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Nadja Quint

Rosa Mord

Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Verachte nicht den Tod
Das Mädchengrab
Rosa Mord

Nadja Quint wurde 1959 in Herford geboren. Sie lebt in Düsseldorf und arbeitet als Fachärztin für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Bevor sie sich dem Krimi widmete, veröffentlichte sie TV-Sketche, u. a. für die Serie »Sechserpack« (Sat1).

Nadja Quint

Rosa Mord

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Originalausgabe

Inhalt

Die Farbe

Der Verkäufer

Die Wohnung

Die Obduktion

Die Helferin

Der Freund

Das Wohnheim

Die Tochter

Die Obduktion

Das Buch

Die Partei

Der Brief

Die Wendung

Die Insel

Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe,
als sie verdienen
.

Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916)

Die Farbe

Es war Anfang April, kurz nach Ostern, seit dem vergangenen Sonntag galt die Sommerzeit. Annika Hähnlein störte sich nicht an den vorgestellten Uhren. Es machte ihr nichts aus, dass der frühe Morgen nun dunkler war als noch in der Woche zuvor. Im Gegenteil: Sie freute sich auf das Frühjahr.

Um sechs Uhr ging sie joggen, zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter. Das Thermometer vor dem Fenster ihres alten Mädchenzimmers zeigte fünf Grad Celsius an. In den letzten Tagen war es wieder kühler geworden, der Frühling tat sich schwer. Annika zog ein zweites T-Shirt unter ihre Sportjacke und verließ das Haus. Vor der Tür schlug ihr eine Windböe entgegen, die Luft fühlte sich kälter an als die angegebenen fünf Grad, immerhin war es trocken.

Annika setzte sich in Bewegung. Hier am Lessingplatz hatte man in den vergangenen Jahren viele der Gründerzeithäuser saniert, entsprechend stiegen die Mieten. Die Bewohner des Viertels galten als anständige Leute, Annika brauchte sich nicht zu fürchten, auch nicht im Dunkeln. Außerdem waren die Straßen belebt, der Berufsverkehr hatte längst eingesetzt. Sie überquerte die Kruppstraße und kam zum Zeitfeld am Eingang des Volksgartens. Auf hohen Stangen standen vierundzwanzig Bahnhofsuhren, ihre Zeiger stimmten exakt überein: 6.09 Uhr. Annika schlug den Weg zum alten Bootshaus ein und lief an der Düssel entlang. Reflektoren an der Sporthose und ein roter Blinkstreifen quer über der Brust gaben ihr Sicherheit. Auf Musik verzichtete sie beim Joggen. Lieber hörte sie die Geräusche der Umgebung und den Rhythmus ihrer Schritte. Wenn sie das leise Platschen ihrer Schuhe auf dem feuchten Belag der Parkwege hörte, fühlte sie sich lebendig.

An diesem Morgen waren weniger Leute unterwegs als sonst. Das mochte am Wetter liegen oder an der Zeitumstellung. Annika grüßte die anderen Läufer mit freundlichem Nicken, ganz gleich, ob sie ihnen schon einmal begegnet war oder nicht. Seit sie in Bochum studierte und nur noch während der Semesterferien in Düsseldorf wohnte, waren ihr die Jogger im Park nicht mehr so vertraut. Früher hatte sie hier fast jeden gekannt.

Der Weg gabelte sich. Sie bog ab in Richtung Rhododendren-Tal. Im Frühsommer, wenn die Stauden in voller Blüte standen, gehörte das Tal zu ihren Lieblingsstrecken. Annika bewegte sich mutig durch die Welt, bis jetzt hatte sie immer Glück gehabt.

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Auch Peter und Sabine Menzel zog es an diesem Morgen in den Volksgarten. Erst am Vorabend war Sabine mit ihrer Strickarbeit fertig geworden, immer wieder hatte sie den Sitz der Gucklöcher in den Gesichtsmasken überprüft. Sie ließen sich erstaunlich angenehm tragen. Dank des beigemischten Polyamids kratzte die schwarze Wolle nicht auf der Haut.

Sabine und Peter hatten alles genau geplant. Noch am vergangenen Wochenende waren sie im Volksgarten gewesen, um ein letztes Mal die Laufstrecke zu begutachten. Im Rhododendren-Tal standen die Stauden besonders nah am Parkweg, diese Stelle schien ihnen ideal.

Trotzdem waren Peter letzte Zweifel geblieben. »Und du bist sicher, dass hier morgens keine Polizei rumläuft?«

»Um sieben sitzen die noch beim Frühstück«, hatte Sabine in einem Ton geantwortet, als würde sie die Dienstgewohnheiten der Polizisten genau kennen. »Da gehen die noch nicht Streife. Schon gar nicht direkt nach der Zeitumstellung, wenn es morgens wieder dunkel ist.«

Daraufhin hatte Peter genickt, wenn auch nicht restlos überzeugt.

Nun war es soweit. Im Audi fuhren sie zum Volksgarten und parkten bei den Sportanlagen. Die schmale Seitenstraße war menschenleer, dennoch zögerte Peter, bevor er ausstieg.

»Uhrenvergleich!«, forderte er, seine Stimme zitterte.

»Nullsechszwozwei«, antwortete Sabine prompt.

Peter nickte. »Bei mir auch.«

Obwohl die Scheiben des frisch gewaschenen Wagens einen unverstellten Rundumblick boten, schob Peter die Fahrertür nur langsam auf und lugte hinaus. Immer noch war kein Mensch zu sehen. Leise stieg er aus.

»Das klappt schon.« Sabine griff die Tasche, die sie neben ihren Füßen abgestellt hatte. Peter schloss den Wagen ab, sie hakte sich in seinen Arm ein. »Ist doch alles prima. Wir sind ein älteres Ehepaar, das nicht mehr viel Schlaf braucht. Und jetzt machen wir einen kleinen Morgenspaziergang.«

Peter nickte, sein Herz schlug bis zum Hals.

»Du hast doch alles? Auch die Pistolen?«

Sabine lächelte. »Ja sicher. Das kriegen wir schon hin, und es wird ganz wunderbar.«

Seite an Seite schlenderten sie zum Parkeingang und gingen dann weiter zum Rhododendren-Tal. Niemand begegnete ihnen, ungehindert erreichten sie ihren Tatort. Hier war es schon deutlich dunkler als auf den Hauptwegen. Sabine holte die Taschenlampen hervor.

»Die Mützen noch nicht«, flüsterte Peter. »Die setzen wir erst zum Schluss auf.«

»Ich geb sie dir aber schon mal.« Sabine drückte ihm seine Strickmaske und eine Pistole in die Hand. »Und jetzt auf Position. Los!«

An der schmalsten Stelle des Weges drängten sie sich in die Büsche, Sabine links, Peter rechts. Entschlossen zogen sie sich die Maske übers Gesicht, die Augenlöcher saßen perfekt, auch die Pistolen lagen gut in der Hand.

