Die Krimi-Cops
Knock Out

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Die Krimi-Cops

Knock Out

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Originalausgabe
© 2015 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
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Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
Print-ISBN 978-3-95441-258-7
E-Book-ISBN 978-3-95441-271-6

Für
Rod Stewart

Vom Autoren-Team bisher bei KBV erschienen:

Stückwerk

Teufelshaken

Umgelegt

Bluthunde

Die Krimi-Cops sind:

Carsten »Casi« Vollmer, Jahrgang 1967, aus Düsseldorf, Ingo »Inge« Hoffmann, Jahrgang 1978, aus Hilden, Carsten »Rösbert« Rösler, Jahrgang 1977, aus Düsseldorf, Martin Niedergesähs, Jahrgang 1977, aus Herongen und Klaus »Stickel« Stickelbroeck, Jahrgang 1963, aus Kerken. In ihren Büchern verarbeiten die Polizisten nach Feierabend mal komische, mal härtere Einsätze der zurückliegenden Schichten. Mit »Bluthunde« haben sie nun bereits den vierten witzig-spannenden Kriminalroman um den Düsseldorfer Kriminalhauptkommissar Pit »Struller« Struhlmann und seinen Praktikanten Jensen verfasst. www.krimicops.de

1. Kapitel

Schnell. Schneller!

Mit letzter Kraft krallten sich ihre nass-klammen, kalten Finger an den Mauervorsprung. Sie prustete fauliges Brackwasser von ihren Lippen und schloss die Augen. Ihre blanken, blutigen Füße erstrampelten sich Halt.

Schneller!

Es musste, es musste beim ersten Mal klappen! Sie musste raus aus dem Wasser! Weg von hier! Jeder Muskel ihres Körpers war angespannt, die nasse Kleidung hing schwer an ihrem Körper. Sie holte Schwung und wuchtete sich hoch. Ihre linke Hand rutschte ab, die Zehen wollten an der nassen Betonwand nicht greifen, sie drohte vollends zurückzurutschen, zurück in das kalte Hafenbecken.

Das … das wäre das Ende. Dann wäre doch noch alles umsonst gewesen. Entschlossen spannte sie jede schmerzende Faser in ihrem Leib an, biss die Zähne laut knirschend aufeinander, presste alle verbliebene Kraft in ihre Muskeln. Im allerletzten Moment brachte sie zitternd ihren Oberkörper nach vorne. Stück für Stück. Fast, fast hatte sie es geschafft. Fast. Sie spürte, dass sie vollends den Halt zu verlieren schien, dass sie kaum merklich langsam nach hinten rutschte, zurück ins …

Ein ohrenbetäubender Knall krachte hinter ihr durch die Nacht. Metall knirschte, es zischte, wütend grollte ein Fauchen über das eiskalte Wasser hinter ihr.

Hinter ihr? Hinter ihr … waren sie!

Der gewaltige Donnerschlag setzte letzte Kraftreserven frei, stieß sie nach oben über den Mauervorsprung. Ihr Oberkörper klatschte nass auf den groben Beton. Hastig zog sie ihr rechtes Knie, dann das ganze Bein über die Kante. Mühsam erstrampelte sie sich Zentimeter um Zentimeter, rutschte nach vorne, zog das zweite Bein nach.

Zweimal atmete sie – immer noch auf dem Bauch liegend – kräftig ein und aus, pumpte frische Luft in ihre Lunge. Das schmerzte. Und fühlte sich dennoch so gut an. So unwahrscheinlich gut, denn … sie lebte.

Aber sie hatte keine Zeit zu verlieren, noch war sie nicht in Sicherheit.

Ächzend rappelte sie sich auf. Geduckt hielt sie inne und strich fahrig eine strohblonde, nass-klebrige Haarsträhne aus dem Gesicht.

Sie fuhr zusammen.

Zwei Schüsse pfiffen wie Peitschenhiebe durch die Nacht. Ein dritter Schuss, ein vierter.

Schoss man auf sie? Hatten die Kerle sie entdeckt? War alles umsonst?

Sie ließ sich in die Hocke fallen, ihre Knie schmerzten. Sie drehte sich um und entdeckte auf der anderen Seite des Hafenbeckens einen Feuerball, der wie eine hellrot strahlende Faust gen Himmel drohte. Von dort kam der mächtige Knall, dort fielen die Schüsse.

»Weit weg«, stieß sie aus.

Aber nicht weit genug! Schneller! Schneller jetzt!

Taumelnd richtete sie sich auf und rannte los.

»Aaaaah!«

Sie stoppte, riss eine Fußsohle in die Höhe und zog einen spitzen, rostigen Metallhaken aus ihrem Fußballen. Sie ignorierte das Blut, scherte sich nicht um die Schmerzen, sie wollte leben. Das war alles. Nur leben. Deshalb musste sie …

»Weg von hier!«

Sie nahm sich eine Sekunde Zeit, um sich zu orientieren? Wo war sie? Sie kannte sich überhaupt nicht aus, hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, hatte keinen blanken Schimmer, wie sie hierhergekommen war. Was war das für ein graues, dunkles Gebäude? Eine alte Fabrik? Verlassen? Egal, jeder Ort war besser als das Hier und Jetzt! Sie musste weg.

»Nur weg!«

Sie blickte sich kein weiteres Mal um, sondern schob eine dicke Plastikplane, die einen Eingang verdeckte, zur Seite und stolperte in das finstere Gebäude hinein. Die blasstrübe Dunkelheit verschluckte sie bereitwillig.

Hier gab es keine Lichtschalter, die sie sowieso nicht hätte betätigen dürfen. Aber durch die scheibenlosen Fensterlöcher fiel so viel Mondlicht in den Raum vor ihr, dass sie vorsichtig tastend nach vorne schreiten konnte. Langsam gewöhnten sich ihre Augen immer besser ans fehlende Licht. Eine Treppe? Hoch? Oder weiter?

»Nein!«

Entsetzt riss sie den Kopf herum. Hatte sie mit ihren Füßen auf dem trockenen Boden nasse, verräterische Spuren hinterlassen? Sie entspannte sich, nein! Nach wenigen Schritten hatten sich ihre zuvor klatschnassen Füße staubtrocken gelaufen, keine Abdrücke, keine Spu ren!

So schnell es ging stieg sie die nackte Betontreppe ohne Geländer nach oben, erreichte den Treppenabsatz. Die Wunde im Fuß schmerzte. Egal!

Wohin jetzt? Links? Rechts?

Rechts! Weiter! Durch die Fenster ohne Scheiben tauchte im Stockwerk darüber bizarres, rotes Licht flackernd ihre Umgebung in schattenreiches Licht. Nach der Explosion da draußen schien jetzt irgendetwas lodernd zu brennen.

