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Klaus Wanninger
Schwaben-Freunde

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Schwaben-Rache

Schwaben-Messe

Schwaben-Wut

Schwaben-Hass

Schwaben-Angst

Schwaben-Zorn

Schwaben-Wahn

Schwaben-Gier

Schwaben-Sumpf

Schwaben-Herbst

Schwaben-Engel

Schwaben-Ehre

Schwaben-Sommer

Schwaben-Filz

Schwaben-Liebe

Schwaben-Freunde

Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, evangelischer Theologe, lebt in der Nähe von Stuttgart. Ein großer Teil seiner Bücher entsteht in den Zügen der Bahn, auf deren Schienen Wanninger Jahr für Jahr zigtausende von Kilometern zurücklegt. Bisher veröffentlichte er dreiunddreißig Bücher. Seine Schwaben-Krimi-Reihe mit den Kommissaren Steffen Braig und Katrin Neundorf umfasst mittlerweile sechzehn Romane in einer Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplare.

Klaus Wanninger

SCHWABEN-FREUNDE

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Originalausgabe

Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

1. Kapitel

November

Der Tag, der zum Albtraum ihres Lebens werden sollte, hatte friedlich begonnen. Nicht einmal der kleinste Hinweis auf das schreckliche Geschehen, das sie aus all ihren Träumen reißen sollte, hatte sich erahnen lassen. Das Unheil brach über sie herein wie eine schwere Gewitterfront mitten in einer stockdunklen Nacht.

Nele Harttvallers Ausflug auf die Schwäbische Alb war lange vorher geplant gewesen. Seit Wochen hatte sie sich auf den Besuch bei ihrer alten Freundin gefreut. Endlich wieder die Person zu treffen, mit der sie entscheidende Phasen ihrer Kindheit und Jugend verbracht hatte, versprach die Erinnerung an alte, im Alltagstrott längst verschüttete Augenblicke. Erlebnisse, Diskussionen und Auseinandersetzungen mit Eltern, Mitschülern und Lehrern, erste unbeholfene Annäherungen an Vertreter des anderen Geschlechts – im gemeinsamen Austausch wurden viele, fast zwei Jahrzehnte zurückliegende Momente wieder wach.

Unübersehbar von Wiedersehensfreude erfüllt, waren sie sich am späten Morgen in die Arme gefallen und hatten sich ihre Töchter gegenseitig vorgestellt. Von der ersten Minute ihrer Begegnung an verstanden sie sich gut, war ihr Leben bisher doch in ähnlichen Bahnen verlaufen: Studium, Beruf, Karriere; dann erst mit Anfang dreißig die endgültige Entscheidung für den festen Partner. Und jetzt, kurz vor dem biologischen Toresschluss, wie Nele Harttvaller diesen Zeitpunkt selbst zu umschreiben pflegte, das eigene Kind. Wie sie selbst war auch ihre Freundin vor wenigen Jahren aus dem Beruf ausgestiegen und hatte sich ganz ihrem Nachwuchs gewidmet; eine Entscheidung, die beide nur in seltenen, von außergewöhnlichem Stress geprägten Momenten bereut hatten.

Elena und Anna bei guter Laune zu halten, erwies sich schnell als problemloses Unterfangen; die beiden Mädchen fanden ohne Scheu schnell zueinander und beschäftigten sich mit verschiedenen Spielen. Die Tage verflogen in rasendem Tempo, angefüllt mit unerschöpflichen Kaskaden alter Erinnerungen, reichhaltigem Essen und ausgiebigem Kaffeegenuss. Dass sie all den vielen Köstlichkeiten viel zu stark zugesprochen hatte, wurde Nele Harttvaller erst auf der Rückfahrt bewusst. Spät, lange nach dem Einbruch der Dunkelheit, hatte sie sich von ihrer Freundin und deren Tochter verabschiedet.

»Warum übernachtest du nicht bei uns? Wir könnten den Rest des Abends in alten Zeiten schmökern. Und die Mädchen verstehen sich doch auch prächtig. Andreas hat nichts dagegen, im Gegenteil, der freut sich, wenn ihr bleibt. Willst du es dir nicht noch überlegen? Ruf deinen Mann an und gib ihm Bescheid.«

Wie oft sie in den folgenden Tagen an das Angebot Marissa Leitners gedacht, wie sehr sie es bereut hatte, es nicht angenommen zu haben, sie wusste es nicht zu sagen. Wenn, ja, wenn … Alles wäre anders verlaufen, der schlimmste Albtraum ihres Lebens nicht wahr geworden …

Winkend und immer wieder in den Rückspiegel blickend startete sie den Wagen, Elena hinter sich im Kindersitz verstaut. Der anfängliche Protest der Kleinen: »Mit Anna spielen!« verstummte schnell, wich nach kurzem Quengeln ruhigen Atemzügen. Dankbar über den Schlaf ihrer Tochter versuchte sie, sich auf die vom Licht ihrer Scheinwerfer nur notdürftig erhellte Straße zu konzentrieren. Die Sicht reichte nur wenige Meter weit. Dichte, herbstliche Nebelbänke lagen auf der Hochfläche der Alb. Sie fuhr langsam, hatte Mühe, die Fahrbahn vor ihr zu erkennen. Einzelne Bäume und Büsche huschten vorbei, ab und an ein entgegenkommendes Auto.

Den Druck ihrer vollen Blase spürte sie schon wenige Minuten, nachdem sie Glupfmadingen verlassen hatte. Sie erhöhte das Tempo, bemerkte die gleißenden Lichter des plötzlich aus dem Nebel auftauchenden Fahrzeugs erst in letzter Sekunde, riss das Steuer nach rechts. Ein heftiger Adrenalinstoß flutete ihren Blutkreislauf, beschleunigte ihren Herzschlag. Sie bremste den Wagen wieder ab, starrte nach vorne. Schneller zu fahren, nur um baldmöglichst zu Hause ihrem Bedürfnis nachkommen zu können, war viel zu riskant. Angesichts der dicken Suppe draußen bedeutete das, ihre und Elenas Gesundheit und Leben aufs Spiel zu setzen. Das war es nicht wert. Sie musste versuchen, dem Druck standzuhalten.

Kurz hinter Würtingen wurde ihr klar, dass das nicht zu schaffen war. Sie hatte einfach zu viel getrunken. Kaffee, Saft, Wasser, Tee – sie wusste nicht mehr genau, wie viel von all den reichhaltig dargebotenen Getränken sie im Verlauf des Nachmittags und Abends in sich hineingeschüttet hatte. Ein Glas nach dem anderen. Zu viel auf jeden Fall, um das jetzt noch länger durchzustehen.

