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Ulrike Blatter
Die Vogelfrau

Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Der Mann, der niemals töten wollte

Nur noch das nackte Leben

Die Vogelfrau

Ulrike Blatter lebt in der Nähe von Konstanz. Nach ihrem Medizinstudium bildete sie sich in der Psychotherapie mit den Arbeitsschwerpunkten »Sucht und Trauma« weiter. Mehrere Jahre arbeitete sie in Rechtsmedizin und Suchtberatung sowie als Ärztin in der Sozialpsychiatrie. Ihr ehrenamtliches Engagement führt sie seit vielen Jahren in die Länder Ex-Jugoslawiens, wo sie mehrere Projekte initiiert hat und weiterhin begleitet. Seit ihrer Jugend schreibt und veröffentlicht sie Lyrik. Neben einigen Reportagen über die Situation Heranwachsender in den Nachkriegsgebieten Bosniens und des Kosovos veröffentlichte sie zwei Kinderbücher, zwei Kriminalromane und zahlreiche Kriminalkurzgeschichten. Für ihre Texte erhielt sie Schreibstipendien und wurde mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Ulrike Blatter ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller, bei den Mörderischen Schwestern und im Syndikat.

Mit Die Vogelfrau ist die gesamte dreibändige Reihe um den eigenbrötlerischen Mordermittler Bloch endlich komplett bei KBV.

Ulrike Blatter

Die
Vogelfrau

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Die Originalausgabe erschien
2008 im Gmeiner-Verlag

© 2013 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

Für Ursula und Oliver

Wir leben zu dicht
beieinander
Unsere Stacheln durchdringen
einander
Unsere Worte fusseln
durcheinander

Von den Gedanken

ganz
zu schweigen

1. Kapitel

Früher hatte es an den Kleidern kleiner Mädchen solche Zierbordüren gegeben. Bordüren mit fröhlichen, kindlichen Motiven. Kleine Marienkäfer. Schnäbelnde Gänschen. Glücksklee. Fliegenpilze. Damals trugen Kinder andere Kleidung als die Erwachsenen. Da gab es noch keine künstlich abgewetzten Lederblousons und Markenjeans für Wickelkinder. Erst kürzlich war ein deutsches Versandhaus nach einem Rechtsstreit dazu gezwungen worden, String-Tangas für Vierjährige aus dem Sortiment zu nehmen.

Schützte kindgemäße Kleidung die Kleinen? Wenn ja – wovor?

Kommissar Bloch betrachtete die hoch aufgeschossene, viel zu magere Gestalt seiner Tochter. Sie stand dicht bei der Tür, die Klinke in der Hand. Reinkommen oder abhauen? Ihre Augen waren unstet, wichen seinem Blick aus.

Hatte sie als Kind zu wenig Bordüren an ihren Kleidchen gehabt? Hätte er einen besseren Schutzzaun um sie errichten müssen? Mit Marienkäferchen und Glücksklee? Oder doch besser aus giftigen Fliegenpilzen?

Auch ihre Stimme hatte etwas Unbestimmtes. Sie klang verwaschen, ausgeleiert und rau.

Sie wollte Geld.

Wie schon so oft.

»Eva, du weißt doch, von mir bekommst du nichts. Frag deine Mutter.«

Die hat dir sowieso schon zu viel gegeben, dachte er. Viel zu viel und viel zu lange.

»Meinst du nicht, es wird allmählich Zeit für dich, erwachsen zu werden? Wie alt bist du eigentlich?«

»Das dachte ich mir, dass du noch nicht mal mein Alter weißt. Typisch für dich.«

Das war eine rhetorische Frage, dachte der Kommissar. Nur eine rhetorische Frage. Es war erst halb neun, die Sonne schien endlich einmal wieder. Es war erst halb neun, aber er fühlte sich ausgelaugt und müde.

Tagelang hatte Konstanz unter einer dichten Nebelschicht gebrütet. Die Altstadt und das Seeufer schienen wie eingehüllt in dicke, feuchte Tücher. Ein diffuses, halbblindes Licht hatte seine Tage überschattet und rief eine unbestimmte Mattigkeit, eine Art seniler Melancholie hervor. Jetzt kam die Sonne heraus – aber die resignierte Erschlaffung blieb.

Ermüdete ihn seine Tochter? Sein einziges Kind. Das schwarze Schaf.

War es die Arbeit? Über 30 Jahre Polizeiarbeit. Manchmal dachte er über Altersteilzeit nach.

»Du bist 25 – und du weißt genau, dass ich es weiß.« Der Versuch eines Lächelns.

Ihr Gesicht. Ausdruckslos. »Ich meine nur, weißt du was es bedeutet, 25 Jahre alt zu sein? Ich habe in deinem Alter meine zukünftige Frau kennengelernt.«

Müßig diese ganze Diskussion. Überflüssig die Erwähnung ihrer Mutter. Er kannte die Antwort bereits.

Und die Antwort kam. Trocken und überaus präzise. »Ja, und kaum war ich geboren, wurde dir alles zu viel und du bist abgehauen!« Jetzt traf ihn ihr Blick. Dunkle Augen. Schwarze Kohlen. Glut.

Dabei war alles ganz anders gewesen.

Aber es war belanglos – genau wie all die anderen Sätze, die sie zueinander sagten. Die sie sich immer wieder sagten, schon seit Jahrzehnten. Stereotyp. Wie nach dem Skript eines überaus widerwillig auswendig gelernten Drehbuches.