Sie blickte sich um. Es schien ein alter Bürotrakt zu sein. Dünne Holzwände teilten den großen Raum in kleine Nischen. Vereinzelt lagen Bürostühle im Weg, ein zerbrochener Schreibtisch.

Aufpassen! Überall Glasscherben!

Sie schnappte nach Luft. Was war jetzt das? Am Ende des Flurs. Geräusche! Da war jemand. Stimmen. Mehrere Stimmen. Verflucht, hatte sie schon wieder alles, alles falsch gemacht? Saß sie schon wieder in der Falle?

»Was?«

Ein Luftzug! Ein Rascheln! Sie wirbelte herum. Unmittelbar hinter ihr stand ein Mann. Und der legte blitzschnell eine Hand auf ihren Mund. Entsetzt stellte sie fest, dass der kräftige Mann so verhinderte, dass sie um Hilfe schreien konnte. Der Kerl drückte sie rückwärts gegen eine Wand, ihre Füße strampelten hilflos nach Halt.

Und weil die große Hand des fremden Mannes nicht nur ihren Mund verdeckte, sondern auch ihre Nase zudrückte, bekam sie keine Luft mehr. Panisch riss sie ihre Augen auf und versuchte, dem Mann in die Hand zu beißen. Was nicht gelang …

Dann explodierte irgendwo da draußen außerhalb des Gebäudes ein buntes Feuerwerk. Bizarre, farbige Lichtblitze warfen – einen Atemzug vor ihr entfernt – funkelnde Sprenkel in ein von grober Entschlossenheit verzerrtes Gesicht.

Das Gesicht war nicht einmal hässlich – das war merkwürdigerweise ihr letzter Gedanke, als das Lichtermeer verblasste und weicher, tiefschwarzer Dunkelheit wich.

* * *

»Su… Suuuuper!«

Der junge Mann im zerfransten Sweatshirt griff sich an die Kehle und fuhr mit seinem Zeigefinger die Speiseröhre entlang bis runter an seine Brust. Kerl, war das ein …

»Geiles Zeug! Hammer!«

Der Stoff blubberte und wubberte runter in den Bauch und wirbelte an Organen alles durcheinander, was noch halbwegs intakt war.

»Krass, Alter, krass!«

Beeindruckt den Kopf schüttelnd rückte er ein Stück zur Seite, denn das kleine, mit schweren Wackersteinen eingegrenzte Lagerfeuer, das er am Rand des Düsseldorfer Hafenbeckens entfacht hatte, schlug inzwischen gierig lodernde Flammen in den Julihimmel. Sein an den Rändern wässriger Blick fiel übers prickelnde Feuer hinweg auf einen fleckigen Schlafsack, der ein wenig abseits hinter ihm unter einem Fliederstrauch lag. Und auf den Inhalt.

»Ah … ja.«

Heike. Oder Meike? Ganz genau wusste er den Namen … nicht mehr. Die hätte er beinahe vergessen.

»Scheiße!«

Das war aber auch ein geiles Zeug.

Also, nicht die Heike oder Meike, sondern der Stoff. Ein Segen. Kristalle Gottes! Mit zittriger Hand führte er erneut die Selbstgestopfte an die Lippen. Er kniff die Augen zusammen. Ja, es würde schmerzen, aber … Suuuuper. Wo hatte er den krassen Stoff gekauft? Muss te er sich merken! Das war noch besser als …

»Heike.«

Oder Meike?

»Verdammt!«

Das saustarke Zeug kratzte ihm fransige Löcher in die Magenwand. Die Augen tränten, seine Hände schwollen an, Schweiß brach ihm aus. Und das lag nicht nur am Lagerfeuer neben ihm. Durst. Durst! Die inzwischen knochentrockene Kehle brannte wie Feuer. Überhaupt Feuer! Das war ja nicht mehr normal, da in seinem Bauch. Das brannte wie …

Sein Blick fiel auf den ausgebeulten Schlafsack. Bewegte sich das Stoffteil? Verdammt, lebte der Sack, der Schlafsack?

»Ach ja, die Heike … oder …«

Wie auch immer! Er kniff die Augen zusammen. Schwer waren sie, die Augäpfel. So schwer. Die Augäpfel zogen ihn nach vorne, drohten aus seinem Kopf zu fallen. Hingen nur noch an ihren dünnen Fäden. Nerven … Sehnen?

»Aufstehen.«

Er musste aufstehen, sich bewegen, seinen Kreislauf ein bisschen in Schwung bringen. Kerl, war das ein geiles Gift. Er musste sich unbedingt merken, wo er den …

Taumelnd brachte er seinen Körper in die Senkrechte, unsicher schwankte er hin und her. Fahrig griff er sich unters Sweatshirt, rieb sich den Bauch, versuchte sich den Schmerz aus dem Körper zu massieren. Schmerz. Und dieses andere Gefühl. Die Hitze hatte nicht nur den Bauch, sondern mit einem Mal auch noch andere Körperregionen erreicht.

»Heike«, flüsterte er und spürte mit einem Mal angenehm wohlig eine riesige Erektion in seiner Hose.

Aber: »Alles zu seiner Zeit, Baby.«

Er atmete tief ein und aus. Erst musste er … das hier … unter Kontrolle kriegen. Die Hitze war fast unerträglich. Ungelenk zog er sich – nach links und rechts stolpernd – das Sweatshirt über den dröhnenden Kopf. Ihm war so heiß.

Und dort lag Heike. Oder Meike.

Sein Bauch brannte. Wenn nur diese verdammten Augen nicht wären! Wie in einem billig gezeichneten Comic hingen ihm die Augäpfel aus dem Gesicht, flitschten in Richtung Boden, hoch und runter. Das tat weh. Sehr weh. Noch schlimmer war das Loch in seinem Bauch.

»Was …?«

Er hatte ein Loch im Bauch. Ein Loch? Ein Loch, das immer größer wurde. Die Ränder fraßen sich durch die Bauchdecke, zerätzten die Haut. Das schmerzte. Und brannte wie Feuer.

»Feuer?«

Feuer! Er brannte tatsächlich. Verdammt, er stand mit einem Bein im Lagerfeuer.

»Heilige Scheiße!«

Er stolperte entsetzt zur Seite, fiel fast zu Boden. Für einen Moment schob sich der dichte Drogenvorhang auseinander. Er entdeckte entsetzt seinen qualmenden Turnschuh, die Jeanshose klebte am Bein. Verflucht, er steckte mitten in einem verfickten, grausigen Drogenalbtraum. Das war alles nicht echt! Außer dem Feuer.

