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Gesa Gauglitz

Stirbwohl

Gesa Gauglitz wurde 1981 in Bonn geboren, studierte dort Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft. Sie war als freie Autorin für Zeitschriften tätig und als Texterin bei Werbeagenturen in Hamburg und Köln beschäftigt.

Seit 2011 arbeitet sie in Bonn selbstständig als Texterin und Autorin und hat nun mit »Stirbwohl« ihr vielversprechendes Romandebüt verfasst.

Gesa Gauglitz

Stirbwohl

Kriminalroman

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Originalausgabe

© 2013 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: info@kbv-verlag.de

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Covergestaltung: Sabine Hockertz

Umschlagillustration: Ralf Kramp

unter Verwendung von: © Nick Freund · www.fotolia.de

Print-ISBN 978-3-942446-94-5

E-Book-ISBN 978-3-95441-147-4

Inhalt

Sophie

Valerie

Bea

Sophie

Richard

Sophie

Valerie

Antonia

Bea

Sophie

Antonia

Peggy

Richard

Sophie

Richard

Sophie

Thekla

Bea

Sophie

Richard

Antonia

Sophie

Richard

Bea

Laura

Antonia

Sophie

Labrador

Richard

Antonia

Sophie

Richard

Antonia

Bea

Zehn Jahre später

Eddie

Sophie

Valerie ist meine beste Freundin. Schon ewig. Nun ja, seit dem ersten Schultag.

Wir haben gemeinsam das Alphabet gelernt. Sind zusammen an Mathe gescheitert. Basteln, Turnen, Bundesjugendspiele. Klassenarbeiten, Zeugnisse, Gummitwist. Wir haben Kicheranfälle im Unterricht bekommen, in der Pause auf dem Schulhof Schokokussbrötchen gegen Käsesandwich getauscht und die Bravo gelesen, heimlich, natürlich.

Nachmittage, Wochenenden, Ferien, Telefon. 24-Stunden-Valerie-und-Sophie-für-immer. Allerbeste Freundinnen.

Valerieundsophie. Ein Wort. Unzertrennlich.

Valerie ist fantastisch.

Schon immer gewesen. Sie ist wunderschön und intelligent. Sie ist nett. Und damit meine ich, wirklich nett. Warmherzig und freundlich. Ein Schatz. Immer hilfsbereit und ausgeglichen. Zuverlässig und vertrauenswürdig. Nachgiebig und großzügig. Spontan und einfallsreich. Witzig und lebensfroh. Valerie vereint so viele gute Eigenschaften in sich, dass für schlechte schlicht kein Platz mehr übrig bleibt. Valerie ist eine Freundin, wie man sie sich wünscht. Jeder wäre gerne mit Valerie befreundet. Jeder wäre gerne Valerie.

Valerie ist perfekt.

Ich hasse sie.

Schon ewig.

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»Sophie! Was machst du denn hier?«

Gut gelaunt lässt Valerie mich in die Backstube, als ich an die Hintertür klopfe. Es ist sechs Uhr morgens. Eine grässliche Zeit.

»Ich war auf dem Weg zur Arbeit, und da habe ich deinen Wagen hier gesehen. Was um alles in der Welt hast du um diese Uhrzeit in der Sahneschnitte zu suchen?!«

Valerie deutet fragend auf den Kaffeebecher in ihrer Hand.

Ich nicke eifrig.

»Törtchen backen«, sagt Valerie und holt einen gespülten Keramikbecher mit dem schokoladenbraunen Logo der Sahneschnitte aus der Spülmaschine.

Sie ist frisch und fröhlich, wie der junge Morgen. Mir klebt bestimmt grüngelber Schlaf im Augenwinkel.

»Natürlich ... Törtchen backen. Vor Sonnenaufgang sollen sie ja am besten werden«, murmele ich.

»Scherzkeks! Bea hat mir den Schlüssel nur unter der Bedingung gegeben, dass ich das Tagesgeschäft nicht störe. Also blieb mir nichts anderes übrig, als in aller Herrgottsfrühe hier anzutanzen!«

Während Valerie mir frisch aufgebrühten Kaffee einschenkt, sehe ich mich in der Backstube um. Ein Chaos aus Rührschüsseln und Messbechern stapelt sich in der Spüle. Der Knethaken einer KitchenAid ragt sein Stummelärmchen in die Luft, als protestierte er gegen die frühmorgendliche Arbeit. In der Mitte des Raums steht ein Backblech voller frisch gebackener Törtchen auf dem matt schimmernden Edelstahltisch.

»Oh!!! Guck sie nicht so verächtlich an!«, jammert Valerie und drückt mir den dampfenden Kaffeebecher in die Hand.

»Ich gucke nicht ver...«

»Sehen sie nicht entsetzlich blass aus?«

»Na ja ...«

Die kleinen Kuchen haben in der Tat eine kränklich blasse Färbung.

»Vielleicht solltest du sie noch einmal für ein paar Minuten in den Ofen stellen?«, schlage ich vor.

»Sie sind schon eine halbe Ewigkeit im Ofen gewesen! Sie müssen schon staubtrocken und steinhart sein! Schau sie dir an: Sie sehen aus wie Leichen-Törtchen. Vampir-Törtchen. Untote Törtchen. Bis(s) zum ersten Bissen-Törtchen!«

Bekümmert betrachtet Valerie die Küchlein.

»So ein Quatsch! Ich finde, sie sehen aus wie vornehme, kleine Törtchen, die ihre zarte Teighaut nicht von ordinärer Ofenbräune verschrumpeln lassen wollen«, sage ich und trinke einen Schluck Kaffee. Es sind die hässlichsten Törtchen auf der Welt, denke ich schadenfroh.

»Kleine Marie-Antoinette-Törtchen also?«, fragt Valerie hoffnungsvoll. Dann lacht sie fröhlich auf. »Eine gute Marketingstrategie ist doch alles! Das klingt allemal appetitlicher als Tofu-Törtchen.«

Ich ziehe eine Grimasse. »Warum backst du so etwas?«

»Weil ich dazu genötigt wurde.«

Valerie beugt sich prüfend über das Backblech wie ein Arzt, der einen exotischen Hautausschlag unter die Lupe nimmt. Schließlich stößt sie einen resignierten Seufzer aus. »Ich fürchte, da ist nichts mehr zu machen. Ich hatte ja gehofft, dass Beas Profi-Superkräfte-Küche noch das Bestmögliche aus ihnen herausholen kann, aber wenn das das Bestmögliche ist ... ojeee!«

Ich verstecke meine hämische Miene hinter dem Kaffeebecher. Ich freue mich immer, wenn Valerie etwas misslingt. Leider kommt es viel zu selten vor.

»Das ist eine echte Schande, Sophie. Wenn meine Autoren wüssten, was ich hier fabriziere, sie würden aus Scham mit einer Überdosis Muskatnuss Selbstmord begehen.«

Valerie und ich arbeiten beide bei Zucker & Chili, einem kleinen Backbuchverlag in Bad Godesberg. Um präzise zu sein: Wir arbeiten zwar beide dort, dennoch aber in unterschiedlichen Welten. Ich bin die Bürohilfe, die frühmorgens in einem dunklen Kabuff die Post sortiert und Zeitungsmeldungen archiviert. Valerie ist die Starlektorin des Verlags, die Bea Tamello, die Starautorin des Verlags, entdeckt hat, in deren Konditorei Die Sahneschnitte wir gerade in der Backstube unseren Kaffee trinken.