Es war Oktober. Montagmorgen.

Das Telefon schrillte nicht. Es waren stille Stunden. Der Kommissar hatte Berge von Routinearbeit vor sich.

Er hatte keine Zeit für seine Tochter.

Vor allem dann nicht, wenn sie Geld wollte.

Immer wollte sie Geld von ihm.

Nur Geld.

Das bekam sie aber nicht. Nicht mehr. Nicht von ihm.

»Besser, du gehst jetzt.«

Sie blieb. Trotzig.

»Diesmal ist es anders. Diesmal will ich eine Therapie machen.«

Der Kommissar blickte auf. »Das ist ja wirklich mal was Neues.« Konnte man ihr trauen?

»Wieso brauchst du dann Geld? Bei deinem Zustand zahlt das jede Krankenkasse. Du musst nur zum Arzt gehen. Was du brauchst, ist ein Attest oder – noch besser eine Einweisung – aber sicher kein Geld.«

Es waren zu viele Worte. Sie verschloss sich augenblicklich.

»Es ist anders, Papa.«

Ungewohnt dieses Wort. Normalerweise nannte sie ihn beim Vornamen. Erich. Machte manchmal, wenn sie gut gelaunt war, ein Wortspiel daraus. Dann nannte sie ihn Ehrlich.

Und dachte: Lügner.

»Es ist privat.«

»Was heißt das? Privat? Auch für Privatkliniken kann man Zuschüsse von der Kasse bekommen. Hier am Bodensee gibts so viele Fachkliniken für ...« Er vermied das Wort Sucht. Vermied das Wort Essstörung, suchte nach einer unverfänglichen Vokabel. Stockte. Zögerte zu lange. Ihr Blick begann schon wieder zu zucken. Hin und her. Hin und her. »Kliniken für Psychosomatik oder so.« Er brachte es kaum heraus. Hin und her. Hin und her.

»Die können mir auch nicht helfen – das weißt du genauso gut wie ich. Das ist doch alles nur Schulmedizin. Die pumpen mich nur voll mit dreckiger Chemie. Papa.«

Da war es wieder, das Wort. Verdiente er es? Erich. Ehrlich.

Das Telefon klingelte.

Als er abhob, im gleichen Moment, verschwand sie. Verschwand wie ein Schatten, ihre ganze schmale Gestalt mit dem kurzsträhnigen, schwarz gefärbten Haar und den brennenden Augen, Augen wie Kohle, die Gestalt mit den hochgezogenen Schultern in der mächtigen, schwarzen Lederjacke, die eine künstliche Körperfülle vortäuschte, sie verschwand wie ein Schatten. Sie machte beim Weggehen keine Geräusche, obwohl sie schwere Boots trug. Fade away, dachte der Kommissar. Fade away.

2. Kapitel

Es war ein Leichenfund im Archäologischen Landesmuseum, also sozusagen in allernächster Nachbarschaft. Der Kommissar musste lediglich den fast quadratischen Platz vor dem Polizeipräsidium, das sich in einer umgebauten Klosteranlage befand, überqueren und stand schon nach zwei Minuten vor dem gläsernen Windfang des Museums.

Ein weitläufiges, helles Gebäude. Sehr still. Kasse und Informationsschalter unbesetzt. Montags blieben alle Museen geschlossen. Der Kommissar musste hinauf in den ersten Stock. Er ging vorbei an einem Raum, den er gut kannte; er nannte ihn insgeheim die Totenkammer. Die Wände waren gebildet aus Vitrinen, die, gleich gläsernen Särgen, die Ergebnisse der unterschiedlichsten Ausgrabungen bargen. Bloch kannte sie alle: die winzigkleinen Kinderknöchelchen wie auch die mürben Knochen der Erwachsenen. In der Nähe der Eingangstür lagen auf Augenhöhe mit dem Betrachter diverse Schädel mit Hieb-, Schnitt- oder Schlagverletzungen. Schädel mit Kampfverletzungen, die mehr oder weniger lange überlebt worden waren, Schädel, die durch ein Richtschwert mit glattem Schnitt abgetrennt worden waren, oder Schädel nach kunstvoll ausgeführten prähistorischen Hirnoperationen. Weiter hinten fanden sich Zahnprothesen aus Walrosszähnen und Röhrenknochen mit rheumatischen Veränderungen, zerfressen von Tumoren oder von Knochentuberkulose. Der Kommissar hatte schon manches Zwiegespräch mit diesen Knochen geführt – sie beantworteten nicht nur historische Fragen, sondern waren auch von medizinischem und kriminalistischem Interesse. Auf einer Glasscheibe war die Silhouette eines Mannes abgebildet. Der Kommissar stellte sich davor. Es sah aus wie ein Spiegelbild. Er tat das, was er immer hier tat, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Er musste es schnell tun, denn oben wartete die Arbeit auf ihn. Aber Tote laufen nicht weg. Bloch drückte den roten Schalter. Hinter der Glasscheibe leuchtete ein grelles Licht auf und sein Spiegelbild wurde von einem grinsenden Skelett überdeckt. Erschrak er?

Nicht sonderlich.

Er kannte dieses Spiel.