»Reiß dich zusammen! Ganz ruhig.«

Mühsam versuchte er, seine heftige Schnappatmung in den Griff zu bekommen. Er musste raus aus diesem breiigen, widerlichen Sumpf, der ihn langsam zu ersticken drohte. Sein tränenwässriger Blick fiel auf den regungslosen Schlafsack, auf die regungslose Meike. Oder Heike. Die, die, die hatte es gut. Die war schon tot …

»Tot!«

Er krümmte sich, ließ den Joint, den er immer noch in seinen krampfenden Fingern gehalten hatte, zu Boden fallen, drückte mit beiden Händen die klaffende Wunde in seinem Bauch zusammen. Die wahnsinnigen Schmerzen rissen den schweren Drogenvorhang noch ein Stück weiter auf. Seine zitternden Hände pressten seinen nackten Bauch zusammen. Er fuhr hoch.

Jetzt kam der Tod!

Dröhnend.

Er hob den Blick. Er … kam tatsächlich.

Groß und schwarz kam er auf ihn zu. Ein riesiger, schwarzer Schatten. In rasender Geschwindigkeit. Seine Ohren funktionierten wieder. Er hörte ein gigantisches Krachen, ein ohrenbetäubendes Knirschen.

Er stolperte ein paar Schritte zurück.

Ein riesiges, dunkles Maul öffnete sich, schnappte nach ihm. Der Tod baute sich vor ihm auf. Ekliger Schleim wurde ihm heftig ins Gesicht gespuckt.

Er war unfähig, sich zu bewegen. Sämtliche Hitze war aus seinem Körper gewichen. Er blinzelte mit den schmer zenden Augen. Das schwarze Monster hielt nur wenige Schritte vor ihm inne, es schien zu warten. Schien ihn zu beobachten, zu lauern, das Antlitz zur Fratze verzerrt.

Wie magische Puzzleteile setzte sich die Wirklichkeit vor seinen Augen langsam wieder zusammen. Er spürte seinen Körper. Ja, er war richtig froh, als er den lodernden Schmerz in seinem rechten Bein spürte. Er hatte mit dem Bein mitten in der Feuerstelle gestanden. Natürlich musste das wehtun. Dieser Schmerz war so erleichternd real.

Plötzlich bewegte sich das schwarze Monster vor ihm. Es spie einen grellen Feuerball zum Himmel. Und es löste sich etwas vom …

Er bückte sich. »Nein!«

Kein Tod! Kein Teufel! Er würde noch nicht gehen. Hastig griff er nach unten auf den Boden. Die Eisenstange, mit der er das Lagerfeuer angestochert hatte, lehnte an seinem Rucksack. In Griffweite. Sekundenbruchteile später lag das Metallteil in seiner Hand.

Der Tod vor ihm heulte auf. Jaulte. Tief und bedrohlich. Ein Schatten sprang auf ihn zu.

Er riss die Eisenstange hoch.

Der Schatten nahm die Gestalt eines Menschen an. Es krachte.

Einmal. Zweimal …

Blitze schlugen in seinen Körper. Sich um sich selbst drehend, wirbelte er zu Boden. Er stürzte kopfüber ins Lagerfeuer. Die Realität war keinen Deut besser als sein Albtraum, dachte er, als der Schmerz so groß wurde, dass er ihn kaum noch spürte. Sein Körper brannte, ihm wurde kalt.

Im Hintergrund krachte plötzlich ein bunt leuchtendes Feuerwerk vom Himmel. Sein Blick wurde brüchig. Das Letzte, was er sah, war der Schlafsack. Mit der regungslosen …

Er würde ihr jetzt folgen und schloss seine Augen.

2. Kapitel

Christian Jensen öffnete langsam und schläfrig die Augen und suchte mit halb geschlossenen Lidern seine kleine Appartementwohnung auf der Stresemannstraße ab. Was war das für ein fürchterlicher Lärm?

»Ach so, der Wecker.«

Jensen reckte sich den rechten Arm lang und verpasste dem mutmaßlichen Randalierer auf seinem Nachttisch eine kräftige Lasche. 0:13 Uhr schrie ihm das grüne Display entgegen. Viel zu früh! Wecker waren von der Natur gar nicht vorgesehen.

Aber … der Lärm blieb. »Oh, das Telefon.«

Das hieß jetzt doch aufstehen. Tranig klappte Jensen einen weiteren rechten Arm, der auf seinem nackten Oberkörper lag, vorsichtig zur Seite. Und stutzte. »Oha.«

Er war ja gar nicht alleine! Verdammt, er hatte Besuch. Und was für einen! Weiblich! Fahrig strich er über seine Augen. Mist. Er hatte doch gar nicht einschlafen wollen, sondern nur mal ganz kurz im Bett seine Äuglein zugemacht. »Auweia.«

Das war jetzt natürlich ein wenig dumm gelaufen. Hoffentlich war sie nicht sauer. Aber immerhin war sie nicht abgehauen, hatte ihn nicht in seiner Wohnung alleine zurückgelassen, hatte sich zu ihm ins Bett gelegt. Jensen grinste. Er wertete das mal als ein gutes Zeichen.

Das Telefon lärmte immer noch. Er wollte den fantastischen, zum Arm dazugehörenden restlichen Teil des zauberhaften Körpers nicht wecken. Noch nicht. Stattdessen glitt er vorsichtig, sehr vorsichtig aus den Federn und ruckelte seine rot-weiß gestreifte Fortuna-Düsseldorf-Boxershorts hoch. Weil er nur eine knappe Stunde gepennt hatte, gab er seinem schwächelnden Kreislauf fünf Sekunden Zeit, sich ebenfalls stöhnend aufzurichten und schlich leise zum Telefon. »Ja?«

»Ich bin es. Es gibt Arbeit!«

Jensen runzelte die Stirn und wechselte nach nebenan in die kleine Küche. Das war Pit Struhlmann, Struller, der Kriminalhauptkommissar, dem er in seinem Abschlusspraktikum zugewiesen war.

»Arbeit?«, fragte Jensen verwirrt.

»Ja, du weißt schon, die Sache, für die du bezahlt wirst.«

»Äh«, murmelte Jensen und spürte Blutdruck. »Du hattest doch gesagt, dass wir nach dem Bluthunde-Fall ein paar Tage Pause machen, um die Überstunden abzufeiern. Ich wollte ein bisschen, äh, ausschlafen.«

»Tja, das Leben! Geschlafen wird am Ende des Monats! Im Hafen gibt‘s eine Leiche.«

»Eine Leiche?«

»Ja. Ein Mensch. Hat vor Kurzem noch gelebt, jetzt ist er tot. Das nennt man dann Leiche. Der Mensch ist nicht ganz freiwillig gestorben. Du erinnerst dich grob, was wir beruflich machen? Polizei Düsseldorf, Kriminalkommissariat 11, Mordkommission?«

Jensen warf einen sehnsüchtigen Blick auf sein Bett. Und auf den nackten, urlaubsbraun gebrannten Inhalt. Lange, dunkelrote Locken ergossen sich üppig-wild und malerisch leuchtend übers Kopfkissen. »Pit, ich bin nicht alleine, hier, zu Hause. Ich habe Besuch. Weiblichen.«

»Oma Jensen?«, fragte Struller am anderen Ende entsetzt.

