich umzuziehen.

Hauptsache, ich bin pünktlich.

Sie parkte den Wagen und ging in den kleinen Hofladen. Dort wurde sie von wunderbaren Gerüchen empfangen. Ihr Blick wanderte von der Salami zu den runden Schafskäsen, von dem frischen Gemüse zu den getrockneten Knoblauchzöpfen. Hier werde ich morgen einkaufen. Die junge Frau zeigte ihr den kurzen, zu beiden Seiten von Zypressen bestandenen Weg, der zum Landhaus La Vialla hinaufführte.

Unter einem Feigenbaum mit weit ausgebreiteten Ästen war eine festliche Tafel gedeckt. Das Sonnenlicht fiel durch die Zweige und spiegelte sich in den Gläsern.

Ein Gespür für ausgefallene Orte hat Robert schon immer gehabt, dachte Hellena. Hier will er also seinen 40. Geburtstag feiern.

Auf der Wiese ein Tisch mit Vorspeisen und Weinen der Fattoria.

Nicole schenkte den versammelten Geburtstagsgästen einen Aperitif aus.

Als erstes entdeckte Hellena Roberts Freund George, den art director eines englischen Reisemagazins. Seine Frau Birdy und ihre beiden Kinder.

»Und wo ist das Geburtstagskind?«, fragte Hellena. Sie konnte ihren Bruder nirgendwo entdecken.

»Wird sich wohl zum ersten Mal in seinem Leben etwas verspätet haben!«, sagte George lächelnd. »Hauptsache, du hast es rechtzeitig geschafft.«

»Wahrscheinlich hab ich mir zwei Knöllchen eingefangen, mein Romeo musste einen heißen Reifen hinlegen.« Da hätte ich mich ja doch noch frisch machen können.

Hellena ließ sich von Nicole ein Glas Mussantino geben und trank es in einem Zug leer. Sie schaute auf die Platten mit fein geschnittener Fenchelsalami und gereiftem Pecorino, Bruschetta mit verschiedenen Pasten, stibitzte sich eine Olive in Orangenstückchen und musterte die meist leger gekleideten Gäste. Nicht allen konnte sie Namen geben. Kein Wunder, da Robert ständig unterwegs war. Er hatte manche der Eingeladenen bei seinen Reisen kennen gelernt.

Sie probierte Crostini mit Pilzpaste und fragte, wann ihr Bruder denn eingetroffen sei.

Gestern, antwortete Nicole, er habe gestern Mittag das Landhaus La Torre bezogen.

Ob das weit weg sei.

Nein, mit dem Auto nur ein paar Minuten.

Hellena ließ sich den Weg beschreiben. Sie fragte George, ob er Robert schon gesehen habe.

»Nein, wir sind erst seit drei Stunden hier und wurden in der Casa Conforto untergebracht. Am liebsten würde ich dort ja im Weinkeller übernachten, wo der vin santo lagert. Schon wegen des Geruchs.« Er zeigte in die Richtung, wo das Landhaus lag.

»Irgendwas stimmt mit Robert nicht! Ich geh ihn suchen!«, sagte Hellena. Sie überlegte noch, ob sie die anderen Gäste …

George hielt sein mobile in Händen und wählte Roberts Nummer.

»Geht niemand ran. Mailbox, kein Robert nirgends.«

»Ich fahre hin. Dann kann ich auch gleich mein Gepäck und die Ausrüstung loswerden.« George wollte mitkommen. Sie rannten den Weg hinunter. Schnell räumte Hellena ihre Fototaschen auf den Rücksitz und ließ ihn einsteigen.

Das Landhaus La Torre war ein mehrstöckiger Steinturm, dessen unterer Teil aus dem Mittelalter stammte, mit kleinen Fensteröffnungen. Der quadratische Turm stand neben einer mächtigen Eiche.

Hellena sprang aus dem Wagen, eilte zur Tür. Sie konnte ihre Unruhe kaum verbergen.

Abgeschlossen.

»Robert!«, rief sie, »nun komm schon raus, Robert! Deine Gäste warten auf dich!«

George stellte sich auf die Zehenspitzen. Konnte aber niemanden entdecken.

Beim Blick durchs Fenster erkannte Hellena den hellen Trenchcoat ihres Bruders. Kein Zweifel, er musste also hier gewesen sein.

George warf ein kleines Steinchen an das Fenster im oberen Stock.

»Robert!«, rief Hellena wieder und wieder.

»Bit strange, isn’t it?«, meinte George.

Sie fuhren zur Fattoria zurück und fragten im ufficio nach. Vielleicht wusste man dort, wo ihr Bruder steckte.

Hellena erfuhr, dass Robert nicht alleine angereist war. »Con una donna!«, sagte Lidia.

Aber wo sie jetzt abgeblieben seien, keine Ahnung. Lidia rief Bandino Lo Franco an, den Jüngsten der drei Brüder, die La Vialla leiteten. »Senti, sai dov’è il signore Robert de La Torre?«

Lidia berichtete nach dem Telefonat, Bandino habe den beiden am Morgen das Kapellchen neben dem Landhaus Spedale Vecchio gezeigt, dann hätten sie sich verabschiedet. Sie sollten sich aber keine Sorgen machen. Tutto va bene!

Das konnte Hellena nun überhaupt nicht beruhigen.

Keine Spur von Robert. Oder seiner Begleiterin. Wieso hat er plötzlich eine Frau an seiner Seite?

»Sie werden inzwischen sicher schon bei ihren Gästen sein.« Lidia schloss sich den beiden an.

Schnell waren sie die kurze Strecke hinaufgelaufen.

Hellena spürte ein Stechen in der Seite.

Ihr Bruder war immer noch nicht da.

Hellena setzte sich auf die Bank vor dem Landhaus, den Zypressenweg im Blick.