Was tun? Bis Eningen waren es, wenn sie sich richtig erinnerte, noch mehrere Kilometer, zudem wand sich die Straße davor noch über mehrere Serpentinen abwärts ins Vorland der Alb, die sie angesichts des widrigen Wetters besonders vorsichtig angehen musste. Und wo im Ort eine Toilette finden, die jetzt in der Nacht schnell und ohne langwierige Erklärungen zu benutzen war?

Nein, das dauerte alles viel zu lange. Das Problem verlangte nach einer schnellen Lösung, nicht nach umständlichem Herumsuchen. Sie musste es jetzt bereinigen, so unangenehm das auch war.

Sie starrte nach draußen, sah nur die Umrisse von Bäumen beidseits der Straße. Ab und an ein entgegenkommendes Auto; vor und hinter ihr – jedenfalls die paar Meter, die sie erkennen konnte – nur graue Suppe. Ob irgendwo in der Nähe ein Waldweg abbog?

Sie passierte eine Handvoll Häuser, las etwas von einem Gestütshof, fand sich wieder mitten im Wald. Zwei Autos kamen ihr entgegen, das Fernlicht viel zu spät abblendend, dahinter ein breiter Lastwagen, dann wieder die dunkle, fast undurchdringliche Suppe. Den Hinweis auf den Parkplatz bemerkte sie erst in letzter Sekunde. Abrupt bremste sie den Wagen ab, schwenkte auf die Zufahrt zu der rundum von Wald umgebenen Fläche ein. Die Anlage war menschenleer, nicht ein einziges Fahrzeug zu entdecken.

Nele Harttvaller parkte am Rand des Areals, zog die Handbremse, warf einen Blick auf die Rückbank. Elena lag schlafend in ihrem Sitz, atmete in ruhigen, gleichmäßigen Zügen. »Hab keine Angst, mein Schatz. Es dauert nicht lange. Ich bin gleich wieder zurück«, flüsterte Nele Harttvaller kaum hörbar, mehr zu sich selbst als zu dem Kind.

Sie wandte sich zur Tür, öffnete sie. Ein Schwall eiskalter Luft strömte ins Innere, ließ sie unwillkürlich frösteln. Mein Gott, willst du dir das wirklich antun, schoss es ihr durch den Kopf. Sie schaute nach links, geradeaus und nach rechts, sah nichts als dunklen Nebel. Kein Mensch, kein Leben. Wie unheimlich das ist, überlegte sie. Bleib sitzen, lass deine Beine im Auto, schließe die Tür und mach dich davon so schnell du kannst.

Sie wusste nicht, was mit ihr los war, spürte nur eine unerklärbare Angst. Angst vor der undurchdringlichen Dunkelheit, Angst vor der unbekannten Umgebung, Angst davor, die schützende Hülle des Autos zu verlassen. Ihre Beine schienen wie gelähmt, ihr fehlte die Kraft, sie in Bewegung zu setzen. Als ob ein unsichtbares Ungeheuer hinter dem Dunkel auf sie wartete.

Von der Rückbank war ein tiefes Seufzen zu hören. Nele Harttvaller wandte sich um, sah, wie Elena ihren Kopf zur Seite schob, dann wieder in ruhige Atemzüge fiel. Die Gesichtszüge des Kindes wirkten friedlich und voller Vertrauen – den Sorgen der Mutter zum Trotz.

Sie spürte das Stechen in ihrem Unterleib, wusste, dass sie sich von dem Druck befreien musste. Du kannst es nicht länger hinauszögern, erledige die Sache jetzt endlich, bohrte es in ihr.

Sie schwang ihre Beine nach draußen, hörte das Schmatzen des Untergrunds in dem Moment, als ihre Schuhe auf dem Boden aufkamen. Ihre Füße waren augenblicklich nass. Sie richtete sich auf, stakste zur Seite, schien in einer endlosen Pfütze unterwegs. Als sie endlich trockenen Boden erreichte, quollen unzählige Rinnsale aus ihren Schuhen. Ausgerechnet an diesem Wasserloch muss ich halten, das darf doch nicht wahr sein!

Nele Harttvaller versuchte, die Feuchtigkeit von sich abzuschütteln, merkte, dass sie keine Chance hatte. Schuhe und Strümpfe troffen vor Nässe, jeder Schritt verursachte ein schmatzendes Geräusch. Sie stierte durch den dichten Nebel, sah die Umrisse mehrerer Bäume wenige Meter von sich entfernt.

Watschelnd wie eine Ente kämpfte sie sich zu ihnen vor, hielt dann am Rand eines breiten Stammes inne. Mit klammen Fingern machte sie sich an ihrer Hose zu schaffen. Sie befreite sich von der lästigen Kleidung, ließ sich nieder. Die seltsamen Geräusche waren genau in dem Moment zu vernehmen, als sie ihrem Drängen endlich freien Lauf ließ. Ein unregelmäßiges Knacken und Knirschen, wie von nicht allzu weit entfernten Schritten. Erschrocken starrte sie in die Umgebung. War da jemand im Dunkeln unterwegs? Hier, am Rand des Waldes?

Sie versuchte, sich auf fremde Geräusche zu konzentrieren, hörte nur das Plätschern ihrer eigenen Körperflüssigkeit, die sich in einem kräftigen Strom auf den Boden ergoss. Plötzlich, etwas entfernt, das Heulen eines Motors. Das Auto wurde lauter, erhellte mit dem Licht seiner Scheinwerfer die Straße, die draußen am Parkplatz vorbeiführte, verschwand schließlich in die andere Richtung. Und dann, sie hatte sich endlich vollends erleichtert, das Knacken und Knirschen von Schritten, jetzt deutlich näher, und mit einem Mal das charakteristische Schmatzen eines Schuhs, der in einen morastigen Untergrund taucht und schnell wieder daraus hervorgezogen wird – genau, wie es ihr gerade ergangen war, nicht weit von ihr entfernt. Sie tastete mit zitternden Fingern nach ihrem Slip, zurrte, zerrte, riss ihn in die gewünschte Position, griff dann nach ihrer Hose. Im gleichen Moment erkannte sie den Umriss eines Menschen unmittelbar vor ihrem Auto.

Nele Harttvaller verharrte mitten in ihrer Bewegung, versuchte, das Dunkel um sie herum mit ihren Augen zu durchdringen. Nein, sie täuschte sich nicht, es war keine Fata Morgana, der ihre Sinne hier erlagen. Eine unbekannte, in eine dicke Jacke und eine Wollmütze gehüllte Gestalt huschte zu ihrem Auto, sprang auf den Fahrersitz, warf die Tür hinter sich zu. Das Geräusch schallte laut, dem Schuss einer Waffe gleich, durch den Wald. Sie wollte schreien, laut und durchdringend, pumpte Luft in ihre Lungen, brachte keinen Ton hervor. Ihr Herz pochte, ihr Kopf drohte zu implodieren, die Stimmbänder versagten den Dienst. Lähmendes Gift schien in ihren Körper injiziert worden zu sein. Ohnmächtig wie eine Statue verharrte sie auf der Stelle.