»Nein. Eine Kollegin. Wir waren mit unserem Kurs gestern Abend in der Altstadt. Die Kollegin kommt aus Gronau und ist nach dem Feuerwerk mit zu mir.«

»Ach so. Knick, Knack. Ich verstehe. Wie auch immer. Dienst ist angezeigt.«

»Aber meine Kollegin …«

»Schreib ihr einen Zettel! Wenn sie wach wird, soll sie sich ein bisschen nützlich machen. Durchwischen, spülen oder ein bisschen was aufräumen«, schlug Struller vor.

Jensen warf um die Ecke einen Blick auf seine Klassensprecherin, die natürlich ganz sicher nicht auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden würde, sich seiner Bude anzunehmen. Wobei es seine Junggesellenhucke tatsächlich dringend nötig hätte. Aber es hieß ja, Männer, die Putzlappen anfassen, werden impotent. »Äh, du hast da einen ganz falschen Eindruck von meiner Kollegin.«

»Wie dem auch sei, Sportsfreund. Spring jetzt unter die Brause, dusche dir flott den Liebesschweiß vom Körper und mach dich auf den Weg. Wir treffen uns in fünfundzwanzig Minuten auf dem Parkplatz vor dem Polizeipräsidium.«

»Aber …«

»Abba ist immer noch eine Popgruppe, mach hin!«

Jensen hörte Struller den Telefonhörer auflegen, drückte an seinem Apparat den Aus-Knopf und wankte – sich nachdenklich am Bauch kratzend – zurück ins Bett. Das war jetzt natürlich doof. Ihm hatte für später nach dem Ausschlafen ein gemeinsames Frühstück vorgeschwebt. So ein ganz gemütliches, ausgiebiges, reichhaltiges Frühstück im Bett. De luxe, quasi. Ab und an lustvoll unterbrochen durch eine kleine, sportliche Aktivität. Ein entspannter, frühmorgendlicher Meinungsaustausch unter Kommilitonen.

Jensen fuhr mit spitzem Finger langsam die Konturen eines scharfen Tattoos nach, das sich am sportlichen, dunkel gebräunten Oberarm seiner hübschen Kollegin beginnend mit hohem Aufforderungscharakter sündig heiß die Schulter hinaufschlängelte.

»Denk nicht mal dran«, knurrte seine Kollegin düster, ohne sich zu bewegen oder ihre Augen zu öffnen.

Jensen zuckte zurück. Na dann. Konnte er auch ein bisschen arbeiten gehen.

* * *

Einmal Tempo aufgenommen brauchte Jensen nur knapp fünfzehn Minuten, um frisch wie der junge Frühling im Treppenhaus die Stufen runterzuhuschen. Den letzten Absatz übersprang er, denn dort stapelten sich die neuesten Exemplare des Rheinboten. Er riss die Haustür auf und zog erschreckt einen Fuß zurück, den er auf den Treppenabsatz setzen wollte.

»Was ist das denn für eine Scheiße?«, knurrte er und schwankte einen Schritt zurück.

»Keine Scheiße«, summte eine Stimme.

Jensen fuhr herum. Neben ihm stand ein Junkie. So einer von der untoten Sorte. Weiße Haut. Zumindest da, wo keine offenen Wunden und eitrige Pickel ein wenig Farbe ins Spiel brachten. Langes, schütteres Haar, dunkle Augen, die in den Höhlen versanken, gebeugte Haltung. Die Jeans hatte Löcher, das Sweatshirt auch. Und als er jetzt den Mund wieder öffnete, konnte Jensen keinen einzigen, vollständigen Zahn erkennen. Nur eine Reihe dunkler, bröseliger Grabsteine.

»Sieht aus wie Kotze«, erklärte der Bursche trocken.

Jensen fluchte. »Scheiße, ja. Mensch, was ist das denn für eine Farbe? War das ein Alien?«

Der Junkie zog die Schultern hoch. »Für zehn Euro mach ich das weg.«

Jensen schnappte nach Luft. Eine ganz freche, üble Bemerkung lag ihm ganz weit vorne auf der Zunge. Andererseits hatte er selbst keine Zeit, jetzt mit einem Eimer voll Wasser zur Tat zu schreiten, bevor der klebrige Stoff eklige Löcher in den Treppenabsatz ätzen würde. Schnaufend zückte er sein Portemonnaie, frickelte einen Zehner ans Licht und reichte ihn dem Junkie, der ihn mit zittrigen, fahrigen Fingern hastig ergriff.

»Aber nachher ist hier sauber!«

»Kannst nachher vom Treppenabsatz essen, Alter.«

Das würde er dem Kerl überlassen, dachte Jensen, verkniff sich aber die Bemerkung, denn es war davon auszugehen, dass der arme Hund kulinarisch alles andere als wählerisch sein durfte. Und in diese Wunde wollte Jensen wirklich kein Salz streuen. Kaputte Junkies gehörten im Düsseldorfer Bahnhofsviertel leider zum Stadtbild, aber das war lange kein Grund, ihnen gegenüber anmaßend rüberzukommen! Deshalb tippte er sich zum Abschied an die Stirn und dachte, als er ein paar Meter weiter sein Fahrzeug erreichte und aufschloss, dass es gleich mit Struller im Hafen kaum schlimmer werden konnte.

* * *

Struller steuerte mit zusammengekniffenen Augen den Zivilwagen vom Polizeipräsidium in Richtung Frachthafen. Was nicht ohne Anspruch war. Für alle Beteiligten. Nicht nur für Jensen, der sich mit blassem Blick auf den Beifahrersitz gekrampft hatte, sondern in der Hauptsache für alle anderen Verkehrsteilnehmer, von denen um kurz vor eins noch eine ganze Menge unterwegs waren. Mit Fahrzeug und ohne. Beim rasanten Abbiegen in die Speditionsstraße rettete sich ein älterer Mann in gelben Gummistiefeln – mit Angelrute und Fangeimer – so gerade eben noch in einen Hauseingang.

»Wo kam der denn her?«, knurrte Struller.

»Von links«, flüsterte Jensen.