»Warum backst du dieses Teufelszeug denn?«, wiederhole ich meine Frage.

»Eddies Kindergarten veranstaltet heute Nachmittag ein Fest«, seufzt Valerie. »Und ich habe leichtfertig angeboten, etwas zu backen. Mir schwebten dabei Bärenpfoten-Schokomuffins oder Clownsgesicht-Amerikaner vor, du weißt schon! Was Kinder eben so lieben! Hauptsache, es ist süß, klebrig und macht Flecken, die nie mehr rausgehen!« Sie greift nach einem Schneebesen und hält ihn unter laufendes Wasser, um ihn von angetrockneten Teigresten zu befreien. »Gestern hat mich dann die Leiterin des Kindergartens angerufen, Frau Heidewegger«, fährt Valerie fort und betont dabei jede Silbe, als wäre sie Teilnehmerin eines Buchstabierwettbewerbs. »Sie wollte sich noch einmal für mein überaus nettes Angebot bedanken und mich auf ein paar Klitzekleinigkeiten hinweisen, die mir hoffentlich beim Backen keine Mühe bereiten werden.« Valerie schlägt den Schneebesen wie einen Baseballschläger in ihren Handteller. Das zarte Edelstahlgebinde klirrt wie silberne Weihnachtsglöckchen. »Es folgte eine Liste der Klitzekleinigkeiten. Der kleine Torben aus Eddies Kindergartengruppe ist ein klitzekleines bisschen glutenunverträglich. Die kleine Magda verträgt keine Laktose. Der kleine Matz wird von Zucker aggressiv, dann beißt er alle Menschen um sich herum, und das wollen wir ja nicht, und die kleine Anna-Simone darf aus ethischen Gründen keine tierischen Produkte essen.« Valerie grunzt höhnisch.

Ich trinke gelangweilt meinen Kaffee aus und heuchle Interesse. »Ach ja ...?«

»Ich frage also nach, ob ich das richtig verstanden habe«, plappert Valerie weiter.

»Dass ich kein Weizenmehl, keinen Zucker, ausschließlich Sojamilch, keine Eier, keine Butter, vielleicht ein klitzekleines bisschen Honig, wenn Anna-Simones Eltern es nicht merken, verwenden darf. Und Frau Heidewegger sagt streng: ›Das ist richtig, aber auch kein klitzekleines bisschen Honig, Frau Weißenburg!‹ Jedenfalls habe ich daraufhin mit vollstem Sarkasmus vorgeschlagen, dass ich ja Tofu-Törtchen backen könnte.« Der Schneebesen wirbelt wie ein Trommelstab empört durch die Luft.

»Uuuund?«, frage ich, weil Valerie mich so erwartungsvoll anblickt.

»Uuuuund, was soll ich sagen? Frau Heidewegger ist Sarkasmus völlig fremd. Sie hat meinen Vorschlag begeistert angenommen!« Scheppernd landet der Schneebesen in der Spüle.

Valerie passt in diese Küche wie eine frische Himbeere auf ein Stück Sahnecremetorte. Perfekt. Die perfekte Hausfrau, Mutter, Ehefrau und Lektorin. Sogar dieses Tofu-Törtchen-Desaster lässt sie nur noch perfekter erscheinen. Es zeigt: ›Hey, ich bin auch nur ein Mensch. Sogar mir kann etwas misslingen, wenn natürlich auch nur etwas so total Unwichtiges wie Küchlein für ein Kindergartenfest.‹ Es macht sie nur noch vollkommener, als wären 100% Vollkommenheit ihr nicht genug. Verdammt, was würde ich dafür tun, so vollkommen zu sein wie sie!

Ich würde alles dafür tun.

Ich werde alles dafür tun.

»Du bist eben einfach immer zu nett«, sage ich und meine es boshaft.

»Das sagt Richard auch immer«, sagt Valerie und meint es so, wie sie es sagt. »Er meinte, ich sollte Frau Heidewegger sagen, dass sie sich ihre Tofu-Törtchen in die Haare schmieren kann. Aber da konnte Richard ja auch noch nicht wissen, dass die Konsistenz der Törtchen ein Schmieren gar nicht zulässt.« Valerie stupst mit ausgestrecktem Zeigefinger eines der Törtchen an. Es steht wie eine Festung. »Vermutlich könnte man damit eher jemanden erschlagen! Die Kleinen werden sich noch ihre Milchzähne daran ausbeißen!« Sie seufzt. »Pffff ... ich fürchte, da hilft nur noch Plan B! Eine schöne, bunte Verpackung, die vom Inhalt so gut wie möglich ablenkt!« Entschlossen steigt sie einen klappernden Tritthocker hinauf, um die Tortenschachteln in Augenschein zu nehmen, die Bea in einem deckenhohen Wandregal aufbewahrt. »Meinst du, es fällt Bea auf, wenn ich eine Schachtel stibitze?«, fragt sie.

»Es fällt Bea auf, wenn zehn Gramm Zucker aus ihrer Vorratskammer fehlen«, bemerke ich.

Valerie kichert, dabei hatte ich das gar nicht als Witz gemeint. »Also, gesunde Ernährung ist ja schön und gut, aber man kann es doch auch übertreiben«, sagt sie mit dem Kopf zwischen den Schachteln. »Antonia hat im Kindergarten noch Trinkpäckchen mit Kakao in der Frühstückspause bekommen, das würde ja jetzt einen Aufstand auslösen! Und Verdauungsprobleme bei der laktoseintoleranten Magda ...« Mit einem Ruck löst sie aus einem ins oberste Fach gestopften Stapel einen Karton, der wie eine bunte Hutschachtel aussieht. Der Schwung lässt sie kurz schwanken. »Huch!«, ruft sie lachend und drückt die Tortenbox an sich.

Das ist der Moment, in dem es bei mir BANG! macht.

Wie lange habe ich schon darauf gewartet: auf die perfekte Gelegenheit. Auf das perfekte Wann und Wo.

Was habe ich mir schon den Kopf zerbrochen über das perfekte Wie. Rattengift, Küchenmesser, Kopfkissen? Pistole? Aber wo um alles in der Welt sollte ich eine Pistole herbekommen?

Und jetzt steht die perfekte Gelegenheit buchstäblich vor mir. In Form von Valerie dort oben auf ihrem wackeligen Hocker, beglückt die fröhlich gestreifte Tortenschachtel in ihren Händen musternd.

Sicherheitshinweis: Das Risiko, Opfer eines Mordanschlags zu werden, wird durch das unverzügliche Hinabsteigen eines fünfstufigen Tritthockers um 100% minimiert.

»Richard und ich denken darüber nach, ob wir Karlheinz in einem anderen Kindergarten anmelden, einem, der nicht ganz so ... zuckerfrei ist.« Zärtlich streicht sie in einer unbewussten Geste über ihren noch flachen Bauch.

Habe ich schon erwähnt, dass Valerie zum dritten Mal schwanger ist?

»Ich werde halt schon schwanger, sobald ich nur einen Penis sehe!«, hatte Valerie erklärt, um dann schelmisch hinzuzufügen: »Natürlich sehe ich nur Richards Penis. Und den von Eddie und Labrador. Aber Kinder- und Hundepenisse gelten nicht!«

»Karlheinz?«, frage ich nun zerstreut.

»Unser derzeitiger Produktionsname. Möge Renata-Agnata es uns verzeihen, wenn’s doch ein Mädchen wird. Wie gefällt dir die hier?« Valerie wedelt mit der gestreiften Tortenschachtel durch die Luft.