Sie warteten. Sie horchten.

Endlich! Die Laufschritte kamen näher.

Sabine nickte aufgeregt. »Jetzt!«

Von beiden Seiten sprangen sie auf den Weg. Es war genau der richtige Moment.

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Annikas Laufstrecke führte zu den Sportanlagen am nordöstlichen Ende des Volksgartens. Sie sah hinüber zu den Häusern hinter dem Fußballplatz. Es begann zu dämmern. Über den Dächern stieg weißer Dampf in die kalte Luft auf. Wie so oft beim Anblick rauchender Schornsteine erinnerte sie sich an ein Erlebnis aus ihrer Kindheit. Damals lebte sie mit ihren Eltern in einer Wohnung auf der fünften Etage. Kurz nach ihrem sechsten Geburtstag stürmte eines nachts ein Mann in ihr Zimmer. Er rief ein paar Worte, die sie nicht verstand. Sie schrie laut auf, doch der Mann nahm keine Rücksicht. Er schlug ihre Decke zur Seite, riss sie aus dem Bett und presste ihr ein nasses Tuch aufs Gesicht. Sie schrie und schrie, der Mann drückte das Tuch fester gegen ihren Mund. Wie durch einen Nebel hörte sie seine Worte, seine Aufregung machte ihr Angst. Doch plötzlich verstand sie ihn besser. Er sagte etwas Freundliches, es war der Mann aus der Nachbarwohnung. Annikas Eltern verbrachten diesen Abend in einem Restaurant. Das wusste Annika, und sie wusste auch, dass die Nachbarn auf sie aufpassen würden. Aber sie begriff immer noch nicht, was da gerade passierte. Mit Annika auf dem Arm hetzte der Mann in den Hausflur und die Treppen hinunter. Sie rang nach Luft und begann zu würgen. Aber der Mann presste das Tuch weiter auf ihr Gesicht.

Ein paar Wochen zuvor war ihre Großmutter gestorben. Annika hatte versucht, sich vorzustellen, wie das wohl sein könnte, das Sterben und das Totsein.

Jetzt gehe ich tot, dachte Annika in diesen Sekunden, als sie glaubte zu ersticken. So ist das, wenn man stirbt. Bei Oma war das auch so.

Doch Annika starb nicht. Der Nachbar brachte sie sicher ins Freie. Seine Frau, die schon draußen war, nahm Annika das Tuch vom Gesicht und half ihr, als sie sich kurz übergeben musste. Während sie noch einige Male würgte, hörte sie die Sirenen der nahenden Feuerwehrautos. Dann wurde alles gut. Die Nachbarin wiegte Annika in ihren Armen und sprach ihr aufmunternd zu. Kurz darauf kamen Annikas Eltern zurück, und die Feuerwehr löschte den Brand. Nach weniger als zwei Stunden konnten die Mieter wieder in die Wohnungen. Annika schlief zwischen ihren Eltern friedlich ein. Am nächsten Morgen erklärten sie ihr, dass in der Wohnung über ihnen eine kaputte Elektroheizung Feuer gefangen hatte. Sie luden die Nachbarn zum Essen ein und redeten über den Brand. Annika war stolz darauf, was sie erlebt hatte.

Der Qualmgeruch hielt sich noch wochenlang im Haus, aber Annika hatte ihre Angst überwunden. Seitdem glaubte sie an eine höhere Kraft, die es gut meinte mit ihr und ihrem Leben. Auch an diesem Morgen glaubte sie daran.

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»Halt! Überfall!« Sabine richtete die Waffe auf den Jogger. Der junge Mann blieb stehen. Peter leuchtete ihm ins Gesicht. Der Läufer erstarrte, es vergingen ein paar Schrecksekunden, dann lachte er auf.

Genauso hatte Sabine es von ihm erwartet, sie kannte ihn seit dreißig Jahren, er merkte schnell, was los war. Sie fiel ihm um den Hals und drückte ihn an sich.

»Sekt oder Leben?!«, schrie Peter ausgelassen.

Er und Sabine rissen sich die Masken vom Kopf und umarmten ihren Sohn, alle drei lachten. Schließlich holten sie Sekt und Gläser aus der Tasche und stießen mit ihrem Sohn auf seinen dreißigsten Geburtstag an.

Jan-Philipp wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Ich hab mir ja schon gedacht, dass ihr irgendwas Verrücktes plant. Aber so eine Nummer hätte ich euch echt nicht zugetraut.«

Peter legte den Arm um seinen Sohn. »Woran hast du denn gemerkt, dass wir das sind?«

»Ich gebe euch einen Tipp.« Jan-Philipp ließ sich von seiner Mutter auf beide Wangen küssen. »Wenn ihr mich wieder mal überfallen wollt, dann besser nicht mit meinen alten Spielzeugpistolen. Die erkenne ich nämlich sofort.«

Sie lachten noch mehr, Peter schenkte nach, wieder prosteten sie sich zu. Doch als die Gläser ihre Lippen berührten, erstarrten sie. Aus der Nähe drang der gellende Schrei einer Frau. Einen Augenblick lang standen die drei Mitglieder der Familie Menzel wie erstarrt, dann ließen sie ihre Gläser fallen und rannten los. Keine hundert Meter weiter, am Ende des Rhododendren-Tals, stießen sie auf eine Joggerin, die offenbar gestürzt war. Neben ihr lag etwas, Peter richtete seine Taschenlampe darauf. Es war ein Mensch, ein schlanker Mann. Die dunkelblonden Haare fielen ihm in breiten Strähnen über die Stirn, die Augäpfel quollen fahlweiß unter halb geschlossenen Lidern hervor. Der Kopf war zur Seite gedreht, ein Rinnsal rosaroter Farbe lief am Kinn herab und tropfte auf den Parkweg.

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An diesem Morgen wachte Kriminalhauptkommissarin Evelyn Eick zu früh auf, sie hatte schlecht geträumt. Es war zwanzig vor sechs, erst um halb sieben würde ihr Wecker klingeln. Selbst wenn sie wieder einschlafen könnte, lohnte sich das kaum. Evelyn beschloss, die gewonnene Dreiviertelstunde für einen Friedhofsbesuch zu nutzen. Im letzten Herbst war ihr Vater gestorben.

Evelyn stand auf und ging ins Bad. Ihr fiel ein, dass sie am Vortag schon vergessen hatte, dem Hausmeister Bescheid zu geben. Die Wassertemperatur ließ sich nicht mehr regeln, schon seit einer Woche duschte Evelyn nur noch lauwarm. Sie nahm sich fest vor, um acht Uhr den Hausmeister anzurufen, doch vermutlich würde sie wieder nicht dazu kommen. Der Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch war nur noch durch Überstunden abzuarbeiten. Irgendwann würde sie für die viele Arbeit einen Freizeitausgleich bekommen. Vielleicht.

