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Klaus Wanninger

Schwaben-Engel

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

»Schwaben-Rache«

»Schwaben-Messe«

»Schwaben-Wut«

»Schwaben-Hass«

»Schwaben-Angst«

»Schwaben-Zorn«

»Schwaben-Wahn«

»Schwaben-Gier«

»Schwaben-Sumpf«

»Schwaben-Herbst«

Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, evangelischer Theologe, lebt mit seiner Frau Olivera und dem schwäbischen Kater Mogli in der Nähe von Stuttgart. Er veröffentlichte bisher achtundzwanzig Bücher. Seine überaus erfolgreiche Schwaben-Krimi-Reihe mit den Kommissaren Steffen Braig und Katrin Neundorf umfasst mittlerweile elf Romane in einer Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplaren.

Klaus Wanninger

Schwaben-Engel

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1. Auflage Oktober 2008

2. Auflage Dezember 2008

© 2008 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

Meiner Frau Olivera
für ihre Liebe und überaus große Geduld

Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig. Leider beruhen die Hintergründe aber auf Tatsachen.

1. Kapitel

Genau in dem Moment, als die mächtigen Mauern der weitläufigen Klosteranlage vor ihm aus dem Nebel auftauchten, begann der Hund zu bellen. Erschrocken blieb Martin Reisinger stehen, starrte auf das heftig an der Leine zerrende Tier. Der Retriever streckte den Kopf in die Höhe, sog die Witterung heftig schnuppernd in die Nase. Irgendein verspäteter Hase, überlegte er, oder ein anderes Wild, das es versäumt hat, sich rechtzeitig zum Einbruch der Dämmerung in seinen Bau zurückzuziehen. Er lockerte den Druck der Leine, sah, wie der Hund nach vorne schoss.

Die Bäume der schmalen, alten Lindenallee, der er wie fast jeden Abend um diese Zeit in sanftem Anstieg nach oben folgte, hatten in den heftigen Windböen der vergangenen Wochen auch die letzten Blätter verloren. Schemenhaft, wie dürre Gespenster, ragten sie in den nur noch spärlich von den letzten Strahlen des verlöschenden Tages beleuchteten Himmel, das mächtige Mauerwerk der Comburg über sich. Reisinger sah die roten Ziegeldächer der Alten und der Neuen Dekanei sowie des Wamboldbaus weit über den Befestigungswall ragen, erspähte die drei schlanken spätromanischen Glockentürme hoch über der gesamten Anlage. Der gewaltige Bau der Klosterkirche schien wie ein gigantisches Luftschiff über der burgähnlichen Festung zu schweben.

Wann immer er aus dem Tal zur Comburg hoch blickte, glaubte sich Reisinger ins späte Mittelalter versetzt. Der weitläufige, sich vollständig über die Anhöhe hinweg erstreckende Gebäudekomplex beherrschte die gesamte Umgebung. Eingerahmt von der mit einem außerordentlich gut erhaltenen hölzernen Wehrgang und mehreren anmutigen runden Türmchen gekrönten, fast fünfhundert Meter langen mächtigen Mauer, erweckte das schon seit dem 11. Jahrhundert als Kloster genutzte Ensemble unweigerlich den Eindruck einer gewaltigen Burg. Erst Wochen, nachdem er mitsamt seiner Familie der günstigen Immobilienpreise und der guten Zugverbindung wegen vor wenigen Jahren von Stuttgart in den Schwäbisch Haller Vorort Hessental umgezogen war, hatte Reisinger sich bei einer ausführlichen Besichtigung davon überzeugt, dass es sich bei der Comburg um eine der bedeutendsten romanischen Sakralanlagen des ganzen Landes handelte. Staunend hatte er das Stiftstor durchschritten und das wuchtige Mauerwerk mit der von ihrem blanken Hintern geprägten Figur des Lecksfidle passiert, einem Stein gewordenen Symbol, das in vergangenen Jahrhunderten der Abwehr alles Bösen gedient hatte. Er hatte die Anmut des mit kleinen Türmchen und Säulen verzierten inneren Tores bewundert, war in den Kopfsteinpflastergassen des weitläufigen Klosters herumgeschlendert, von der Vielzahl und dem Charme der alten Gebäude überrascht. Der Ausblick vom Wehrgang der Mauer auf die ländliche Umgebung sowie die nahe gelegene Altstadt-Silhouette Schwäbisch Halls boten überwältigende Panoramen. Zu guter Letzt hatte er der Kirche einen Besuch abgestattet, deren von romanischen Strukturen geprägter Bau einen barocken, von schlanken Sandsteinsäulen charakterisierten Innenraum mit einem weithin berühmten, von der Decke hängenden romanischen Radleuchter und eine kunstvoll emaillierte und vergoldete Altarvorderseite präsentierte.

Fasziniert vom Flair des heute als Lehrerfortbildungsakademie genutzten ehemaligen Benediktinerklosters war er nun bestrebt, dem immensen Bewegungsdrang seines Vierbeiners täglich durch einen abendlichen Spaziergang von der neuen Wohnung zur mittelalterlichen Festung nachzukommen, eine Affäre von nicht einmal fünfzehn Minuten. Er pflegte von Hessental nach Steinbach hinunterzulaufen, dann über die alte Lindenallee wieder die notwendige Höhe zu gewinnen. Den gemächlich neben sich her trabenden Hund an der Seite hatte er es sich angewöhnt, das Stiftstor zu passieren und der Pflastersteingasse bis zur anmutigen sechseckigen Kapelle unmittelbar vor der Neuen Dekanei zu folgen, dort die Treppe hochzusteigen und eine Weile zwischen den alten Gebäuden umherzuschlendern, ehe ihn die wachsende Unruhe seines Hundes wieder zur Rückkehr zwang.

Das Gebell des Retrievers riss ihn aus seinen Gedanken. Reisinger starrte in die Höhe, sah die Silhouette der Festung über sich, die schlanken Stämme der Bäume, und ... leider ... das an seiner Leine zerrende Tier. »Toni, lass doch den Hasen in Ruhe«, versuchte er, diesen zu beschwichtigen, »der hat sich etwas verspätet und sucht jetzt sein Nachtquartier.« Er bückte sich, fuhr dem Hund über den Rücken, eine Methode, die normalerweise Wirkung zeigte. Was auch immer seine Neugier oder den Argwohn erregt hatte, die persönliche Berührung durch sein Herrchen ließ ihn wieder zur Ruhe finden. Immer. In jedem Fall! Nur heute nicht!

Der Retriever schoss nach vorne, zerrte an seiner Leine, bellte aus Leibeskräften. Verwundert starrte Reisinger auf ihn nieder.