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit gelang es ihr, sich langsam wieder in Bewegung zu setzen. Sie zog ihre Hose hoch, spannte die Muskeln an, kam wieder auf die Beine. Im gleichen Moment, als ihr markerschütterndes Schreien den Wald aus seiner Totenruhe riss, startete die unbekannte Person den Motor ihres Wagens. Nele Harttvaller warf sich nach vorne, preschte über den Rand des Parkplatzes, sah ihr Auto mit quietschenden Reifen davonrasen. Das Fahrzeug schlingerte nach rechts und nach links, hatte Mühe, die Zufahrt zur Straße zu erreichen, scherte dann in allerletzter Sekunde zur Seite und bog unmittelbar hinter einem mit hohem Tempo dahinschießenden Wagen auf die Fahrbahn. Mit aufheulendem Motor jagte es davon.

Schreiend und mit den Armen durch die Luft rudernd rannte Nele Harttvaller hinter ihrem eigenen Auto her. Schweiß schoss ihr aus allen Poren, das Herz hämmerte wild. Mein Kind, mein Kind, tobte es in ihrem Inneren. Um Atem ringend kämpfte sie sich über die Zufahrt auf die Straße, starrte in die dichte Nebelbank, die alles verschluckte. Jede Sicht und jedes Geräusch.

2. Kapitel

Vier Monate zuvor Junger, naturverbundener und seine Tiere liebender Bio-Landwirt sucht ebenso empfindende Frau. Bitte Bild von deinen Tieren beilegen.

Die Anzeige in der Juli-Ausgabe der bunten Zeitschrift hatte sie auf die Idee gebracht.

Claudia Steib hatte das großformatige, mit seinen prächtigen Naturaufnahmen und den vielfältigen Text- und Fotodokumentationen teilweise längst vergessener Traditionen wie ein Bilderbuch wirkende Heft aus dem Briefkasten gezogen und langsam durchgeblättert.

»Die Kontaktanzeige Seite 131 – das wäre doch eine Reportage für dich!«, hatte Markus Adler mit einem dicken, roten Stift auf seinem Begleitschreiben notiert und die Annonce selbst mit einem gelben Leuchtstift markiert. »Das Leben geht weiter. Ich freue mich auf deine Zusage!«

Der gute Markus, er hatte sie nicht vergessen. Kaum zu glauben, dass in der rauen Welt des Fernsehens noch solch eine Seele von Mensch existierte. Ein Redakteur, der sich um seine freien Mitarbeiter kümmerte, als handelte es sich um seine ihm anvertrauten Schutzbefohlenen.

Im gleichen Moment, als sie die Zeilen vor Augen hatte, war ihre anfängliche Skepsis verflogen. Die beiden Sätze hatten sie derart fasziniert, dass sie zum ersten Mal seit Monaten wieder jener Neugier verfallen war, der sie ihren beruflichen Erfolg zu einem großen Teil zu verdanken hatte. Viele ihrer mit Akribie und unermüdlichem Fleiß erarbeiteten Fernsehreportagen waren von der Öffentlichkeit und den übrigen Medien mit großer Aufmerksamkeit wahrgenommen und oft mit unverhohlener Bewunderung gefeiert worden. Kein Wunder, dass erste Kommentatoren darüber spekulierten, weshalb sie seit fast zwei Jahren nichts von sich hatte hören lassen.

Bitte Bild von deinen Tieren beilegen.

Markus hatte recht. Es musste sich um eine außergewöhnliche Person handeln, die die Wertschätzung ihrer Tiere selbst bei einem so heiklen Unterfangen wie der Partnersuche so unverhohlen zum Ausdruck brachte. Ob der Mann sich der skurrilen Wirkung seiner Sätze bewusst war? Ein aus der Zeit gefallener, einen dem offiziellen Mainstream nach längst überholten Lebensstil praktizierender Typ?

Claudia Steib spürte die aufkeimende Neugier, den Menschen hinter diesen Sätzen kennen zu lernen, sich ein Bild von ihm und seiner Weltsicht zu machen. Und ihn eventuell, wenn es gut lief, einem größeren Publikum vorzustellen.

Natürlich hatte sie zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen können, dass die auf den ersten Blick so belanglose Anzeige die ganze Sache ins Rollen bringen würde. Ausgerechnet dieses so liebevoll gestaltete Heft sollte der Auslöser dafür sein, dass sie endlich denen auf die Spur kamen, die das ganze Elend zu verantworten hatten – niemals hätte sie das vermutet. Und doch kam es so – wenn auch auf völlig andere Art und Weise, als sie sich das jemals hätte erträumen lassen.

3. Kapitel

November

Wie lange es dauerte, bis ihre Stimme endgültig verstummte, kein Mensch konnte es sagen. Nele Harttvaller stand allein mitten auf der Fahrbahn am Rand des Waldes und schrie sich ihre Verzweiflung aus dem Leib.

Der von einer mühseligen Spätschicht ermattete Fahrer, der genau in diesem Moment die Straße entlangkam, erkannte die einsame Gestalt erst in letzter Sekunde. Er riss sein Steuer nach rechts, schaffte es wie durch ein Wunder, ihr auszuweichen. Laut vor sich hinfluchend versuchte er, seinen alten Daimler wieder unter Kontrolle zu bringen. Das Fahrzeug schlingerte mehrere Meter über den Randstreifen, rasierte einen schmalen, mit letztem Herbstlaub geschmückten Busch, fand dann wieder auf den Asphalt zurück. Als es endlich zum Stehen kam, spürte er, dass er am ganzen Körper zitterte. Er rang um Luft, versuchte sich zu vergegenwärtigen, was gerade geschehen war.

Ein Mensch, irgendeine unbekannte Gestalt war plötzlich vor ihm aufgetaucht, hier, mitten auf der Straße in dieser einsamen, in tiefe Dunkelheit gehüllten Gegend. Ein Mann oder eine Frau? Er wusste es nicht, hatte keine Zeit gehabt, sich die Person genauer anzuschauen. Um ein Haar hätte die Begegnung böse geendet. Und jetzt?

Martin Faber wandte den Kopf, starrte durch die rückwärtige Fensterscheibe nach draußen, versuchte etwas zu erkennen. Vergeblich. Die Dunkelheit des Waldes und der Nacht verschluckte alles.