Ich nicke geistesabwesend. »Sehr schön. Bea wird dich umbringen«, sage ich. Und meine mich.

Bedächtig stelle ich meinen leeren Kaffeebecher ab. Ich bin angespannt wie ein Jagdhund, der einen Hasen gewittert hat. Oder ein Wurstbrot auf dem Küchentisch.

Die Gelegenheit ist günstig. Sie schreit: Tu es jetzt! Oder nie! Chancen muss man nutzen. Das wird Ihnen jeder Karrierecoach bestätigen.

»Doch, die gefällt mir, die nehme ich!«, kann Valerie noch fröhlich sagen.

Dann stoße ich beherzt mit beiden Händen zu, als würde ich eine Schaukel anschubsen.

Valerie wirbelt durch die Luft.

Der Tritthocker wirbelt durch die Luft.

Die gestreifte Tortenschachtel wirbelt mitsamt Deckel durch die Luft.

Knall!

Schepper!

Rumms!

Valerie stößt mit dem Kopf gegen die Kante des Edelstahltisches, bevor sie auf dem Boden aufschlägt. Die Törtchen hüpfen bei der Erschütterung des Tisches in die Höhe, um dann sanft und federnd wieder auf der Tischplatte zu landen. Offensichtlich sind sie doch ziemlich leicht und locker geraten.

Ein wenig Vollkornmehl schwebt tanzend durch die Luft. Weißer Mehlstaub senkt sich auf die Tischkante, an der dunkles Blut klebt und noch irgendetwas Helleres, das ich mir gar nicht so genau anschauen will. Valerie liegt rücklings auf dem mehlbestäubten Betonboden der Backstube, als würde sie gerade die Liegequalität einer Kaltschaummatratze testen. Ihre Augen sind geschlossen.

Die Frisur sitzt.

Sie sieht weder friedlich noch so aus, als hätte sie furchtbare Schmerzen erleiden müssen. Sie sieht einfach nur tot aus.

Valerie ist so blass wie ihre Törtchen. Leichen-Törtchen.

Ein Schuh hat sich während des Sturzes von ihrem Fuß gelöst und liegt ein Stück von ihr entfernt. Der umgekippte Hocker schmiegt sich an ihr Knie. Der Deckel der bonbonbunten Tortenschachtel ist ein paar Meter weit gerollt, bis er neben der Hintertür zum Liegen gekommen ist.

Ein Stillleben. Tote mit Törtchen, 2012.

Ich habe Valerie umgebracht. Meine beste Freundin. Allerbestefreundinnen. Auf ewig.

Ich habe auch ihr ungeborenes Baby umgebracht. Karlheinz. Oder Renata-Agnata. Davon gehe ich jetzt einfach mal aus, auch wenn ich über keinerlei medizinisches Fachwissen verfüge.

Die Digitaluhr der kompakten Backofenkombination blinkt. 06:24. Das reißt mich aus meinen Gedanken. Ich schnappe nach Luft wie ein Karpfen nach einem Brocken Fischfutter. Um sieben Uhr ist Arbeitsbeginn in der Sahneschnitte. Bis dahin werden langsam und verschlafen Beas Angestellte eintrudeln, um, eifrigen, kleinen Weihnachtselfen gleich, Törtchen, Torten, Eclairs und andere Zuckersünden zuzubereiten, die sie dann für ebenso sündhaft teures Geld vorne im Ladenbereich verkaufen.

Die Zeit läuft.

Jetzt nur keinen Fehler machen. Einen kühlen Kopf bewahren. Man bringt schließlich nicht alle Tage jemanden um.

Mir bleiben drei Möglichkeiten.

1. Ich spüle meine Kaffeetasse aus, verdünnisiere mich und bin nie hier gewesen.

2. Ich bleibe, rufe den Notarzt und gebe mich als Zeugin eines tragischen Unfalls aus.

3. Ich verschwinde, gebe aber auf Nachfrage sofort zu, auf einen Kaffee hier gewesen zu sein, und sage aus, dass Valerie noch fröhlich auf ihrem Hocker balancierte, als ich mich auf den Weg zur Arbeit gemacht habe.

Eins, Zwei oder Drei? Ich verwerfe Eins, schwanke zwischen Zwei und Drei und entscheide mich letzten Endes für die Drei.

Definitiv Möglichkeit Drei.

Mit ein bisschen Glück merkt keiner, dass ich hier war. Und mit etwas weniger Glück habe ich immer noch eine glaubwürdige Geschichte zu erzählen. Die beste Lüge ist immer die, die so nah wie möglich an der Wahrheit bleibt. In Zeiten von DNS-Spuren sowieso.

Ich gehe nach vorne in den freundlichen, hellen Cafébereich. Eine kulinarische Idylle. Ein Friede-Freude-Eierkuchen-Ort. Kein Ort, an dem ein Unglück passiert. Der Tresen ist blitzeblank geputzt, die Glasscheibe glänzt. Hier erfreuen Tag für Tag die köstlichsten und süßesten Leckereien, frisch zubereitet, die Herzen der Kunden. Na, heute vielleicht nicht.

Ich frage mich, ob der Laden heute wohl öffnen wird. Vielleicht wird Bea ein Schild in die Eingangstür hängen: Wegen Todesfalls leider geschlossen.

Todesfall.

Wie wahr.

Durch das Schaufenster werfe ich einen Blick nach draußen. Valeries schwarzer BMW-Geländewagen parkt protzig direkt vor dem Laden, mein kleiner, gebrauchter Ford halb verborgen daneben. Der milchweiße Schatten der Bonner Oper ragt in die Luft. Die Morgensonne ist gerade erst aufgegangen, ein weiterer für Mitte September ungewöhnlich warmer Spätsommertag schlummert noch ein paar kostbare Minuten vor sich hin.

Bonn schläft noch.

Lautlos ziehe ich mich wieder in die Backstube zurück. Valerie liegt noch immer regungslos da. Was soll sie auch sonst tun. Sie ist schließlich tot.

Ich werfe einen letzten Blick auf sie.

Du hattest deine Zeit, Valerie. Jetzt bin ich an der Reihe für mein Quentchen Glück. Richard wird schon bald eine starke Schulter zum Anlehnen und Trösten benötigen. Darum habe ich mich jetzt zu kümmern. Ich muss meine Schulter so trostspendend wie möglich gestalten. Einige Tropfen eines aphrodisierenden Parfums auf meinen Nacken tupfen. Auf keinen Fall ein scharfes Deodorant benutzen! Etwas Kuschelweiches, Anschmiegsames anziehen, damit er mich nie wieder loslassen mag. Vielleicht den blassblauen Cashmere-Pullover, der ist unwiderstehlich watteweich und schmeichelt auch noch meinen Augen. Nur ja keine Synthetikfasern! Die kratzen Richard womöglich. Und keinen Knoblauchatem!

Ich muss mich auf das konzentrieren, was vor mir liegt.

Die Vergangenheit ist tot.

Die Zukunft bin ich.

Ich schlage die Hintertür der Sahneschnitte zu wie ein gelesenes Buch. Dann setze ich den Wagen rückwärts auf die Straße und mache mich auf den Weg zur Arbeit. Als wäre nichts geschehen.

Nur, dass das nicht stimmt.

Meine Ohren rauschen wie ein Blätterwald. Windstärke 10 durchpfeift mein Trommelfell. Orkanwarnung. Meine Finger zittern, als ich sie vom Lenkrad löse, um Musik einzuschalten. Das Lokalradio spielt – wie immer – einen Hit aus den Achtzigern.