»Was ist los mit dir, Toni?«, fragte er in dem vertrauten Tonfall, den er nur seinem Hund gegenüber anschlug und der seine Frau oft genug zu vermeintlich von Eifersucht geprägten Kommentaren veranlasste.

Der Vierbeiner, seinem Herrn treu ergeben, zeigte eigentlich alle Zeit die gleiche Reaktion. Was ihn auch immer bewegte, er ließ auf der Stelle davon ab, kehrte um, presste sich an Reisingers Bein, rieb seinen Kopf an dessen Hose heftig hin und her. Immer. In jeder Situation. – Nur heute nicht!

Heute zeigte das Tier überhaupt keine Reaktion, schien die Stimme seines Herrn nicht wahrzunehmen. Stattdessen verschärfte er das Stakkato seines Gebells, zerrte immer heftiger an der Leine.

Reisinger wusste keinen Rat, lockerte den Druck der Leine, soweit dies möglich war, sah den Hund vor sich den Weg hochspurten. Er hatte irgendeine Witterung in der Nase, kämpfte sich von Baum zu Baum. Der Mann hatte Mühe, ihm zu folgen, hörte das erregte Gebell des Vierbeiners, spürte, wie der Druck der Leine plötzlich nachließ. Der Retriever war hinter einem dicken Stamm verschwunden.

»Toni, was ist los?« Reisinger rang um Luft, passierte die alte Linde. Die seltsame Körperhaltung des Hundes war das Erste, was ihm auffiel. Sie war ungewohnt, passte absolut nicht zu dem Tier, irritierte ihn sehr. Der Hund wandte ihm seine Rückseite zu, stand breitbeinig, den Schwanz und das Fell seltsam gesträubt, vor dem ins Dunkel getauchten Gestrüpp am Rand des Weges, ließ seinem Gebell ein unsicheres Winseln folgen.

Der Mann rollte die Leine ein, zerrte ihn zurück. Ohne seine aufgeregte Haltung zu ändern, gab der Hund nur unwillig nach, zog sich wenige Zentimeter zurück. Reisinger hatte Mühe, seine Augen an den Dämmer zu gewöhnen. Er starrte ins Gewirr hinter der Linde, war zunächst nicht imstande, etwas zu erkennen. Nur langsam, von Sekunde zu Sekunde, lichtete sich das Bild. Er fuhr sich mit der Rechten über die Augen, erahnte die Umrisse eines menschlichen Körpers, bevor er ihn wirklich sah. Den bellenden, winselnden Hund an der kurzen Leine wurde er sich dessen, was da vor ihm aus dem Dunkel tauchte, immer deutlicher bewusst: Der Kopf, der Leib, die Gliedmaßen einer rücklings auf den januarkalten Boden gelegten Frau.

Reisinger spürte das Zittern, das sich zuerst in seinen Armen, nach und nach dann in seinem ganzen Körper ausbreitete, konnte sich dennoch nicht dazu durchringen, seinen Blick von dem unbekannten Menschen zu lösen. Zu deutlich hatte er jetzt das schmale, vom Schatten der Zweige nur unwesentlich entstellte Gesicht einer Frau, ihre langen blonden Haare, die welligen Locken vor Augen. Ein Engel, schoss es ihm unwillkürlich durch den Kopf, ein junger, blond gelockter Engel hier im Gras unter der Comburg. Gedanken an die gerade verklungene Advents- und Weihnachtszeit kamen ihm dabei aber nicht in den Sinn. Nicht einmal im Entferntesten.

2. Kapitel

Die Aussicht von der Stadt aufs Bett des Neckars und die ihn umgebende Landschaft war trotz der auch am Nachmittag immer noch nicht vollständig aufgelösten Nebelschwaden allein schon den Besuch wert. Schon bei der Anfahrt im Zug hatten sie die traumhaft schöne Silhouette Bad Wimpfens von Weitem erblickt. Die exponierte Lage der alten Stadt am Hang über dem Neckartal, ihre schmalen Gassen mit viel Fachwerk und spitzen Giebeln, dazu die gewaltige Befestigungsanlage mit Toren, Türmen, Mauern und Kasematten vermittelten Steffen Braig den Eindruck, sich in einem mittelalterlichen Freilichtmuseum zu bewegen. Er hatte es keine Sekunde bereut, Ann-Katrin Räubers Drängen nachzugeben und sich für einen Urlaubstag und das Treffen mit einer Freundin seiner Lebensgefährtin – Eva Weiper, die vor wenigen Monaten nach Bad Wimpfen gezogen war – entschieden zu haben.

»Ich bin im fünften Monat. Wer weiß, wie lange wir uns solche Ausflüge in nächster Zeit noch erlauben können«, hatte Ann-Katrin argumentiert.

Seit ihr Bauch sich immer deutlicher zu runden begann, war er um besondere Rücksicht ihr gegenüber bemüht. Braig erinnerte sich noch genau an den Moment, als er von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. Bei einem ihrer seltenen Besuche des Mineralbades in Bad Cannstatt hatte sie ihn damit überrascht. »Schau mich genau an«, sie lachten heute noch gemeinsam über ihre Worte, »wenn du mich schlank in Erinnerung behalten willst.« Am Rand des Beckens stehend, hatte sie ihm die ärztliche Bestätigung ihrer längst artikulierten Vermutung übermittelt.

Einen besseren Zeitpunkt hätten sie kaum finden können. Wenige Wochen vorher war es dem beim Stuttgarter Landeskriminalamt tätigen Kriminalhauptkommissar Braig und seiner Kollegin Katrin Neundorf gelungen, die Mordserie an einem jungen Schachspieler, einem Politiker und zwei weiteren jungen Männern in Reutlingen, Köngen, Ostfildern und Strümpfelbach im Remstal aufzuklären – ein Erfolg, der ihn endlich von dem wochenlang anhaltenden Druck befreit hatte, der während langwieriger Ermittlungen oft auf ihm lastete, auch wenn er in diesem Fall durchaus zwiespältiger Natur und mit einem hohen Preis erkauft worden war: Seine Kollegin hatte, die unmittelbare Bedrohung von Braigs Leben durch eine vierfache Mörderin vor Augen, die Frau erschossen. Den Schock über diese ohne jeden Zweifel in purer Notwehr begangene und von der Getöteten bewusst provozierte Tat hatte Neundorf bis heute nicht vollkommen überwunden; zwar war in tagelangen polizeiinternen Ermittlungen jeglicher auch nur geringste Hauch eines Zweifels an der Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens ausgeräumt worden, doch hatte sich seine Kollegin immer noch nicht von allen Selbstvorwürfen befreit. Sie war auf Drängen ihrer Vorgesetzten hin fünf Wochen in therapeutischer Behandlung gewesen, hatte anschließend bis über Weihnachten hinweg dieselbe Zeitspanne Urlaub genommen und dann erst vor wenigen Tagen wieder den Dienst angetreten. »Ich stehe tief in deiner Schuld«, hatte Braig sie begrüßt, »du hast mir das Leben gerettet.« Neundorf hatte nur unwillig abgewinkt.