»Warum läuft der nicht auf dem Gehweg?«

Jensen zog Luft. »Er lief doch auf dem Gehweg!«

Sein Tutor war ein anerkannt guter Kriminalist, einer, der seine Schweine am Gang erkannte und dessen Aufklärungsquote beeindruckend war. Struller hatte sie alle schon festgenommen. Den einbrechenden Vater, den missratenen Sohn, das ungeborene Kind, quasi generationsübergreifend wirklich alle. Aber Auto fahren, Auto fahren konnte Struller nicht. Wahrscheinlich hatte er die Führerscheinprüfung zu Fuß abgelegt.

Beim Abbiegen in die Kesselstraße umkurvte Struller haarscharf Faserspuren-Haralds weißen Spurensicherungskombi, den dieser ein wenig unglücklich im Einmündungsbereich abgestellt hatte.

»Den alten, senilen Säcken sollte man die Fahrerlaubnis entziehen!«, maulte Struller und schaffte es so gerade eben noch, den Wagen in der Spur zu halten.

»Ja«, stimmte ihm Jensen zu.

»Wir sind da«, summte Struller schließlich und fuhr den Wagen auf der Kesselstraße rechts ran.

Allerdings so nah an einen Baustellenzaun, dass Jensen über die Sitze kletternd ebenfalls auf der Fahrerseite aussteigen musste. Das hatte Struller allerdings schon nicht mehr mitbekommen, denn er war schon strammen Schrittes vorausgeeilt, was Jensen nun die Gelegenheit gab, das modische Tip-Top-Outfit seines Chefs zu bewundern. Struller trug abgewetzte, braune Slipper, die einen Schuhputz so nötig hatten wie Fortuna Düsseldorf einen Mittelstürmer. Seine Jeans war einen Tick zu weit, und über seinem hellblauen Hemd trug er eine ockerbraunbeigesandfarbene Sommerjacke, wie es sie in dieser Farbnuance seit über zwanzig Jahren nicht mehr käuflich zu erwerben gab. Die rechte Tasche der Jacke hing ausgebeult tief nach unten, vermutlich, weil Struller dort mehrere gebrauchte, blauweiß-karierte Stofftaschentücher bunkerte. Seine dunklen, vollen Haare waren eine Spur zu lang und hatten am Hinterkopf ein Schlafnest geformt. An dieses Outfit musste Jensen sich nun gewöhnen, denn Struller würde es in den nächsten Tagen nicht wechseln.

»Ah, der Star von der Kriminalpolizei trifft auch schon ein«, wurde Struller vom Einsatzleiter am Tatort gegrüßt. »Dann kann ja nichts mehr schiefgehen.«

Jensen sah, dass Struller seine hellblauen Augen müde verdrehte. Polizeihauptkommissar Alfred Gerlach war offensichtlich nicht unbedingt der Kollege, den Struller am Tatort anzutreffen gehofft hatte. Der baumgroße Gerlach mit dem kantigen Kinn und den dünnen, roten Haaren rund um eine sich zügig ausdehnende Glatze war ein überheblicher Spinner und arroganter Schaumschläger. Alfred Gerlach persönlich hatte das SEK erfunden und seinerzeit die RAF – quasi im Alleingang – zur Aufgabe gezwungen. Er erzählte ihm ausgelieferten Berufsanfängern, dass er einen handelsüblichen Polizeihubschrauber mit verbundenen Augen auseinanderschrauben und wieder zusammensetzen konnte. In weniger als zwei Stunden. Während des Flugs. Ein Angeber.

»Nichts mehr schiefgehen? Abwarten«, sagte Struller. »Was liegt an?«

»Nichts Schönes«, sagte Gerlach, strich sich durch den Haarflaum und nickte in Richtung Jensen. »Praktikant?«

»Japp. Christian Jensen. Er ist …«

»Von denen hab ich auch drei am Hals. Wird immer schlimmer. Als hätte ich noch Zeit, mich um die artgerechte Aufzucht vom Nachwuchs zu kümmern. Das ist die reinste Krabbelgruppe bei mir auf der Wache. Ich bin froh, dass die meisten stubenrein sind. Die da oben werden immer bekloppter! Ist deiner auch so faul?«

»Er trägt rote Unterhosen und sieht aus wie der ehemalige Sänger von Oasis. Sonst geht‘s ganz gut.«

Jetzt verdrehte Jensen die Augen. Verärgert stellte er darüber hinaus fest, dass er von Gerlach nicht mit Handschlag begrüßt wurde, wie es unter Kollegen eigentlich üblich war. Dann eben nicht.

Jensen trat einen Schritt zur Seite und widmete sich dem Tatort, der durch einen voltstarken Scheinwerfer der Feuerwehr hell ausgestrahlt wurde. Die Kesselstraße ging von der Holzstraße ab und endete in einem Wendehammer vor dem Hafenbecken Nummer 6. Ungefähr in der Mitte zwischen Holzstraße und Wendehammer hatte sich ein silberfarbenes Motorboot in die Ufermauer geschraubt. Der nunmehr komplett verbeulte Bug ragte über die Kante der Kaimauer nach oben in die Luft. Das sah aus wie ein Hai, der sich giftig in einen Landungssteg verbissen hatte. In der hinteren Hälfte des Bootes hatte eine Explosion die Aufbauten fransig gesprengt. Feuerwehrleute hatten einen Brand gelöscht, der im Kopf bohrende Geruch von verbranntem Kunststoff hing ungesund und dumpf in der Luft.

Fünf Meter weiter kokelte am Rand der Zufahrtstraße eine mit Steinen eingefasste Feuerstelle. Daneben bedeckte eine silberfarbene Aluminiumdecke einen Körper. Im Licht der Strahler erkannte Jensen, dass ein schwarz versengter Turnschuh am unteren Ende der Feuerdecke herausragte. Nicht schön.

Neben der Decke lag eine Eisenstange, daneben stand ein Rucksack.

Jensens Blick wanderte weiter. An der anderen Seite der Auffahrt stand ein rot-weißer Rettungswagen der Feuerwehr. Auf den Eingangsstiegen des Fahrzeugs saßen ein Sanitäter und eine uniformierte Kollegin, die sich um eine hagere, weibliche Person kümmerten, die am ganzen Körper zitterte. Sie war circa zwanzig Jahre alt, hatte wild vom Kopf stehende, blonde Haare und stand augenscheinlich vollkommen neben der Spur. Ein weiterer, hochgewachsener Sanitäter legte ihr gerade eine Blutdruckmanschette an.

Im Hintergrund kommandierte der in einem weißen Einwegoverall gekleidete Faserspuren-Harald die Jungs seiner Spurensicherung über den Tatort.

»Dann schieß mal los!«, forderte Struller Gerlach auf.