Fundort war das Büro von Professor Hoffmann. Der Tote saß zusammengesunken am Schreibtisch und wandte ihnen den Rücken zu. Ein schmaler, hoch gewachsener Mann von athletischer Statur. Es war anzunehmen, dass es sich bei dem Toten um den Inhaber des Büros handelte. Sein Gesicht lag inmitten einer Blutlache auf der Tischplatte. Die Leichenstarre war bereits eingetreten. Deshalb waren jegliche Rettungsversuche unterblieben und die Fundsituation zeigte sich unverändert, als der leitende Kommissar wenig später das enge, mit Regalen und Asservaten voll gestopfte Büro betrat.

»Wer hat ihn gefunden?«

Eine junge Frau trat vor. Jungenhafter Haarschnitt. Betont burschikoses Auftreten. Mit einem weiten Pullover versuchte sie offensichtlich, ihre zu weiblich geratenen Formen zu kaschieren. Ihre fransig geschnittenen Haare waren dunkel gefärbt – die künstliche Haarfarbe passte jedoch nicht zu ihrem ungesund bleichen Teint. Sie vermied den Blick auf den Toten und stellte sich mit räuspernder Stimme vor: »Christina Löble. Ich bin – war seine Assistentin, ich meine von Professor ...« Sie brach ab.

»Schon gut. Vielleicht warten Sie lieber draußen?«

Sie nickte stumm. Nur die Haarfarbe der Löble war die gleiche wie die seiner Tochter. Ansonsten verboten sich jegliche Vergleiche. Der Kommissar wandte sich der Arbeit zu. Es war das Übliche.

Routine.

Mordsroutine.

Der Kontakt mit Opfern und Tätern kostete ihn schon lange keine Überwindung mehr. Manchmal stand er ihnen näher als den so genannten normalen Mitbürgern, die zu schützen doch sein Aufgabenbereich war. Mit den Jahren gelang es ihm immer besser, sich in die Gedanken von Tätern und in die Beziehungsnetze von Opfern hineinzufühlen. Er liebte das Zusammenfügen von Indizien, das Hin- und Herschieben von nur vermeintlich sicheren Beweisen, so lange und mit großer Geduld, bis sich alles zu einem lückenlosen Bild fügte.

Die Aufklärungsquote bei Mord lag bei über 90%. Das sollte eigentlich ausreichen, um mit der Arbeit zufrieden zu sein. Der Kommissar war ein Meister im Verdrängen.

Das schützte ihn vor den restlichen Prozentpunkten, die nie aufgeklärt wurden.

Das ließ ihn durchhalten.

Seine sozialen Kontakte beschränkten sich auf Täter, auf Opfer und Kollegen. Ansonsten pflegte er kaum Beziehungen. Die anderen wussten nicht, wie klein der Schritt war, der sie auf die andere Seite führte. Sie meinten, anders zu sprechen. Sie meinten, anders zu denken. Das alles war jedoch eine Täuschung. Manchmal konnte Bloch sehen, wer von ihnen ein Opfer war. Früher oder später würde es so kommen – auch wenn sie sich heute noch sicher wähnten. Solche Erkenntnisse machten ihn noch zurückhaltender. Er sei ein Meister des Zuhörens, sagten seine Kollegen.

Alles nur Erfahrung, sagte er. Über 30 Jahre. Und dann dachte er nicht mehr an Altersteilzeit.

Der Tote lag inzwischen flach ausgebreitet auf dem Rücken, die Arme wie in hilfloser Geste weit ausholend, obwohl es nichts festzuhalten gab. Sein blau angelaufenes, aufgedunsenes Gesicht war nach oben gekehrt. Viel war nicht mehr übrig von den markanten, scharf geschnittenen Gesichtszügen des Professors. Der Kommissar erinnerte sich, sein Foto in letzter Zeit öfters im ›Südkurier‹ gesehen zu haben. Jetzt war auch dieses Gesicht zur anonymen, stumpfäugigen Totenmaske geworden. Massenware. Tote sahen sich nach kurzer Zeit alle erschreckend ähnlich.

Der Gerichtsmediziner richtete sich auf und schaute sich suchend im Raum um. Sein Blick kreuzte den von Bloch.

Dann rapportierte er routiniert und präzise: »Nicht mehr wegdrückbare Totenflecken. Körpertemperatur an die Umgebungstemperatur angeglichen. Ich schätze mal, dass der Tod schon am Samstagnachmittag oder am frühen Abend eingetreten ist.«

»Können Sie auch schon etwas zur Todesursache sagen?«

»Stumpfe Gewalt gegen den Schädel – wir müssen ihn noch genauer untersuchen, aber es scheint mir in diesem Fall doch ziemlich sicher.« Der Mediziner spreizte mit einer langbeinigen Pinzette die blutverkrustete Kopfschwarte, die sich leise knisternd dehnte. Darunter wurde die zertrümmerte Schädelkalotte sichtbar.

Auch ein zertrümmerter Schädel war nichts Neues. Routine.

Flüchtig dachte der Kommissar darüber nach, wie sich des Professors Schädel in einer Glasvitrine des eigenen Museums machen würde. Der würde sicher fantastisch zu den Asservaten der Totenkammer im Erdgeschoss passen. Er verbot sich jedoch umgehend solche Gedanken als unpassend und zynisch. Konnte sich ihrer dann doch nicht mehr erwehren, als der Kollege von der Spurensicherung einen länglichen Gegenstand in die Höhe hielt. »Zumindest ist der Professor standesgemäß gestorben«, sagte er mit offenem Grinsen. Originelle Details kamen bei den Mitarbeitern immer gut an. Diesmal war es die Tatwaffe, die alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Offensichtlich eine Feuersteinaxt.

