1. Kapitel

Ich bin mir jetzt schon sicher, dass Sie mir nicht zustimmen werden. Einen Menschen zu vernichten, ist nicht zu rechtfertigen, werden Sie sagen. Niemals. Gott hat uns das Leben geschenkt. Uns allen. Er allein hat das Recht, es uns auch wieder zu nehmen. Einen Menschen zu richten, ihn auf seine guten und bösen Taten hin zu überprüfen, bleibt dem Allmächtigen vorbehalten. Wir dürfen Gott nicht ins Handwerk pfuschen.

Ich kann Ihre Worte jetzt schon hören. Ihr Beruf lässt Ihnen keine andere Wahl. »Überlassen Sie es Gott, unserem Herrn, ihm wird nicht einer, der anderen Böses tut, entgehen.«

Seit es Pfaffen gibt, reden sie so weltfremd daher. Als ob es den alten Herrn irgendwo dort oben, sofern er denn wirklich existiert, je interessiert hätte, was hier unten auf diesem seltsamen Erdball geschieht. Seit Anbeginn ihrer Existenz sind die Vertreter der Krone der Schöpfung doch vor allem damit beschäftigt, sich möglichst zahlreich gegenseitig abzumurksen. Das Einzige, was sich im Verlauf der vergangenen Jahrtausende änderte, sind die Methoden, die man zu diesem Zweck benutzte: Je weiter der technische Fortschritt gedieh, desto größer war die Anzahl der Opfer, die zu gleicher Zeit zur Schlachtbank geführt werden konnten. Die Geschichte der Menschheit – eine einzige Orgie der Gewalt. Und wenn sie denn für kurze Zeit wirklich einmal von ihrem Lieblingsthema abzukommen drohten, sorgten Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Küsten verschlingende Tsunamis für den scheinbar notwendigen Normalzustand.

Menschen zu vernichten, das scheint das Ziel und der Sinn dieses Universums. Und so darf ich hier aufrichtig bekennen: Menschen zu vernichten, das ist auch mein Thema. Und ob Sie das jetzt hören wollen oder nicht: Ich habe es getan. Es macht also keinerlei Sinn mehr, mir mit vielen Worten erklären zu wollen, weshalb es verwerflich, unerwünscht oder von Ihrem Gott strengstens verboten sei. Sparen Sie sich deshalb alle Einwände, sie kommen zu spät. Ich habe es getan. Es ist geschehen.

Warum ich mich dann überhaupt noch an Sie wende, wollen Sie wissen, jetzt, wo Sie doch nichts mehr dazu tun können, die schlimme Tat zu verhindern? Sie können es sich wirklich nicht denken? Sie – bei Ihrem Beruf?

Auch ich bin nur ein Mensch, ein völlig Normaler dazu. Was ich getan habe, ist nicht alltäglich – auch nicht für mich. Normalerweise ist es mein Ideal, Menschen zu helfen, nicht, sie zu vernichten. So geht es mir wie allen, deren Finger schmutzig wurden: Auch wenn ich dazu beigetragen habe, Schmutz aus dieser Welt zu räumen, ich benötige einen Menschen, mit dem ich darüber sprechen, mich austauschen, ihm meine Beweggründe darlegen kann.

Sie haben es erraten, meine Wahl ist auf Sie gefallen. Sie fragen, weshalb, wo ich doch meine Wertschätzung, was Pfaffen anbetrifft, bereits deutlich zum Ausdruck brachte?

Nicht allein das Beichtgeheimnis, dem Sie unterliegen, ist es, das mich veranlasste, mich an Sie zu wenden. Ich habe Sie, diese junge und wie mir schien, unverdorben idealistische Person bei einer Beerdigung erlebt, die für uns alle, für Sie, die Angehörigen, die Bekannten, kurzum für alle Anwesenden, auch und ganz besonders für mich, fast unerträglich schwer zu bewältigen war. Wie Sie, die junge Pfarrerin uns die Trennung von diesem Menschen nahebrachten – nie werde ich das vergessen, gerade, wo ich so in diese Sache involviert bin. Deshalb richte ich diese Worte an Sie. Und ich bin überzeugt, der Tag wird kommen, an dem Sie mir vielleicht nicht voll und ganz zustimmen, insgeheim wohl aber verstehen können, was mich dazu brachte, so zu handeln.

Sie fragen, was alles dazu beitrug, dass ich auf diesen Weg geriet? Wann ich mir endgültig darüber klar war, dass es so nicht weiterlaufen durfte, dass jetzt die Stunde gekommen war, wo es geschehen musste?

Es waren die Ereignisse in jenen Tagen …

10. Kapitel

Sie hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit. Hatte gehofft, dass jemand die beiden Männer auf den Fahndungsfotos erkennen, ihnen zumindest Hinweise auf deren Identität geben würde. Irgendwann im Verlauf der nächsten Tage oder Wochen. Dass es so schnell gehen und vor allem woher sie die notwendigen Informationen erhalten sollten – das war das Überraschende an der Sache.

Ohne jeden Zweifel bildeten Daniel Schieks außergewöhnliche fachliche Fähigkeiten die Grundlagen des schnellen Erfolgs. Dem Graphiker war es am Sonntagabend gelungen, im Gespräch mit einem Anwohner der Sünderstaffel, einem älteren Mann, die Porträts zweier junger Männer zu erstellen, die dieser in der Mordnacht nach null Uhr in hohem Tempo die Treppe herunterspringen gesehen hatte. Überraschend detailgenau, wie Neundorf urteilte. Zwei einander verblüffend ähnliche Männer mit engstehenden Augen und auffallend breiten Backenknochen. Verschlagener Blick und ausgeprägter Hang zur Gewaltbereitschaft war das Erste, was ihr zu ihnen einfiel. Einer unsympathischer als der andere. Brüder? Auf ihre Frage, weshalb er die beiden so genau beschreiben könne, hatte der Mann zugegeben, die Umgebung mit einem sehr guten Fernglas abgesucht zu haben. Zudem seien ihm diese jungen Männer schon früher aufgefallen.