»Um 22.55 Uhr ging über 110 ein Anruf ein, irgendwas hat furchtbar gekracht, am Hafenbecken 6. Das ist hier. Offensichtlich hat der Anrufer gehört, wie sich das kleine Motorboot dort in die Kaimauer gebohrt hat. Zwei Minuten später rief er noch mal an. Er glaubte, mehrere Schüsse gehört zu haben. Als der erste Streifenwagen eine knappe Minute später eintraf, fanden die Kollegen das Boot verlassen und eine regungslose, männliche Person, die bäuchlings in der Feuerstelle lag. Sie ziehen ihn schnell zur Seite, drehen ihn auf den Rücken und erkennen zwei Einschusslöcher in der Brust.«

»Aha«, knurrte Struller.

Einschusslöcher: nicht gut, dachte Jensen.

Der Polizist deutete auf die hagere Frau am Rettungswagen. »Und die beiden Beamten finden die da.«

»Eine Zeugin?«

Gerlach krauste die Nase. »Ich glaube nicht, dass die in ihrem Zustand allzu viel mitbekommen hat. Die ist breiter als die A 57 bei Kaarst. Als die Beamten sie im Schlafsack fanden, hat sie felsenfest gepennt. Hat Ewigkeiten gedauert, bis die Kollegen sie geweckt hatten. Drogen bis zur Oberkante Unterlippe, nehme ich mal an. Sie geht mit einem Krankenwagen gleich erst mal weg zur Untersuchung ins Martinus-Krankenhaus.«

Struller seufzte. »Dann guck ich mir den Toten mal an.«

Struller nickte Jensen zu, beide gingen ein paar Schritte und beugten sich über die Aludecke. Struller zog sie behutsam zur Seite, Jensen hielt die Luft an. Eine üble Duftwolke schlug ihnen entgegen. Es roch ganz, ganz fies nach verbranntem Fleisch.

Faserspuren-Harald stürmte heran. »Struller, was machst du an meiner Leiche?«

»Gucken!«

»Du machst die Spuren kaputt«, maulte Harald und schlug Struller auf die Finger. »Lass mich! Was willst du wissen?«

»Habt ihr Ausweispapiere gefunden?«

»Im Portemonnaie des Toten war ein dunkel angesengter Anhörungsbogen. Unser Mann ist auf der Elisa bethstraße beim Schwarzfahren erwischt worden. Wir haben über die Kriminalwache die Daten aus dem Schreiben mit dem Foto aus seinem Kriminalaktendatensatz verglichen. Die Angaben stimmen.« Harald reichte Jensen einen welligen Zettel. »Kilian Bergstreckl. Ohne festen Wohnsitz. Geboren in Augsburg.«

Struller deutete auf den rot eingefärbten, nackten Oberkörper. »Die Todesursache?«

Harald nickte. »Zwei Treffer. Große Wirkung.«

»Quasi tödlich.«

»Korrekt. Wegen des Trefferbildes tippe ich, dass die Schüsse aus nächster Nähe abgegeben worden sind.«

»Ungepflegte Gesamterscheinung.«

Harald schob die Oberlippe des Toten hoch. »Ganz schlechter Zahnzustand.«

»Bist du jetzt auch noch Pferdezüchter?«, konnte sich Struller einen kleinen Kalauer nicht verkneifen.

Mit einem Kugelschreiber deutete Harald auf mehrere, kleine, eitrige Wunden am Körper des Toten. »Einstichstellen. Unser toter Freund war ein Junkie. Ich tippe auf Heroin. In Anbetracht des starken körperlichen Verfalls und der schlechten Zähne war er dazu wahrscheinlich auch noch Konsument von Crystal Meth.«

»Meth?«, schniefte Struller. »Ich hatte gehofft, wir bleiben hier in Düsseldorf von diesem Scheißzeug verschont.«

»Sah lange so aus«, schüttelte Faserspuren-Harald den Kopf. »Jetzt ist es am Markt. Der Mist ist schweinebillig. Die Einheit gibt‘s am Bahnhof für fünf Euro. Macht dich sofort abhängig und direkt kirre im Kopf. Dir fallen die Haare aus und du verlierst deine Zähne. Dreckszeug. Ich hab mich neulich mit einem aus dem Drogenkommissariat unterhalten: Wir werden hier in Düsseldorf gerade mit dem Mist überflutet.«

»Geht er in die Gerichtsmedizin?«

»Nein, Pit. Ich nehme ihn zu mir mit nach Hause. Doc Stich untersucht ihn dann in meinem Partykeller. Ich lade ein paar Freunde ein, meine Frau reicht Gebäck. Danach gucken wir Fußball.« Faserspuren-Harald holte Luft. »Natürlich geht der Tote in die Gerichtsmedizin.«

Struller lag eine passende Bemerkung schon abschussbereit auf der Zunge, aber im selben Moment schrie ein Polizist: »Verdammt, hier ist noch eine Tote!«

Auf dem Motorboot ruderte der Kollege wild mit den Armen. Alle stürmten los.

Faserspuren-Harald schrie: »Bleibt von den Spuren weg! Lasst mich vorgehen! Aufpassen, die Eisenteile am Boot sind noch heiß vom Feuer!«

Knurrend boxte sich der Spurenboss durch die anwesenden Kollegen und kletterte über die zerbeulte Reling ins Motorboot.

Der uniformierte Kollege deutete vor seine Füße. »Sie lag in einer der beiden Klappbänke.«

Struller und Jensen folgten Faserspuren-Harald, der eine der beiden länglichen, aufklappbaren Sitzbänke im Bugbereich des Bootes in Augenschein nahm. Dort drin lag ein weißer Leinensack, den der Polizist am Kopfende geöffnet hatte. Nun starrten die Ermittler in ein totes Paar Augen.

»Weiblich. Vielleicht 20 Jahre alt, rote Haare. Kein Puls, sie ist tot.«

Struller winkte sicherheitshalber den Notarzt heran.

»Verdammt«, schniefte der Polizist.

»Wie in einem Sarg«, flüsterte Jensen.

»Wieso finden wir sie erst jetzt?«, bellte Struller.

Alfred Gerlach, der ebenfalls hinzugetreten war, pumpte Luft in seinen Brustkorb. »Wer sollte hier nachgucken? Wer ist hier verantwortlich? Dem reiß ich den Arsch auf!«

Struller tippte dem Dienstgruppenleiter gegen die aufgeblähte Brust. »Du. Du bist verantwortlich. Du leitest den Einsatz, dann bist du auch verantwortlich. Dann reiß mal schön!«

Der Polizist lief puterrot an. Einige seiner jüngeren Kollegen drehten sich grinsend weg. Jensen lächelte offen.