Ann-Katrin Räubers erste Schwangerschaftsmonate waren bislang weitgehend beschwerdefrei verlaufen. »Du traust dir das wirklich noch zu?«, hatte Braig mehrfach einzuwenden versucht, wenn seine Partnerin allzu wenig Bereitschaft zeigte, Rücksicht auf ihre körperliche Veränderung zu nehmen.

»Noch liege ich nicht in der Klinik auf der Intensivstation«, war sie nicht müde geworden, alle seine Befürchtungen gebetsmühlenartig abzuwehren.

Sie hatte sich für unbeschränkte Zeit beim Waiblinger Polizeirevier in den Innendienst versetzen lassen, war außerdem noch um eine Reduzierung ihrer Dienstverpflichtung auf fünfzig Prozent vorstellig geworden.

»Regis wimpina, das königliche Wimpfen hat man die Stadt genannt«, hatte Eva Weiper voller Stolz über ihre neue Heimat ihren Besuchern bei einem kleinen Rundgang erklärt, »immerhin war es die größte Pfalz, die Kaiser Friedrich Barbarossa auf deutschem Boden hat errichten lassen. Später wurde Wimpfen Freie Reichsstadt. Und 1803, infolge der Neuordnung der Länder durch Napoleon, kam die Stadt zu Hessen und blieb bis 1945 in dessen Händen. Aber damit hat es sich noch lange nicht. Denn weitaus älter als die Bergstadt ist das Wimpfen im Tal. Dort siedelten schon die Kelten. Und die Römer gründeten an dieser Stelle die Unterstadt Cornelia, an deren Stelle heute noch die romanische Ritterstiftskirche in Form der Benediktinerabtei steht. Ihr seht, ich habe die Geschichte meines neuen Wohnortes gut gelernt.«

Sie hatten sich die ausführlichen Erklärungen geduldig angehört, waren dann in die kleine Wohnung ihrer Gastgeberin zurückgekehrt, wo diese sie mit Kaffee und selbst gebackenem Kuchen bewirtet hatte. Eva Weiper hatte sich vor etwas mehr als einem halben Jahr von ihrem Mann getrennt, war, weil es sich beruflich hatte einrichten lassen, von Frankfurt weg in die kleine Stadt am Neckar gezogen, um jeder zufälligen Begegnung mit ihrem Ex vorzubeugen.

»Es war höchste Zeit. Wir hätten uns zerfleischt«, hatte sie erklärt.

Ein hartes Resümee nach sechs Jahren Ehe und vierzehn Jahren gemeinsamen Lebens, war es Braig durch den Kopf gegangen. Steht Ann-Katrin und mir ein ähnliches Schicksal bevor?

»Ich hoffe, dass ihr mehr Glück habt«, war es der Frau anscheinend gelungen, seine Gedanken zu lesen, »ganz bestimmt hilft euch das Kind dabei.«

Das Kind als zusätzliches Bindeglied? Er hatte noch nicht darüber nachgedacht, war sich der Konsequenzen des zukünftigen Familienzuwachses noch längst nicht in allen Variationen bewusst. Ann-Katrin und er als Eltern – das schien bisher noch ein vager Gedanke abseits jeder vorstellbaren Realität. Ein Kind in diese von so unendlich viel Leid und Elend verseuchte Welt zu setzen – vor kurzer Zeit noch hätte er diese Überlegung als abnormales Hirngespinst abgetan. Dem Dreck, dem Morast, diesem unübersehbaren Ausmaß an Niedertracht und Intrigen, dem er Tag für Tag bei seinen Ermittlungen ausgesetzt war, den verkommenen, hinterhältigen Existenzen, mit denen er es unaufhörlich zu tun hatte, ein junges, schutzloses Wesen auszuliefern? War nicht allein die Idee schon ein unverantwortliches Unterfangen?

Nein, man vertraute dieser Welt keine kleinen Kinder an, nicht, wenn man einen Beruf ausübte, der Tag für Tag dafür sorgte, dass einem die Realität unverhüllt, ohne jeden Schleier präsentiert wurde. Ein Beruf, der die angebliche Friedfertigkeit dieser Gesellschaft, die scheinheilige Sanftmut und Freundlichkeit vieler ihrer Mitglieder allzu oft ihrer verlogenen Fassade beraubte und den irrationalen Bedeutungswahn, die dämonische Machtbesessenheit und unersättliche Raffgier selbst in den Reihen ihrer wichtigsten Repräsentanten schonungslos offenlegte. Unerbittliche Rücksichtslosigkeit und grenzenlose Egomanie waren die dominierenden Kräfte dieses Universums – das hatte er in den vergangenen Jahren bis zum Überdruss gelernt. Wie um alles in der Welt konnten sie da auf die Idee kommen, ein neues Menschlein in diesen verfaulten Morast zu setzen?

Theresa Räuber, die Schwester seiner Lebensgefährtin, war die Erste, mit der sie sich über ihre Bedenken unterhalten hatten. Einen ganzen Abend lang waren sie damit beschäftigt gewesen, das Für und Wider ihres geplanten Familienzuwachses auszuloten.

»Ob ihr gut daran tut, ein Kind in diese Welt zu setzen? Die Frage ist legitim, ja notwendig«, hatte die Pfarrerin zugegeben. »Du musst nur die Nachrichten eines beliebigen Tages verfolgen und schon liegt die Frage dir auf der Zunge. Katastrophen, Anschläge, Unfälle. Nur unsensiblen, jedem Mitgefühl für andere völlig abholden Existenzen wird sie absonderlich erscheinen.«

Sie hatten sich in ihrer Wohnung am Rand der Stuttgarter Innenstadt, wo Theresa seit zwei Jahren eine Kirchengemeinde betreute, getroffen. Theresa Räuber war lange Zeit als Managerin für den Daimler-Konzern tätig gewesen, hatte sich mit Anfang dreißig dazu entschlossen, auf die Fortsetzung ihrer Karriere zu verzichten und stattdessen Theologie zu studieren. Sinn vermitteln und Menschen in Not helfen statt Luxuskarossen anzubeten, war sie deutlich geworden, die beste Entscheidung meines Lebens.

Sie hatte auf Ann-Katrins Wunsch hin einen Tee gekocht, ihn heiß serviert.