Als Frühstück reichte ihr eine Scheibe Toast mit Butter zu einer Tasse Kaffee. Um diese Zeit konnte sie noch nicht viel essen. Sie blickte aus dem Fenster in das letzte Grau der Nacht. Am Vorabend war Lars noch bei ihr gewesen. Zum ersten Mal, seit sie zusammen waren, hatten sie sich heftig gestritten. Er war wütend gegangen. Evelyn seufzte. Vielleicht passte das alles nicht. Der Neubeginn mit einem noch nicht geschiedenen Mann, noch dazu in einer Zeit, in der sie sich stark auf sich selbst besinnen musste. Über den Tod ihres Vaters war sie noch lange nicht hinweg.

Um Viertel nach sechs verließ sie in Sportschuhen ihre Wohnung. Für die hundert Stufen von der sechsten Etage nach unten brauchte sie weniger als eine Minute. Dieser Sprint gehörte zu ihrem täglichen Training, doch im Erdgeschoss wurde sie scharf ausgebremst. Mal wieder war die Haustür verschlossen. Evelyn ärgerte sich, das Abschließen war in Mehrfamilienhäusern ausdrücklich verboten. Im Notfall musste gewährleistet sein, dass die Bewohner schnellstens das Haus verlassen konnten, ohne nach ihren Schlüsseln zu suchen. Das hatte Evelyn ihren Nachbarn oft erklärt und ein Merkblatt mit dem betreffenden Urteil des Bundesgerichtshofs in den Flur gehängt – leider ohne Erfolg. Jemand hatte das Blatt kurz darauf entfernt. Evelyn nahm sich vor, ein neues aufzuhängen.

Sie schloss die Haustür auf und schaute zur Roßstraße hinüber, über den Häusern begann es zu dämmern. Der Regen der Nacht hatte aufgehört. Evelyn sog die kalte Luft ein und ging zu ihrem Auto. Gestern hatte sie trotz der späten Stunde Glück gehabt bei der Parkplatzsuche. Ihr hellblauer Golf stand schräg gegenüber vom Haus im eingeschränkten Halteverbot. Wenn sie vor halb acht wegfuhr, musste sie kein Knöllchen fürchten. Die Kollegen vom Ordnungsamt kannten die Probleme im Stadtteil Golzheim, frühmorgens ließen sie noch Gnade vor Recht ergehen.

Die Fahrt zum Nordfriedhof dauerte nur ein paar Minuten. Evelyn fand problemlos einen Parkplatz und holte ihre Gummistiefel aus dem Kofferraum. Die Friedhofswege weichten im Regen schnell auf, schon einige Male hatte Evelyn sich so ihre Schuhe versaut. Zwar bewahrte sie in ihrem Spind im Präsidium immer ein Ersatzpaar auf, aber lieber betrat sie das Dienstgebäude mit sauberen Schuhen. Also stieg sie in die olivgrünen Stiefel, verriegelte den Wagen und ging aufs Haupttor zu. Eine Gruppe älterer Frauen stand davor, sie begrüßten Evelyn freudig. Obwohl sie jünger war als die meisten hier, hatte man sie in die Gemeinschaft aufgenommen. In letzter Zeit war Evelyn häufig zu früh aufgewacht und noch vor ihrem Dienst zum Friedhof gefahren. Zusammen wartete man am Tor, so kam man ins Gespräch.

Die Kirchturmglocke an der Ulmenstraße schlug halb sieben. Auf einem schwarzen Fahrrad fuhr ein Friedhofsangestellter heran und schloss das Tor auf. Sie begrüßten einander wie gute Bekannte, auch das gehörte zum Ritual. Evelyn ging mit den Frauen über den Vorplatz an der Kapelle vorbei zu den Gräberfeldern, dann teilten sich ihre Wege, Evelyns Vater Johannes lag im hinteren Teil der Anlage.

Die Friedhofserde speicherte die Nässe der Nacht. Noch letzte Woche hatte es modrig nach dem Laub vom Vorjahr gerochen, heute war die Luft klar und satt vom Regen. Zusammen mit Johannes hatte Evelyn im vergangenen Sommer die Grabstelle ausgesucht, kurz darauf war er seinem Lungenkrebs erlegen. Nun ruhte er auf zwei Quadratmetern mit der Plannummer C 1366 neben einer alten Blutbuche. Die Baumkrone stand kahl und schwarz im aufziehenden Morgen. Evelyn erinnerte sich an den letzten Herbst, das Laub hatte rot in der Sonne geleuchtet.

Den Wünschen ihres Vaters entsprechend hatten Evelyn und ihr Bruder Stefan dunkelgrünes Efeu gepflanzt und einen Stein ausgesucht, heller Marmor mit schwarzer Schrift: Johannes Eick 1942-2012. Noch wirkte das Grab kahl, im Winter war das Efeu kaum gewachsen. Der Regen der letzten Nacht hatte zwischen den Pflanzen kleine Pfützen hinterlassen, sie würden nicht so bald trocknen, schon für den Nachmittag waren neue Schauer gemeldet. Doch wenn die Temperaturen stiegen, würde das Efeu sprießen und die Erde bedecken.

Auch ein Grab braucht Zeit zu wachsen, dachte Evelyn.

Obwohl niemand zu sehen war, unterdrückte sie ihre Tränen, in der Öffentlichkeit weinte sie nie. Sie machte sich an die Arbeit, befreite das Grab von braunen Blättern, die der Wind zwischen das Efeu getrieben hatte, und säuberte den Marmor. Dann ging sie zum Auto zurück. Bevor sie losfuhr, wechselte sie wieder die Schuhe. Es war die Woche nach Ostern. Wegen der Schulferien hielt sich der morgendliche Berufsverkehr in Grenzen. Vom Nordfriedhof bis zum Polizeipräsidium in der südlichen Innenstadt brauchte Evelyn eine Viertelstunde.

Viele der Kollegen hatten Urlaub, auf Anhieb fand sie einen Parkplatz an der sogenannten Festung. So hieß bei den Düsseldorfer Polizisten ihre Arbeitsstätte. Das war ein passender Name für den monumentalen Backsteinbau aus den frühen Dreißigerjahren, der hohen Zeit von Blut und Boden. Doch es gab Pläne: Demnächst sollte das unter Denkmalschutz stehende Präsidium mit viel Glas und Metall um einige Anbauten erweitert werden. Das sollte nicht nur die Strenge der alten Architektur abmildern, sondern auch deutlich mehr Platz schaffen. Die Festung platzte seit Langem aus allen Nähten.