»Ein Spanner«, hatte Kollege Beck abfällig kommentiert.

»Was soll’s? Moralische Beurteilungen stehen mir nicht zu«, war Neundorfs Antwort. »Ich suche einen Mörder. Und vielleicht hilft mir der Spanner dabei.«

Der Entschluss, die Porträts an die Medien zu geben, war in dem Moment gefallen, als Felix Eitner, von seinen Freun den mit einem hieb- und stichfesten Alibi versehen, die gerade erstellten Phantombilder vor Augen hatte. »Oh, Sie wissen Bescheid. Das sind die Typen, mit denen diese Jessica davonzog. Einer widerlicher als der andere.«

Neundorf war erstaunt stehen geblieben, hatte die Porträts entgeistert betrachtet. »Diese beiden? Wann soll das gewesen sein?«

»Wann wohl? Am Freitagabend, als wir uns nicht weit vom L’Oasis trennten.«

»Sie sahen diese Männer?«

»Was erzähle ich Ihnen die ganze Zeit? Ich schaute noch hinter ihr her, als sie auf die Typen traf. Sie muss sie gekannt haben, unterhielt sich sofort mit ihnen.«

»Und dann?«

»Dann? Keine Ahnung. Ich sagte Ihnen doch, ich ging zu meinen Kumpels, die DVDs reinziehen. Um die Nacht rumzukriegen.«

Eitner hatte ihr nicht weiterhelfen können. Dennoch war Neundorf froh, ihm die Porträts gezeigt zu haben. Sie an die Medien weiterzugeben, schien jetzt zwingend.

Und dann hatte sie am Montagmorgen, wenige Minuten, nachdem sie in ihrem Büro angelangt war, die Stimme Robert Heimpolds im Telefonhörer.

»Sind Sie für diese Bilder verantwortlich?«, fragte er.

»Welche Bilder?« Sie war des frühen Morgens wegen noch zu benommen, auf Anhieb zu verstehen, wovon er sprach.

»Welche Bilder wohl? Die der beiden Monster in der Zeitung natürlich.«

»Ach so, ja. Wir suchen die Männer …«

»Weil sie mit dem Tod unserer Jessica zu tun haben sollen«, fiel er ihr ins Wort, »ich kann lesen, danke. Wollen Sie etwa behaupten, diese beiden Jugos haben Jessica auf dem Gewissen?«

»Jugos?«, fragte Neundorf überrascht. »Was meinen Sie damit?«

»Das wissen Sie nicht? Meine Frau hat sie erkannt«, sagte Heimpold mit gedämpfter Stimme.

Sie hatte Mühe, ihn zu verstehen.

»Sie ist völlig am Boden. Ich fürchte, sie benötigt ärztliche Hilfe.«

»Das tut mir leid. Ich hoffe, dass sie sich bald erholt. Sie wissen, wen Ihre Frau erkannt hat?«

»Ich kann es nicht fassen. Es ist zu verrückt, um wahr zu sein.«

»Leute aus Ihrem Bekanntenkreis?«, fragte Neundorf.

»Du täuschst dich, habe ich ihr erklärt, das ist unmöglich. Die sehen vielleicht ähnlich aus, ja, aber sie sind es nicht. Aber sie lässt sich nicht davon abbringen.«

»Um wen handelt es sich?«

»Nein, sie sind es, meint sie.«

Neundorf schwieg, wartete auf eine Erklärung.

»Die Söhne unserer Putzfrau. Ich kann es nicht glauben.«

»Die Söhne Ihrer Putzfrau?«

Heimpolds Antwort erfolgte ohne Zögern. »Das ist es ja. Und sie behauptet, sie sei sich absolut sicher. Hundert Prozent. Bei beiden Männern.«

»Und Sie? Was glauben Sie?«

»Ich?« Er ließ ein kurzes, sarkastisches Lachen hören. »Tut mir leid. Ich kenne sie nicht. Ich bin doch kaum zu Hause. Ich kenne weder die Söhne noch die Mutter. Aber ich darf nicht daran denken. Wissen Sie, was das bedeutet, wenn meine Frau recht hat? Die Mörder unserer Tochter – wir haben sie selbst ins Haus geholt! Verdammt, verdammt, verdammt!«

Neundorf wartete einen Moment, versuchte dann, ihn zu beruhigen. »Noch wissen wir nicht, ob sie es waren.«

»Aber Sie würden doch nicht nach ihnen fahnden, wenn sie nicht …«

»Wir müssen erst mit ihnen sprechen und sie vernehmen«, unterbrach sie den Mann, »es ist zu früh, sie jetzt schon als Täter zu bezeichnen. Wir wissen es wirklich noch nicht.«

»Aber warum bringen Sie dann ihre Fotos in der Zeitung?«

»Wir haben Hinweise auf die beiden erhalten«, antwortete sie, »Hinweise, nicht mehr. Und wir sind gezwungen, allem nachzugehen, was uns vorliegt. Tut mir leid, wenn ich noch nicht mehr sagen kann.«

»Ja, ich verstehe.« Heimpold schien sich zu beruhigen. »Sie machen Ihre Arbeit, so gut es geht. Und gleichgültig, wen auch immer Sie irgendwann erwischen, unsere Jessica wird davon nicht mehr lebendig.«

Neundorf war schon im Begriff, den letzten Satz ihres Gesprächspartners bestätigend zu wiederholen, unterdrückte den Impuls in letzter Sekunde. Der Mann war niedergeschlagen genug, sie musste diesen Zustand nicht noch verstärken. Sie ließ ihm Zeit, setzte dann zur entscheidenden Frage an. »Sie haben den Namen und die Adresse der Putzfrau und deren Söhne?«

Er benötigte ein paar Sekunden, zu begreifen, konzentrierte sich dann zu einer Antwort. »Meine Frau hat sie genannt. Ich hoffe nur, dass ich sie richtig verstanden habe. Sie war völlig durcheinander. Einen Moment bitte.«

Sie hörte ihn in verschiedenen Papieren blättern, hatte dann wieder seine Stimme am Ohr. »Vukmirovic«, sagte er, »Snezana, Dejan und Nenad.«

Neundorf notierte sich die Namen und die Anschrift, bedankte sich für die Auskunft.