Er wusste nicht, was er von der Sache halten sollte, spürte immer noch den leichten Schock, den der Vorfall bei ihm ausgelöst hatte. Was wollte der oder die Unbekannte, wer immer es war, um diese Zeit hier mitten im Wald?

Ein sanftes, kaum merkliches Klopfen schreckte ihn aus seinen Gedanken. Ohne zu überlegen öffnete er die Tür, starrte zur Rückfront seines Wagens, wo er die Geräusche vernommen hatte. Eine kleine, auffallend nervöse Gestalt starrte zu ihm her.

»Mein Kind, mein Kind«, krächzte die Person.

Er sprang aus dem Auto, wurde sich jetzt erst bewusst, dass er eine junge Frau vor sich hatte.

»Mein Kind, mein Kind«, wiederholte sie mit seltsam heiserer Stimme.

Er lief vorsichtig auf sie zu, merkte, dass sie unstet hin und her trippelte. Am ganzen Körper zitternd starrte sie an ihm vorbei, die Straße auf und ab, immer dieselben Worte wiederholend.

»Ihr Kind?«, fragte er irritiert. Er folgte ihren fahrigen Blicken, sah nichts als dichten, dunklen Nebel. »Was ist mit Ihrem Kind?«

Sie schien seine Frage nicht verstanden zu haben, krächzte weiterhin ihr monotones: »Mein Kind, mein Kind.«

Irgendetwas stimmte hier nicht. Eine Falle? Ihn aus seinem Auto zu locken, um dann …?

Für den Augenblick einer Sekunde fühlte er sich tatsächlich in Gefahr. Aufgeregt starrte er nach allen Seiten, tastete die Dunkelheit mit seinen Augen nach potentiellen Feinden ab. Erst als die Frau laut loshustete, beruhigte er sich wieder. Er wandte den Blick, sah sie mit nach vorne gebeugtem Oberkörper mitten auf der Fahrbahn stehen. Sie schien heftig erkältet, hustete ohne Ende.

Mein Gott, wir stehen hier mitten auf der Straße, wurde ihm plötzlich bewusst, wenn jetzt ein Auto …

Er lief auf die Frau zu, ergriff ihren Oberarm, versuchte sie auf die Seite zu ziehen. Sie wehrte sich heftig, stieß ihn von sich weg, verlor das Gleichgewicht. Er sah sie vor sich auf den Asphalt stürzen, hörte ihr verzweifeltes Keuchen. Sie rang nach Luft, verfiel erneut in ihr rasselndes Husten. Er bückte sich nieder, legte ihr den Arm um die Schulter, versuchte sie hochzuziehen. Sie sträubte sich mit allen Kräften dagegen, holte heftig aus, stieß ihm den rechten Ellenbogen in den Leib. Er schnappte nach Luft, drohte für einen Moment, das Bewusstsein zu verlieren. Seine Füße verloren den Halt, er fühlte sich hart auf den kalten Boden geworfen. Mein Gott, was machst du hier, schoss es ihm durch den Kopf, mitten auf der Straße, wo jeden Augenblick …

Genau in dem Moment hörte er plötzlich das Dröhnen eines Motors. Erschrocken drückte er sich mit der rechten Hand vom Asphalt weg, versuchte aufzuspringen. Mühsam kam er auf die Beine, bückte sich ein letztes Mal, um die Frau mit sich zur Seite zu reißen, sah das Aufflammen der Scheinwerfer wenige Meter von sich entfernt. Er zerrte die widerspenstige Gestalt in die Höhe, nahm Anlauf, federte sich vom Boden ab. Mitten im Sprung sah er sich plötzlich voll vom grellen Licht des auf ihn zuschießenden Fahrzeugs erfasst.

4. Kapitel

Mehr als nur ein Schutzengel hatte da seine Hände über sie gehalten.

Das Auto war im Abstand von wenigen Zentimetern an ihnen vorbeigeschossen, seine Fahrt ungebremst fortsetzend. Nur das laute Hupen hatte erkennen lassen, dass der Kerl am Steuer mitbekommen hatte, dass er beinahe mit lebenden Wesen kollidiert war.

Am ganzen Körper zitternd kam Martin Faber auf dem nassen Gras des Randstreifens auf die Füße. »Sind Sie wahnsinnig?«, brüllte er. »Was soll das? Wollen Sie uns beide umbringen?« Er schrie sich seinen Zorn aus dem Leib, sah die flehende Miene der Frau auf sich gerichtet. Es schien, als hätte sie das gefährliche Geschehen überhaupt nicht wahrgenommen.

»Mein Kind, mein Kind«, verfiel sie wieder in ihr stereotypes Jammern.

»Was ist mit Ihrem Kind?«

Sie wies in die Richtung des Parkplatzes, holte tief Luft. »Weg. Elena ist weg. In meinem Auto.«

Er begriff überhaupt nichts. »Wo ist Ihr Auto?«

»Weg«, keuchte sie. »Mit Elena.« Sie schien um jedes Wort zu kämpfen. »Ich musste nur kurz …«

»Was?«

»Aus… austreten«, stotterte sie, »in die Büsche. Nur kurz und trotzdem …«

»Sie wollen mir sagen, Sie haben Ihr Kind in Ihrem Wagen zurückgelassen, weil Sie pinkeln mussten und in der kurzen Zeit …« Er verstummte, musterte irritiert ihr Gesicht.

Sie rang um Luft, nickte mit dem Kopf.

»Ihr Auto wurde gestohlen mitsamt Ihrem Kind?« Er wusste nicht, ob er ihr glauben sollte, sah ihre flehende Miene.

»Helfen Sie mir, bitte, mein Kind!«

Die Sache mit der angeblichen Entführung schien ihm reichlich dubios. Hier in dieser gottverlassenen Gegend sollte der Frau jemand aufgelauert und ihr Auto samt ihrem Kind gestohlen haben? Es gab nur zwei Möglichkeiten, überlegte er. Entweder sie war völlig durchgeknallt, irgendwo der Klapse entkommen – oder sie hatte recht. Wobei ihm die erste Version wahrscheinlicher schien.

»Bitte, helfen Sie mir. Mein Kind, mein Kind!«

Und wenn sie doch recht hatte? Wenn sie – allem Anschein zum Trotz – tatsächlich nur hatte pinkeln wollen und irgendeinem Verrückten zum Opfer gefallen war?

»Gut«, sagte er. »Wir rufen die Polizei. Moment, ich hole mein Handy.« Er lief zu seinem Wagen, kramte nach dem Mobiltelefon, spürte die Frau hinter sich.

»Bitte«, flehte sie. »Wir müssen Elena suchen. Sie ist weg.« Sie wies die Straße entlang Richtung Eningen.