Evelyn betrat das Gebäude und ging die Treppe hoch. Sobald sie auf den Flur ihres Kommissariats einbog, sah sie, dass Gerckes Tür offen stand. Dies war ein klares Zeichen: Der Chef bat sie zu sich. Zwar hatte sie sich gewünscht, den Arbeitstag ganz in Ruhe in ihrem eigenen Büro anzugehen, doch daraus würde nichts werden. Einen Moment überlegte sie, umzukehren und in der Kantine noch einen Kaffee zu trinken. Es war erst kurz vor halb acht, und Gercke hatte normalerweise nichts dagegen, wenn seine Mitarbeiter erst um acht Uhr dienstbereit waren. Doch Evelyn schob die Dinge nicht gern auf, außerdem war sie neugierig, was Gercke ihr mitteilen wollte. Noch bevor sie sein Büro erreichte, schob er den Kopf aus der Tür.

»Guten Morgen, Frau Eick«, er lächelte ihr entgegen. »Eine unfreiwillig tote Leiche schweigt vor sich hin und harrt unserer Arbeit.«

Über seinen schrägen Humor wunderte Evelyn sich längst nicht mehr, nach acht Jahren in dieser Abteilung hatte sie sich daran gewöhnt. »Morgen, Chef. Also ein ganz neuer Fall?«

Er seufzte demonstrativ. »Wir können uns natürlich noch überlegen, ob wir die Leiche über die Stadtgrenze rollen. Ansonsten werden wir wohl selbst ran müssen.«

Der Erste Kriminalhauptkommissar Gregor Gercke bat seine Mitarbeiterin hinein und schloss die Tür. Dass er ihr keinen Stuhl anbot, war kein Zeichen von Unfreundlichkeit. Damit signalisierte er: Dies wird eine kurze Besprechung, dafür lohnt sich das Hinsetzen nicht. Er war Kriminalist mit Leib und Seele, wenn ein neuer Fall ihn packte, kam es Evelyn vor, als gäbe er seine Anweisungen noch klarer und präziser als sonst. Das schätzte sie an Gercke: Er war deutlich, aber nie herrschsüchtig.

»Die Sache selbst ist jedenfalls ganz frisch«, fuhr er fort. »Wie frisch die Leiche ist, müssen wir noch rausfinden. Sie liegt im Frühtau des Volksgartens, erdrosselt beziehungsweise erstickt. Mehr weiß ich auch noch nicht. Herr Waschke und Frau Borkuschewa sind schon vor Ort.«

Evelyn bemerkte Gerckes Bartstoppeln. Vermutlich hatten die Kollegen von der Streife ihn aus dem Bett gejagt. »Mich hätten Sie aber auch gern anrufen können, Chef.«

»Weiß ich doch, Frau Eick«, er wurde ernst. »Ich wollte Sie wenigstens ausschlafen lassen. Sie haben in letzter Zeit genug durchgemacht. Der Tod Ihres Vaters und dann die vielen Überstunden.«

Gerckes Rücksicht war ihr unangenehm, andererseits war sie ihm dankbar dafür.

»Sie kriegen den Fall«, meinte er. »Sie ermitteln an vorderster Front, zusammen mit Frau Borkuschewa. Bis jetzt sieht die Sache allerdings nach reichlich Mühsal aus.« Er begleitete Evelyn zur Tür. »Aber jetzt gehen Sie erst mal in Ruhe an Ihren Schreibtisch. Ich gebe Ihnen Bescheid.«

Evelyn bedankte sich. Während sie den Flur entlangging, stellte sie sich vor, dass Gercke sich jetzt erst einmal rasieren würde. Sie malte sich aus, wie ihr Chef jetzt am Bürowaschbecken stand, um mit Gel und Klinge seinem Eintagebart zu Leibe zu rücken. Sie musste schmunzeln und hörte damit selbst dann noch nicht auf, als sie ihr Büro betrat und ihr Blick den Stapel unbewältigter Akten traf. Auch heute würde sie damit kaum weiterkommen. Dennoch setzte sie sich wohlgemut an den Schreibtisch und verbrachte die nächsten zwei Stunden mit Papierkram, verfasste Protokolle, heftete Zeugenaussagen ab. Danach wirkte der Stapel immerhin eine Handbreit niedriger.

Das Telefon klingelte, Gercke bat Evelyn zu sich. Erneut betrat sie das Chefbüro, er und Waschke hoben ihre grauen Köpfe und blickten ihr wohlwollend entgegen. Die alten Uhus vom KK 11 – diesen respektablen Spitznamen hatten die beiden im Kollegenkreis. Norbert Waschke war der Älteste im Team. Als er vor mehr als zehn Jahren seinen Dienst im Kommissariat 11 antrat, hatte Gercke dort bereits die Leitung inne. Dies hätte leicht zum Kompetenzgerangel führen können, tat es aber nicht. Gercke schätzte die Erfahrung seines altgedienten Mitarbeiters, und Waschke hatte ohnehin nie den Ehrgeiz entwickelt, ein Kommissariat zu leiten. Obwohl sie gleichaltrig waren, siezten sie sich. Denn Gregor Gercke, der vor zwölf Jahren vom Präsidium in Essen nach Düsseldorf gekommen war, duzte seine Mitarbeiter prinzipiell nicht. Evelyn fand, dass er im Vergleich zu Waschke die feineren Gesichtszüge, Gedankengänge und Manieren vorweisen konnte. Aber das gehörte sich wohl so für einen Kommissariatsleiter.

Er wies auf die Bilder. »Gucken Sie sich das mal an, Frau Eick. So was sehen selbst wir nicht alle Tage. Erdrosselt und den Mund mit rosa Farbe ausgegossen.«

Evelyn starrte auf die Fotos. Das Opfer lag auf dem Rücken, das aufgequollene, hochrote Gesicht zur Seite gedreht, die Beine parallel ausgerichtet. Seinen linken Arm hielt der Tote nah am Körper, den rechten nach vorn gestreckt, mit der flachen Hand in einer Pfütze, im Ellbogengelenk leicht angewinkelt. Aus dem Mund tropfte rosa Farbe, ein Draht um seinen Hals schnitt tief in die Haut ein. Unter seinem Nacken ragten zwei Holzstücke hervor, an denen der Draht befestigt war, offenbar angeschnittene Stücke von einem Rundholz, vielleicht einem Besenstiel.

Die Bilder wirkten so bizarr, dass Evelyn damit nur schwer ein reales Geschehen verbinden konnte. Ungläubig schüttelte sie den Kopf.

»Ich kann mir denken, was in Ihnen vorgeht, Frau Eick«, meinte Gercke trocken. »Das sieht eher aus wie moderne Kunst. Irgend so ein seltsames Ausstellungsstück. Mittels einer absurden Demonstration menschlicher Seinsweisen verweist der Künstler auf die unausweichliche Endlichkeit der Existenz.«

Waschke schmunzelte. »Wenn Sie meinen, Chef.« Dann wurde er wieder ernst. »Der Fundort ist offenbar auch der Tatort. Die Tötung wurde begangen mit einem handelsüblichen Draht zwischen zwei Holzgriffen, der im Nacken angezogen und mehrfach verknotet wurde. Möglicherweise dienten die Holzstücke zusätzlich als Knebel.«

»Also eine Garotte?«, fragte Evelyn.