»Sie gehen noch zur Schule«, setzte Heimpold hinzu, »ich weiß nicht genau, auf welche. Meine Frau meinte, auf das Dillmann-Gymnasium in der Innenstadt. Die Frau habe es ihr letzte Woche erst erzählt, voller Stolz. Heute Morgen müssten die dort zu finden sein. Aber wenn die wirklich Jessica …« Er schluckte, machte eine kurze Pause. »Dann sind die über alle Berge, meine ich. Oder?«

»Ich werde mich sofort darum kümmern«, antwortete sie. »Und wenn die nur das Geringste mit dem Tod Ihrer Tochter zu tun haben, werden wir sie aufspüren. Und zur Rechenschaft ziehen. Das verspreche ich Ihnen.« Sie wusste selbst, wie bedeutungslos diese Worte waren. Inhaltsleeres Geschwafel, ohne jeden Belang. Dennoch hoffte sie, den Mann damit etwas über seinen Schmerz hinwegtrösten zu können, bedankte sich noch einmal für seinen Anruf, beendete das Gespräch. Sie musste sofort reagieren, die Information überprüfen. Wenn sie viel Glück hatten, waren sie der Lösung des Falles einen bedeutenden Schritt nähergekommen.

11. Kapitel

Volker Seibert benötigte genau fünfunddreißig Sekunden, um die Tür zu öffnen. Der Kriminaltechniker zog seinen Schlüsselbund zurück, richtete sich wieder auf, wandte sich seinem Kollegen zu. Ein triumphales Lächeln überzog seine Miene. »Und, was habe ich dir gesagt? Unter einer Minute. Diese Schlösser knackt dir jeder Ganove.«

Felsentretter hatte keine Zeit für derlei Gefühle. »Mir wäre es lieber, wir hätten die Schweine hier gleich erwischt.« Er schob den Techniker zur Seite, drang mit entsicherter Waffe in die Wohnung ein. Es handelte sich um zwei über und über mit Schränken und Regalen sowie anderem Mobiliar vollgestellte kleine Räume, eine winzige Küche und eine enge, fast schlauchartige Kombination aus Bad und Toilette. Er schaute in alle Zimmer, öffnete die Schranktüren, zog sämtliche Vorhänge zur Seite, überprüfte die Hohlräume unter den Betten. Vergeblich.

»In diesem Loch sollen drei Menschen leben?«, überlegte er laut. »Das ist unmöglich.«

Schrank neben Schrank, zwei Betten in einem Zimmer, ein großes Sofa mit Tisch und drei Stühlen, Fernseh- und Videogerät im anderen, alles zusammen vielleicht dreißig bis fünfunddreißig Quadratmeter. »Siehst du ein drittes Bett?«, fragte er.

Die Fenster waren alle verschlossen, es roch streng nach ungemachten Betten und abgestandenem Essen. Draußen, keine zwei Meter von der im Erdgeschoss gelegenen Wohnung entfernt, jagten Autos mehrspurig nebeneinander die stark befahrene Hohenheimer Straße hinauf.

Seibert schaute sich um, versuchte sich zu orientieren. »Vielleicht das Sofa«, schlug er vor, »sonst fällt mir nichts ein.«

»Die haben uns angeschmiert«, schimpfte Felsentretter. »Hier finden vielleicht drei Ratten Platz, aber niemals drei Menschen.«

Neundorf hatte ihn informiert, gerade als er kurz nach acht Uhr in seinem Büro eingetroffen war. »Es scheint, als hätten wir die Täter.«

»Täter?«, hatte er überrascht gefragt.

»Die Phantombilder – hast du sie nicht gesehen? Seit gestern Abend sind sie in den Medien.«

»Gestern war ich mit Sophia in der Wilhelma. Da war keine Zeit für die Glotze.«

Er dachte voller Freude an die Begeisterung seiner Tochter, die unbeschwerten Stunden mit ihr, nachdem es ihm am Samstagabend zum Glück noch gelungen war, seiner Frau klarzumachen, dass er den Sonntag allein mit Sophia und ohne ihre nervende Gegenwart verbringen wolle. »Ich möchte den Tag in guter Erinnerung behalten. Eifersüchtiges Gezänk und Gekeife höre ich unter der Woche genug.«

Eingeschnappt und beleidigt hatte sie sich daraufhin mit einer ihrer geschiedenen Freundinnen verabredet.

Kurz nach Zehn am Sonntagmorgen waren sie in der Wilhelma eingetroffen, hatten Tiergehege auf Tiergehege besucht. Ob bei der Fütterung der Seelöwen, dem Spaziergang der Elefantenkühe Zella und Molly mitten durch die Zuschauermassen des Parks oder dem Besuch der seltenen weißen Krokodile – Sophias Elan und Lebensfreude ließen ihn alle Befürchtungen, die er am Tag vorher hinsichtlich ihrer Zukunft gehegt hatte, vergessen. Vier Riesenportionen Eis, zwei Ladungen Pommes mit Mayo und Fleischküchle, dazu ein paar Flaschen Cola – sollte die Alte die Woche über wieder motzen und schimpfen; Felsentretter freute sich jetzt schon voller Häme auf den Moment, wo sie von ihrer Tochter von dieser angeblich unverantwortlichen Spendierfreude ihres Mannes erfuhr.

Ihre pingeligen Erziehungsmethoden, ständigen Ermahnungen und haarspalterischen Kritikastereien nervten ihn dermaßen, dass es schon Schmerzen bereitete, nur daran zu denken. Vegetarische Ernährung, ausgewogene Vollwertkost, positive Lebenseinstellung – er konnte es nicht mehr hören. Er konsumierte Unmengen an Fleisch und Pommes, kippte Kaffee, Bier und andere Seelentröster, wie ihm gerade war. Und wenn es manchmal gewaltig über den Durst hinausging? War das wirklich so schlimm? Rechtfertigte das die Szenen, die sie ihm tagelang danach bereitete?