»Trotzdem stellt sich kaum jemand dieser Frage, weichen fast alle vor ihr aus«, war sie erneut auf das Thema eingegangen, »und ich denke, ich weiß, weshalb.«

Sie hatte einen Schluck Orangensaft in den Tee gegeben, dann von der aromatisch duftenden Flüssigkeit getrunken. »Die meisten haben Angst, keine akzeptable Antwort zu finden. Umso mehr ehrt es euch, dass ihr euch dem Problem stellt. Aber das ist bei dieser Berufswahl wohl nicht besonders überraschend.«

Nein, hatte Braig überlegt, das war es wirklich nicht. Wie viele Leichen hatte er in den letzten Jahren begutachten, wie viele verunstaltete kindliche und jugendliche Körper bis ins Detail untersuchen müssen? Hundert, hundertfünfzig, zweihundert? Er wusste es nicht, hatte sie nicht gezählt, wagte es nicht einmal, eine ernsthafte Schätzung zu riskieren. Irgendwo in diesem Bereich, sofern er sich nicht gewaltig täuschte. Und jetzt ein Kind?

»Ich möchte euch trotzdem bitten, nicht vorschnell bei einer übereilten Antwort Zuflucht zu suchen, sondern: Gab es in der Geschichte der Menschheit jemals eine Zeit, in der man diese Frage vorbehaltlos, ohne jedes Wenn und Aber hätte bejahen können?«

Braig hatte es sofort begriffen. Es bedurfte keiner langwierigen Philosophiererei, darauf eine Antwort zu finden. Eine Zeit, in der Menschen ohne Angst und ohne Bedenken ein Kind in diese Welt hatten setzen können? Nein, so weit zurückzudenken man sich auch bemühte, eindeutig nein. Seit es Menschen auf diesem Erdball gab, herrschten Mord und Totschlag, Kriege und Verfolgungen. Nie, zu keinem Zeitpunkt der Geschichte, konnte es einer Mutter leicht gefallen sein, ihr Kind dieser Realität anzuvertrauen. Und doch hatten es Millionen von Frauen immer und immer wieder gewagt ...

»Du kennst die Hoffnung meines Lebens«, hatte Theresa Räuber hinzugefügt, ihre Schwester umarmend. »Ich glaube an die Sonne, auch wenn Nacht und Nebel die Erde bedecken. Ihr müsst mir verzeihen, wenn ich euch keine rational fundierte Antwort bieten kann. Die Frage lässt sich nicht mit dem Verstand angehen. Das ist eine Sache des Gefühls und des Vertrauens.«

»Des Vertrauens?« Braigs Skepsis war nicht zu überhören gewesen.

»Des Vertrauens in den Sinn unserer Existenz, ja. Wider alle Vernunft. So wie es den Menschen aller Zeiten erging, die vergeblich nach einer Spur von Vernunft in diesem Dasein suchten. Ich denke, wir können es nur mit Martin Luther halten: Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, so werde ich heute trotzdem ein Apfelbäumchen pflanzen«, hatte Theresa Räuber erklärt und sie am späten Abend mit den Worten verabschiedet: »Ich möchte euch zu eurem Kind beglückwünschen und euch und ihm alles erdenklich Gute wünschen. Das war die beste Entscheidung, die ihr habt treffen können.«

Neundorfs Nachricht erreichte ihn, als sie sich gemeinsam mit Eva Weiper auf den Weg zum Bad Wimpfener Bahnhof gemacht hatten.

»Du bist unterwegs?«, fragte sie, die Hintergrundgeräusche im Ohr.

»Zu Besuch bei einer Freundin Ann-Katrins in Bad Wimpfen. Du rufst aus dem Amt an?«

»Leider nicht, nein. Angeblich ein Attentat auf einen Industriellen in Backnang.«

»Ein Attentat? Auf wen?« Braig trat zur Seite, signalisierte seinen beiden Begleiterinnen, weiterzulaufen, konzentrierte sich auf das Gespräch.

»Irgendein Industrieller. Mehr kann ich nicht sagen.«

»Der Mann wurde getötet?« Er sah die weit aufgerissenen Augen einer jungen Frau, die seine Worte gehört hatte, drehte sich zur Seite.

»Ich weiß es nicht. Ich bin auf dem Weg dorthin. Es soll mitten im Ort passiert sein.«

»Mitten im Ort? Mit Toten und Verletzten?«

»Frag mich was Leichteres, ich habe keine Ahnung. Das Problem ist nur, dass gerade eine weitere Meldung einging.«

»Nämlich?«

»Weibliche Leiche unterhalb der Comburg. Schwäbisch Hall. Ich muss nach Backnang, kann mich nicht auch noch darum kümmern. Und Herb und Ohmstedt sind immer noch mit der Überwachung dieses angeblichen Terroristen beschäftigt, und dann gab es noch irgendetwas mit einem Banküberfall.«

Braig seufzte laut. »Ich verstehe. Sonst ist niemand zu erreichen.«

»Tut mir leid.«

»Eine weibliche Leiche unterhalb der Comburg also.«

»Genau. Kannst du nicht in Heilbronn umsteigen und den nächsten Zug nach Schwäbisch Hall nehmen? Die Spurensicherer sind bereits unterwegs.«

»Wann kam die Meldung?«

»Vor wenigen Minuten. Kümmerst du dich darum?«

»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig.«

3. Kapitel

Rössle und Dolde waren gerade dabei, die elektrischen Strahler mit Strom zu versorgen, um den Fundort der Leiche auszuleuchten, als Braig dort eintraf.

Eine junge Frau, hatte der Beamte der Schutzpolizei, der am Bahnhof in Schwäbisch Hall auf ihn zugetreten war, um ihn zur Lindenallee unterhalb der Comburg zu bringen, erklärt. Sie sieht aus wie ein Engel, ein zarter blonder Engel.

Braig hatte den Kollegen mit einem kritischen Blick bedacht, die Mundwinkel zu einer spöttischen Bemerkung hochgezogen, sich den Kommentar dann aber in letzter Sekunde erspart. War es dem Mann noch nicht gelungen, sich aus der salbungsvollen Atmosphäre der erst vor kurzem zu Ende gegangenen Weihnachtszeit zu lösen, oder befand er sich auf einem esoterischen Trip?

Er hatte den Blick auf die Datumsanzeige seiner Armbanduhr konzentriert, dabei versucht, Buchstaben und Zahlen zu entziffern. Freitag, 16. Januar. Die Zeit der Rauschgoldengel war vorbei. Endgültig.

Wenige Minuten später hatten sie die Lindenallee unterhalb der gewaltigen Klosteranlage erreicht. Braig war aus dem Polizeifahrzeug gestiegen, das aufgeregte Geschnatter der Menschenmenge im Ohr, die sich vor dem rotweißen Absperrband versammelt hatte. Vom Licht mehrerer Autoscheinwerfer geblendet, war ihm dennoch die Mühsal der Beamten deutlich geworden, denen es nur unter Aufbietung all ihrer Kräfte gelang, Neugierige vom Betreten der Lindenallee abzuhalten.