Faserspuren-Harald schüttelte den Kopf. »Keine auf Anhieb sichtbaren Verletzungen. Zeichen von Leichenstarre. Allzu lange ist die Frau noch nicht tot, vielleicht zwei, drei Stunden.«

Der Notarzt schüttelte den Kopf. »Nichts zu machen.«

Jensen schluckte und lenkte die Aufmerksamkeit aller auf ein neues Problem. »Da ist noch eine zweite Klappbank. Nicht, dass …«

Faserspuren-Harald sprang an die Truhe und klappte mit den Fingerspitzen den hölzernen Deckel vorsichtig auf. Schröder, der massige Fotograf der Spurensicherung, knipste. Alle anwesenden Augenpaare senkten sich ins Innere des Kastens.

»Leer«, stellte Faserspuren-Harald für alle fest und zog behutsam einen zweiten, diesmal beigefarbenen Leinensack heraus, der wie ausgestrampelt am Fußende der Kiste lag. Der Sack war am Kopfende geöffnet. Ebenfalls leer, keine Leiche.

Struller strich sich über den Kopf. »Was hat das denn jetzt zu bedeuten?«

Faserspuren-Harald stellte fest: »Mehrarbeit.«

Struller richtete sich auf und kniff seine Augen zusammen. Er hatte etwas gesehen. Unauffällig musterte er aus den Augenwinkeln einen Haufen alter Steine, die etwas abseits Richtung Holzstraße wild durcheinander gelagert wurden. Genau genommen musterte er allerdings nicht den Steinhaufen, genau genommen hatte er einen Schatten bemerkt. Eine Person duckte sich in diesem Moment wieder zurück in ihre Deckung. Definitiv war das nicht nur ein nerviger Gaffer, entschied Struller blitzschnell.

Struller drehte sich langsam zu Jensen und quetschte mit zusammengedrückten Lippen. »Neun Uhr. Steinhaufen. Dahinter hockt eine Person, die uns heimlich beobachtet. Die will ich haben, Sportsfreund. Sei unauffällig!«

Jensen schniefte und zog sein Mobilphone aus dem Hemd. Einen eingehenden Anruf vortäuschend, stieg Jensen vom Motorboot und nickte heftig mit dem Kopf. Struller wendete sich scheinbar zur Seite, behielt aber den Schutthaufen im Augenwinkel.

»Das ist, weil ich kein vernünftiges Personal mehr habe. Nur Anfänger«, brummte Gerlach entschuldigend.

»Der Fisch stinkt immer vom Kopf her«, antwortete Struller, womit er sich endgültig die Sympathien seines Kollegen verscherzte.

Die Person hinter dem Steinhaufen war augenscheinlich männlich, aber mehr konnte Struller nicht erkennen. Jetzt sah er plötzlich, wie sie sich rückwärts bewegte. Offensichtlich hatte die Person genug gesehen oder sie hatte mitbekommen, dass sie aufgefallen war. Der Kerl drehte sich um und ging zügig davon.

Struller rief Jensen zu. »Der Kerl hat was bemerkt und haut ab. Hinterher!«

Jensen versenkte sein Handy im Hemd und rannte los. »Komm mit!«, rief er einem Kollegen aus der Tatortabsperrung zu, der sofort mit ihm zusammen zur Verfolgung ansetzte.

»Der Kerl da!«, zeigte Jensen nach vorne, wo der Unbekannte circa hundert Meter Vorsprung hatte.

Es ging über den unbefestigten Grund an die Rückseite eines leer stehenden Fabrikgebäudes.

»Die alte Papierfabrik!«, rief ihm der Kollege zu.

Der Unbekannte vor ihnen sprang eine kurze Außentreppe hoch und flüchtete ins Innere des Gebäudes.

»Du links ums Gebäude rum, ich renne ihm hinterher!«, kommandierte Jensen.

»Pass drinnen auf! Da ist alles verwinkelt«, rief der Kollege ihm zu. »Viele Löcher im Boden!«

Jensen sprang die Stufen hoch, stürzte durch einen mit einer dicken Plastikplane geschützten Türeingang und stand mitten in einer riesigen Halle. Alles, was früher zum Inventar der Fabrik gehört hatte, war entfernt worden. Nur vereinzelt lagen noch Türen und kantige Metallstreben herum. Durch die vielen Fenster, deren Scheiben allesamt eingeschlagen waren, drang milchiges Mondlicht in den Raum. Langsam gewöhnten Jensens Augen sich an die Dunkelheit, sodass die weichgrauen Konturen besser zu erkennen waren.

»Stehen bleiben! Polizei!«, rief Jensen aufs Geratewohl laut in den Raum hinein, nestelte eine schmale Taschenlampe aus seiner Hosentasche und knipste sie an.

Niemand reagierte auf sein Rufen, nichts war zu hören. Der Lichtkegel seiner Leuchte schlug auf den staubigen Boden. Vorsichtig tapsend durchquerte Jensen den düsteren Raum. Unvermittelt musste er einem Loch ausweichen, das sich im Boden befand. Ungesichert ging es dort eine Etage abwärts. Höllengefährlich. Wieso war das hier alles nicht vernünftig gesichert? Das war lebensgefährlich.

An den Wänden hatten sich die Sprayer der Stadt verewigt, eine Ecke hatte irgendwem als Klo gedient. Alles war mit muffigem Staub überzogen. Lediglich seine Schritte hallten durch die Halle, die etwa zweihundert Meter lang war und – von quadratischen Betonpfeilern unterbrochen – komplett eingesehen werden konnte. Der Lichtkegel seiner Funzel tanzte durch den Raum. Da war keiner langgelaufen.

»Was …?«

Erst jetzt entdeckte Jensen auf der rechten Seite einen Torbogen, der in eine zweite Halle führte. In der sah es genauso aus. Sie war über hundert Meter lang. Hatte er dort gerade am Ende des Raums einen Schatten huschen sehen?

»Stehen bleiben!«

Jensen beschleunigte und sprang über einen aufgebrochenen Zigarettenautomaten hinweg. Mehrere Matratzen an der Wand zu seiner Linken deuteten darauf hin, dass Stadtstreicher hier Obdach fanden. Jensens Lunge ächzte. Er erreichte das Ende der Halle und gelangte in ein Treppenhaus. Der Aufgang nach oben fehlte, es ging nur abwärts. In ein rabenschwarzes Untergeschoss.

»Mist!«

Der kleine Lichtkegel rauschte über den grauen Beton und über Unmengen Schutt.

Ein Geräusch! Vor ihm – gar nicht weit weg – hatte etwas gescheppert!

Jensen beschleunigte. Vor seinen Füßen flackerte hektisch der helle Lichtkegel. Er stutzte. Der Keller war nach wenigen Metern schon wieder zu Ende. Jensen hielt inne. Im Lichtkegel tanzten die Staubpartikel. Tanzten … und schraubten sich nach oben.

Jensen blickte hoch.