Er konnte sich nicht ständig penibel im Zaum halten, musste ab und an ausbrechen, sich gehen lassen, um den ganzen Mist zu vergessen, den dieser Scheißjob ihm Tag für Tag nahebrachte, die Jauche, in der er ständig suhlte, von sich abzuwaschen – war das so schwer zu verstehen? Hatte sie überhaupt auch nur im Entferntesten eine Ahnung davon, was hier ohne Unterbrechung auf ihn einstürmte, welchem Dreck, welchen Abgründen menschlicher Missgunst und Hasses er Stunde um Stunde ausgesetzt war?

Nein, das war unmöglich, trotz all ihres unsäglichen den Partner-Verstehens-Bemühungs-Geschwafels. Zum Glück hatte er Sophia. Und alles Schimpfen und Nörgeln vermochte es nicht, die Stunden mit ihr zu beeinträchtigen, so heftig die Störfeuer auch ausfielen. Den Sonntag in der Wilhelma, seine Tochter an der Hand oder in unmittelbarer Nähe, behielt er als wahren Sonnen-Tag in Erinnerung, wie viele Wolken auch den realen Himmel verdunkelt haben mochten. Einzig die kurze Bemerkung Sophias am Abend, wenige Minuten, ehe sie nach Hause gekommen waren, hatte ihn für Sekunden etwas aus der Fassung gebracht: »Papa, heute war es wunderwunderschön, aber Mama und du – wann vertragt ihr euch endlich wieder?«

Das Läuten des Telefons holte ihn in dem Moment in die Realität zurück, als sie gerade dabei waren, den Keller zu überprüfen. Er nahm das Gespräch an, hörte Neundorfs Stimme.

»Und? Habt ihr die Typen?«

»Wir sind in der falschen Wohnung«, blaffte er zurück, »in diesem Loch haben keine drei Leute Platz.«

»Vukmirovic, Hohenheimer Straße«, sagte sie, nannte die Hausnummer.

»Da sind wir, ja. Aber das reicht nicht für eine Frau und zwei fast erwachsene Söhne. Zwei kleine Zimmer, alles komplett vollgestellt.«

»Niemand zu Hause?«

»Garantiert nicht. Die hätten keinen Platz, sich vor uns zu verstecken.«

»Auch nicht im Keller?«

»Wir sind gerade dabei, ihn zu überprüfen.« Sie hatten den Verschlag mit dem gesuchten Familiennamen gefunden, starrten durch die Hohlräume zwischen den Brettern ins Innere.

»In der Schule sind sie ebenfalls nicht«, fuhr Neundorf fort. »Ich habe mich selbst davon überzeugt.«

»Die sind getürmt. Damit ist alles klar. Die wissen, warum.«

»Die Lehrer erwähnten allerdings, sie würden oft fehlen.«

»Schwänzer«, sagte er, »das passt.«

»›Mit korrekten Entschuldigungen der Mutter‹, betonte einer der Lehrer.«

»Dann steckt die Alte mit unter der Decke. Verwahrlostes Pack. Was machen wir jetzt?«

»Was war mit dem Keller?«

»Ein winziger Raum. Voller Kisten und Koffer. Nicht eine Ratte zu sehen.«

»Dann müssen wir uns um die Frau kümmern. Sie weiß vielleicht, wo sich ihre Söhne aufhalten.«

»Wo ist sie zu finden?«

»Sie arbeitet in der Uni-Mensa. Oben in Vaihingen.«

»Das übernehme ich«, erklärte Felsentretter, »die knöpfe ich mir persönlich vor. Will doch mal sehen, ob ich die nicht zum Reden bringe.«

»Das ist gut. Ich versuche, noch einen Lehrer zu erreichen, der angeblich engeren Kontakt zu den beiden Brüdern hat.«

»Die Wohnung lassen wir derweil überwachen?«

»Unbedingt. Du kümmerst dich darum?«

Er sicherte ihr das zu, gab in der nächstgelegenen Polizeidienststelle Bescheid, bat Seibert, zu warten, bis ein Kollege auftauchte.

Für den Weg zum Pfaffenwaldring in Vaihingen benötigte er keine fünfzehn Minuten. Er kannte die modern eingerichtete Mensa der Universität, hatte in der Nähe schon mehrfach zu tun gehabt und sich dabei zwei- oder dreimal mit studentischer Hilfe ein preiswertes Mittagessen besorgt. Mit großen Schritten stürmte er zum Eingang, verschaffte sich mit ungestümem Klopfen Zutritt, unterrichtete den gerade die Lebensmittel-Vorräte überprüfenden Leiter des großen Betriebes über die Dringlichkeit seines Besuches.

»Frau Vukmirovic?«, fragte der Mann ungläubig. »Eine tüchtige Mitarbeiterin in der Küche. Sie arbeitet seit Jahren bei uns. Was soll sie mit der Polizei zu tun haben?«

»Das will ich gerade überprüfen«, antwortete Felsentretter. »Leider lässt sich die Sache nicht länger hinausschieben.« Er hoffte, sich eine längere Konversation zu ersparen, lief auf die Tür, hinter der er die typischen Küchen-Geräusche hörte, zu.

Der Mann schien zu begreifen, eilte hinter ihm her, murmelte irgendetwas von Hygiene-Vorschriften, bat ihn, an der Tür zu warten. Felsentretter folgte ihm trotzdem ins Innere, sah einen großen Raum mit mehreren parallel angeordneten spiegelblank glänzenden Küchenblöcken vor sich. Unzählige in weiße Arbeitskleidung gehüllte Frauen huschten hin und her. Es roch stechend scharf nach frischen Zitronen.

Felsentretter merkte, dass einige der Arbeiterinnen zu ihm herschauten, hörte das Rufen des Mannes.

»Snezana.«

Er sah, dass der Mann in seine Richtung wies, nahm den überraschten Blick einer kleinen, mit einer weißen Kittelschürze bekleideten Gestalt wahr. Sie wechselte ein paar Worte mit ihrem Chef, legte ihre Arbeitsgeräte nieder, kam dann mit Tippelschritten und besorgter Miene auf ihn zu.