»Richtig. Eine altbewährte Henkersmethode. Die Utensilien kriegt man in jedem Baumarkt. Und schon haben wir das perfekte Tötungsinstrument.«

»Wissen wir schon, wer der Tote ist?«

Waschke setzte eine bedeutungsvolle Miene auf. »Das macht den Fall brisant«, sagte er und zog aus seiner Jackentasche eine Asservatentüte mit einem bundesdeutschen Personalausweis. »Den trug das Opfer bei sich. Wir haben es hier mit stadtbekannter Prominenz zu tun: Bernd Gustav Brook.«

Evelyn zog die Stirn hoch.

»Dreiundsechzig Jahre, wohnhaft Kurze Rheingasse 5«, setzte Waschke nach. »Unser Düsseldorfer Vorzeige-Schwuler hat wahrscheinlich gestern Abend im Park gejoggt.« Zwischen Waschkes lockeren Worten schwang Anerkennung. »Kämpfer für das Gute, Wahre und Schöne sowie Inhaber von Düsseldorfs berühmtester Herren-Boutique. Superlage in der Alexanderstraße, die Berliner Allee direkt um die Ecke, und das Ganze noch mit angeschlossenem Versandhandel. Ich habe da noch nie was gekauft. Sie etwa?«

Evelyn schüttelte den Kopf.

»Ich auch nicht«, meinte Gercke. »Wie heißt dieser Laden noch mal?«

»Mann-O-Mann«, erwiderte Evelyn.

Sie war Brook nie persönlich begegnet, aber wie die meisten Düsseldorfer kannte sie ihn aus den Medien. In den letzten zwei Jahrzehnten war wohl kaum eine Woche vergangen, in der Bernd Brook nicht in der Lokalpresse oder im regionalen Rundfunk auftauchte. Er setzte sich für die Interessen der Bürger ein und engagierte sich bei verschiedenen Hilfsorganisationen. Dabei galt er als besonnen, intelligent und in jeglicher Hinsicht stilsicher. Selbst in der hitzigsten Diskussion schaffte er es, höflich zu bleiben. Nebenbei genoss er den Ruf eines seriösen Geschäftsmanns, der Laden, Versandhandel und nicht zuletzt seine Mitarbeiter vorbildlich führte.

Evelyn beobachtete ihren Chef, seine Mimik ließ keinen Zweifel daran, wie sehr ihn der neue Fall reizte. »Dieser Brook ist doch immer in einem Mercedes durch die Stadt gekurvt? Mit so einer auffälligen Schrift drauf?«

»Genau, Chef. Dunkelvioletter Kombi mit orangefarbenem Firmen-Logo«, Waschke schlug sein Notizheft auf. »Kennzeichen D-BB 4000. Den haben die Kollegen schon gefunden, ironischerweise neben der katholischen Kirche auf dem Parkplatz an der Siegburger Straße. Ist abgeschleppt, steht jetzt bei unseren Technikern. Brook hatte den Autoschlüssel in seiner Hosentasche.«

»Also muss der Mörder gewusst haben, dass Brook dort joggen wollte?«, fragte Evelyn.

»Ja. Sofern wir davon ausgehen, dass der Täter es gezielt auf Brook abgesehen hatte. Natürlich bleibt auch die Überlegung, ob er rein zufällig das Opfer war.«

Gercke sah seinen älteren Kollegen von der Seite an. »Aber das halten Sie für unwahrscheinlich, oder?«

»Richtig, Chef. Bernd Brook und Zufallsopfer – das passt so gar nicht«, Waschke griente. »Und die rosa Farbe ist wohl kaum Zufall, sondern ein klarer Hinweis.«

Evelyn nickte heftig. »Ein Wink mit dem Laternenmast. Wobei es der Täter auch auf einen beliebigen Homosexuellen abgesehen haben könnte und dabei nun mal Brook erwischte.«

»Hab ich auch schon überlegt. Kann ich mir aber nicht vorstellen. Der Volksgarten ist zwar ein beliebter Schwulentreffpunkt, aber doch wohl eher in lauen Sommernächten, und nicht Anfang April bei saukalter Witterung.«

Gercke zog die Stirn hoch. »Kommt drauf an, was man vorhat. Um jemanden zu töten, sind kalte Nächte mit Regen doch nicht verkehrt.«

»Also ein Mord im Milieu?«, fragte Evelyn.

»Davon sollten wir erst mal ausgehen«, meinte Waschke. »Das Häufige ist häufig, und Klischees sind Wahrheiten.«

Nicht so recht überzeugt wies Gercke auf ein Foto, das Brooks ganzen Körper zeigte. »Er war ja wohl schmächtig. Mehr als fünfundsechzig Kilo dürfte der kaum auf die Waage gebracht haben. Es war vermutlich nicht allzu schwierig, ihm die Garotte um den Hals zu legen.«

Waschke nickte. »Der Täter hat ihn zur Strecke gebracht und den Überraschungsmoment genutzt. Vermutlich ist Brook gestürzt. Über eine Schnur oder einen Draht quer über den Weg. Die Kollegen untersuchen das noch.«

»Und als er am Boden lag, hat der Täter ihn überwältigt und ihm die Garotte umgelegt?«

»Und dann zugezogen, ja. Das musste schnell gehen und brauchte viel Kraft. Aber für einen muskulösen Täter war das sicher kein Problem.«

»Oder es waren mehrere«, meinte Evelyn. »Und nach dem Erdrosseln haben sie ihm die Farbe in den Mund gegossen?«

»Genau. Es wäre natürlich möglich, dass Brook durch die Drosselung noch nicht tot war, sondern nur bewusstlos. Und dass er dann an der Farbe im Mund erstickt ist. Aber das muss uns die Rechtsmedizin verraten. Professor Herxheimer war ziemlich schnell vor Ort.«

Ein kurzer Schmerz durchzog Evelyns Brust, als der Name fiel. Sie bemühte sich um eine neutrale Miene. Dass Lars und sie ein Paar waren, hatte sie nicht an die große Glocke gehängt, aber auch nie abgestritten. Die Kollegen waren diskret genug, sie nicht darauf anzusprechen. Und Lars Herxheimer war der Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts, er machte einen guten Job, dafür respektierte man ihn.

Sie schob die Gedanken an Lars beiseite und widmete sich wieder Bernd Brook und dessen Schicksal: »Er war bekennender Homosexueller, die rosa Farbe ist eine klare Anspielung. Aber ich finde, daraus können wir doch noch nicht schließen, dass es ein Mord in der Schwulenszene war.«

»Du denkst also, es hat nichts mit dem Mordmotiv zu tun?«, fragte Waschke erstaunt.