»Steinzeit?«

»Keine Ahnung, Chef. Ich kenne mich in Geschichte nicht besonders gut aus. Aber die Axt ist sicher schwer genug, um einem Menschen den Schädel zu spalten.«

»Wo haben Sie sie gefunden, Meyer?«

»Direkt neben seinem Stuhl. Rechts. Hat die Nummer zwei.«

Alle Gegenstände im Raum wurden fotografiert und digital erfasst, sodass später, mit einer speziellen Software, eine dreidimensionale Rekonstruktion des Tatortes möglich sein würde. Der Fundort der Tatwaffe gab erste Hinweise auf den Tathergang. Auch hier nichts Besonderes. Wahrscheinlich war der Täter von hinten an den Professor herangetreten und hatte ihm mit der Axt den Schädel zertrümmert, die Tatwaffe dann fallengelassen und war geflüchtet. Es blieb abzuklären, ob die Axt aus den Beständen des Museums stammte. Fingerabdrücke mussten genommen werden. Routine.

»Die Nummer drei ist aber auch interessant, Chef.« Meyer zauberte eine zweite Plastiktüte hervor. Darin schimmerte ein rundlicher Metallgegenstand, besetzt mit Türkisen.

»Eine Brosche?«

»Eher eine Art Amulett. Sieht indianisch aus. Ist aber ziemlich sicher nichts Antikes. Mein Bruder hat mal so was von einer USA-Reise als Andenken mitgebracht. Vielleicht finden wir ja sogar noch einen Stempel ›Made in China‹, wenn wir es sauber gemacht haben. Die Chinesen fälschen doch heutzutage alles.«

»Wo lag das denn?« Die Frage war eigentlich überflüssig. Unübersehbar prangte das grellweiße Schild mit der Nummer drei auf dem Schreibtisch, mitten in der eingetrockneten Blutlache. Der Tote hatte mit dem Gesicht auf dem Amulett gelegen. Der Kommissar trat noch einmal zur Leiche. Bei genauer Betrachtung konnte man den Abdruck der Schmucksteine auf der Stirn des Toten erkennen. Man würde ihn noch sorgfältig untersuchen müssen. Er ordnete den Abtransport der Leiche an und ließ die Fenster öffnen. Ein Windstoß brachte einen Schwall frischer Luft ins Zimmer. Papier raschelte.

»Fenster zu«, brüllte Meyer. »Das fliegt uns doch alles weg!« Er war dabei, die losen Blätter auf dem Schreibtisch zu ordnen. Es waren viele blutverschmierte Blätter, handschriftliche Notizen, pergamentene Bögen und kopierte Artikel aus Fachzeitschriften. Der Kommissar nahm sich ein weniger verschmutztes Blatt und las angestrengt den Text. Es war Deutsch, aber es klang wie eine fremde Sprache. Meyer würde wohl noch eine ganze Weile beschäftigt sein. Es war besser, ihn nicht dabei zu stören. Er nickte Cenk zu. Cenk war sein neuer Assistent. Er war türkischer Abstammung, jedoch in Karlsruhe geboren und besaß einen deutschen Pass. Er sprach ein gepflegtes Hochdeutsch, kein Dialektausdruck trübte seine exakte Aussprache. Das machte ihn jedoch hier am Bodensee mehr zum Fremden als seine dunkle Hautfarbe und der kurz geschorene, dichte Haarpelz, der an ein Maulwurfsfell erinnerte.

»Mit wem müssen wir sprechen, Cenk?«

»Vorerst sind es nur zwei, Chef. Die Frau, die draußen wartet, und ein Kollege des Opfers.« Cenk war wirklich ein überaus brauchbarer Assistent. Selbstständig – aber nicht zu sehr. Geistig rege – aber nicht überheblich. Außerdem hatte er eine lesbare Handschrift. Der Kommissar, der seinen Kollegen und sich selbst ein fürchterliches Gekritzel zumutete, wusste besonders diese Eigenschaft sehr zu schätzen. In seiner systematischen Art hatte Cenk alle Informationen auf zwei Zetteln notiert, die er nun seinem Chef zuschob.

»Christina Löble, 25 Jahre alt, Studentin. Wissenschaftliche Hilfskraft – ein Hiwi, wie man so schön sagt. Arbeitet schon seit einem Jahr mit Professor Hoffmann. Sie war an den Ausgrabungen auf diesem neuen Gräberfeld beteiligt.«

»War das nicht dieser Mumienfund vor Kurzem? Da ist doch ein Riesenartikel im ›Südkurier‹ gewesen, oder?« Der Kommissar pfiff leise durch die Zähne. Vielleicht bot dieser Fall noch interessante Details jenseits der üblichen Ermittlungsroutine.