»Frau Vukmirovic?« Felsentretter schielte mit einem Auge auf das Blatt, auf dem er sich den unmöglichen Namen notiert hatte, musterte mit dem anderen aufmerksam die Person vor sich. Er bemühte sich nicht, ihn korrekt auszusprechen, hatte nur die kleine, mollig wirkende Gestalt im Visier. Das sollte die Mutter der beiden Halunken sein? Er konnte es kaum glauben, so harmlos und unauffällig wie die Frau wirkte. Aber die scheinbar Harmlosen, das hatte ihn seine langjährige Berufserfahrung gelehrt, waren oft die Gefährlichsten. Und wie es aussah, wurde diese Erkenntnis jetzt wieder einmal voll bestätigt.

»Was Sie wollen von mir?«, fragte sie in holprigem Deutsch. Sie schien Mitte vierzig, soweit das trotz ihrer fast den gesamten Körper verhüllenden Arbeitskleidung zu erkennen war, hatte auffallend helle, fast bleiche Haut. Eine Strähne dunkelbrauner Haare lugte unter ihrer Haube vor.

Er wollte sie sich gerade vornehmen, als der Leiter der Küche wieder neben ihm auftauchte. Der Mann murmelte irgendetwas von Hygiene und Vorschriften und versuchte, ihn mitsamt der Frau aus der Küche zu lotsen. Felsentretter folgte nur widerstrebend, fand sich in einem offenbar als Abstellkammer genutzten Raum, winkte entschieden ab, als ihn der Mann auch hier wieder vertreiben wollte. Er postierte sich vor einen langen, mit unzähligen leeren Schüsseln und Töpfen vollgestellten Tisch, wartete, bis er mit der Frau alleine war, schaute dann wieder auf sein Blatt, las die Namen ab. »Dejan und Nenad, das sind Ihre Söhne?«

Er sah keinen Grund, sich auszuweisen, versuchte, schnell zum Ziel zu kommen. Wer in einem solchen Loch hauste, hatte es nicht verdient, mit Samthandschuhen angefasst zu werden. Was waren das für Existenzen, die sich mit einem derart primitiven Leben zufrieden gaben – musste man sich angesichts dieser Verwahrlosung wundern, wenn das nicht ohne Folgen blieb?

Er hatte die Fotos des ermordeten Mädchens am Morgen noch einmal ausführlich studiert – den toten Körper am Rand der Treppe, das kindliche Gesicht, die Verletzungen an ihrem Hals, war augenblicklich von der Wut auf den oder die Täter, die dem blutjungen Wesen das angetan hatten, übermannt worden. Und auf einmal hatte er Sophia vor Augen gehabt, ihr fröhliches, unbeschwertes Auftreten gestern in den Parkanlagen der Wilhelma, ihr Lachen und Strahlen, als er die erste, später die zweite, dritte und vierte Portion Eis für sie erstanden hatte – und plötzlich, mit einem Mal, war der schreckliche Gedanke in ihm aufgetaucht, hatte sich wie ein Geschwür in sein Innerstes gefressen: Was, wenn dieser unsägliche Verbrecher meine Sophia …

Nein, arbeitete es in ihm, nein! Er musste alles tun, das zu verhindern, Existenzen dieser kranken Kategorie ausschalten, bevor sie erneut …

»Was wollen Sie von Dejan und Nenad?« Die Frau vor ihm riss ihn aus seinen Gedanken. Sie starrte zu ihm hoch, betrachtete ihn aufmerksam.

Wo deine Bälger sind, wollte er loslegen, wo sie sich versteckt halten, nahm sich dann aber zusammen. »Ihre Söhne?«, fragte er. »Wo sind sie?« Er roch das würzige Aroma frisch geschnittener Kräuter, das von der Frau ausging, sah ihre grün verfärbten Handschuhspitzen.

Ihre Miene verkrampfte sich sichtbar. »Warum? Was haben sie getan?« Ihr Akzent war nicht zu überhören, fast alle Worte von grammatikalischen Fehlern durchsetzt.

Felsentretter sah die neugierige Miene einer anderen Frau, die aus der Küche zu ihnen herstarrte, hatte keine Lust, sich auf lange Diskussionen einzulassen. »Ich frage, Sie antworten. Ist das klar?« Er beugte sich zu seiner Gesprächspartnerin nieder, schleuderte ihr die Worte mit lauter Stimme entgegen. Zwei andere weiß gekleidete Frauen am anderen Ende der Küche sahen erstaunt auf. »Wo sind Ihre Söhne jetzt?«

Snezana Vukmirovic trat erschrocken einen Schritt zurück. »Schule«, presste sie ängstlich hervor, »Dejan und Nenad sind in Schule.«

Felsentretter donnerte mit seiner Faust auf den Tisch, kümmerte sich nicht um den Berg leerer Schüsseln und Töpfe, der lärmend zur Seite fiel. »Da sind sie nicht!«, rief er so laut, dass es bis weit in die Küche hinausschallte. »Lügen Sie mich nicht länger an!«

Die kleine Frau vor ihm schob sich einen weiteren Schritt zurück, schien völlig verängstigt. Ihr ohnehin schon bleiches Gesicht hatte jeden Ansatz von Farbe verloren. Er sah, wie es in ihr arbeitete, wartete auf eine Antwort.

»Dejan i Nenad«, hauchte sie, setzte irgendetwas ihm Unverständliches hinzu.

»Ja?«, schrie er.

Sie hielt sich am Metallrahmen einer Abstellplatte fest, fing plötzlich an zu weinen. Tränen kullerten ihr über die Wangen, ein heftiges Schluchzen erschütterte ihren Körper.