Simply the best.

Von einer Sekunde zur nächsten überfällt mich heftige Übelkeit wie ein brutaler Handtaschendieb. Kalter Schweiß bricht mir am ganzen Körper aus und lässt mich erschaudern. Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es, am Straßenrand zu halten und die Fahrertür aufzureißen.

Ich würde es gerne glauben, aber tief im Inneren weiß ich, dass es nicht an Tina Turner liegt, als ich mich mitten auf den Asphalt mit dem sauren Rest des Abendessens übergebe, der sich noch in meinem Magen befindet.

Mir ist eiskalt und schlecht. Herzrasen und Schnappatmung. Magenkrämpfe und ein seltsamer, dumpfer Druck auf der Brust. Ich fürchte, die Symptome sind eindeutig: Ich leide an einem heftigen Fall von morbus schlechtus gewissus.

Valerie

Es ist ein Mythos, ein Märchen, eine nette, kleine Geschichte, die sich irgendein Guru mit langem, grauem Bart, geflochtenem Stirnband und weißem Wallegewand ausgedacht hat, dass man sein ganzes Leben noch einmal an sich vorbeiziehen sieht, wenn man stirbt.

Woher ich das weiß?

Ich tue es gerade. Sterben, meine ich. Und da ist nichts, null, rien, zero, absolut gar keine Bilder vergangener Momente meines jetzt doch überraschend kurzen Lebens. Weder Erinnerungen an lieb gewonnene Menschen, noch an einzigartige Erlebnisse, die mich zum Zeitpunkt ihres Stattfindens regelrecht umgehauen haben, wie zum Beispiel das Gesicht meines Mathelehrers, als ich die Klassenarbeit mit einer 2+ zurückerhielt (ein Moment so glorreich und sentimental, dass er in meinem Lebensrückblick auf Platz eins noch vor der Geburt meiner Kinder und meiner Hochzeit rangiert).

Aber nichts. Keinerlei prägende Lebensabschnitte, die an meinem inneren Auge vorbeifahren wie auf einem bunten Karussell. Totaler Bullshit!

(Antonia und Eddie, wenn ihr das hört, ja, Mama hat gerade ein böses Wort benutzt. Aber Mama ist auch wirklich in einer ganz, ganz besonderen Situation. Wenn ihr jemals in eine solche Situation geratet – möge Gott das verhüten – dürft ihr jedes böse F- oder Sch-Wort benutzen, das euch einfällt. Versprochen!)

Mythos Numero zwei ist ebensolcher Blödsinn:

Ich schwebe nicht unter der weiß verputzten Zimmerdecke und schaue zu meiner nutzlosen Körperhülle auf dem mehligen Betonboden der Sahneschnitte herunter, um zum ersten Mal nach meinem Leben festzustellen, dass diese fliederfarbene Burberry-Bluse, die ich erst gestern wieder von der Reinigung abgeholt habe, nachdem Eddie den klebrigen, roten Zuckerguss seines Bum-Bum-Eises im Verlauf eines Tobsuchtsanfalls großzügig auf ihr verschmiert hatte, meinem Teint absolut nicht schmeichelt, sondern mich wie eine Leiche aussehen lässt.

Nun ja, möglicherweise liegt das auch mehr an den Umständen als am Farbton der Bluse.

Womit wir bei Mythos drei wären:

Ich laufe nicht mit einer furchtbar entstellenden Kopfwunde und kalkweiß als Geist durch die Gegend und durch Wände und Autos, auf der Suche nach einem lebendigen Menschen, der über die Fähigkeit verfügt, mich wahrzunehmen und mit mir zu sprechen, damit ich durch ihn letzte Botschaften an meine Angehörigen richten kann: Auch das passiert nicht. Mythos drei ist Kacke.

(Sorry, Toni, Eddie. Was ist bloß mit eurer Mutter los?)

Ich fürchte, ich muss jetzt mal mit diesen ganzen Jenseitsfantasien aufräumen und klipp und klar feststellen, dass es sich beim Sterben um eine äußerst profane und unspektakuläre Angelegenheit handelt. Ich liege hier auf dem harten, kalten Betonboden und warte einfach darauf, dass das Sterben sein Ende nimmt. Ich liege im Sterben, buchstäblich und im übertragenen Sinne.

Falls jetzt jemand den Einwand erheben möchte, dass ich mir möglicherweise nur den Kopf gestoßen habe und mich nun in einem kurzzeitigen Zustand der Bewusstlosigkeit und geistigen Umnachtung befinde, dem kann ich nur antworten (wenn ich antworten könnte, aber ich besitze ja keinerlei Verfügungsgewalt mehr über meine Körperteile, Stimmbänder eingeschlossen): Ein Teil meines Gehirns klebt gerade an der Tischkante einen Meter über mir, Schlaukopf!

Die Frage tut sich auf, was denn jetzt genau mit mir los ist, wo ich doch sterbe und gleichzeitig alle gängigen Sterbeillusionen über Bord geworfen habe. Wenn ich nicht nostalgisch werde, nicht herumgeistere und auch nicht durch die Luft schwebe, was tue ich dann?

Die Antwort ist: nichts.

Ich tue nichts mehr.

Ich habe nichts mehr.

Ich bin nur noch.

Das Einzige, was mir geblieben ist, ist mein Bewusstsein, der Umstand, dass ich mir meiner bewusst bin. Womit auch bewiesen wäre, dass ich nicht bewusstlos bin. Mein Bewusstsein läuft auf Hochtouren. Ich habe durch die Kopfverletzung keine Amnesie erlitten oder so etwas. Bitte, der Beweis:

Was ich weiß:

Ich heiße Valerie Weißenburg. Ich bin 35 Jahre alt und seit 5 Jahren verheiratet mit Richard Weißenburg, erfolgreicher Anwalt für Medienrecht mit einer eigenen Kanzlei in Köln und so ganz nebenbei der beste Mann der Welt. Wir haben eine Tochter, Antonia, genannt Toni, 11 Jahre, und einen Sohn, Edgar, genannt Eddie, 3 Jahre. Ich erwarte gerade unser drittes Kind. Ich bin mit ganzem Herzen Lektorin für Backbücher. Meine Hobbys sind Backen, Reiten und meinen greisen, pupsenden Bullterrier »Labrador« zu kraulen. Ich telefoniere mindestens dreimal täglich mit meiner Mutter, die mit meinem Vater vor ein paar Jahren an den Bodensee gezogen ist. Ich habe zwei beste Freundinnen. Bea und Sophie, von denen letztere mich soeben umgebracht hat.

Was ich nicht weiß:

Warum.

Paradoxerweise ist mein Kopf, seit ihm eine tödliche Wunde zugefügt wurde, so klar wie nie. Ich verfüge über keinen meiner Sinne mehr, und dennoch sehe ich, dass die Tischkante in der Backstube nicht sonderlich appetitlich ausschaut. Ich höre, dass der Tag draußen für alle anderen Menschen gerade erst beginnt, während für mich hier drinnen alles zu Ende geht. Ich rieche, dass sich unter den Geruch frisch gebackener Törtchen die feine Note eisigen Blutes gemischt hat. Ein Parfum des Todes, das im Hades bestimmt der absolute Renner ist. Ich schmecke, dass es für alle Beteiligten ein Glück ist, dass das Kindergartenfest heute ohne meine Tofu-Törtchen stattfinden wird. Alles hat eben auch seine positiven Aspekte. Und ich fühle den unsäglichen Schmerz des Verlustes, weil ich die Menschen, die ich am meisten liebe, für die zu sterben ich immer bereit war, und ohne die ich jetzt sterben muss, nie wieder sehen werde. Ich fühle das grausame Entsetzen und die Hölle des Vermissens, weil ich mein Kind verloren habe, das ich in mir trage. Weil ich Antonia und Eddie verloren habe. Weil ich Richard verloren habe. Weil ich ganz alleine bin.