»Ja und nein. Es kann sein, dass Brook ermordet wurde und der Grund irgendwas mit seinem Schwulsein zu tun hat. Es könnte aber doch auch sein, dass der eigentliche Grund nichts damit zu tun hat. Aber der Täter will es als Motiv vorspiegeln und uns auf eine falsche Fährte locken.«

»Kein schlechter Gedanke«, meinte Waschke. »Also müssen wir innerhalb und außerhalb der Schwulenszene suchen? Bei den Aktivisten genauso wie bei den eingeschworenen Schwulenhassern?«

Gercke stöhnte auf. »Darum heißt es ja so schön: Die Polizei ermittelt in alle Richtungen. Jedenfalls waren die Täter heftig brutal. Garottieren und dann noch mit Farbe schänden – auf so was muss man erst mal kommen.«

»Absolut«, meinte Waschke. »Professor Herxheimer hat außer den Drosselmarken noch andere Verletzungen gefunden, aber die stammen wohl vom Sturz. Der Todeszeitpunkt lag übrigens zwischen einundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr. So viel konnte Herxheimer schon sagen.«

Evelyn konzentrierte sich weiter auf die Fotos. Sie versuchte, einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem Schwulenrechtler, der stets elegant die Düsseldorfer Medien durchzog, und diesem grotesk entstellten Toten auf dem nassen Parkweg.

»Ein Raubmord war das mit Sicherheit nicht«, meinte Waschke noch. »Achtzig Euro in bar, Handy, Schlüssel und Wagenpapiere hatte er noch bei sich. Gefunden hat ihn übrigens eine junge Studentin. Vorhin im Volksgarten war sie völlig runter mit den Nerven.«

»Und sie kann nichts mit der Tat zu tun haben?«, fragte Gercke.

»Wohl kaum, Chef. Erstens war sie gestern den ganzen Abend mit ein paar Freundinnen unterwegs, was sich leicht überprüfen lässt. Und zweitens wirkt alles, was sie sagt, echt und ehrlich. Im Grunde kann sie einem leid tun, dass sie über diese fiese Leiche gestolpert ist.« Waschke drückte Evelyn die Asservatentüte mit dem Ausweis in die Hand. »Du machst das, Evelyn. In spätestens vier Wochen präsentierst du uns hier den oder die Mörder. Und ich gehe in Rente.«

Das war seit Langem beschlossene Sache: Von dringenden Außeneinsätzen abgesehen, verrichtete Kollege Waschke in seinem letzten Berufsjahr nur noch Schreibtischarbeit.

»Genauso wird das sein«, pflichtete Gercke bei.

Evelyn suchte noch nach den passenden Worten, die sie dem Optimismus der Alten Uhus entgegensetzen konnte, da kam Jelena Borkuschewa herein. Mit sechsundzwanzig Jahren die Jüngste im Team und – wie nicht nur Evelyn fand – die Schönste. Sie trat zu den Kollegen an den Schreibtisch. »Die Spusi nimmt sich im Moment Brooks Wohnung vor, wir können da erst heute Nachmittag rein.«

Evelyn stutzte. »Aber bisher gehen wir doch davon aus, dass der Fundort der Leiche auch der Tatort ist.«

»Das schon. Und Brook hatte seine Schlüssel bei sich. Also legte der Täter vermutlich keinen besonderen Wert auf einen Besuch in Brooks Wohnung. Aber trotzdem scheint es ganz sinnvoll, wenn die Spusi mal einen geübten Blick reinwirft. Wir kümmern uns solange um die Zeugen.«

»Ach, die Zeugen«, meinte Waschke lakonisch. »Das ist ja auch noch so eine Sache. Außer der jungen Frau, die ihn gefunden hat, ist noch eine komplette Familie beteiligt: Vater, Mutter und erwachsener Sohn. Die sind zu der jungen Frau gerannt, als die geschrien hat, weil sie über die Leiche gestolpert ist. Und kurz vorher hatten die Eltern hundert Meter weiter ihren Sohn überfallen. Mit Spielzeugpistolen.«

»Was?!« Gerckes sonst so beherrschte Miene entglitt.

»Natürlich nur zum Spaß«, Waschke grinste. »Die haben ihrem Sohn aufgelauert, als Überraschung zum dreißigsten Geburtstag. Seltsam, was Leute sich ausdenken. Ich habe mir die Eltern schon zur Brust genommen und erklärt, wie gefährlich das war. Nicht nur wegen Vortäuschung einer Straftat, sondern im schlimmsten Fall auch wegen Körperverletzung. Die hätten ja auch den Falschen erwischen können, und wer weiß, was dann passiert wäre. Der hätte vor Schreck einen Herzinfarkt kriegen können oder sonst was.«

»Und genau in dem Moment wurde ein Stück weiter im Park die Leiche entdeckt?«, fragte Gercke ungläubig.

»So war das, Chef. Aber diese Familie Menzel hat wohl kaum was mit dem Mord zu tun. Die waren heftig geschockt über den Anblick und haben sofort die 110 angerufen. Und was den vorgetäuschten Überfall angeht: Da zeigen sie sich reumütig.«

»Dann ist ja alles gut«, meinte Gercke trocken. Er wandte sich an Evelyn und Jelena. »Walten Sie Ihres Amtes, meine Damen.«

Evelyn begleitete Jelena in deren Büro. »Hast du Bernd Brook irgendwann mal persönlich erlebt?« Evelyn rückte ein paar Stühle vor den Schreibtisch. Eltern und Sohn Menzel wollte sie getrennt voneinander befragen.

»Nein«, entgegnete Jelena, während sie hinter dem Tisch Platz nahm und den Computer hoch fuhr. »Und du?«

»Auch nicht. Ich war auch noch nie bei Mann-O-Mann drin. Aber ich habe irgendwann mal vorm Schaufenster gestanden, weil ich meinem Freund ein richtig schickes Hemd zum Geburtstag schenken wollte. Die Sachen da sind überhaupt nicht tuntig. Die haben echt schöne Teile, schlicht und edel, nur leider teuer.« Evelyn schwieg für ein paar Sekunden. Angesichts der brutalen Tat an Mode zu denken, schien ihr plötzlich makaber. »Okay«, meinte sie schließlich. »Noch eine wichtige Frage, bevor wir anfangen: Wissen die Zeugen, wer der Tote ist?«

»Nein. Zumindest haben wir den Namen nicht erwähnt. Und ich glaube auch nicht, dass einer der Zeugen ihn erkannt hat, so entstellt wie der war. Da wollte keiner lange hingucken.«

»Und dass sie ihn doch erkannt haben, uns das aber nicht sagen?«

»Kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Jelena. »Die waren alle derartig geschockt. In so einer Situation die Leiche zu erkennen und das dann gegenüber der Polizei zu verheimlichen? Dafür müsste man schon reichlich abgebrüht sein. Und den Eindruck hatte ich bei keinem von den vier Zeugen. Theoretisch könnte es natürlich sein, dass schon vorher ein Unbeteiligter die Leiche gefunden hat, ohne die Polizei zu informieren. Aber wenn wir das mal ausschließen, können wir sagen: Nur wir und der Täter wissen, dass es sich um Bernd Brook handelt.«

»Das ist ja schon mal keine schlechte Ausgangslage. Mit wem fangen wir also an?«

»Mit Annika Hähnlein, schlage ich vor. Sie war ja die erste Zeugin vor Ort.«

»Nun denn.« Evelyn öffnete die Tür zum Flur.