Felsentretter sah keine Veranlassung, sich vom Verhalten der Frau beeindrucken zu lassen, spürte seine wachsende Ungeduld. Die Masche war ihm zur Genüge bekannt. Wie in den schlimmsten Zeiten zu Hause, überlegte er. Sie sieht sich in die Enge getrieben und spielt mir was vor, markiert das arme, unschuldige, der männlichen Aggression wehrlos ausgelieferte Weibchen. Als ob ich der Böse wäre und sie das Opfer. Margit, seine Frau, hatte diese Show bis zur Perfektion eingeübt, glaubte jedes Mal aufs Neue, ihn damit auskontern zu können, nachdem sie ihn vorher mit ihren überspannten Ansprüchen und utopischen Erwartungen unablässig provoziert hatte. Mit mir nicht, dachte er, donnerte mit seiner Faust erneut auf den Tisch, machte einen Schritt auf die wimmernde Person vor sich zu.

Die Frau, die aus der Küche kommend auf ihn zuschoss, bemerkte er erst, als sie unmittelbar neben ihm stand. Sie war in dieselbe weiße Kittelschürze gekleidet wie seine Gesprächspartnerin, allerdings mindestens einen Kopf größer und weitaus kräftiger als diese. »Was Sie wollen von unsere Snezana?«, rief sie beherzt mit lauter Stimme.

Sie baute sich direkt vor ihm auf, einen metallenen Kochlöffel drohend in der Luft schwenkend. Ihr Deutsch war nicht weniger lückenhaft als das der anderen Frau, der fremde Akzent nicht zu überhören. »Unsere Snezana eine Anständige und Fleißige. Wenn Sie nicht verschwinden, ich rufen Polizei.«

Felsentretter warf der korpulenten Person einen überraschten Blick zu, winkte mit seiner Rechten ab. Sie hatte dicke rote Backen, trug eine große, mit einem breiten Rand eingefasste Brille. Er sah ein paar graue Strähnen aus ihrer Kopfbedeckung ragen, schätzte sie auf Mitte fünfzig. »Ich bin von der Polizei«, erklärte er dann, »mischen Sie sich gefälligst nicht ein.«

»Ihren Ausweis«, forderte die Frau, »zeigen Sie den Ausweis.«

Er glaubte, nicht richtig zu hören, runzelte die Stirn. »Hören Sie«, drohte er, »wenn Sie nicht sofort …«

»Den Ausweis!«, unterbrach sie ihn.

Er starrte sie verwundert an, schüttelte den Kopf. So viel Hartnäckigkeit hatte er der Alten nicht zugetraut. Er pfiff laut durch die Zähne, griff in seine Tasche, hielt ihr seine Legitimation so nahe vors Gesicht, dass sie nichts erkennen konnte. »Sie können lesen?« Seine Frage schallte laut durch die Küche.

Die Frau reagierte nicht auf seine Häme, zog ihren Kopf eine Handbreit zurück, las seine Daten dann vor. »Landeskriminalamt Baden-Württemberg. Hauptkommissar Felsentretter.«

»Zufrieden?»

»Wenn Sie freundlicher zu uns, ja.«

Felsentretter warf ihr einen wütenden Blick zu. »Und jetzt verschwinden Sie, aber schnell. Behindern Sie nicht länger meine Ermittlungen.« Er schob sie aus dem kleinen Raum in die Küche, schloss die Tür, nahm sich dann wieder seine ursprüngliche Gesprächspartnerin vor. »Zehn Sekunden«, sagte er mit drohendem Unterton, »wenn ich in zehn Sekunden nicht weiß, wo sich Ihre Söhne aufhalten, kommen Sie mit in mein Büro. Und dort bleiben Sie dann eine Weile.«

»Ich nix von hier weg«, flüsterte die Frau, »ich hier Arbeit.« Die Angst in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

»Noch fünf Sekunden.«

»Dejan i Nenad«, hauchte sie, »heute müssen Arbeit.«

»Wie Arbeit?«, polterte er. »Die haben doch Schule.«

»Nix schimpfen. Heute nix Schule, müssen Arbeit. Brauchen Geld.«

»Brauchen Geld? Wozu? Die sind doch längst abgehauen nach Jugoslawien oder sonst wo hin, lüg mich doch nicht an!«

Snezana Vukmirovic schaute mit weit aufgerissenen Augen zu ihm auf. »Ich wissen, dass nix richtig, wenn Dejan i Nenad nix gehen in Schule. Aber Jungs wollen helfen Familie, deshalb Arbeit.«

»Arbeit, Arbeit.« Felsentretter war endgültig dabei, seine Geduld zu verlieren. »Jetzt sagen Sie mir endlich, wo sie sich versteckt haben!«

»Sie nix versteckt. Sie Arbeit bei meine Bruder. Haben Firma in Esslingen. Bauen Häuser. Dort Sie heute finden Dejan i Nenad.«

12. Kapitel

Die Schlagzeilen der Zeitungen am Dienstag waren von verblüffender Ähnlichkeit. Katrin Neundorf blätterte sich durch den Stapel, den sie in ihrem Büro fand, wunderte sich nicht. War es wirklich anders zu erwarten gewesen, so wie die Pressekonferenz am Vorabend gelaufen war?

Zwei junge Ausländer als Mörder Jessica Heimpolds verhaftet.

DNA überführt Ausländer des brutalen Mordes an jungem deutschen Mädchen.

Schon wieder verwahrloste junge Ausländer als Täter: DNA-Test als Beweis.

Dazu die Gesichter der beiden Verhafteten in Großaufnahme, die sie genauso unsympathisch wie auf den Fahndungsporträts erscheinen ließen. Sie hatte mit äußerstem Widerwillen an der Seite Kochs an der Pressekonferenz teilgenommen, ununterbrochen darum bemüht, sich von den plakativen und allzu vollmundigen Aussagen des Oberstaatsanwalts zu distanzieren und sie nur als vorläufige und noch nicht bewiesene Ermittlungsergebnisse darzustellen.

Koch war am Montagmorgen unmittelbar vor ihrem Zugriff auf die beiden verdächtigen Brüder telefonisch vorstellig geworden, hatte den Fall persönlich übernommen. »Das einzige Kind der Heimpolds ermordet?«, hatte er gefragt, »wissen Sie, wen Sie da vor sich haben?«

Neundorf war die Antwort schuldig geblieben. Irgendein reicher Geldsack oder ein schwergewichtiger Industriebonze, schwante ihr. Sie dachte an die pompöse Villa, in der die Familie lebte. Wenn Koch sich persönlich einmischte, herrschte höchste Alarmstufe im Ländle. Der Unsympath interessierte sich nur für Existenzen der gehobenen Klassen.