»Haben Sie das Auto dorthin verschwinden sehen?« Er sah ihr eifriges Nicken, wusste nicht, wie er reagieren sollte. »Aber es hat doch keinen Sinn, einfach hinterherzufahren. Die sind doch längst auf und davon.«

»Bitte«, wiederholte sie. »Bitte.«

Er nahm sein Handy, gab den Notruf ein. »Ich informiere jetzt die Polizei«, erklärte er.

Das Geräusch eines nahenden Fahrzeugs ließ ihn unwillkürlich zur Seite treten. Er zog die Frau mit sich auf den Randstreifen, hatte die Stimme genau in dem Moment im Ohr, als das Auto vorbeijagte. Wie kann man bei dem Nebel nur so verrückt rasen, überlegte er.

»Ja, was ist los?«, tönte es aus dem Handy.

Martin Faber versuchte sich zu konzentrieren, nannte seinen Namen, erklärte den Grund seines Anrufs. Der Mann am anderen Ende hatte dieselben Schwierigkeiten, zu begreifen, wie er selbst.

»Moment, ich gebe Sie weiter an meine Kollegin«, erklärte er nach kurzem Zögern.

Er hörte die Stimme einer Polizeibeamtin, wiederholte seine Ausführungen.

»Sie wellet uns aber net verarsche?«, erkundigte sich die Frau.

»Hören Sie, ich weiß selbst, wie unglaubwürdig das klingt, aber ich stehe hier mitten im Wald und …«

Er spürte die Hand der Frau an seiner Schulter, sah ihren Fingerzeig Richtung Eningen. »Bitte«, flehte sie, »wir müssen Elena suchen.«

»Die Frau vermisst ihr Kind. Elena heißt es.«

»Elena. Und der Familienname?«

»Ich weiß es nicht. Ich muss sie erst fragen.«

»Dann tun Sie das bitte«, sagte die Beamtin in betont sachlichem Tonfall. »Und das Autokennzeichen und den Wagentyp benötigen wir ebenfalls.«

Martin Faber reichte der Frau sein Handy. »Hier, die Polizei. Sie wollen Ihnen helfen.«

Er sah die ratlose Miene seines Gegenüber, hörte die Worte, die sie nach einer Weile des Überlegens in das Mobiltelefon stammelte.

»Elena. Elena Harttvaller. Wo wir wohnen? In Ludwigsburg in der Beihinger Straße. Mein Auto, ja, es ist weg. Ein Golf. Weiß, ja. Das Kennzeichen?«

Ein Fahrzeug schoss an ihnen vorbei, hupte laut. Der Fahrer hatte sie offensichtlich bemerkt. Faber hörte die Frau eine Abfolge von Buchstaben und Zahlen aufsagen, nahm das Handy dann wieder entgegen.

»Wo genau soll das passiert sein?«, fragte die Beamtin.

Er erwähnte den Parkplatz, wies seine Gesprächspartnerin auf den angeblichen Fluchtweg Richtung Eningen hin.

Die Frau seufzte laut. »Dann sind die längst irgendwo im Gewühl um Pfullingen oder Reutlingen untergetaucht. Wenn es wirklich stimmt.«

Er hörte sie mit Kollegen sprechen, vernahm eine laute Stimme aus dem Hintergrund, die etwas von einem Unfall auf …

»Ein Unfall auf der Albstraße oberhalb von Eningen?«, rief er überrascht, »aber das ist ja genau unsere Richtung.«

»Die Kollegen sind bereits unterwegs«, antwortete die Beamtin. »Genaueres wissen wir noch nicht.«

»Ein Unfall?« Die Frau neben ihm schien vollends in Panik zu geraten. »Meine Elena?«

Er wollte der Beamtin seine Anschrift mitteilen, fühlte sich am Arm gepackt und zu seinem Fahrzeug geschoben. Das Handy rutschte ihm aus der Hand, fiel ins feuchte Gras. Schimpfend bückte er sich, nahm es wieder an sich.

»Meine Elena, bitte. Wir müssen sie suchen. Der Unfall, bitte.«

Martin Faber sah die flehende Geste der Frau, die zu seinem Auto zeigte, gab seufzend nach. Er unterbrach die Verbindung, nickte zustimmend, nahm hinter dem Steuer Platz. Er wartete, bis sie nachgekommen war und sich angegurtet hatte, spähte dann vorsichtig in beide Richtungen.

»Bitte«, begann sie erneut, »bitte.«

Er wendete das Auto mit quietschenden Reifen, folgte der Straße Richtung Eningen. Der Nebel schien kein Ende nehmen zu wollen, immer neue Schwaden hüllten die Umgebung in graue Dunkelheit. Das grelle Licht der Scheinwerfer war weitgehend machtlos.

»Sie fahren einen Golf«, erinnerte er sich an ihr Gespräch mit der Beamtin, »einen weißen Golf, ja?«

Die Frau neben ihm nickte, starrte mit weit aufgerissenen Augen nach vorne. Für den Moment einer Sekunde riss die Nebeldecke auf, gab den Blick auf das im Dunkeln liegende, von unzähligen Lichtern erleuchtete Albvorland frei. Unmittelbar darauf hatte die dicke, graue Suppe alles wieder im Griff.

Martin Faber spürte, dass das Auto leichter lief, lenkte es vorsichtig in eine Kurve. »Es geht abwärts auf Eningen zu«, sagte er.

Das seltsame, rötliche Flackern war schon von Weitem durch den dichten Nebel zu erahnen. Er wusste nicht, was es zu bedeuten hatte, glaubte zuerst, dass sein Ursprung weit von der Straße entfernt liege. Erst nach einer weiteren Kurve merkte er, dass sie direkt darauf zusteuerten.

»Was ist das?«, flüsterte die Frau.

Er bremste den Wagen ab, entdeckte das meterhoch in den Himmel lodernde Flammenheer unterhalb der Fahrbahn im gleichen Moment wie seine Nachbarin.

»Mein Kind, mein Kind«, schrie sie plötzlich los. »Elena, Elena, was ist passiert?«

Martin Faber brachte den Daimler hinter zwei wahllos am Straßenrand geparkten Autos zum Stehen, lief zur Böschung. Eine Handvoll aufgeregter Menschen stand unmittelbar am Steilabfall des Geländes und starrte nach unten. Faber beugte sich über den Abgrund und starrte in die Tiefe. Das lichterloh brennende Auto hing etwa zwanzig Meter tiefer auf einem schmalen Vorsprung. Beißender Geruch lag in der Luft, stechend und giftig. Verschmorte Kunststoffe, glühendes Metall, kokelnde Reifen. Jeder Atemzug schmerzte. Er musterte das brennende Fahrzeug, sah es auf den ersten Blick: ein Golf, ein weißer Golf.