»Und die zweite Person?«

»Der Chef des Institutes, Professor Harald Gräber, 55 Jahre alt. Spezialgebiet Frühgeschichte und Antike. Nicht nur der Vorgesetzte, sondern – das kann man schon so sagen – auch der schärfste Konkurrent von Hoffmann. Er leitete die Ausgrabungen am Konstanzer Münster. Sie erinnern sich, Chef? Und er war auch vor einigen Jahren an der Hebung des 600 Jahre alten Schiffes beteiligt, das im Bodensee gesunken war.«

Der Kommissar erinnerte sich. Damals wurde eigens ein Anbau am Museum errichtet, um den gut erhaltenen Lastensegler in ganzer Länge ausstellen zu können. Das älteste Schiff Süddeutschlands. »Da hatte der Hoffmann ja gewaltig was aufzuholen, wenn der andere so erfolgreich war, was meinen Sie, Cenk?«

Cenk zuckte die Achseln. Er war kein Freund allzu schneller Kombinationen.

»Gut, Cenk, wir machen es folgendermaßen. Ich nehme mir den anderen Professor vor – und Sie sprechen mit der Assistentin. Und dann brauchen wir unbedingt noch zwei Personen, die eventuell auch als Zeugen in Frage kommen: die Putzfrau und den Mann vom Sicherheitsdienst. Vielleicht hat von denen noch jemand den Hoffmann lebend gesehen.«

3. Kapitel

Professor Gräber hatte sein Büro am anderen Ende des Ganges und erwartete ihn bereits. Im Gegensatz zum chaotisch voll gestopften Zimmer seines ermordeten Kollegen herrschte hier penible Ordnung. Den aufgeräumten Schreibtisch zierte eine Reihe römischer Miniaturen.

»Alles Repliken«, wie Gräber erläuterte, als er des Kommissars Blick auf den Figürchen ruhen sah. »Es gibt heutzutage perfekte Fälschungen. Solche Repliken verkaufen wir übrigens auch in unserem Museumsshop. Die gehen ganz gut, obwohl sie nicht gerade billig sind.«

Der Kommissar wendete ein kleines Bronzepferd hin und her. Es trug keinen Stempel ›Made in China‹. Vorsichtig stellte er es wieder zurück.

»Setzen wir uns!« Gräber deutete auf eine Sitzecke, wo sich zwei abgeschabte Sessel und zwei hochlehnige Holzstühle abwartend gegenüberstanden. Auf einem niedrigen Tisch das Miniaturmodell eines römischen Kastells.

Gräber wedelte mit kleinen, fleischigen Händen durch die Luft. Er war rein äußerlich das genaue Gegenteil seines ermordeten Widerparts. Kleingewachsen und kugelrund, mit cholerischer Gesichtsrötung, die sich in apoplektischen Schattierungen bis in den schütteren Haaransatz hinaufzog.

»Sie entschuldigen meine Erregung«, meinte er kurzatmig, »aber das ist natürlich eine schreckliche Sache. So direkt in unserem Institut, mitten im Museum – wer weiß, vielleicht war es nur ein Zufall, dass der Mörder ihn erwischte. Ich komme auch manchmal am Wochenende hierher, um in Ruhe zu arbeiten. Wenn es der Zufall gewollt hätte, wäre vielleicht ich dran gewesen ...«

Der Kommissar unterbrach den Redestrom, indem er ihm seine Visitenkarte zuschob.

»Bloch mein Name. Kriminalhauptkommissar Erich Bloch. Mordkommission. Falls Ihnen später noch etwas Wichtiges einfallen sollte, was Sie jetzt, beim ersten Gespräch, vergessen haben.«

Gräber musterte die Visitenkarte mit gerunzelter Stirn, griff in die Brusttasche seines gestärkten Hemdes und zog eine Lesebrille hervor. Er trug eine kleingemusterte rote Fliege und Hosenträger.

»Bloch, Bloch – haben Sie etwa Verwandte in der Schweiz?« Klang da Misstrauen aus seiner Stimme? Was sollte diese Frage?

»Nein.« Der Kommissar lächelte knapp. »Nicht, dass ich wüsste. Meine Familie kam tatsächlich ursprünglich aus der Schweiz. Aber das ist lange her.« Irgendein Onkel hatte Ahnenforschung betrieben, da war der Kommissar noch ein Kind gewesen. Die Blochs waren ursprünglich einmal eine reiche, katholische Kaufmannssippe gewesen. In den Wirren der Reformationszeit, als Zürich protestantisch-calvinistisch wurde, hatten sie sich ins Badische hinübergerettet. Vom geretteten Glauben war nicht allzu viel übrig geblieben. Von den Reichtümern auch nicht.

»Bloch«, sinnierte Gräber. »Da gibt es nicht viele hier im Hegau und am Bodensee. Blocher, ja die gibt es. Aber Bloch – dieser Name ist eher selten. Kommt wahrscheinlich vom polnischen Wloch – das bedeutet Fremder. Kann gut sein, dass Ihre Vorfahren polnische Juden waren, die vor einem Pogrom flüchteten, konvertierten und in die Schweiz kamen. Leider hatten sie dann wieder den falschen Glauben.«

»Richtig, und dann haben sie eben ›rübergemacht‹, rüber über die Grenze – alles schon mal da gewesen, die Geschichte wiederholt sich.« Der Kommissar hatte Respekt vor dem enzyklopädischen Wissen Gräbers, aber er wollte das Gespräch wieder zu den laufenden Ermittlungen zurückführen. Gräber hatte vollstes Verständnis.