»Herr Heimpold genießt höchstes Ansehen. Seine Firma leistet unermesslich wertvolle Dienste für unsere Industrie«, hatte er seine Frage selbst beantwortet. »Zulieferer, verstehen Sie, Zulieferer. Die Familie verdient unsere rückhaltlose Anteilnahme an ihrem Schicksal. Was wir jetzt aufbringen müssen, ist volle Konzentration auf das Wesentliche. Alle verfügbaren Kräfte für diese Ermittlung. Ich persönlich werde die Untersuchungen leiten. Welche Ergebnisse haben Sie bis jetzt vorzuweisen?«

Sie hatte ihm alles detailliert vorgetragen, war von seiner fast kindlich-naiven Begeisterung überrascht worden. »Zwei Ausländer als Tatverdächtige, und wir stehen unmittelbar vor der Festnahme? Das ist gut, sehr gut sogar. Das macht sich hervorragend! Da haben wir ja gleich den Damen und Herren von der Presse ordentlich was zu bieten. Zwei Ausländer! Wunderbar!«

Der Oberstaatsanwalt hatte es sich nicht nehmen lassen, den Zugriff persönlich zu leiten. Kurz nach elf Uhr am frühen Mittag waren Dejan und Nenad Vukmirovic auf dem Gelände der Baufirma Ljubic in Esslingen auf Kochs Anordnung von einem zwanzig Mann starken Sondereinsatzkommando des Landeskriminalamtes ohne nennenswerte Gegenwehr festgenommen und nach Stuttgart überführt worden. Das Verhör der beiden Männer hatte unmittelbar nach der Blutabnahme in getrennten Räumen stattgefunden.

»Das ist nur noch eine Frage der Zeit«, war Kochs Befund, »junge, verwahrloste Ausländer ohne jede Skrupel. Schauen Sie sich diese schmuddeligen Typen doch an. Die wollten das Mädchen flachlegen, und weil sie ihnen nicht zu Willen war, musste sie dran glauben. Die kochen wir vollends weich.«

Neundorf musste dem Mann angesichts des ersten Eindrucks der beiden Verhafteten recht geben, zumal das seit dem frühen Montagnachmittag vorliegende Ergebnis des DNA-Tests eine eindeutige Antwort zu liefern schien: Das Blut auf der Stufe unterhalb des Fundortes der Leiche stammte von Dejan Vukmirovic. War der junge Mann damit endgültig als Mörder Jessica Heimpolds überführt, wie Koch fast frohlockend verkündete?

Neundorf wusste nicht, weshalb sie dennoch zögerte, sich jetzt schon einem endgültigen Urteil anzuschließen. Resultierte es wirklich aus dem unbefriedigenden Verlauf der Verhöre, die zu keinem akzeptablen Ergebnis, wohl aber zu unablässigen Unschuldsbeteuerungen der beiden Festgenommenen geführt hatten? Oder war es bloße Antipathie gegen den Oberstaatsanwalt? Natürlich musste sie sich davor hüten, seine Auffassung allein deswegen abzulehnen, weil sie ihn und seine gesamte Weltanschauung, die sie in den vergangenen Jahren zur Genüge kennengelernt hatte, verabscheute.

Koch hatte nicht per se unrecht, das war ihr klar. Zwar war es einzig und allein dem richtigen Parteibuch zu verdanken, dass er es bis in die Spitze der Ermittlungsbehörden geschafft hatte, aber welche behördliche Führungsposition im Ländle war auf anderem Weg erklommen worden? Zudem stand ihm jetzt ein kompletter Stab erfahrener Beamter zur Verfügung, die den überwiegenden Teil der von ihm zu verantwortenden Arbeit leisteten. Und trotz aller politischen und weltanschaulichen Verbohrtheit ihres Chefs leisteten viele Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft nach wie vor hervorragende Arbeit. Sich also aus reiner Opposition einer konträren Auffassung anzuschließen, war ebenso dumm wie gefährlich.

Wie stand es aber mit der Schuld der beiden festgenommenen Männer? War der brutale Mord an Jessica Heimpold wirklich zwei verwahrlosten jungen Ausländern anzulasten, so wie das heute fast alle Medien verkündeten? Neundorf wollte die Ausführungen der beiden Männer nicht einfach als letztes verzweifeltes Gefecht in aussichtsloser Lage abtun. Sprachen die bisherigen Ermittlungsergebnisse wirklich für diese Version?

Sie beschloss, sich die Videoaufnahmen der Verhöre des Vortags noch einmal in Ruhe vorzunehmen, holte sich einen Kaffee, schaltete die Geräte ein. Sich die Mitschnitte anzusehen und anzuhören anstatt nur die Protokolle zu lesen, schien ihr sinnvoller, bekam sie auf diese Weise doch auch Feinheiten der Körperhaltung oder die etwaige Veränderung der Tonlagen der Vernommenen mit, was einem erfahrenen Ermittler durchaus Einblicke in deren emotionale Verfassung liefern konnte. Der Bildschirm flimmerte, dann war das unsympathische, fast unablässig zu einem hämischen Grinsen verzogene Gesicht Dejan Vukmirovics in Großaufnahme zu sehen.

Vernehmung von Vukmirovic, Dejan, durch Kriminalhauptkommissar Felsentretter am 15.5.2006 in Stuttgart. Uhrzeit 14.05.

Nach einer kurzen Pause ertönte ein kräftiges Räuspern des Kollegen, dann begann das Verhör.

KHK F: Name?

D V:        Wie bitte? Was soll denn der ganze Scheiß? Was wellet se denn no alles von mir? Zuerscht diese bombastische Verhaftung, dann die Blutabzapferei, was jetzt no?

KHK F: Dein Name.

D V:        Den kennet Sie doch!

KHK F: Fürs Protokoll, du Idiot!

