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Klaus Wanninger

Schwaben-Zorn

Vom Autor bisher erschienene Bücher bei KBV:

»Schwaben-Rache«

»Schwaben-Messe«

»Schwaben-Wut«

»Schwaben-Hass«

»Schwaben-Angst«

»Schwaben-Zorn«

»Schwaben-Wahn«

»Schwaben-Gier«

Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, evangelischer Theologe, lebt mit seiner Frau Olivera und dem schwäbischen Kater Mogli in der Nähe von Stuttgart. Er veröffentlichte fünfundzwanzig Bücher. Seine erfolgreiche Schwaben-Krimi-Reihe mit den Kommissaren Steffen Braig und Katrin Neundorf umfasst nun schon acht Romane mit einer Gesamtauflage von über einer Viertelmillion Exemplaren.

Klaus Wanninger

Schwaben-Zorn

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2. Auflage 2004

3. Auflage 2006

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH,
Hillesheim
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20
www.kbv-verlag.de
E-Mail: info@kbv-verlag.de
Umschlagillustration: Ralf Kramp
Satz: Volker Maria Neumann, Köln
ISBN 3-937001-31-X
E-Book-ISBN: 978-3-95441-094-1

Josef Klein

als Anerkennung für sein vorbildliches Leben

Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig. Leider beruhen die Hintergründe jedoch auf Tatsachen.

1. Kapitel

Die Frau an der Orgel blickte erschrocken von ihrem Notenbuch auf, als sie das laute Schreien hörte.

»Wo warst du, als es passierte?«, rief eine kräftige männliche Stimme, »warum hast du ihr nicht geholfen?« Die Worte hallten laut durchs Kirchenschiff.

Sie hatte den Pfarrer um Erlaubnis gebeten, das betagte, aber hervorragend gewartete Instrument der Tübinger Vorort-Kirche benutzen, ihre vor Jahren erlernte Fähigkeit wieder auffrischen zu dürfen. Dieser war Zeuge ihrer musikalischen Fertigkeit geworden, hatte auf ihren Wunsch erfreut reagiert. »Wenn es Ihnen Spaß macht, unsere Orgel zu spielen, möchten wir Sie dabei gern unterstützen.«

Sie hatte einen eigenen Schlüssel für das Gotteshaus erhalten, pflegte seither vor allem am frühen Mittag unter der Woche zu üben, weil die Kirche zu dieser Zeit nicht anderweitig benötigt wurde.

»Warum hast du nichts getan?« Die Stimme des Mannes wurde lauter, verlieh seinen Worten einen vorwurfsvoll drohenden Ton.

Weil sie vom Pfarrer wusste, dass sich selten ein Fremder in das Gotteshaus verirrte, hatte sie die Eingangstür nicht abgeschlossen. Die evangelische Kirche in Pfrondorf hatte keine besonderen Schätze zu bieten, die Touristen oder Kunstinteressenten anzulocken vermochten. Gemeindemitglieder erschienen im Normalfall zu den gewohnten Gottesdienstzeiten.

Nicht nur die seltsamen Worte, allein schon das Auftauchen des Mannes war außergewöhnlich.

Sie löste sich von der schmalen Orgelbank, wandte sich zur Seite; der Stelle der Empore zu, die ihr einen Blick ins Innere des Kirchenschiffs ermöglichte. Von unten drang wütendes Scharren und Stampfen zu ihr hoch, dann hallte wieder die kräftige, jetzt deutlich von Zorn und Aggressionen geprägte Stimme durch das Gotteshaus. »Was hast du davon mir das anzutun, du grausamer Gott?«

Sie schob sich an den eng hintereinander aufgereihten Sitzbänken vorbei, erklomm einen der wackligen Stühle, die unmittelbar vor der Holzbrüstung standen, stützte sich an dessen Lehne ab, starrte nach unten.