»Sie entschuldigen bitte. Diese Aufregung. Wie rücksichtslos von mir, dass ich Ihnen hier eine Privatvorlesung halte. Sie wollen sicher mehr über meinen Kollegen erfahren. Womit kann ich Ihnen helfen?«

Er war ganz Liebenswürdigkeit. Vollkommene Zuvorkommenheit. Servilität. Ein harmloser, dicklicher, etwas wirrer, älterer Herr, der sicher unter zu hohem Blutdruck litt. Selten war der Kommissar jemandem begegnet, der so offensichtlich im wissenschaftlichen Elfenbeinturm saß wie Gräber. Der Mann lebte völlig in vergangenen Jahrhunderten.

Zeugen konnte man konfrontieren oder provozieren, je nachdem. Noch häufiger jedoch musste man sie ganz einfach dort abholen, wo sie sich gerade befanden – das bedeutete, ihre Sprache zu treffen und einen Zugang zu ihren Emotionen zu finden. Diese Methode erschien Bloch bei Gräber als die vielversprechendste. Er schob ihm das Papier zu, welches er auf Hoffmanns Schreibtisch gefunden hatte. Gräber nahm es mit spitzen Fingern. Das Papier war an den Rändern blutverkrustet, einzelne Spritzer hatten sich fett auf den Text gesetzt. »Man kann es noch einigermaßen entziffern. Was sagen Sie dazu? Er hat es offenbar kurz vor seinem Tod noch gelesen.«

Gräber las laut: »Ein Mägden von 19 Jahren von ziemlich müßiger Lebens-Art, bei welchem die Menses nicht expedite flossen, wenig Geblüt gaben und auch wol bis 14 Tage über die Zeit außen blieben, bekam seit einem halben Jahre den 3ten Paroxysmum von einem besonderem Spasmo pectoris convulsivo, welcher ihr die Brust auf solche Weise bewegete, dass sie hechztete und das Ansehen hatte, als ob sie in einem Actu venereo begriffen wäre; darbey ihr auch der Halsß aufgetrieben wurde, wie es denen, die an Spasmo hysterico leiden, zu begegnen pflegte. Ehe nun der Terminus Mensium wieder herbey kam, riet ich, öfters warme Fuß-Bade zu gebrauchen und einen Aderlasse am Fuß geschehen zu lassen. Nach einem halben Jahre verfiel sie jedoch trotz ununterbrochener Behandlung in eine schwere Schwindsucht, darob sie wenig später ad exitum kam.«

Er legte das Blatt auf das Tischchen, setzte die gespreizten Fingerspitzen sorgfältig aufeinander und schaute Bloch über den Rand seiner Brille an. »Und?«

»Genau das wollte ich Sie eigentlich fragen, Herr Professor. Sehen Sie einen Zusammenhang mit der Arbeit Ihres Kollegen? Sie müssen verzeihen, diese Sprache – ausgesprochen altertümlich, finden Sie nicht auch?« Er fühlte sich wie ein Idiot. Er konnte schlecht zugeben, dass er kaum ein Wort verstand. »Sieht ganz so aus, als bräuchten wir hier die fachkundige Unterstützung eines Historikers.«

Gräber ließ sich nicht zweimal bitten. »Es dürfte sich hier um eine Textkopie handeln – Gott sei Dank nur eine Kopie. Nicht auszudenken, wenn das Blut ein Original besudelt hätte.«

Er sagte tatsächlich besudelt, ein Wort, das dem Kommissar genauso altertümlich erschien wie der eben gelesene Text.

»Eine Krankheitsbeschreibung, offensichtlich eine Kasuistik aus einem ärztlichen Fachbuch – der Sprache nach etwa Ende des 17. Jahrhunderts. Interessant ist der ziemlich moderne Denkansatz mit Verknüpfung von Ursache und Wirkung. Hier, hören Sie, ich übersetze es in leicht geraffter Form: Ein Mädchen von 19 Jahren, bei der die Menstruationsblutung nicht zur Genüge floss, sich auch um 14 Tage verspätete, bekam den dritten Anfall eines Brustkrampfes, dass sie ächzen musste und so aussah, als habe sie Geschlechtsverkehr.

Hier haben wir also die Beschreibung der Symptomatik – dem folgt dann treffenderweise sofort die Diagnose. Der Autor schließt aus dem Vorangegangenen, dass es sich hier um einen hysterischen Krampf handle. Interessant ist, wie von dieser modernen Sichtweise der direkte Brückenschlag in die Antike erfolgt. Hysteria wird auch mit ›wandernde Gebärmutter‹ übersetzt. Als Ursache wurde ein Ungleichgewicht der Körpersäfte angenommen, beziehungsweise deren Stauung. In diesem Fall wurde eine Säftestauung in den Genitalorganen angenommen und deshalb logischerweise ein Aderlass am Fuß empfohlen – dort befanden sich nach damaliger Vorstellung die ableitenden Blutgefäße für die Unterleibsorgane.« Gräber holte Luft. »In diesem Text prallen das mechanistische, rationale Weltbild eines Descartes und das ganzheitliche Menschenbild eines Aristoteles aufeinander.«

Er geriet ganz eindeutig wieder ins Dozieren. Es wurde Zeit, ihn zu unterbrechen. »Ja, wenn es denn geholfen hätte«, brummte der Kommissar.

Gräber wurde noch eifriger. »Hat es aber nicht. Hier lesen Sie: ›... verfiel in Schwindsucht und starb wenig später‹. Da haben sie wohl mit den Aderlässen zu viel des Guten getan. Wahrscheinlich steckt etwas ganz anderes dahinter.«

»Und?« Der Kommissar galt allgemein als geduldiger Zuhörer.