»Mein Gott, bleiben Sie doch vernünftig! Der Zugang zur Comburg ist vorerst nicht möglich. Ist das denn nicht zu begreifen?«

Die Menschenmenge zu passieren, war schwerer gefallen, als er es sich vorgestellt hatte. Erst mit ausgefahrenen Ellbogen war es ihm gelungen, sich einen Weg zu der Absperrung zu erkämpfen. Er hatte sich tief hinunter gebückt, war unter dem Plastikband durchgeschlüpft, den Kollegen seinen Ausweis entgegenstreckend. Verwundert hatte er den militärisch anmutenden Gruß eines der Uniformierten wahrgenommen. Der Mann war auf seine Vorstellung hin in eine starre Haltung verfallen, hatte mit der Rechten salutiert.

»Was isch denn des für oiner?«, hatte sich eine schrille Stimme aus der wartenden Menge heraus beschwert. »Wieso lasset die den grad so durch?«

Braig hatte die Kommentare nicht beachtet, war in die Dunkelheit der Lindenallee abgetaucht. Der asphaltierte Weg führte schnurgerade bergan, auf beiden Seiten von mächtigen Bäumen flankiert. Die Temperatur hatte sich spürbar abgekühlt, mit jedem Atemzug war kalte Luft in seine Lungen vorgedrungen. Er war kräftig ausgeschritten, hatte das leichte Frösteln auf seinem Rücken verdrängt. Zwanzig, dreißig Meter weiter war er auf die rot aufleuchtenden Rücklichter eines Autos gestoßen, das mitten auf dem Weg parkte: Der hellgraue Kombi von Helmut Rössle, einem der Spurensicherer des Landeskriminalamts.

»So, i bin soweit. Jetzt geb i Saft.«

Braig drückte sich an dem Fahrzeug vorbei, versuchte, einen Blick auf den Weg davor zu erhaschen. Im selben Moment flammten die Strahler auf. Von einer Sekunde zur anderen tauchten sie das Gelände in ihrer unmittelbaren Umgebung in ein grelles, fast unerträgliches Licht. Er verharrte mitten im Schritt, kniff die Augen zusammen, benötigte mehrere Sekunden, um mehr als nur Umrisse zu erkennen.

»Mein Gott, isch des a schönes Mädle«, meldete sich Rössle ungewohnt leise wieder zu Wort. Die Bewunderung in der Stimme des Spurensicherers war nicht zu überhören.

Braig starrte auf den Boden, sah Rössle und dessen Kollegen Dr. Kai Dolde über einen Gegenstand gebeugt neben dem Stamm einer Linde stehen, beide von Kopf bis Fuß in ihre gewohnten hellgrünen Plastikoveralls gehüllt. Hinter ihnen kniete eine weitere vermummte Gestalt, die er erst nach genauerem Hinsehen als Dr. Holger Schäffler, den Gerichtsmediziner, identifizierte.

»Guten Abend zusammen«, grüßte er mit lauter Stimme. »Was ist passiert?«

Die Männer drehten sich zu ihm um, forderten ihn mit entrüsteten Mienen und weit ausgestreckten Armen unmissverständlich auf, sofort stehen zu bleiben. »Keinen Schritt weiter«, rief Dolde.

Ihre unausgesprochene Mahnung, etwaige Spuren nicht zu zerstören, augenblicklich begreifend, blieb er stehen, ließ sich die nötigen Plastiküberzüge reichen. Er stülpte sie über seine Schuhe, zog sie dann sorgfältig über die Hände. Die Männer verfolgten schweigend seine Bemühungen, verschwendeten kein unnötiges Wort.

Braig kam die Situation vom ersten Moment an ungewohnt vor. Irgendwie war ihr Verhalten außer der Reihe. Versuchten sie sonst, dem traurigen Anlass ihrer Begegnung durch flapsige Sprüche oder locker hingeworfene Bemerkungen etwas an Schärfe zu nehmen, die Konfrontation mit einem aus dem Leben geworfenen Menschen in aufgesetzt heiterer Stimmung erträglicher zu gestalten, war heute nichts, aber auch gar nichts von derlei Versuchen zu bemerken. Niemand, nicht einer der drei Männer zeigte Ansätze zu solchem Verhalten. Stattdessen herrschte Stille, fast schon betretenes Schweigen. Die seltsame Stimmung, die hier in der Luft lag, war buchstäblich mit Händen zu greifen. Hatte es Streit gegeben, eine Meinungsverschiedenheit vielleicht bezüglich des Vorgehens bei der anstehenden Untersuchung?

Er blickte von einem der Männer zum anderen, konnte nichts Auffälliges entdecken. Kein vor Zorn gerötetes Gesicht, keine in verbissener Wut verhärtete Miene. Stattdessen ruhige, konzentrierte Arbeit.

Braig konnte seine Irritation nicht länger verbergen, gab ein unbeholfenes: »Alles okay bei euch?«, von sich.

Dolde reagierte als Erster. »Hier, schau es dir an«, erklärte er, zu dem Baum weisend, »du wirst es verstehen.«

Braig zurrte die Plastiküberzüge ein letztes Mal zurecht, stakste dann vorsichtig auf Zehenspitzen zum Rand des Weges. Der annähernd einen Meter mächtige Stamm einer Linde wuchs hier kerzengerade aus dem Boden, von dichtem, winterhartem Gras gesäumt. Die Rinde war an mehreren Stellen beschädigt, schriftähnliche Einkerbungen waren zu erkennen. Braig sah Doldes ausgestreckte Hand, begrüßte den Kollegen, ging zu ihm hin. Und dann stand er plötzlich vor dem ins Gras hinter den Baum gestreckten Körper eines Mädchens und wusste im selben Moment, dass er diesen Anblick sein ganzes Leben nicht mehr vergessen würde. Schweiß schoss ihm aus allen Poren, ein Kribbeln erfasste seine Schläfen, sein Puls schien sich zu beschleunigen, Gänsehaut breitete sich auf seinem Rücken aus.

»Nicht zu fassen, wie?«

Er achtete nicht auf Doldes Worte, starrte gebannt auf das überirdisch schöne Geschöpf, das leblos vor ihm lag. Ein ebenmäßig schmales, wohlgeformtes Gesicht mit bleicher, absolut reiner Haut, kleiner Stupsnase und sanftrosa Lippen, eingerahmt von langen goldblonden, leicht gelockten Haaren. Nicht ein Fleck, nicht ein Punkt, der die Vollkommenheit dieses Wesens störte. Erst ein konzentrierter Blick auf die von einer adretten samtroten Jacke verhüllte Brust ließ erahnen, was dem zarten Geschöpf zum Verhängnis geworden war: Eine kleine, auf dem dunkelroten Stoff kaum erkennbare, von einer wulstigen Kruste umgebene Einschusswunde.