»Mein Kind!«, schrie es neben ihm.

Er hörte das herzzerreißende Schluchzen, bemerkte die zur Grimasse verzerrte Miene der Frau. Sie schien Anlauf nehmen und in den Abgrund springen zu wollen. Faber packte sie am Arm, versuchte sie festzuhalten. Sie wand sich hin und her, verfiel in heftiges Husten. Er spürte, wie seine Kräfte schwanden, zog sie vom Rand der Straße zurück.

Der beißende Gestank war kaum mehr auszuhalten. Er schnappte nach Luft, spürte die giftigen Dämpfe in seine Lungen dringen. Er hustete, trat mehrere Schritte zurück, wartete, bis sich die Wolke etwas verzogen hatte. Seine Schleimhäute signalisierten immer noch keine Entwarnung. Schmorende Kunststoffe, glühendes Metall, kokelnde Reifen. Und jetzt noch eine weitere, besonders widerliche Komponente. Ekelerregend, den Atem raubend, kaum auszuhalten. Der Geruch von verbranntem Fleisch.

Um Gottes willen, tobte es in Faber.

5. Kapitel

Drei Monate zuvor

Der Mann hatte tatsächlich auf ihr Schreiben reagiert. Zwar nicht ganz so schnell, wie Claudia Steib sich das erhofft hatte, aber immerhin. Drei Wochen, nachdem sie ihren Brief auf herkömmliche Weise in einen gelben Briefkasten geworfen hatte, war die Antwort bei ihr eingetroffen. Als einseitiges, mit etwas verschnörkelter Schrift ausgeführtes Schreiben auf weißem, unliniertem Papier.

Liebe Claudia, ganz herzlichen Dank für Deinen Brief!

Ich greife jetzt zu meinem Stift, obwohl es mir schwer fällt, einem Menschen meine Gedanken anzuvertrauen, den ich überhaupt nicht kenne. Du bist eine von insgesamt sechs Personen, die bisher auf meine Zeilen in dem bunten Heft geantwortet haben. Du lebst zwar nicht mit Tieren zusammen, wie Du schreibst, und kannst mir deshalb auch nicht das gewünschte Bild schicken, willst aber meine Tiere und mich dennoch gerne kennen lernen. Nicht allein aus persönlichem Interesse, sondern auch weil du beruflich damit befasst bist, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die ihren eigenen Weg gefunden haben und diesen gegen alle Widerstände gehen.

Bin ich das wirklich wert? Ich glaube nicht. Ich bin nur ein einfacher Landmensch, der seinen Tieren und der Natur mit der Achtung begegnet, die alle Lebewesen verdient haben, nicht mehr und nicht weniger. Dass das heute nicht mehr selbstverständlich ist, stimmt mich sehr traurig. Wenn es Dir aber trotzdem genug Ansporn sein sollte, mich zu besuchen, will ich Dich nicht davon abhalten. Am liebsten in meiner vertrauten Umgebung auf der Alb nicht weit von Aalen. Wie Du mich findest, entnimmst Du bitte dem auf der Rückseite aufgezeichneten Plan. Hier bin ich jederzeit zu erreichen.

Ich freue mich auf unsere Begegnung!

Samuel Lieb

Der Brief war alles. Keine Straße, keine Hausnummer, nichts von einem Telefon oder einer E-Mail-Adresse, überhaupt kein Hinweis darauf, wie sie direkt miteinander in Verbindung treten konnten. Der Mann schien wirklich aus der Zeit gefallen.

Claudia Steib war die Zeilen mehrfach durchgegangen, dann am vorletzten Satz hängen geblieben. Hier bin ich jederzeit zu erreichen.

Logisch, hatte sie überlegt. Der konnte seinen Hof nie für längere Zeit verlassen. Seine Tiere waren darauf angewiesen, dass er sich ständig um sie kümmerte. Jeden Tag, ohne Ausnahme. Ihn ohne Anmeldung zu besuchen, war also wohl jederzeit möglich. Sie würde ihn auf jeden Fall antreffen, irgendwo auf seinem Anwesen oder in dessen Nähe.

Zwei Tage nachdem sein Brief bei ihr eingetroffen war, hatte sie sich deshalb auf den Weg gemacht, morgens, kurz nach neun. Direkt in Waiblingen auf die Bundesstraße 29 und dieser folgend bis Aalen. Ein typischer Tag Mitte August. Drückende Hitze schon am Morgen, verbunden mit so hoher Luftfeuchtigkeit, dass schon bei der kleinsten Anstrengung der Schweiß aus den Poren schoss. Die Luft flimmerte, tauchte die Umgebung in ein diesiges Licht. Die Anhöhen der Berge beidseits des Remstals waren nur in Umrissen zu erahnen.

Claudia Steib passierte die hoch aufragenden Mauern des Klosters Lorch, wenige Minuten später die Silhouette der Altstadt Schwäbisch Gmünds. Erinnerungen an ihre Schulzeit kamen ihr in den Sinn, Gedanken an all die vielen Stunden, die sie von einer weit entfernten Zukunft träumend in den Räumen des Parler-Gymnasiums verbracht hatte. Mehr als zwei Jahrzehnte war das jetzt her, Teile ihrer Träume waren tatsächlich wahr geworden. Von den Bänken des Parler-Gymnasiums aus war sie in die weite Welt gezogen, voller Hoffnungen und Ideale, hatte fremde Menschen und Länder kennen gelernt, das Studium der Anglistik und Romanistik erfolgreich absolviert, dann ihren Traumberuf ergriffen …

Sie wollte nicht schon wieder daran erinnert werden, riss sich aus ihren Gedanken. Konzentriere dich auf dein Vorhaben, hörte sie ihre innere Stimme, lass die Vergangenheit ruhen. Es ist nicht zu ändern, lass es endlich sein. Schau in die Zukunft, nimm einen neuen Anlauf.

Sie hörte die künstliche Stimme ihres Navigationsgerätes, stellte fest, dass sie Aalen erreicht hatte. Die Beschilderung forderte ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie versuchte sich zu orientieren, ordnete sich neu ein. Zehn Minuten später hatte sie den steilen Anstieg der Ostalb erklommen. Sie schaute nach draußen, glaubte, in eine andere Welt eingetaucht zu sein. Die gesamte Szenerie um sie herum hatte sich grundlegend geändert. Der undurchdringliche Dunst war verschwunden, hatte weiter, klarer Sicht Platz gemacht. Kein flimmerndes, fast unwirkliches Licht mehr, sondern kräftige Farben, wohin sie auch sah. Intensiv blauer Himmel über üppig grünen Wiesen und Wäldern. Siedlungen und Straßen, überhaupt jeder Hinweis auf moderne menschliche Zivilisation schienen dagegen nur noch spärlich vorhanden.