Und um alle Zweifler zum Schweigen zu bringen:

Ich weiß – mit absoluter Gewissheit und mit der Macht der Vorsehung –, dass ich sterbe. Irrtum ausgeschlossen. Und das ist vermutlich der einzige übernatürliche, unerklärliche, wundersame Mythos, den es in der Kategorie Tod/Sterben/Lebensende gibt, den ich heute nicht widerlegen kann.

P.S.

Gab es da nicht mal diesen Film, in dem Brad Pitt als heißer, charmanter und unwiderstehlicher Tod höchstpersönlich durch die Welt flaniert und die Menschen, bei denen die Zeit abgelaufen ist, mit auserwählter Höflichkeit, behutsam und taktvoll darum ersucht, ihm nun unauffällig zu folgen?

Hier ist kein Brad Pitt!

Wer in Hollywood denkt sich nur eine solche Scheiße aus?!

Bea

Es ist nichts Unübliches, dass bei mir morgens um sieben das Telefon klingelt. Ich bin Arbeitgeberin. Ich beschäftige mehrere Angestellte. Das heißt, wann immer ein Vogel gegen die Schaufensterscheibe der Sahneschnitte kackt, das Kühlsystem ein »merkwürdiges, brummendes« Geräusch macht (was es schon tut, seit du hier arbeitest, Corinna, denn Kühlsysteme geben nun mal merkwürdig brummende Geräusche von sich!) oder das Buch mit den Tagesbestellungen unauffindbar ist (was per definitionem bedeutet, dass es sofort nach dem panischen Anruf bei mir dann doch plötzlich wieder da ist): Die Nummer der Chefin ist per Kurzwahl im Ladentelefon gespeichert und wird immer wieder gerne genutzt. Seit ich nicht nur die Besitzerin der erfolgreichsten und innovativsten Konditorei in Bonn und Umgebung bin, sondern auch Inhaberin – und momentan leider noch Bauherrin – des zukünftigen Sterne-Restaurants Hoven, sind die allmorgendlichen Telefonate nicht weniger geworden und dienen mir jetzt praktischerweise als Weckruf.

Irgendwer hat immer ein Problem. Und ich bin die Problemlöserin. Ich bin es gerne. Ich bin unersetzlich.

Heute Morgen bin ich gerade unersetzlicher Teil eines Zwei-Personen-Liebesaktes, der sich in seinem Endstadium – oder wie ich es nenne: Sterbephase – befindet und, diplomatisch formuliert, nicht unbedingt zu den krönungswürdigen Höhepunkten (im doppelten Sinn, haha!) meines Lebens gehört.

Stefan müht sich redlich.

Als Anerkennung seiner leider fruchtlosen Bemühungen klopfe ich ihm aufmunternd und den Rhythmus vorgebend auf die Schulter, was er allerdings entweder nicht mitbekommt oder nicht als den Wink mit dem Zaunpfahl versteht, als der es gemeint ist. Ich stoße ein paar krähenartige »Aaaargh, Aaaaargh«-Laute aus, um ihn nicht zu beschämen. Als Chefin weiß ich, wie wichtig die Motivation der Untergebenen ist, um bestmögliche Leistung zu erhalten. Was bei Corinna, Danny oder Horst, dem Bauleiter der Hoven-Baustelle, verblüffend einfach funktioniert, läuft bei Stefan ins Leere. Ganz offensichtlich ist er an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gestoßen, als er seine Boxershorts eigenhändig auszog, da hilft auch keine gut gemeinte Ermunterung meinerseits mehr.

Seitdem missvergnüge ich mich mit einem stümperhaften Mittzwanziger, der seinen Unterkörper an mir auf und ab schrubbt, als wäre er Mister Vileda-Wischmop höchstpersönlich und ich ein hartnäckig verschmutzter Fußboden. Was vielversprechend gestern Nacht begann, hat sich als Niete, Flopp, Totalschaden entpuppt. Wäre ich ein Mensch, der zu Selbstzweifeln neigt, ich könnte langsam an meiner Menschenkenntnis zu zweifeln beginnen. Oder wie kommt es, dass ich mir die Enttäuschung in Männergestalt ins eigene Bett geholt habe? In letzter Zeit scheine ich einfach nicht mehr das richtige Näschen dafür zu haben. Ich zähle die Sexualkontakte der jüngsten Zeit an meiner Hand ab, während Stefan mir ins Ohr schnaubt und dabei eindeutig Speichel versprüht.

Da wäre zunächst einmal Rüdiger, der Jochen ablöste und damit die Welle der Enttäuschungen einläutete. Rüdiger kam dreimal in der Woche. Obwohl er jede Nacht der Woche zu mir kam, wenn Sie verstehen, was ich meine. Nach zwei Wochen kam Rüdiger gar nicht mehr, weil ich ihm die Tür nicht mehr öffnete. Und das meine ich jetzt ganz wortwörtlich.

Ludger zeichnete mir zuerst die Baupläne für das Hoven und demonstrierte mir danach sein ganz persönliches architektonisches Meisterwerk, verabschiedete sich aber dann leider nach Dubai, wo ihm ein toller Architektenjob angeboten worden war. Wäre ich ein Mensch, der zu Liebeskummer neigt, wäre dies der richtige Zeitpunkt dafür gewesen.

Mit Dennis prügelte ich mich im Fitnessstudio fast darum, wer das magische, kalorienvernichtende POWER Fit 2000-Ergometer als Nächster besteigen durfte. Ich gewann und schlug ihm später bei einem gemeinsamen Proteinshake vor, als Entschädigung doch mich zu besteigen. Was soll ich sagen? Die Klischees über Bodybuilder stimmen. Als er mich nach einem Monat immer noch mit »Leah« ansprach und hilflos verdutzt seine Stirn runzelte, wenn ich ihn ignorierte, habe ich sein zusätzliches Fitnesstraining annulliert.

Und nun also Stefan, die Baustellen-Aushilfe, irgendein Neffe des Schwagers von Horst, meinem Bauleiter. Ich habe nicht richtig zugehört, nur zugesehen, als Stefan grüßend die Hand an den Kopf legte und danach weiter den alten Estrich von 300 Quadratmetern Gesamtbodenfläche der Halle abhobelte, die später einmal, irgendwann im Jahr 3000, wenn ich nicht langsam mal ein ernstes Wörtchen mit dem Bautrupp rede, der edle Gastraum meines Nobelrestaurants werden soll.

Als positiv denkender Mensch glaubte ich zunächst noch an glückliche Fügung, dass ich Stefan, verschwitzt und mit wunderbar zerstrubbelter, blonder Mähne, gestern noch so spät am Abend auf der Baustelle antraf, wo ich das absolvierte Tagwerk kontrollieren wollte. Eine Nacht später sehe ich mich mit der traurigen Wahrheit konfrontiert.

Ich stoße noch ein weiteres »Aaaargh«-Geräusch aus, das Stefan anscheinend als Laut der höchsten Befriedigung interpretiert, denn er rubbelt seine Wange an meiner und grunzt dabei selbstzufrieden, als das Telefon klingelt und mich erlöst. Wer immer jetzt auch anruft, er tut mir gerade den größten Gefallen.