»Meiner bescheidenen Meinung nach handelt es sich hier um die Beschreibung einer Pubertätskrise.«

»Wie bitte?«

»Haben Sie Kinder, Herr Bloch? Vielleicht sogar eine halbwüchsige Tochter? Verzeihen Sie meine Indiskretion, aber als Vater, sozusagen als direkt Betroffener oder soll ich sagen als Profi, versteht man es vielleicht besser.«

Seine Tochter war nicht halbwüchsig. Die sollte endlich erwachsen werden. Aber das gehörte nicht hierher.

»Machen Sie weiter, Herr Gräber!« Der Kommissar wunderte sich selbst über seinen schroffen Tonfall.

»Damals kamen die Mädchen wesentlich später in die Pubertät. 17 bis 19 Jahre, das war bei der damaligen schlechten Ernährung keine Seltenheit. Und dass die Menstruationsblutung anfangs nur unregelmäßig kommt, das ist auch nichts Krankhaftes. – Offensichtlich erwachte bei dieser jungen Dame aber gleichzeitig eine gewisse Lust an der Liebe. Oder soll ich sagen, die Liebe zur Lust?« Er schaute auf und erwartete zumindest ein Lächeln bei Bloch. Da dessen Gesicht unbewegt blieb, nahm er den Faden seiner Vorlesung wieder auf: »Die Eltern machten Druck, die Tochter verfiel in Krämpfe – und der Arzt empfahl das, was damals als Allheilmittel galt, den Aderlass. Der Rest ist bekannt. Vielleicht kam auch noch eine Anorexie dazu, die ihr dann den Rest gab. Eine Essstörung, ist ja modern heutzutage, wer weiß, vielleicht gab es das auch schon damals. Kurz und gut, die junge Frau ›schwand dahin‹, sie litt an Schwindsucht und starb kurz darauf. Von Eltern und Arzt ausgeblutet, verweigerte sie wahrscheinlich in einem letzten, trotzigen Aufbäumen die Nahrungsaufnahme. Tragisch.

Gott sei Dank hat man heutzutage weniger brachiale Methoden, um die Krankheit Pubertät zu behandeln.«

Hat man?, dachte der Kommissar. Hat man das wirklich?

»Ein paar Jahre früher«, unterbrach Gräber seine Gedankengänge, »da wäre die Kleine bei solch einem müßigen Lebenswandel und mit ihren hysterischen Krämpfen sogar noch als Hexe verbrannt worden. Vergessen Sie nicht, ›Der Hexenhammer‹, dieses berüchtigte Handbuch der Inquisition, wurde in unserer Region geschrieben und der letzte Hexenprozess, sozusagen in unserer Nachbarschaft, in Ihrer alten Schweizer Heimat, Herr Kommissar, fand erst 1782 statt. Unglaublich, nicht wahr? – Und damit haben Sie auch die direkte Verbindung zur aktuellen Arbeit meines bedauernswerten Kollegen Andreas Hoffmann.«

Die Vorlesung war fürs Erste beendet. Und obwohl der Kommissar sehr viel erfahren hatte, stand kaum etwas in seinem handlichen Notizbuch. Das einzig Wichtige war, dass es eine Beziehung zwischen dem schwer verständlichen Text und dem Toten gab. Viel klüger fühlte er sich allerdings nicht. Offenbar musste er bei der Befragung strukturierter vorgehen.

Er nickte Gräber aufmunternd zu. »Es wäre mir doch sehr recht, wenn wir uns jetzt mehr auf die Person und die Arbeit des Ermordeten konzentrieren könnten. Soweit ich weiß, hatte er einige neuere Projekte, die waren – wie soll ich es sagen?«

»Sensationell«, unterbrach ihn Gräber. »Sensationell wollten Sie wohl sagen.« Seine Gesichtsfarbe wurde um noch eine Nuance intensiver. Er sah nun ganz entschieden ungesund aus.

»›Sensationelle Funde am Stadtrand von Konstanz‹, so stand es in der Zeitung. ›Bodensee-Ötzi gefunden‹. Sicher haben Sie es auch gelesen. ›Die Geschichte der Hexenverfolgung im Konstanzer Raum muss komplett umgeschrieben werden‹. So ein Unsinn! Das war doch alles vollkommen unseriös. Er wollte einfach ganz groß rauskommen. Möglichst schnell rein in die Talkshows, das wollte er. Nichts anderes.«

»War es nicht eher so, dass Sie, lieber Herr Professor Gräber, in letzter Zeit doch eher, na ja, im Schatten des erfolgreicheren Kollegen gestanden sind?«

»Was soll das jetzt heißen? Im Schatten gestanden ...« Gräber sprang auf, zwang sich aber offensichtlich zur Ruhe, verschränkte die Hände mit gekünstelter Gebärde hinter dem Rücken und schritt im Zimmer auf und ab. Der alte Parkettboden ächzte leise unter seinen Tritten.

Der Kommissar wartete.

Gräber drehte einige Runden. Danach hatte sein Gesicht wieder eine normale Färbung. Er blieb vor dem Kommissar stehen. Obwohl er immer noch von oben auf ihn herabredete, hatte sein Tonfall so gar nichts Dozierendes mehr an sich. Im Gegenteil, nun klang seine Stimme gepresst, fast kläglich.