»Do fehlet bloß no die Flügel«, brummte Rössle, »no wär’s perfekt.«

Braig sah keinen Anlass, den Vergleich zurückzuweisen. Das Wesen vor ihm trug in der Tat engelgleiche Züge. Er spürte, wie ihm der Anblick physische Schmerzen bereitete, schnappte nach Luft. Sie sieht aus wie ein Engel, ein zarter blonder Engel, hatte der Beamte der Schutzpolizei erklärt, der ihn am Bahnhof in Schwäbisch Hall abgeholt hatte. Weiß Gott, der Mann hatte den Sachverhalt vollkommen richtig erfasst. Besser ließ sich der Anblick des Mädchens nicht formulieren. Ein zarter blonder Engel in all seiner Unschuld. Weihnachten war vorbei, die Kerzen, Nikoläuse und Christbäume verschwunden, einer der himmlischen Sendboten aber geblieben.

»Das darf nicht wahr sein.« Braig hatte die Worte nicht bewusst formuliert, nahm erst nach einer Weile Doldes zustimmendes Nicken wahr. Es war ihm einfach so über die Lippen gekommen. Er spürte die Gänsehaut auf seinem Rücken, fühlte sich schwach und elend. Seine Hände zitterten, um nichts in der Welt hätte er sie jetzt zu einem sinnvollen Zweck benutzen können. Er trat vorsichtig einen Schritt zurück, versuchte, tief durchzuatmen.

»Manchmal bereue ich meine Berufswahl wirklich«, hörte er den Gerichtsmediziner sagen, »heute zum Beispiel.«

Braig sah sich aus seiner Erstarrung gerissen, kehrte langsam in die Realität zurück. Er kannte Dr. Schäffler seit langem, war sich der außergewöhnlichen Laufbahn des jungen Arztes bewusst. Schon während dessen Studium in Tübingen hatte er ihn anlässlich einer Ermittlung auf der Neckarinsel getroffen, war später nach einem Unfall von Dr. Schäffler behandelt worden. Diesem Anblick indes waren sie beide noch nie ausgesetzt gewesen.

Er hatte Mühe, sich zu konzentrieren, fand erst nach mehreren Sekunden die notwendigen Worte. »Sie wurde ...«

Dem Gerichtsmediziner ging es offensichtlich nicht besser. »... erschossen«, sagte er nach einer Weile, auf die Brust des Mädchens deutend.

Braig spürte selbst, wie unwirklich das klang. Verwirrt starrte er auf die Tote, das Gesicht fragend verzogen.

»Ja, es ist kaum zu glauben, ich weiß«, nahm Dr. Schäffler seine Irritation auf. »Mir ging es anfangs genauso. Aber es ist so, leider. Hier, schau es dir genauer an.« Er zeigte auf den Oberkörper der Toten, holte tief Luft.

Braig beugte sich über die Schusswunde, sah, dass es sich um ein kleines Kaliber handeln musste. Der Stoff rings um das winzige Loch war von getrocknetem Blut verfärbt, die Ränder deutlich verschorft. Braig spürte das Unwohlsein in seinem Magen, beeilte sich, den Blick von der Wunde abzuwenden. Sein Puls beschleunigte sich, hinter den schweißnassen Schläfen begann es heftig zu pochen. Er fühlte sich mit einem Mal abgespannt und verbraucht. Wie konnte das geschehen, arbeitete es in ihm, wer hat das getan? Welcher Verbrecher ist dafür verantwortlich?

»Ein einziger Schuss«, mischte sich Dolde ins Gespräch.

Braig sah den ausgestreckten Arm des Mannes, der auf das tote Mädchen gerichtet war.

»Ein einziger Schuss?«, vergewisserte er sich.

Der Gerichtsmediziner nickte mit dem Kopf.

»Sie war sofort tot?«

»Alles spricht dafür«, bestätigte Dr. Schäffler. »Ich schätze, es ist genau hier passiert. Der Körper liegt unverändert. Der oder die Täter sind auf und davon.«

»Hier? An diesem Weg?«

»Das Blut auf dem Boden weist darauf hin«, antwortete der Arzt, auf das Gras neben der Leiche deutend. »Und die Kugel steckt wohl hier drin.« Er wandte seinen Kopf zur Seite, den Stamm der unmittelbar benachbarten Linde im Blick.

»Hier, in diesem Baum?«

»Ich glaube, ja.« Dolde richtete sich auf, tippte auf das Holz. »Ich denke, das hier ist das Einschussloch. Gib mir fünfzehn Minuten, dann haben wir das Projektil.«

»Dann ist es tatsächlich genau hier passiert.« Braig spürte selbst, wie dümmlich das klang.

»Ich denke schon«, meinte der Kriminaltechniker, »alles deutet darauf hin.«

Der Kommissar fand keine weiteren Fragen, musste diese Erkenntnis erst verarbeiten. »Hier am Rand der Lindenallee«, wiederholte er dann.

»Und zwar aus kurzer Entfernung.«

Eine Windböe war in die kahlen Äste über ihm gefahren, ließ sie mit heftigem Ächzen hin und her schwanken. Braig warf den Kopf zurück, schaute in die Höhe, konnte vom grellen Licht der Strahler geblendet, nur die Umrisse einzelner Zweige erkennen. Dr. Schäfflers Aussage nahm er erst in dem Moment mit vollem Bewusstsein wahr, als der Mann sich mehrfach räusperte. »Verzeihung?«

»Der Mörder muss unmittelbar vor dem Mädchen gestanden sein.«

»Weil er nur einen einzigen Schuss abgab.«

»Er muss sich seiner Sache absolut sicher gewesen sein, ja. Außerdem handelt es sich um eine fast waagerechte Einschussbahn, soweit ich das nach dieser ersten Begutachtung sagen kann. Er stand nicht weit von ihr, quasi über ihr, hielt die Waffe genau vor ihr Herz.«

»Der Mörder stand nicht weit von dem Mädchen entfernt?« Braig wusste, wie er die Aussage des Gerichtsmediziners einzuschätzen hatte. Dr. Schäffler war zwar noch nicht allzu lange im Amt, von Anfang an jedoch mit solcher Sachkenntnis und überzeugendem Urteilsvermögen aufgetreten, dass er sich binnen Kurzem bei allen beruflich Beteiligten den Ruf einer anerkannten fachlichen Kapazität erworben hatte, der seinem überaus geachteten Vorgänger Dr. Martin Keil in keiner Weise nachstand. Nicht ein einziges Mal hatte er bisher, jedenfalls soweit der Kommissar sich erinnerte, seinen vorläufigen Befund nach erfolgter Obduktion grundlegend widerrufen müssen, eine Tatsache, die in seinen Kreisen gar nicht hoch genug bewertet werden konnte. Es stand für ihn deshalb außer Frage, dass sie davon auszugehen hatten, dass der Mörder das Mädchen hier am Rand der Lindenallee aus nächster Nähe erschossen hatte. Und niemand, überhaupt gar niemand, hatte etwas von dem schrecklichen Geschehen mitbekommen?