Ich winde mich aus der Presswurst-Umarmung, in der ich seit geraumer Zeit gefangen gehalten werde, und angele mir mein iPhone.

»Ja!«

Stefan unterbricht sein Keuchen, was ich ihm hoch anrechne.

»Bea ... Bea ... Es ist etwas Furchtbares passiert ...«

Ich identifiziere die Stimme anhand ihrer extrem schrillen Hochlage als die von Corinna, eine meiner Vollzeit-Konditorinnen.

»Corinna, das Bestellungs-Buch ist bestimmt nicht geklaut worden. Schau doch mal im Fach neben der Kasse nach. Da packt es Danny doch immer hin.«

»Es geht nicht um ... Es ist etwas wirklich Schlimmes passiert.«

In einer Sekunde denke ich, dass nachts jemand in die Sahneschnitte eingebrochen ist und aus Wut darüber, keine Wertsachen gefunden zu haben, randaliert und alles kurz und klein geschlagen hat. Das wäre so ungefähr das Schlimmste, das ich mir vorstellen kann. Auch wenn ich natürlich gegen so etwas versichert bin. Ärgerlich und beängstigend wäre es allemal. »Ist jemand eingebrochen?«, frage ich.

»Es geht um Frau Weißenburg. Mit ihr ist etwas passiert!«

Valerie! Mit einem Ruck richte ich mich auf, sodass Stefan von mir herunterpurzelt. Valerie ist heute früh in der Sahneschnitte, um für Eddies Kindergartenfest zu backen. Irgendetwas Entsetzliches mit Tofu. Dafür hatte sie sich extra gestern Nachmittag den Schlüssel bei mir ausgeborgt. Das hatte ich völlig vergessen. Ist sie etwa von dem Einbrecher überrascht worden?

»Was ist mit ihr?«, frage ich scharf.

»Sie muss gestürzt sein. Sie liegt hier auf dem Boden. Ich glaube, sie ist tot.« Das letzte Wort wird mit einem schrillen Schluchzen hinweggespült. Eine schwarze Flutwelle reißt mich weg.

Ich klammere mich an das Telefon wie an eine Rettungsboje. »Corinna! Hast du einen Krankenwagen gerufen? Ist sie ansprechbar? Himmel, du wirst doch wohl nicht zuerst mich angerufen haben!«

Am anderen Ende höre ich nur Schweigen, unterbrochen von kieksenden Schluchzern.

»Corinna, hörst du mich?! Ruf sofort einen Notarzt! SOFORT! Hast du verstanden? Ich bin gleich da!« Ich schreie hysterisch und springe aus dem Bett.

»Ist alles in Ordnung?«, fragt Stefan mit treudoofem Hundeblick, und ich kann nicht glauben, dass er das wirklich gefragt hat. Ich beachte ihn nicht, sondern nehme gleich wieder mein Handy und rufe die 112. Sicher ist sicher. Wer weiß, vielleicht kocht Corinna erst noch Kaffee und staubwedelt die Vitrine, bevor sie ein Menschenleben rettet.

»Bea Tamello hier! Vielleicht haben Sie schon einen Notruf erhalten, aber Sie müssen sofort einen Krankenwagen zur Konditorei Die Sahneschnitte in der Kapuzinerstraße schicken. Eine verletzte Person. Mehr weiß ich nicht!«

Ich wiederhole noch einmal meinen Namen und die Adresse, um danach darüber aufgeklärt zu werden, dass schon ein Notruf diesbezüglich eingegangen ist.

Dann stürze ich aus meiner Wohnung und renne zu Fuß die kurze Wegstrecke zwischen meiner Wohnung und meiner Konditorei. Corinnas dünnes, verschrecktes Stimmchen, das mir die wahnwitzige Mutmaßung mitteilte, Valerie sei tot, hallt mir im Rhythmus meiner Schritte durch den Kopf. Oh Gott! Mach, dass meine Angestellte einfach nur die panische Schreckschraube ist, für die ich sie halte. Und dass Valerie, wenn ich gleich in die Sahneschnitte stürze, an einem der Kaffeetische sitzt, eine Beule am Kopf oder eine Brandblase am Unterarm hat, auf jeden Fall irgendetwas, worauf sich ein Coolpad drücken lässt, mich anlächelt und mir von einem »extrem peinlichen Missgeschick« erzählt.

Ein Notarztwagen mit lautlos rotierender Sirene und ein Krankenwagen stehen auf dem Bürgersteig vor der Sahneschnitte. Als ich an Valeries BMW vorbeilaufe, wird mir bei dem vertrauten Anblick warm ums Herz. Bestimmt hat sich schon ein Rettungssanitäter unsterblich in Valerie verliebt, während sie ihn von der Unsinnigkeit zu überzeugen versucht, sie ins Krankenhaus zu bringen, wenn sie doch stattdessen Vanillewaffeln für das ganze Team backen könnte. Ich stürme in meinen Laden, dass das Glöckchen über der Eingangstür einen epileptischen Anfall erleidet.

»Valerie!«, rufe ich, als ich sehe, dass der Cafébereich menschenleer ist.

Ich stoße die Tür zur Backstube auf. Und befinde mich mitten am Set zu Emergency Room. Rettungskräfte tummeln sich in meiner Küche. Eine furchtbar klein ausschauende Gestalt liegt regungslos am Boden und wird von einem Sanitäter bebeutelt. (Woher, zum Teufel, kenne ich einen Begriff wie »bebeuteln«?!) Die furchtbar klein ausschauende Gestalt ist Valerie. Ihre Burberry-Bluse ist aufgerissen, die Knöpfe abgesprungen, das gibt Ärger. Valeries cremefarbener Spitzen-BH blitzt hervor. Elektroden führen an Kabeln von ihrem blassen Brustkorb zu einem Monitor. Ein Notarzt kniet neben Valerie, einen Defibrillator in der Hand. (Woher, zum Teufel, weiß ich, dass das hier ein Defibrillator ist?!) Wenn Chaos in meiner Backstube herrscht, dann pflege ich laut zu schreien. Und alles geht wieder geordnet seinen Gang. Also tue ich genau das.

Ich schreie: »Was ist hier los?! Was ist mit Valerie?«

Wie auf Kommando drehen sich alle zu mir um. Der Notarzt entpuppt sich als stämmige Frau mit raspelkurzen, grauen Haaren. Sie hält die Griffe des Defibrillators wie Stoppschilder hoch.

In meiner Küche stoppt mich niemand! »Ich bin die Besitzerin dieser Konditorei! Sagen Sie mir, was mit Valerie ist!!«

»Ich kann noch nichts sagen. Allem Anschein nach ist sie gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen. Wir reanimieren sie seit unserem Eintreffen.« Die Notärztin beugt sich über Valerie. »Weg!«, ruft sie, und der Sanitäter, der Valerie bebeutelt, weicht nach hinten aus. Wie zwei Stempel drückt sie die Flächen des Defibrillators auf Valeries Oberkörper.

Ein Zucken erschüttert meine beste Freundin wie ein kleines Erdbeben, ein Valerie-Beben. Sie wird von einem Zittern geschüttelt. Als hätte sie gerade jemand zu Tode erschreckt. Das Gerät auf dem Boden piepst. Kurven tanzen über den Monitor.