Sekunden später betrat die Studentin das Büro. Waschkes Beschreibung schien zutreffend: Sie machte den Eindruck einer ehrlichen und sympathischen Zeitgenossin, der beim Frühsport bedauerlicherweise eine Leiche vor den Füßen gelegen hatte. Der Schrecken war ihr noch immer ins Gesicht geschrieben.

»Vorhin am Tatort haben Sie meinen Kollegen ja schon einiges erzählt«, begann Evelyn die Befragung. »Sie joggen gern im Volksgarten?«

»Ja, jeden Morgen um sechs«, Annika Hähnlein saß so gerade auf dem Besucherstuhl, als wollte sie damit demonstrieren, wie aufrecht sie auch innerlich war. »Aber natürlich nur dann, wenn ich in den Semesterferien hier bei meinen Eltern wohne. Ansonsten lebe ich in Bochum.«

»Dort studieren Sie?«

»Genau. Umwelttechnik und Ressourcen-Management, sechstes Semester.«

»Sie werden also Ingenieurin?« Evelyn nickte anerkennend und verkniff sich die Bemerkung, dass das für eine junge Frau ja leider immer noch ungewöhnlich sei.

Annika Hähnlein wurde lockerer. »Ich habe mich schon immer für Technik interessiert. Meine Eltern haben ja die Fahrradwerkstatt. Damit bin ich groß geworden.«

»Und wenn Sie die Ferien bei Ihren Eltern verbringen, laufen Sie also morgens um sechs im Volksgarten. Wie lange halten sie denn durch bei diesem miesen Wetter?«

»Ungefähr eine Dreiviertelstunde. Dann dusche ich, frühstücke und helfe in der Werkstatt. Besonders jetzt im Frühjahr ist da jede Menge zu tun.«

»Und heute Morgen war das auch so, Frau Hähnlein? Sie sind um sechs Uhr angefangen zu joggen?«

»Ja, wie immer.«

»Und als Sie in den Volksgarten gekommen sind, war da irgendetwas anders als sonst?«

»Nein. Ich habe auch eben noch mal darüber nachgedacht. Aber mir ist ganz sicher nichts aufgefallen. Alles war ganz normal – erst als ...«, Annika Hähnlein begann zu zittern, in ihren Augen standen plötzlich Tränen. Sie zog ein Taschentuch hervor und wischte sich das Gesicht ab. »Ich bin ganz normal erst den Hauptweg entlang gelaufen und dann weiter den Weg ins Rhododendren-Tal. Und dann bin ich plötzlich mit meinem Fuß an etwas Festes gestoßen. Zuerst habe ich gedacht, das sei ein Ast.«

»Woran haben Sie denn gemerkt, dass es doch kein Ast war?«

»Dafür war es dann doch irgendwie zu weich. Ich habe meine Taschenlampe angeschaltet und gesehen, dass da ein Mensch liegt. Ich habe geschrien, und dann kam diese Familie, die im Park Geburtstag gefeiert hat. Und die haben übers Handy die Polizei gerufen.«

Evelyn schaute in die Aufzeichnungen. »Vorhin am Fundort haben Sie ja schon mit meinen Kollegen gesprochen. Da sagten Sie, dass Sie den toten Mann nicht kennen. Erinnern sie sich inzwischen daran, ob Sie ihn doch schon mal gesehen haben?«

Obwohl sie weinte, saß Annika Hähnlein noch immer kerzengerade. Sie senkte den Blick auf ihre Hände, die halb geöffnet auf ihren Oberschenkeln lagen. »Das war doch alles so schrecklich. Da wollte ich nicht so genau hingucken. Aber ich glaube nicht, dass ich den kenne.«

»Könnte es sein, dass er Ihnen früher schon mal beim Joggen begegnet ist?«

»Nein. Wie gesagt, ich bin doch nur noch in den Semesterferien in Düsseldorf. So gut kenne ich die Jogger hier nicht, aber er wäre mir wahrscheinlich aufgefallen.«

»Warum glauben Sie das?«

»Na, er war doch ziemlich zierlich für einen Mann. Und er hatte halblange Haare, so was tragen Männer ja nicht mehr so oft, schon gar nicht in dem Alter.«

»Was denken Sie denn, wie alt er war?«

Die Studentin zögerte. »Etwa fünfzig bis fünfundfünfzig. Aber wie gesagt: Ich bin mir sicher, dass ich ihn beim Joggen nie vorher gesehen habe. Und ich weiß bestimmt nicht, wer das ist.«

Annika Hähnlein sah zwischen Jelena und Evelyn hin und her, offenbar wartete sie darauf, dass die Polizistinnen ihr endlich mitteilten, wer der Tote war. Doch das taten sie nicht.

Evelyn stellte noch ein paar Fragen, dann meinte sie: »Vielen Dank, Frau Hähnlein. Wenn wir noch etwas von Ihnen wissen möchten, melden wir uns.«

Sie ließen die Zeugin das Protokoll unterschreiben und riefen das Ehepaar Menzel herein, beide neunundfünfzig Jahre alt, sie Floristin, er Versicherungsangestellter. Das morgendliche Erlebnis schienen sie vergleichsweise gut verkraftet zu haben. Jedenfalls wirkten sie nicht verschreckt – eher peinlich berührt. Besonders Peter Menzel war der vorgetäuschte Überfall auf seinen Sohn sichtlich unangenehm. Und Sabine versicherte: »Das ist alles meine Schuld. Ich hatte die Idee mit den Spielzeugpistolen, mein Mann hatte von Anfang an Bedenken, aber ich habe ihn überredet zu dieser grenzenlosen Dummheit. Es tut mir sehr leid. So was machen wir nie wieder, darauf können Sie sich verlassen, Frau Hauptkommissarin.«

Evelyn beruhigte die Zeugen. Schließlich hatten sie niemandem geschadet, und die Polizei musste sich tagtäglich mit weitaus schlimmeren Verrücktheiten beschäftigen. Die Eheleute versicherten, den Toten nicht zu kennen.

Evelyn entließ sie rasch und bat ihren Sohn herein. Einen Moment lang überlegte sie, Jan-Philipp Menzel zum dreißigsten Geburtstag zu gratulieren, doch sie verzichtete darauf. Angesichts der Umstände schien es ihr unpassend. Ohne zu zögern, nahm er auf dem Stuhl Platz, hielt den Blickkontakt zu Evelyn und antwortete klar auf die Fragen. Auch er beteuerte, den toten Mann nicht zu kennen. Dabei hielt er es offenbar für selbstverständlich, dass die Polizei die Identität des Toten nicht preisgab.