»Wo führt dieser Weg hin?«, erkundigte er sich. »Zur Comburg, oder?«

Die Männer nickten zustimmend.

»Nur zur Comburg, ja. Ich habe mich bei den Haller Kollegen erkundigt«, bestätigte Dolde. »Er ist nicht sonderlich frequentiert, vor allem jetzt im Winter nicht. Ab und an ein paar Zulieferer, Firmen, die die Gastronomie oben beliefern, Gäste, die an- oder abreisen oder hier als Tagesbesucher aufkreuzen. Die gesamte Anlage gehört dem Land und beherbergt eine Akademie für Lehrer samt Übernachtung und Bewirtung. Die Gäste sind alle gegen 16 Uhr abgereist, nur noch eine Handvoll Leute vom Personal waren heute bei Einbruch der Dunkelheit oben, wie mir der Haller Kollege berichtete. Niemand kann sich erinnern, einen Schuss gehört zu haben. Er hat eigens danach gefragt.«

»Dann haben wir keinerlei Zeugen?«

»Keine Ahnung. Wende dich an die Beamten der Schutzpolizei.«

Braig nickte, starrte ins Dunkel der Umgebung, wo in einiger Entfernung die Lichter mehrerer im Tal unterhalb der Comburg gelegener Häuser zu erahnen waren. Ein Schuss, der hier auf diesem auf die Anhöhe führenden Weg abgefeuert wurde, musste weithin zu hören sein. Konnte man deshalb nicht zwangsläufig davon ausgehen, dass ein paar der Anwohner verwundert nach der Ursache des ungewohnten Geräusches Ausschau gehalten hatten?

»Wer ist das Mädchen? Kennen wir ihren Namen?«

»Bis jetzt nicht. Sie hat keine Papiere bei sich. Wir müssen versuchen, sie über ihr Handy zu identifizieren. Das haben wir sichergestellt.«

»Wann ist es passiert?«, erkundigte er sich. »Habt ihr das schon herausgefunden?«

»Der Anruf des Mannes, der sie gefunden hat, wurde um 17.40 Uhr registriert«, antwortete Dr. Schäffler. »Ich habe mich danach erkundigt, als ich den Todeszeitpunkt einzugrenzen versuchte. Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«

»Nein, das muss ich noch tun.«

»Zehn, fünfzehn Minuten vorher muss es passiert sein, auf keinen Fall früher.«

»Gegen 17.30 Uhr also.« Braig nahm die Auskunft des Mediziners zur Kenntnis, versuchte, deren Konsequenzen zu eruieren. Wann war die Dämmerung heute angebrochen?

Dolde schien seine Gedanken zu ahnen. »Um die Zeit war es schon dunkel«, erklärte der Spurensicherer. »Wir hatten zwar schönes Wetter heute. Aber die Dämmerung machte sich so gegen 17 Uhr deutlich ...« Die schrillen Rhythmen eines Rocksongs ließen ihn verstummen. Erstaunt blickte er von einem der Männer zum anderen, danach Ausschau haltend, wer für das Gedudel verantwortlich war.

»Dem Mädle sei Handy«, erklärte Rössle, auf einen Klarsichtbeutel unweit der Toten deutend, »nehmet ihr des Gespräch a?«

Braig hatte die schrillen Töne erneut im Ohr, bückte sich nach dem Gerät, zog es aus der Umhüllung, drückte die Taste.

»Lisa, wo bist du so lange?«, fragte eine ältere weibliche Stimme.

Braig warf einen Blick aufs Display, sah eine lange Ziffernfolge mit der Bemerkung Eltern aufleuchten, überlegte sich eine Antwort. »Sie wollen Lisa sprechen?«

»Ja, natürlich, wieso ... Ich habe mich doch nicht verwählt?«

»Nein, Sie haben sich nicht verwählt. Sind Sie Lisas Mutter?«

Die Frau am anderen Ende schien verwirrt. »Ja, wo ist denn, ... ich meine, ich will mit Lisa ...«

»Mein Name ist Braig ...«

»Wieso ist Lisa nicht am Apparat? Sind Sie dieser Meisner? Lisa hat sich mit Ihnen getroffen, ja? Warum ist sie nicht da?«

»Frau ...? Wie war doch gleich Ihr Name?«

»Haag. Ich bin Lisas Mutter. Was ist mit ihr?«

»Darf ich wissen, wo Sie wohnen, Frau Haag?«

»Wo wir wohnen? Aber wieso denn, Lisa war doch den ganzen Tag hier, es ist ihr Elternhaus. Sie weiß doch, wo wir wohnen. Warum geben Sie mir sie nicht endlich? Was ist denn mit ihr?«

Braig schwieg einen Moment, holte tief Atem. »Frau Haag, ich muss persönlich mit Ihnen sprechen. Sagen Sie mir doch, wo Sie wohnen. Ich komme bei Ihnen vorbei.«

»Unsere Adresse? Wir wohnen in Hall, in der Unterlimpurger Straße. Aber was ist denn los? Wo ist Lisa? Sie hat sich doch mit Ihnen getroffen, ja?«

»In Hall in der Unterlimpurger Straße«, bestätigte Braig. »Frau Haag, ich bin in fünfzehn Minuten bei Ihnen. Dann erkläre ich alles, einverstanden?«

Die Antwort der Frau erstickte in ratlosem Gemurmel.

»In fünfzehn Minuten«, wiederholte er seinen Vorschlag, »... bis gleich, Frau Haag.« Er beendete das Gespräch, legte das Mobiltelefon zurück in den Klarsichtbeutel. »Lisa Haag«, sagte er dann laut, »sie wollte sich mit einem Meisner treffen, wenn ich die Frau richtig verstanden habe. Ich fahre jetzt zu der Mutter. Kümmert ihr euch um das Handy und die Gespräche, die in letzter Zeit damit geführt wurden?«

Dolde nickte, zurrte seinen Plastikhandschuh zurecht. »Du willst dir das wirklich antun?«, fragte er. »Ich meine, allein zu der Mutter des Mädchens?«

Braig atmete tief durch, seufzte vernehmlich. »Verflucht sei der Tag, als ich diesen Beruf gewählt, wie?«

»Bessere Alternativen standen nicht zur Verfügung?«

»Warst du dir aller Konsequenzen bewusst, als du dich dafür entschieden hast?«

»Nein«, antwortete Dolde, die Augen auf den toten Engel am Rand des Weges gerichtet, »dessen war ich mir nicht bewusst.«

4. Kapitel

Eigentlich hatte sie sich das Ganze weitaus schlimmer vorgestellt. Kreuz und quer über die Fahrbahn und den Gehweg verstreute Kleidungsstücke und Schuhe, Berge von Glassplittern zerfetzter Fensterscheiben, vom Wind in sämtliche Himmelsrichtungen verwehte Aktenbelege, menschliche Körperteile in allen Variationen: hier ein Arm oder ein Bein, dort eine Hand oder ein abgerissener Finger. Attentat auf einen wichtigen Industriellen mitten im Ort – ein Blutbad in seiner widerlichsten Ausprägung.