Die Notärztin hält inne und beobachtet die blinkenden Zahlen auf dem Bildschirm. »Puls steigend, Sauerstoffsättigung bei 62 Prozent. Weiter bebeuteln.«

Ich weiß nicht genau, was das heißt. Aber es hört sich gut an. Verdammt gut. »Wie ... wie geht es ihr ...?«

Die Notärztin zieht eine Spritze auf und sticht sie Valerie in ihre weiße Armbeuge. Dann dreht sie sich zu mir um. »Ihr Herz schlägt wieder. Sobald wir sie stabilisiert haben, bringen wir sie in die Klinik. Hat sie Angehörige, die Sie benachrichtigen können?«

Ich muss Sophie Bescheid geben.

Und Richard.

Ich sollte vielleicht erst Richard Bescheid geben und dann Sophie, überdenke ich die angebrachte Reihenfolge. Und, oh mein Gott, was soll ich ihnen sagen?

»Ich muss ihren Mann anrufen«, sage ich.

»Tun Sie das, aber nicht hier. Lassen Sie uns jetzt unsere Arbeit machen!« Sie sieht aus, als hätte sie gerade mit dem Tod höchstpersönlich gekämpft und ihm Valerie aus den Fängen gerissen.

Wenn ich zu emotionalen Ausbrüchen neigen würde, müsste ich sie jetzt drücken. Aber ich neige nicht zu emotionalen Ausbrüchen. Sie ist Notärztin. Es ist ihr Job, dem Tod einen Arschtritt zu verpassen. Und trotzdem: Sie hat Valeries Herz wieder zum Schlagen gebracht. Vielleicht sollte ich das Hoven nach ihr umbenennen. Was ist schon die 9. Symphonie gegen Valeries zweites Leben? Sorry, Beethoven!

Ich taumle mehr, als dass ich gehe. Als ich mich umdrehe, stoße ich gegen Corinna, meine Konditorin, die angstweiß und schlotternd in der Ecke neben der Tür kauert.

Mit panischen Augen starrt sie mich an wie Bambi, dem gerade ein Gewehr ans Geweih gedrückt wird. Sie droht, in ihrer weißen Konditorenjacke zu ertrinken. Ich schleife sie hinter mir her in den Cafébereich der Sahneschnitte.

»Bea, es tut mir so leid. Ich konnte nichts tun ...«

»Du hast den Notarzt gerufen. Das war das einzig Richtige, was du tun konntest. Ich danke dir.« Ich bin tatsächlich beeindruckt, dass Corinna zuerst die 112 und dann mich angerufen hat. Ich hätte meine Hand dafür nicht ins Feuer gelegt.

Apathisch lässt sich meine Angestellte von mir an einen Wandtisch führen. Ich klemme sie zwischen Stuhllehne und Tisch ein, wie ein Buch zwischen zwei Buchstützen, damit sie nicht vom Sitz kippt.

»Wie fühlst du dich, Corinna? Du siehst ziemlich mitgenommen aus.«

»Sie mussten sie reanimieren«, stottert Corinna.

Dieses Wort aus ihrem Mund klingt, als hätte sie eine Statistenrolle am Drehset ergattert und probte nun ihren Text. Fremdwörter, zumal aus dem medizinischen Bereich, gehören nicht gerade zu Corinnas Vokabular, das sich schon standhaft weigert, Begriffe wie »Eclairs« oder »Profiteroles« längerfristig zu speichern.

»Ich habe gehört, dass bei einer Herzmassage die Rippen brechen«, flüstert sie heiser und schaut mit ihren blassblauen Augen zu mir auf.

Von der fiebrigen Aufregung in ihrer Stimme, die mich an sensationslüsterne Gaffer bei einem Verkehrsunfall erinnert, wird mir ohne Vorwarnung speiübel.

Vermutlich leidet sie an den Folgewirkungen eines Schocks, aber ich drehe mich angewidert weg, bevor ich etwas sage oder tue, das mir später ein Arbeitsgericht vorwerfen könnte. Ich habe jetzt ein paar Telefonate zu führen.

Zeit für schlechte Neuigkeiten.

Sophie

14 Tatsachen über Glückspilze (in chronologischer Reihenfolge)

1. Glückspilze kommen schon mit einem fetten, zahnlosen Gute-Laune-Grinsen auf die Welt und freuen sich glucksend auf das prall mit Glück gefüllte Leben, das vor ihnen liegt. Glückspilz-Babys schreien nicht, sie jubilieren.

2. Wer mit einem Glückspilz befreundet ist, muss automatisch die Rolle des Pechvogels auf sich nehmen. Ein Beispiel: Ein Glückspilz schummelt beim wöchentlichen Englisch-Vokabeltest. Du auch. Ihr schreibt von demselben Spickzettel ab. Natürlich wirst du erwischt und ins Klassenbuch eingetragen. Der Glückspilz bekommt eine 1 mit Sternchen und ein Lächeln von der Lehrerin.

3. Das schlimmste Unglück, das einem Glückspilz in seiner Kindheit und Jugend widerfährt, ist der Tod des Hamsters. Natürlich wäre der Glückspilz kein Glückspilz, bekäme er nicht zum Trost einen Welpen geschenkt.

4. Das Glück von Glückspilzen bedeutet zwangsläufig das größte Unglück für andere: Denn der Junge, in den du mit 14 unsterblich verliebt bist, fragt selbstverständlich nicht dich, ob du mit ihm gehen willst, sondern einen gewissen Glückspilz. Der natürlich ja sagt. Und dich anschließend damit nervt, dir jedes Detail vom ersten gemeinsamen Kinodate haarklein zu berichten, während du dir alleine My Girl anschauen musst und einsam vor dich hinweinst, wenn Macaulay Culkin von einem Bienenschwarm gestochen wird und tragisch an einem anaphylaktischen Schock stirbt.

5. Ein pubertärer Glückspilz kennt weder Hautprobleme noch unangenehmen Schweißgeruch noch Regelschmerzen oder missglückte Teenager-Frisuren. Ein pubertärer Glückspilz ist eine wunderschön knospende Blüte, kein hormoneller Unglücksfall wie gewisse andere Heranwachsende.

6. Ein Glückspilz wird in der Abi-Zeitung zum beliebtesten Mädchen der Stufe gewählt. Du tauchst in dieser Rangliste nicht auf.

7. Der netteste, liebevollste, attraktivste, intelligenteste, wohlhabendste, aus bester Familie stammende und einfach tollste Mann, der dir jemals über den Weg gelaufen ist, verliebt sich auf den ersten Blick und für immer und ewig in – dreimal dürfen Sie raten – einen Glückspilz und nicht in dich.

8. Ein Glückspilz absolviert in den Semesterferien in einem Buchverlag ein Praktikum, schafft mal so eben nebenbei eine neue Backbuchautorin heran, die dem Verlag seine größten finanziellen Erfolge beschert, und nimmt die ihm daraufhin angebotene Festanstellung mit Kusshand an, während er gleichzeitig hochschwanger sein Literaturstudium abschließt, dem Mann frische Waffeln zum Frühstück zaubert und dabei immer wunderbar frisch, erholt und zum Kotzen glücklich aussieht. Ein Glückspilz ist ein beschissenes Multitasking-Talent.

9. Der Unterschied zwischen einem Glückspilz und dir ist, dass der Glückspilz sich in seinem beruflichen Erfolg sonnen kann, während dein Büro noch nicht einmal ein Tageslicht-Fenster hat.

10. Der Unterschied zwischen einem Glückspilz und dir ist, dass der Glückspilz die Braut ist und du die Brautjungfer bist.