Evelyn wollte Jan-Philipp schon verabschieden, da fragte er unvermittelt: »Darf ich die ganze Sache eigentlich weitererzählen, oder muss ich das erst mal für mich behalten?«

Sie wurde hellhörig. »Was meinen Sie genau?«

»Na ja. Dass ein Mann ermordet wurde und wir ihn gefunden haben. Es war doch Mord, oder etwa nicht?«

»Das wissen wir noch nicht, Herr Menzel«, entgegnete sie. »Natürlich wird sich der Fall herumsprechen, das können wir gar nicht verhindern. Insofern dürfen auch Sie mit anderen Leuten darüber reden. Aber wir sind Ihnen dankbar, wenn Sie nicht alle Einzelheiten beschreiben, die Sie am Tatort gesehen haben.«

»In Ordnung, Frau Hauptkommissarin.«

Das Nicken von Jan-Philipp Menzel wirkte verständig – so verständig, dass Evelyn sich fragte, ob es echt war.

Sie reagierte mit Strenge. »Wir werden bald eine Pressemitteilung herausgeben. Dann erfahren Sie, was die Polizei an die Öffentlichkeit weitergegeben hat. Daran sollten auch Sie sich halten, Herr Menzel. In Ihrem eigenen Interesse.«

Ihre Anweisungen schienen ihn nicht einzuschüchtern. »Ich verstehe schon. Wenn ich die Einzelheiten herumposaune, könnte das Ihre Ermittlungen behindern.«

»Ganz genau. Daran sollten Sie immer denken«, beendete Evelyn das Gespräch. Sie begleitete ihn in den Flur und schloss die Tür hinter ihm.

Jelena kam hinterm Schreibtisch hervor. »Und was halten wir von dem?«

»Ich finde, er spielt sich reichlich auf.«

»Sehe ich auch so. Vermutlich ein klarer Fall von Selbstschutz. Wahrscheinlich belastet ihn das alles mehr, als er zugeben will.«

»Kann schon sein.«

Sie verglichen die aktuellen Zeugenaussagen mit denen vom Tatort. Alle Angaben, die Annika Hähnlein und Familie Menzel zu Protokoll gegeben hatten, stimmten überein und erschienen plausibel. Und alle hatten eine traurige Gemeinsamkeit: Leider fand sich darin kein einziges Indiz auf den oder die Täter.

Jelena trat in die Mitte des Raums. Mit ein paar routinierten Dehnübungen lockerte sie ihre Schultern. Offenbar hatte das Schreiben sie angespannt. Seufzend beugte sie ihren Oberkörper nach vorn und ließ die Arme baumeln, dabei schaute sie auf ihre Armbanduhr. »Die Spusi braucht noch für Brooks Wohnung. Aber wir könnten uns doch schon seine Herrenboutique angucken.«

»Wenn auch nicht in Wuppertal.« Beim Wort Herrenboutique dachte Evelyn unwillkürlich an den berühmten Loriot-Sketch vom Lottogewinner. »Vielleicht springt ja auch für uns ein Gewinn dabei heraus«, meinte sie lakonisch. »Wenn wohl auch kein finanzieller.«

Der Verkäufer

Max Pahlberg hatte in dieser Nacht schlecht geschlafen. Eine Viertelstunde früher als sonst fuhr er zum Laden und öffnete die Lieferantentür, der Vordereingang blieb um diese Zeit noch geschlossen. Er erwartete eine Lieferung von Strickjacken, aber mehr noch erwartete er den Großhändler. Mit ihm arbeitete Pahlberg noch nicht lange zusammen, doch aus seiner Sicht sprach vieles dafür, dass sich hier eine stabile geschäftliche Beziehung entwickelte. Die erste Lieferung war schnell ausverkauft gewesen, und viele Kunden hatten gefragt, wann die Jacken wieder erhältlich seien. Heute sollten sie endlich kommen.

Die Wartezeit bis zur Lieferung verbrachte Pahlberg damit, aufmerksam durch den Laden zu gehen. Er strich hier einen Hemdsärmel glatt, zog dort einen Reißverschluss zu und faltete einige Pullover ordentlich zurecht. Das Sortiment mochte ein wenig bunter sein als bei üblichen Ausstattern, wohl auch ein wenig ausgefallener, aber keineswegs nur auf homosexuelle Kunden abgestimmt. Wer dagegen nach Lack und Leder suchte, würde mit Sicherheit enttäuscht. Bernd Brook achtete peinlich auf Seriosität.

Während Pahlberg mit ordnender Hand über die Verkaufsfläche schritt, hielt er immer wieder inne und horchte. Endlich!

Das Motorengeräusch vor dem Lieferanteneingang wurde lauter. In Sekundenschnelle öffnete Pahlberg die Tür. Der Großhändler lächelte ihm entgegen. Er hieß Lukas Spenge, er trug seine schulterlangen, dunkelbraunen Haare zu einem Mozartzopf gebunden und dazu einen getrimmten Kinnbart. Pahlberg fand ihn unverschämt anziehend. Leider verhielt Spenge sich auffallend sachlich. Durchaus freundlich, keineswegs abweisend, aber eben nicht so, als würde er auch nur ein Fünkchen privates Interesse an Pahlberg aufbringen. Seine Enttäuschung darüber ließ er sich nicht anmerken. Als Spenge beteuerte: »Ich muss dann auch gleich schnell weiter zum nächsten Kunden«, verabschiedete Pahlberg ihn höflich. Dabei kam er dem Lieferanten nicht besonders nah, aber so viel bemerkte er doch: Spenge roch nach Lakritz. Pahlberg blieb noch in der Tür stehen und sah zu, wie der weiße Kastenwagen rückwärts aus der Einfahrt fuhr, dann widmete er sich den Kartons.

Die Jacken darin waren in großflächigem Patchwork-Style grob gestrickt. Pahlberg, der sich in der Boutique auch um den Einkauf kümmerte, hatte ein sicheres Gefühl für Mode und Zeitgeist. Diese Strickmodelle würden sich zum Renner entwickeln und ließen sich mit einer Gewinnspanne von gut zweihundert Prozent verkaufen. Genau dafür liebte er die Jacken, auch wenn er selbst etwas so Buntes nie anziehen würde, nicht einmal in seiner Freizeit. Bei seiner Arbeit im Laden trug er stets eine schwarze Jeans, eine hellgraue Weste und ein weißes Hemd mit hohem Kragen, den er unterhalb des Kehlkopfs mit einer Brosche schloss. In die mattierte Oberfläche aus Weißgold waren seine Initialen graviert, ein M und ein P