D V:        I kenn koi Protokoll. Neundorf hörte, wie ihr Kollege seinen Stuhl zurechtrückte, den Knopf des Gerätes drückte und die Aufnahme unterbrach. Der Bildschirm flimmerte kurz, dann ging es weiter. KHK F: So, ich glaube, jetzt können wir wieder. Der Herr hat wohl verstanden, wie es um ihn steht. Ich bitte die Tippse, etwaige außerplanmäßige Bemerkungen meinerseits außen vor zu lassen. Aber das kennen Sie ja.

Er räusperte sich kräftig.

KHK F: Also noch mal: Name?

D V:        Dejan Vukmirovic.

KHK F: Geboren?

D V:        Allerdings. Sonscht wär i wohl kaum do.

KHK F: Meine Fresse, jetzt gib endlich Antwort!

D V:        31. Februar 2025.

Dejan Vukmirovic grinste frech in die Kamera.

KHK F: Himmeldonnerwetter, du Scheißkerl. Jetzt reichts! Ein sehr lautes Geräusch, das das Wiedergabevermögen des Lautsprechers deutlich überforderte, unterbrach das Verhör.

D V:        11. Mai 1988.

KHK F: Wo?

D V:        Uf em Weg zwische Waldstette ond Gmünd. ’S hot nemme glangt fürs Krankehaus in Gmünd.

Ein ähnlich lautes Geräusch wie kurz zuvor sorgte für eine erneute Unterbrechung des Verhörs.

KHK F: Junge, ich gebe dir genau fünf Sekunden. Sonst lernst du mich von einer anderen Seite kennen. Also?

D V:        Was, also?

KHK F: Wo du in Jugoslawien oder wie sich diese ganze Sippschaft heute nennt, geboren bist?

D V:        Was wellet se denn mit Jugoslawien? I bin im Krankewage gebore uf em Weg nach Gmünd. Ums offiziell zu mache: Im Krankehaus in Schwäbisch Gmünd. Württeberg. Deutschland. I bin in Deutschland gebore ond leb do seit achtzeh Johr, Sie net?

Dejan Vukmirovic zeigte weiter sein penetrantes Grinsen.

KHK F: Ich warne dich. Treibe es nicht auf die Spitze. Das ist ein offizielles Verhör.

D V:        Ja ja, es isch gut. I gebs zu: Mir hent heut wieder d’ Schul gschwänzt. Dass ma aber deswege verhaftet ond jetzt au no verhört wird, hätt i net denkt.

KHK F: Halt endlich dein Maul.

Kurzes Räuspern.

KHK F: Name deines Bruders?

D V:        Nenad.

KHK F: Wie noch?

D V:        Ha, wie wohl? Genau wie i. Des isch onder zivilisierte Leut so üblich.

KHK F: Himmeldonnerwetter, du Dreckskerl!

Kurzes Räuspern.

KHK F: Der heißt also Vuk-mi-ro-vic. Richtig?

D V:        Reschpekt! Sie send richtig gut drauf!

KHK F: Wann und wo ist er geboren? Korrekt, ich warne dich!

D V:        25. Dezember, ehrlich! Wie’s Christkindle, des isch koin Witz. 1989. En Reutlinge. Do send meine Eltern nämlich von Waldstette nach Reutlinge umzöge gwä, weil mein Vater en neue Arbeitsplatz gfunde hot.

KHK F: Du kennst Jessica Heimpold?

Vukmirovics Haltung änderte sich in keiner Weise.

D V:        Die Jessi? Ja, klar.

KHK F: Woher?

D V:        Woher? Weil mir ons scho oft tröffe hent, en Kneipe, vorm Kino, uf der Stroß.

KHK F: Wann zuletzt?

DV:        Außerdem schafft onser Mutter bei der Jessi ihre Eltern.

Ein sehr lautes Geräusch unterbrach das Gespräch für wenige Sekunden.

KHK F: Wann du sie zuletzt getroffen hast, will ich wissen.

D V:        Zuletschd?

Vukmirovic überlegte ein paar Sekunden.

D V:        Ah, des war jetzt erseht, am Freitagabend.

KHK F: Wo war das?

D V:        Hier, in der Stadt. Irgendwo in der Fußgängerzone. KHK F: Geht es vielleicht etwas genauer?

D V:        Sie wellet’s aber genau wisse! Des war in der Hospitalstraß, glaub i.

KHK F: Ich will nicht hören, was du glaubst, sondern wo das war. Also?

D V:        Mein Gott, hent Sie’s wichtig! Was isch denn do so schlimm, wenn i des net mehr genau uf d’Reihe kriag, wo mir die tröffe hent? Uf em Weg von zwoi Freund hoim zu uns halt.

KHK F: Welche zwei Freunde? Name, Adresse?

D V:        Old Shatterhand ond Winnetou. Im Wilden Westen. Das laute Geräusch eines auf den Boden fallenden Stuhls war zu hören.

KHK F: Du Sauhund, du elender, jetzt reicht es endgültig! Wie heißen diese beiden Freunde?

D V:        Mein Gott, was isch denn mit Ihne los? Sie hent’s an de Nerve, wie? Jetzt hocket Se sich wieder na, do kennt mer jo Angst kriege! Mir saget Old Shatterhand ond Winnetou zu dene, seit mir den Film »Der Schuh des Manitu» gsehe hent. Außerdem wohnet die im Stuttgarter Westen. Deshalb! Im richtige Lebe hoißet die Kevin Becker ond Yannick Lämmle ond wohnet in der Vogelsangstraß.

Kurze Pause, in der das Zurechtrücken eines Stuhles zu hören war.

KHK F: Dein Bruder war dabei?

D V:        Logisch.

KHK F: Um wie viel Uhr war das, als ihr Jessica Heimpold getroffen habt?

D V:        Om wie viel Uhr? Sie send gut! Woher soll i des wisse?

Wieder unterbrach ein lautes Geräusch das Verhör.

KHK F: Dann denke mal scharf nach! Also?

D V:        Was woiß i? Net lang vor Mitternacht wahrscheinlich.

KHK F: Und dann?