11. Der Unterschied zwischen einem Glückspilz und dir ist, dass der Glückspilz die Mutter des kleinen Eddies ist und du die Patentante bist.

12. Der Unterschied zwischen einem Glückspilz und dir ist, dass der Glückspilz im Schlafzimmer der prächtigen Gründerzeit-Villa schläft, während dir nach ein, zwei Gläsern Rotwein zu viel das Gästezimmer angeboten wird.

13. Übrigens: Es gibt nie genug Glück für zwei Glückspilze. Darum kann es auch immer nur einen Glückspilz geben in einem Feld voller Champignons, Pfifferlinge und Stinkmorcheln. Das bedeutet: Wenn du beschlossen hast, dass es an der Zeit ist, die Rolle des Pechvogels aufzukündigen und nun selbst ein bisschen glückspilzig zu werden, dann muss der andere Glückspilz erst das Feld räumen.

Wie du gerade feststellen musst, ergibt sich dabei folgendes Problem:

14. Wenn du einen Glückspilz umbringst, dann stirbt er nicht.

Richard

Ich laufe triefend aus der Dusche und schlinge mir ein Handtuch um die Hüften, während ich versuche, das klingelnde Telefon zu erreichen.

»Richard.«

Im ersten Moment kann ich die Stimme nicht einordnen. Im zweiten identifiziere ich sie als Beas und registriere gleichzeitig, dass sie so gar nicht wie Beas Stimme klingt. Weniger blasiert und wichtigtuerisch als üblich, sondern eher reserviert, nahezu zurückhaltend. Beinahe schüchtern, denke ich und werde auf der Stelle misstrauisch.

Wer Bea kennt, der weiß, dass die vollbusige Kampfamazone mit ihrer über 1,80 Meter Körpergröße und ihrem scharfkantig geschnittenen Bob, der mehr eine Waffe als eine Frisur ist, alles, aber niemals schüchtern ist. Sie ist eine Domina, deren Peitsche ihre Zunge ist. Und ihr bevorzugtes Ziel sind selbstbewusste, erfolgreiche Männer, die ihr anscheinend irgendwelche Minderwertigkeitsgefühle verursachen. Kurz: Ihr bevorzugtes Opfer bin ich.

»Gut, dass ich dich erreiche.«

»Was kann ich für dich tun, Bea? Valerie ist nicht da.«

»Ich bin in der Sahneschnitte ... Valerie hatte einen Unfall.«

Meine feuchten Zehen verkrallen sich im flauschigen Teppichboden.

»Was?! Was ist mit ihr?«

»Sie hat sich den Kopf angeschlagen«, sagt Bea und für einen Moment fließt die Erleichterung durch meinen Körper wie heiße Lava.

»Na, solange sie sich noch daran erinnert, dass sie einen Ehemann hat«, gebe ich Bea scherzhaft eine Vorlage, die sie garantiert giftig beißend erwidern wird.

Aber das tut sie nicht.

Erst ist es still am anderen Ende der Leitung, dann antwortet Bea zögerlich. »Es ist ernst, Richard«, sagt sie, und plötzlich klingt ihre Stimme schrill wie zersplitterndes Eis. »Sie war schon ... die Rettungskräfte mussten Valerie wiederbeleben.«

Ich habe eine Erdnussallergie. Ein genetischer Defekt, den ich leider an meinen Sohn vererbt habe. Wenn ich welche esse, schwillt zuerst mein Gaumen an und meine Zunge wird ganz pelzig, als wäre sie keine Zunge, sondern ein kleiner Nerz, der in meiner Mundhöhle lebt und mir die Luft abdreht.

Beas Worte wirken wie eine Überdosis Erdnüsse.

»Die Notärztin hat sie reanimiert. Sie ist jetzt wohl wieder stabil. Aber sie ist nicht bei Bewusstsein, Richard! Hör zu, ich weiß nicht genau ...«

»Ich will mit der Notärztin sprechen. Gib sie mir!« Ich röchle nach Sauerstoff.

»Ich glaube kaum, dass sie jetzt Zeit hat, um sich mit dir zu unterhalten. Sie bringen Valerie jetzt ins Krankenhaus.«

»In welches?«

»Ähm ...«

»Herrgott, Bea? In welches Krankenhaus bringen sie sie?!«

»Sekunde.«

Stille.

Ich höre Schritte, dann nur noch dumpfes Rauschen. Vermutlich hat Bea das Telefon an ihren üppigen Busen gepresst. Ich starre auf meine nackten Zehen, die ganz weiß geworden sind, so sehr krampfen sie sich in den Teppich. Eine Sekunde hat niemals zuvor so lange gedauert. Sie fühlt sich an, als hätte ich Zeit, das BGB zu rezitieren.

»Richard? Sie bringen Valerie in die Universitätsklinik. Du sollst in der Notaufnahme nach ihr fragen. Ich fahre mit ihr. Wir sehen uns dann da. Bis gleich!«

Ich lege das Telefon zurück auf den Nachttisch neben unserem Ehebett und bleibe für fünf Sekunden mit geschlossenen Augen stehen, während Wassertropfen aus meinen Haaren abperlen und wie Tränen über mein Gesicht strömen.

Es ist mein Job als Ehemann und Familienvater, jetzt wohlüberlegt und ruhig zu handeln. Einen kühlen Kopf zu bewahren.

Panik hilft niemandem. Das sage ich auch immer zu Antonia, wenn sie am nächsten Tag eine Mathearbeit schreibt oder irgendwo eine Spinne gesichtet hat.

Ich rubble mich mit dem Handtuch trocken, ziehe mich an und versuche, die Angst um Valerie in eine gut gesicherte Ecke meines Kopfes zu verbannen. Ich muss meiner Sekretärin Bescheid geben, dass sie alle Termine für heute absagt. Ich muss sie bitten, einen wichtigen Vertrag rauszuschicken, der auf meinem Schreibtisch liegt. Mir fällt ein, dass für heute eine Telefonkonferenz ansteht, die jetzt verschoben werden muss.

Die gute Nachricht ist: Mein Kopf funktioniert noch. Ich habe nicht den Verstand verloren.

Die schlechte Nachricht ist: Ich bin kurz davor.

Als ich ins Erdgeschoss hinunterkomme, höre ich Popmusik aus dem Küchenradio schallen. Antonia summt schief, während Eddie auf seine laut blubbernde Art kichert.

»Programmänderung!«, sage ich im Befehlston und betrete durch das Wohnzimmer den offenen Küchenbereich.

Auf dem Frühstückstresen herrscht ein heilloses Chaos und Antonia und Eddie vollführen gerade so etwas wie den Ententanz zu Shakiras Waka Waka um die Kochinsel herum.

Labrador hat seinen fassförmigen, weißen Körper vor der Terrassentür abgelegt und schaut aus seinen schmalen Bullterrieraugen den beiden Kindern beim Tanzen zu wie ein stolzer Großvater, den der Übermut der Jugend gutmütig schmunzeln lässt.

»Papaaaaaaa!«

Eddie kommt mit seinen kurzen, stämmigen Beinchen auf mich zugestürmt, als wäre ich gerade aus zehnjähriger Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. Dabei habe ich ihn vor zwanzig Minuten geweckt, fertig gemacht, angezogen und huckepack runter in die Küche getragen, wo sich seine Schwester schon zum Frühstück niedergelassen hatte. Ich streichle über seine dunkelblonden Haaren, die zu bürsten ich völlig vergessen habe.