Claudia Steib öffnete das Fenster einen Finger breit, spürte augenblicklich die frische Luft, die ins Innere strömte. Es hatte deutlich abgekühlt. Auf der Hochfläche der Alb herrschten im Sommer angenehmere Temperaturen als unten im Vorland. Im Winter dagegen fühlten viele sich hier oben wie im tiefsten Sibirien.

Sie atmete durch, hörte die Computerstimme ihres Navis: »Sie haben Ihr Ziel in fünfhundert Metern erreicht.«

Erstaunt blickte sie sich um, sah, dass sie sich einer Handvoll Häuser näherte. Kleine, in großzügigem Abstand voneinander errichtete Gebäude mit roten Ziegeldächern, von breiten, weit ins Land reichenden Weiden und Feldern gesäumt. Sie bremste das Auto ab, fuhr langsam auf das winzige Siedlungsensemble zu. Zwei mächtige, mit dichtem Laub bewachsene Bäume beidseits der Straße schirmten die Häuser vor allzu neugierigen Blicken ab. Hühner und Gänse tummelten sich im Gras, eine kleine, grau getigerte Katze schlief eingerollt auf einem von der Sonne erwärmten Strohballen. Keinen Meter weiter fläzte sich ein mittelgroßer Hund im Staub des Straßenrandes, wohlig alle viere von sich streckend.

Sie passierte die Bäume, suchte das Gelände nach einer günstigen Parkmöglichkeit ab. Gleich hinter dem ersten, von einer sauberen, weißen Fassade und einem roten Ziegeldach geprägten zweistöckigen Haus glaubte sie, einen geeigneten Platz gefunden zu haben. Claudia Steib stellte ihren Wagen ab, nahm den Schlüssel aus alter Gewohnheit an sich. Unwillkürlich musste sie über ihre instinktive Vorsicht lachen. »Vorsicht, Diebstahl!«, sagte sie laut zu sich selbst.

Sie öffnete die Tür, stieg aus dem Auto. Der kräftige, mit einer etwas abgetragenen Jeans bekleidete Mann trat in dem Moment aus dem Schatten des Stalls in die grelle Sonne, als sie sich zur Seite drehte. Sie blieb stehen, betrachtete ihn und das kleine, beigefarbene Bündel, das er in seinen muskulösen Armen vor sich hertrug. Vorsichtig, wie ein treu sorgender Vater sein kleines Kind. Sie musste nicht näher auf ihn zugehen, um zu begreifen, um was es sich handelte. »Mäh, mäh.« Die zaghaften Rufe des Tieres waren nicht zu überhören. Ein Bild wie aus einem vergangenen Jahrhundert.

Ich glaube, ich bin richtig, überlegte sie, so in etwa habe ich das erwartet.

Sie löste sich von ihrem Wagen, lief auf den Mann zu.

6. Kapitel

November

Frühschicht. So eine Frechheit! Jeder anständige Mensch hatte das Recht auf angemessene Nachtruhe. Jedes Tier verharrte in seiner Höhle, solange draußen die Nachtgeister spukten. Bei Dunkelheit verließ niemand freiwillig seinen Bau. Nur er sollte den Blödmann spielen. Ausgerechnet er.

»Ausgebranntes Auto«, hatten sie ihn aus dem Schlaf gerissen, eine Stunde vor Dienstbeginn.

»Na, und? Was geht mich das an? Brennende Autos gibt’s jeden Tag!«

»Sieht so aus, als hätt’s oin erwischt.«

»Oin? Was soll das denn sein?«

»Ein Mensch. Ein lebendiger Mensch.«

»Ein lebendiger Mensch? Na, wenn der Karren ordentlich gebrannt hat, wird der Typ nicht mehr so lebendig sein«, hatte er geantwortet.

»So isch es. Deshalb rufet mir au a. Oder glaubet Sie, mir wendet uns freiwillig ans Landeskriminalamt, wenn Sie Dienscht hent?«

Dass und wie der Kerl das Sie betont hatte, war nicht zu überhören gewesen. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Dass Sie sich endlich uffmache und die Sach agucke sollet.«

Uffmache und die Sach agucke. Die Ausdrucksweise des Mannes bereitete ihm physische Schmerzen. Mit was für Bauerntölpeln hatte er es hier wieder zu tun? Tagtäglich musste er sich dieses unverständliche Gestammel anhören. Warum nur hatte er sich dazu verleiten lassen, in diese zivilisationsfeindliche Berglandschaft zu ziehen?

»Kommet Sie jetzt endlich?«, geiferte die Stimme am anderen Ende. Und auch das: »So ein Halbdackel, dieser Fischkopf!« war noch deutlich zu vernehmen.

Bent Knudsen donnerte den Hörer auf den Apparat. Musste er sich das wirklich antun? Morgens, zwei Minuten vor fünf? Ausgebranntes Auto am Albaufstieg über Eningen. Mensch an Bord. Warum war der Blödmann nicht rechtzeitig ausgestiegen? Nur um ihn jetzt unnötig zu belästigen? Einem Vertreter dieses Bergvolkes war das wirklich zuzutrauen. Er lebte jetzt lange genug hier, um zu wissen, wie diese Leute funktionierten, auch wenn er ihre grauenvolle Sprache nur in Teilen verstand. Eine Sprache, die ihn oft genug zur Verzweiflung trieb. Ein seltsames Ziehen kroch ihm dann über den halben Rücken, wenn er nur an einige der schlimmsten Ausdrücke dachte.

Hent Sie koi scheeneres Jäckle? Des ghört doch mol in d’Reinigung, moinet Sie net?

Die süffisanten Bemerkungen seiner dämlichen Vermieterin. Betonung auf dämlich. Als ob er nicht selbst wüsste, wie abgenutzt seine Klamotten waren. Die affige, ständig in eine Parfümwolke gehüllte Tusse hatte gut reden. Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Sein Konto war leer, der Kredit ausgeschöpft bis zum letzten Rest. Und weshalb? Er durfte nicht daran denken. Alles, nur das nicht.

Bent Knudsen schlüpfte in seine Kleidung, schnallte sich den Gurt mitsamt der Waffe um. Das kalte Metall an seiner Hüfte zu spüren, tat immer gut. Gleich, wohin der Weg führte. Man wusste nie, wem man begegnete. Nicht hier unter den Bewohnern dieser Bergregion.

Er lief zur Tür, warf sich den Schal um den Hals, schlüpfte in seine Jacke. Zum Glück musste er um diese Zeit nicht damit rechnen, seiner dämlichen Vermieterin zu begegnen. Der einzige Vorteil der Frühschicht, dass ihm deren Visage und Gesülze erspart blieb. Und so manch andere Visage dazu, überlegte er.