Ein Gegenstand rauschte auf ihn herab. Blitzschnell sprang Jensen beiseite. Im letzten Moment knallte eine alte, verbeulte Schubkarre neben ihm mit lautem Krachen zu Boden. Einer der beiden Griffe ratschte über seine Schulter und riss einen Winkel in sein Shirt. Und in seine Haut.

Aber: »Glück gehabt!«

Jensen riss die Taschenlampe hoch und lauschte. Fußtritte entfernten sich von der Öffnung über ihm. Benutzte der Kerl keine Leuchte? Konnte der Sack im Dunkeln sehen?

Jensen hörte, wie Gerlach draußen laute Befehle durch die Nacht bellte, die Verfolgung des Unbekannten lief auf vollen Touren. Vielleicht war es ja sogar der Mörder, der gerade vor ihnen davonlief. Und wenn, dann war der Schweinehund bewaffnet, fiel Jensen gerade siedend heiß ein …

Der Strahl seiner Taschenlampe glitt über den Betonboden und kletterte dann die Wände hinauf.

»Aha.«

Jensen entdeckte in der Wand unter dem Deckenloch zwei halbrunde, rostige Eisenbügel, die dem Flüchtigen offensichtlich als Stufen gedient hatten, um sich nach oben zu ziehen. Das tat Jensen jetzt auch. Schnell erreichte er die Öffnung. Beim Hochziehen ratschte er sich am Bauch ein weiteres Loch ins Shirt.

»Scheiße.«

Schließlich war er mit einem letzten, kräftigen Ruck wieder im Erdgeschoss. Es war nahezu stockfinster, weil er sich in einem separaten Raum ohne Fenster befand. Quadratisch war er, der Raum. Und zugemüllt. Jensen rümpfte die Nase. Auch hier deutete einiges darauf hin, dass der Raum als Schlafstelle und Toilette genutzt wurde. Jensen wischte eine hungrige Fliege beiseite und hielt sich links, denn links befand sich eine Art Durchreiche im Mauerwerk, durch die der Flüchtige geklettert sein musste. Jensen stieg hindurch. Dann ging es einmal nach links, dann wieder nach rechts, bevor er in eine dritte, von hellem Mondlicht durchflutete Halle gelangte. Nach Luft schnappend war er froh, endlich wieder mehr als einen kegelförmigen Ausschnitt von seiner Umwelt zu erkennen. Durch mehrere offene Fenster drang Frischluft ins Gebäude, Jensen atmete tief ein.

Er fuhr herum.

Und bemerkte den Schatten hinter sich, die erhobene Hand und den länglichen Gegenstand darin. Dem folgenden Schlag auf den Kopf konnte er nicht ausweichen.

In Jensens Schädel explodierte eine Bombe.

Er fiel nach vorn auf den Boden. Der Unbekannte trat ihm mehrmals in die Seite. Jensen schnappte nach Luft, es wurde zügig dunkler. Mit letzter Kraft brachte Jensen geistesgegenwärtig seine Arme nach oben, um seinen Kopf zu schützen. Und genau dahin krachte die Fußspitze als Nächstes. Voll hätte sie seinen Kopf getroffen. Jetzt lähmte der Schmerz seinen linken Arm.

Gleich würden die Lichter ausgehen.

Noch ein Tritt …

Aber der Einschlag blieb aus. Vor Schmerzen blinzelnd erkannte Jensen mit verschwommenem Blick, wie die männliche Person davonrannte. Jensen versuchte, sich stöhnend aufzurappeln, aber das dröhnende Hämmern im Kopf befahl ihm, doch lieber ein paar Sekunden Pause zu machen. Er senkte seine Stirn auf den Betonboden.

Dann ein Schatten von links, Jensen zuckte zusammen.

»Alles klar?«, fragte der Kollege aus der Tatortabsperrung, der mit ihm den Unbekannten verfolgt hatte und der jetzt von der anderen Seite an ihn rangetreten war.

»Da lang ist er«, ächzte Jensen und deutete in Richtung des Endes der Halle. »Sei vorsichtig! Der Kerl ist wahrscheinlich bewaffnet!«

Der Kollege spurtete los, in einer Hand hielt er seine Schusswaffe. Von hinten hörte Jensen rufende Stimmen. Die Verstärkung nahte, weitere Kollegen näherten sich ihm.

»Hierhin!«, krächzte er und rappelte sich vorsichtig hoch.

In seinem Kopf drehte sich alles. Er tastete seine Seite ab, aber da war nichts gebrochen. Glück gehabt.

Ein weiterer Polizist erreichte ihn. »Wo ist er hin, Mann?«

Jensen deutete nach vorne.

In diesem Moment grollte ein Schuss durch die Halle.

»Der Kollege«, stammelte Jensen.

Mehrere Polizisten rannten an Jensen vorbei.

»Einen Notarzt! Verdammt, wir brauchen einen Notarzt!«, brüllte Sekunden später ein Polizist hektisch in sein Funkgerät.

Jensen ließ sich zurück in den Staub sinken und schloss seine Augen.

* * *

Auf dem Flur des Martinus-Krankenhauses klopfte Struller sich eine halbe Stunde später vorm Wartezimmer eine Ernte aus der orangefarbenen Schachtel. Sein Blick fiel auf das runde Nichtraucherzeichen. Seufzend drückte er die Zigarette wieder zurück ins Häuschen. Dann öffnete sich die Schiebetür zum Behandlungszimmer.

»Und?«, fragte Struller.

Jensen winkte ab. »Eine Beule am Hinterkopf, zwei, drei blaue Flecken in der Seite, eine Prellung am Arm, ein Kratzer. Halb so wild. Wie geht es dem Kollegen, der angeschossen wurde?«

»Komm mit. Der Arzt wartet auf uns.«

Struller und Jensen wechselten durchs Treppenhaus die Etage nach oben. »Kannst du den Flüchtigen beschreiben?«

Jensen schniefte. »Vielleicht um die zwanzig bis dreißig Jahre alt. Männlich, kurze Haare. Sehr schlank, fast hager, aber sportlich. Der war mit ‘nem guten Tempo unterwegs.«

»Hm«, machte Struller. »Wiedererkennen würdest du ihn nicht?«

»Leider nicht«, knirschte Jensen.

Sie erreichten den Flur zur Intensivstation in der ersten Etage. Vor der Schleuse warteten mehrere Polizisten, die mit betretener Miene und blassen Gesichtern schweigend ihrem angeschossenen Kollegen die Daumen drückten. Struller drückte neben dem verriegelten Eingang zur Station eine Ruftaste und nannte auf Nachfrage seinen Namen. Eine Krankenschwester drückte den Öffner, es summte.

Auf der anderen Seite der Schiebeschleuse wartete Gerlach mit in die Hüften gestemmten Armen und winkte die beiden hinter sich her in ein Arztzimmer. »Mann, hat das gedauert.«