»Sie haben ja recht, Herr Bloch. Aber so direkt – wissen Sie – das schmerzt dann schon. So direkt hat es mir noch niemand gesagt.«

Er öffnete sich.

Es war kein Fehler gewesen, ihm so lange zuzuhören. Allmählich entstand so etwas wie eine Beziehung. Der Kommissar lächelte Gräber aufmunternd zu. »Wollen Sie sich nicht setzen?«

Gräber seufzte. Ergeben. Er nahm Platz und seine rundliche, kleine Gestalt sank in sich zusammen. Er saß da wie ein an sich gehorsames Kind, das beim Naschen ertappt worden war. Fast erwartete der Kommissar, dass er mit den Beinen schlenkerte.

»Den Wettlauf um die Gunst des Publikums, den hat Hoffmann sicher gewonnen«, begann Gräber zögernd. »Da gibt es nichts zu deuteln. Allerdings – seriös war das doch alles nicht. Ich hatte schon seit Jahren den Eindruck, dass es bei Hoffmann auf, nun ja, sagen wir es offen, dass es auf eine Art Wissenschaftsbetrug hinausläuft. Nur Beweise – Beweise hatte ich nicht. Aber diese Sache mit den Hexen und mit dem ›Bodensee-Ötzi‹ – das war wirklich der absolute Höhepunkt. Alles viel zu schnell in den Medien, alles viel zu laut. Viel zu sensationell. Irgendwie erscheint es mir logisch, dass es ihm diesmal das Genick gebrochen hat. Im übertragenen Sinne meine ich. – Wie ist er eigentlich zu Tode gekommen?«

Der Kommissar schwieg.

»Verstehe, ermittlungstechnisches Geheimnis. Na ja. Ich habe Hoffmann seine unsolide Arbeitsweise mehrfach vorgeworfen. Das fällt doch immer aufs Institut zurück. Intern habe ich die Aussprache gesucht und als das nicht weiter führte, habe ich es sogar über einen offenen Brief in der Presse versucht. Auch nicht gerade die feine Art. Aber ...« Er zuckte mit den Schultern. »Das war doch alles zu schön, um wahr zu sein.«

»Ich wiederhole meine Frage in anderer Form, Herr Professor Gräber: War es nicht eine schwierige Situation für Sie, so im Schatten eines jüngeren und erfolgreicheren Kollegen zu stehen?«

»Sie verdächtigen doch nicht etwa mich?« Dieser Einwurf klang nicht im Geringsten empört, sondern eher resigniert. Gräber schien müde.

Der Kommissar war sehr aufmerksam, registrierte jede Schwingung seines Gegenübers. Er fühlte sich wach, auf angenehme Weise erfrischt. Jagdfieber.

»Bis zum Beweis des Gegenteils gilt in unserem Rechtssystem die Unschuldsvermutung, Herr Professor. Ich sitze nicht hier mit den Handschellen im Gepäck. Ich versuche nur zu verstehen, was für ein Mensch der Ermordete gewesen ist. Als sein Kollege können Sie mir da unter Umständen entscheidende Hinweise geben.«

»Hinweise – ja. Hinweise auf seine mangelnde charakterliche Eignung – die kann ich Ihnen geben. Ich hatte schon im vergangenen Jahr den Verdacht, dass der Kollege Hoffmann Dinge publiziert, die, na sagen wir es mal vorsichtig, nicht ganz sauber sind. Aber in unserem Metier muss man publizieren, sonst zählt man nichts. Der Wert eines Wissenschaftlers bemisst sich nicht nur an der Qualität seiner Arbeit, sondern vor allem an der Anzahl seiner Veröffentlichungen. Ein perverses System! Ein ungeheurer Druck, der da auf einem lastet!«

»Wenn ich recht verstehe«, unterbrach ihn der Kommissar, »meinen Sie damit Publikationen in seriösen Fachzeitschriften – und nicht in der regionalen Tagespresse, oder?«

»Genau. Der Hoffmann produzierte Fachartikel wie ein Schnellfeuergewehr. Vieles unausgegoren oder munter abgeschrieben. Er war unglaublich publikumsverliebt, sah sein Gesicht gerne in der Zeitung und er schätzte es ungemein, wenn er beim Obsteinkauf auf dem Wochenmarkt oder beim abendlichen Kneipenbummel in der Altstadt erkannt und angesprochen wurde. Er war ziemlich eitel – ja, das war er wohl.«

»Er war ein ziemlich gut aussehender Mann, nicht wahr? War er eigentlich verheiratet?«

»Das nicht, Herr Bloch. Verheiratet war er nicht. Aber es wäre sowieso besser, wenn Sie mal bei seiner sauberen Assistentin genauer nachfragen würden. Die weiß am besten über seine Arbeit Bescheid – und ich denke, die steckten in mehr als nur einer Hinsicht unter einer Decke.«

»Ich danke. Für einen ersten Eindruck reicht es.« Der Kommissar schloss sein Notizbuch. »Bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung. Wir werden sicher noch einige Gespräche miteinander führen.« Er vermied bewusst das Wort Vernehmung. »Und dann noch eins. Der Kollege Meyer vom Kriminaltechnischen Dienst wird später Ihre Fingerabdrücke nehmen. Reine Routine.«