Fünfundvierzig Minuten später war er am Unfallort angelangt. Ohne Navi hätte er die Stelle kaum gefunden, obwohl sie nur wenige Kilometer hinter Reutlingen lag. Albstraßen und Albaufstiege gab es hier schließlich an allen Ecken und Enden. Berge links, Berge rechts, Berge überall. Ein Bergvolk eben. Nichts als beschränkte Horizonte.

Er parkte den Dienstwagen, nahm die hell erleuchtete Szenerie mehrere Meter oberhalb ins Visier. Gaffende Vollidioten, wohin er auch sah. Vor Neugier sabbernde, geifernde, stierende Bergbewohner. Von einem verunglückten oder ausgebrannten Auto keine Spur. Nicht einmal ein Leichenwagen war zu sehen. Hatten die das Opfer etwa schon weggebracht?

Es handle sich wohl um ein Kind, das mitsamt dem Auto entführt worden sei, hatten ihm die vor Ort tätigen Beamten fernmündlich erklärt. Leider könne man es immer noch nicht genau sagen, weil sich der Wagen etwa zwanzig Meter unterhalb der Straße dermaßen verkeilt habe, dass es bisher noch nicht gelungen sei, ihn zu bergen beziehungsweise seine Überreste samt Inhalt zu inspizieren, hatten sie ausgeführt.

Knudsen folgte der Straße bergan, stieß einen der Gaffer, der ihm den Rücken zuwandte, zur Seite.

»Aua, du daube Sau!«, zeterte der Mann. »Bass doch uff!«

Bent Knudsen spürte das seltsame Ziehen auf seinem Rücken, bugsierte den nächsten Neugierigen aus dem Weg. Ähnliche Reaktion. Er war vor dem rot-weißen Absperrband angelangt, sah einen großen Abschleppwagen vor sich, der sich unter kräftigem Hupen gerade in Bewegung setzte, genau auf ihn und die gaffende Menge zu. Wenige Meter hinter dem Fahrzeug lag das stark demolierte, völlig ausgebrannte Wrack eines Pkws. Verwundert bemerkte Knudsen, dass das bullige Fahrzeug das verunglückte Auto an Ort und Stelle zurückließ. Er stellte sich ihm mitten in den Weg.

Die Reaktion des Fahrers ließ nicht lange auf sich warten. Augenblicklich stoppte er den Wagen und streckte seinen Kopf aus dem Fenster. »Beweg doch endlich deinen Arsch zur Seit, du Säckel!«, brüllte er. »Sonscht fahr i di über de Haufe!«

Knudsen zeigte keine Reaktion, sah einen jungen, uniformierten Beamten auf sich zulaufen.

»Hallo Sie, hent Sie koi Auge im Kopf? Die Absperrunge do sind extra für solche Bachel wie Sie!«

Er zog seinen Ausweis, streckte ihn dem Kollegen hin.

Die Miene des Mannes verwandelte sich im Augenblick einer Sekunde in freundlichstes Lächeln. »Oh, Herr Kommissar! Grüß Gott, i han Sie net kennt«, entschuldigte er sich und zeigte auf das verbrannte Wrack. »A scheene Bescherung, was?«

Bescherung? Was wollte der Bergvolkjungmann mit Weihnachten? Bis dorthin waren es noch einige Wochen, wenn er sich richtig erinnerte. Knudsen verkniff sich sein »Moin, moin«, weil er sich die immer gleiche seltsame Reaktion auf seinen Gruß ersparen wollte. Ungläubig starrende Gesichter, Kopfschütteln, Gegenfragen: »Wie bitte? S’isch doch noch dunkel«, oder wie diese Bergsteiger das formulierten.

»Ja, was isch jetzt?«, hörte er die Stimme des Abschleppwagenfahrers. »Ganget Sie jetzt aus dem Weg?«

»Wieso nehmen Sie den Unfallwagen nicht mit? Sind die Leichen noch nicht geborgen?« Er wandte sich zur Seite, betrachtete das vorne und an der Seite demolierte und vollständig ausgebrannte Wrack, das wenige Meter vom Abhang entfernt auf der Böschung lag. Sämtliche Scheiben zerborsten, die gesamte Karosse schwarz verrußt, Brandgeruch. Die Luft schmeckte nach verkohltem Kunststoff, giftigem Lack, verkokelten Reifen. Und nach einer weiteren, besonders unangenehmen Komponente.

Knudsen hob die Nase, schnüffelte. Fleisch, tatsächlich verbranntes Fleisch.

»Die hent mir grad im Moment rausgholt«, gab der junge Beamte zur Antwort und verzog sein Gesicht. »Oh, pfui Teufel! Do isch nemme viel übrig!« Er winkte mit der Hand ab, versuchte sich dann in etwas gestelzt klingendem Hochdeutsch. »Der Gerichtsmediziner besteht darauf, dass das Auto noch hier bleibt. Er will es selbst untersuchen. Mir hent die halbe Nacht braucht, das Fahrzeug zu berge. Es isch heut Nacht da nuntergfloge. Der hats vorhin erscht hochzoge.« Er zeigte auf den Abschleppwagen. »Der Gerichtsmediziner isch noch bei der Arbeit.«

Knudsen lief ein paar Schritte zur Seite, sah einen mit einer dicken Jacke bekleideten, dunkelhaarigen Mann, der in gebückter Haltung mit einem Gegenstand unmittelbar neben dem Unfallwagen beschäftigt war. Der stechende Geruch verbrannter Materialien lag in der Luft. Er trat näher, murmelte ein vernuscheltes »Moin«, ahnte, dass es sich bei der völlig verbrannten Masse vor ihm um die Überreste eines Menschen handelte, eines sehr kleinen Menschen. Er sah, wie der Mann mit einem Skalpell in dem dunklen, teigigen Material pulte, hatte den widerlichen Gestank mit einem Mal in der Nase. Angeekelt wandte er sich zur Seite. »Pfui Teufel!«, schimpfte er.

»Das haben Leichen nun mal an sich«, hörte er neben sich, »ob verbrannt oder nicht.«

Er drehte sich wieder um, hatte den Gerichtsmediziner vor sich. Der Mann war dabei, sich aufzurichten, schälte sich die Arbeitshandschuhe von den Fingern.

»Schäffler«, stellte er sich vor. »Sie sind der ermittelnde Kommissar?«

Der Gestank war fast nicht auszuhalten. Missmutig zog er die Lippen auseinander, presste ein kaum verständliches »Knudsen« hervor. Er nickte kurz, deutete mit einer kurzen Kopfbewegung auf den Boden. »Ein Kind?«