Wo steckst du, Robert? Nicht auszudenken, wenn dir etwas zugestoßen ist!

George übernahm die Ansprache. »Our host is missing. Who has seen Robert last … when and why?« Er lachte dabei, was Hellena völlig unpassend fand. Ob es einen Unfall gegeben hat … irgendwas muss mit Robert passiert sein … warum rasen die hier selbst auf engen Straßen immer so? Robert war immer pünktlich, danach konnte sie die Uhr stellen. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Während sie meist in der letzten Minute zu einem verabredeten Termin erschien, kam ihr Bruder immer zu früh, manchmal sogar eine halbe Stunde.

Ein Paar aus Lyon hatte die beiden Vermissten als Letzte gesehen. Kurz nach Mittag.

Wann hat sich Robert in Bomarzo gemeldet? Der Eingang seines Anrufes war auf dem Display verzeichnet … dann fiel Hellenas Blick auf den letzten Anruf, den sie nicht mehr angenommen hatte … wer hatte versucht, mich zu erreichen? Hängt Roberts Verschwinden damit zusammen?

George erbot sich, die Gästeschar zu beruhigen.

Er versuchte es auf seine englisch-ironische Weise, aber die Lacher blieben aus. Nun hatte Hellenas Aufgeregtheit auch die anderen angesteckt. Sie war sich sicher, dass ihm etwas zugestoßen war.

Wieder musste sie an das schiefe Haus denken, das sie in Bomarzo fotografiert hatte.

»Da kommen sie ja!«, rief ein Kind, das zwischen den Zypressen auftauchte.

Hellena konnte die Tränen nicht zurückhalten.

Ihr Bruder im weißen Leinenanzug und silbernem Schlips, neben ihm eine hoch gewachsene Frau mit kurz geschnittenem schwarzem Haar in einem elfenbeinfarbenen, schulterfreien Kleid und einem Bolerojäckchen mit schwarzer Spitze.

»Fast eine Stunde … mein Romeo ist gerast wie der Teufel … und du, wo warst du?«

Sie trommelte mit beiden Fäusten auf seine Brust.

Dann fiel ihr Blick auf den beleibten Priester, der mit hochrotem Kopf hinter den beiden herkam. Im vollen Ornat.

»Colpa mia, tutta colpa mia!« Alles seine Schuld. Jetzt müsse er erst mal ein Schlückchen trinken. Er ließ sich einen torbolone, den kräftigen Roten, einschenken.

Robert entschuldigte sich ebenfalls. Sie hätten so lange auf den Pfarrer warten müssen.

Es war ihm überaus unangenehm, dass ihn die Gäste etwas erschreckt anblickten.

George fand als Nächster ein paar Worte: »Ist es denn so schrecklich, vierzig zu werden, dass du gleich einen Geistlichen mitbringen musst?«

»Tut mit leid, dass ich mit meiner Verspätung für soviel Aufregung gesorgt habe«, sagte der Priester, »aber«, er zögerte einen Augenblick, schaute an sich herunter und strich über den Ornat, »mein Outfit war noch in der Reinigung.«

Bandino Lo Franco trat aus dem Haus. »Jetzt kann die Feier beginnen, die Autos stehen bereit.« Er zwinkerte Robert zu.

»Robert, what’s cooking?« Es war George, der die Spannung nicht länger aushielt.

Robert stellte sich zwischen den Priester und Bandino und nahm seine Freundin an der Hand: »Für diejenigen, die Isabel noch nicht kennen, das ist nicht nur meine neue Freundin … sie wird heute noch meine Frau.«

Hellena entfuhr ein spitzer Schrei.

Was?

Der fliehende Robert will heiraten?

Heute?

Und hat mir nichts gesagt …

Nun gab es kein Halten mehr. Einige lachten aufgeregt, andere klatschten Beifall. Hoben ihre Gläser, um auf die beiden anzustoßen.

»Ich habe euch alle heute hierher gebeten, nicht nur, um den 40. Geburtstag zu begehen, sondern auch, weil ich mir keinen schöneren Ort für meine Hochzeit vorstellen kann als das Kapellchen neben Spedale Vecchio, wo ich ja schon manche Tage verbracht habe. Mir war klar, wenn ich mich jemals trauen sollte … na ja, eher trauen lassen würde, dann muss es dort sein. Mit eurer Hilfe wollen wir uns vom Priester den kirchlichen Segen holen. Und jetzt, auf die Pferde, lassen wir den Musiker dort oben nicht länger warten.«

Robert ging auf Hellena zu, umarmte sie fest und flüsterte: »Schön, dass du da bist! Ohne dich hätte ich mich wirklich nicht getraut.« Er machte eine Pause. »Und die Nächste wirst dann du sein.«

FATTORIA LA VIALLA

Als Hellena die kleine Pilgerkapelle aus dem 11. Jahrhundert betrat, entdeckte sie ihre Eltern. Sie saßen in der ersten Reihe und winkten sie heran.

»Ihr? Hier?«

»Das ist doch selbstverständlich«, entgegnete ihr Vater. »Wenn Robert endlich …«

»Wenigstens ihr hättet mir was sagen können!« Hellena war entrüstet. »Was soll denn diese Geheimniskrämerei?«

Ihre Mutter hatte sich herausgeputzt. Elegant wie immer, in einem Kostüm aus Rohseide.

Wie sehe ich denn aus? Hellena strich an ihrem blaugrauen Pullover herunter. Noch hatte sie keine Zeit gehabt, sich umzuziehen und ihre ausgefransten Arbeitsjeans gegen die englischen Slacks zu tauschen. Sie hatte sich für das runde Geburtstagsfest ihres Bruders ein silbrig glänzendes Jackett aus durchsichtigem Material geleistet.

spedale