Umso überraschter nahm Katrin Neundorf die Szenerie zur Kenntnis, die sich ihr an diesem Freitagabend im oberen Bereich des Backnanger Zentrums präsentierte: Ein hell ausgeleuchtetes, sorgfältig auf allen Seiten mit Plastikbändern abgesperrtes Stück der am Rand des gleichnamigen kleinen Parks steil ansteigenden, in diesem Abschnitt Am Schillerplatz benannten Straße, die unmittelbar danach in eine fast rechtwinklig verlaufende Kreuzung mündete. Sie näherte sich dem auffälligen Areal, sah neben den Markierungen des dort angebrachten Zebrastreifens zwei mitten auf der Fahrbahn kniende, minutiös Zentimeter um Zentimeter Asphalt fotografierende Spurensicherer, umgeben von einer Handvoll uniformierter Polizeibeamter, die eifrig darum bemüht waren, keine der vor Wissbegier triefenden, an den Absperrungen rüttelnden Gestalten in das abgeschottete Gebiet vordringen zu lassen. Vom grellen Licht der Strahler geblendet, blieb die Umgebung in der Dunkelheit der Januar-Nacht weitgehend verborgen. Nur die Umrisse einiger Häuser auf der einen und mehrerer winterkahler Büsche und Bäume auf der anderen Seite waren zu erahnen. Unmittelbar hinter dem Zebrastreifen erkannte Neundorf die Schaufenster einer Buchhandlung. Von Spuren eines Attentats, verletzten oder gar getöteten Menschen konnte nicht die Rede sein – jedenfalls nicht hier, in diesem minutiös ausgeleuchteten Gebiet.

Die Kommissarin schob sich mühsam durch die dicht gedrängte Menschenmenge, streckte dem Kollegen der Schutzpolizei, der sich an dieser Stelle postiert hatte, ihren Ausweis entgegen, schlüpfte unter dem Absperrband durch.

»Was will denn die alte Schatull?«, kreischte eine kräftige Stimme hinter ihr.

»Die Schlampe von dene Dreckblätter erlaubet sich doch älles!«, keifte ein anderer Kommentator.

Neundorf ließ sich nicht beirren, bemerkte, dass es sich bei den auf dem Asphalt hockenden Personen um Schöffler und Rauleder, zwei Techniker des Landeskriminalamts, handelte. Sie lief zu ihnen hin, grüßte sie.

»Was ist passiert?«, fragte sie. »Wirklich ein Attentat?«

»Oh, dich haben sie auch geholt?« Schöffler sah auf, stemmte sich in die Höhe. Er streckte seine Beine aus, stöhnte laut. »Drecksjob. Auf dem kalten Asphalt herumkriechen, um Hinweise auf irgend so ein Dreckschwein zu finden! Ein Attentat? Die Zeugen behaupten das, ja, und was wir bisher entdeckt haben, könnte die These stützen. Der Mann wurde von einem Auto angefahren. Dort«, er deutete auf eine weiß markierte Fläche am Rand des abgesperrten, grell beleuchteten Areals, »als er gerade die Straße überquerte. Und hier«, sein Finger wies auf die Stelle, über der er gerade gekniet hatte, »haben wir Reifenspuren. Genau so, wie sie bei extrem hoher Anfahrbeschleunigung entstehen. Das schreit nach Absicht. Na ja, richtig erwischt hat es ihn ja nicht.«

»Also keine Toten?«

»Zum Glück nicht, nein. Nur eine Person mit größeren Verletzungen, wenn ich richtig informiert bin.«

»Und trotzdem fordern die uns extra an? Um wen geht es hier?«

»Ein Herr Dr. Riederich«, ließ es sich Rauleder nicht nehmen, vom Boden her zu antworten. »Ein Industrieller. Der Name sagt dir was?«

»Riederich?«, fragte Neundorf. Sie schaute sich um, sah einige der Umstehenden neugierig zu sich her starren. »Der Name sagt mir nichts.«

»Isch wirklich oiner verreckt?«, rief einer der Gaffer.

Schöffler ließ sich nicht beirren. »Chef eines mittelständischen Betriebs. Irgendwas mit Maschinenbau, habe ich gehört.«

»Einer unserer Herrgötter persönlich. Na, dann mal voller Einsatz, meine Herren.« Sie sah die von einem süffisanten Grinsen überzogene Miene des Spurensicherers, wusste, dass sie die Sache genau getroffen hatte. Der Chef einer mittelständischen Firma. Kein Wunder, dass die Kollegen sofort nach dem LKA gerufen hatten. Ein Attentat auf einen von denen dort oben. Da traten automatisch besondere Gesetze in Kraft. Und wehe, sie richteten sich nicht von Anfang an danach.

»Ein Anschlag auf die Grundlagen unseres Staates«, sagte Schöffler.

Neundorf spürte, wie ihr übel wurde. Sie musste sich zusammenreißen, auf ihre Untersuchungen konzentrieren. »Was genau ist passiert? Ihr seid informiert?«

»Ich weiß nur, dass er die Straße überqueren wollte und dabei angefahren wurde. Hier, auf diesem Zebrastreifen, von der Buchhandlung her kommend. Wie gesagt, es gibt verschiedene Zeugen, die beobachtet haben wollen, dass das absichtlich geschehen sei. Du musst sie befragen.« Er deutete auf den Gehweg auf der anderen Straßenseite. »Sie warten dort, vorhin habe ich sie jedenfalls dort gesehen.«

»Was ist mit diesem Dr. Riederich? Er lebt, wenn ich das richtig verstanden habe, ja?«

»Anscheinend ist ihm nicht viel passiert. Er konnte zur Seite springen, bevor ihn der Karren voll erwischte. Der Notarzt untersuchte ihn, aber er wollte sich nicht einmal ins Krankenhaus fahren lassen, wenn ich das richtig verstanden habe. In welchem Zustand er sich befindet, kann ich nicht sagen.«