Der Mann stand aufrecht im Mittelgang der Kirche, blickte zu dem Kreuz hoch, das auf dem Altar thronte. Er trug eine dunkle Regenjacke, deren Kapuze auf seinem Rücken hing. Sie sah das Profil seines Gesichts von der Seite, merkte, dass er noch relativ jung, wahrscheinlich unter vierzig war, groß und kräftig, von geradezu stämmiger Figur. Er schien in Gedanken versunken, starrte wie in Trance nach oben.

Sie wollte nicht stören, den Mann nicht aus seiner – wenn auch zornigen – Andacht reißen, hatte ihren unsicheren Standort aber nicht bedacht. Der Stuhl war der Belastung nicht länger gewachsen, rutschte zur Seite, schlug mit lautem Getöse auf dem Boden der Empore auf.

Erschrocken sprang sie zurück, stützte sich an der Bank hinter ihr ab. Sie benötigte mehrere Sekunden Halt zu finden, richtete sich erneut auf, trat nach vorne an die Brüstung.

Als sie wieder nach unten blickte, war der Mann verschwunden. Einzig das Schlagen der Eingangstür verriet, dass jemand die Kirche verlassen hatte.

2. Kapitel

Sie stand mit weit ausgebreiteten Armen mitten auf dem regennassen Beton am Rand des Gartens, starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Kante des Daches. Die Nacht war weit fortgeschritten, Stille lastete über der Umgebung. Kein Rascheln eines unter den Büschen verborgenen Tieres. Nicht ein Windstoß, der durch die dank der kalten Jahreszeit fast vollständig blattlosen Zweige fuhr. Kein Auto, das irgendwo in der Umgebung mit röhrendem Motor die Ruhe der Nacht terrorisierte – nur das gleichmäßige sanfte Plätschern des Nieselregens, der seit Stunden über dem Land niederging.

Sie starrte auf die Kante des Daches, sah die leicht bekleidete Gestalt des Mädchens über die nassen Ziegel balancieren, schrie, bettelte, flehte zu Gott und allen Mächten dieses Universums, ihr Kind zu bewahren und es auf Engelsflügeln wieder ins Haus zurückzugeleiten. Das Mädchen war in Trance, unzugänglich für alle Rufe, die ihr entgegenklangen, unempfänglich auch für die verzweifelten Versuche des Mannes, sie mit ausgestreckten Armen von der Kante des Dachfensters aus zu erreichen.

Sie zitterte vor Angst, starrte nach oben, bettelte um ein Wunder, dass ihrem Kind nichts geschehen möge, spürte doch immer deutlicher, wie irreal, ohne jede Grundlage ihre Wünsche waren. Was hatten sie sich gefreut vor wenigen Wochen, als die Ärzte den Zustand der jungen, fast schon erwachsenen Frau als »erfolgreich therapiert« definiert hatten – erfolgreich therapiert, wo so lange jede Hoffnung auf Besserung als unmöglich erklärt worden war. Monatelang hatten sie sie von Arzt zu Arzt, von Klinik zu Klinik geführt, erst voller Optimismus, dann aufs Neue enttäuscht, bangend, flehend, um Besserung heischend. Und dann, als sie mit ihren Kräften fast am Ende waren, das überraschende Angebot der Klinik, sie doch noch aufzunehmen, ihr eine Therapie anzubieten, die buchstäblich letzte Chance zu nutzen. Wochen hatte sie dort verbracht, umsorgt und behandelt von den besten Fachleuten, die es gab, und dann war das Wunder tatsächlich geschehen, die Heilung doch noch erfolgt. Sie hatten es anfangs nicht glauben wollen, die Nachricht der Ärzte als Täuschung empfunden, doch sie war zurückgekehrt – schwach und entkräftet zwar, doch gesund und beseelt von neuem, unverbrauchtem Lebensmut. Wir haben es geschafft, hatten sie sich gegenseitig zugeflüstert, leise, um das Schicksal nicht doch noch herauszufordern.

Wir haben es wirklich geschafft. Sie ist wieder gesund.

Sie starrte wieder nach oben, sah, wie der Vater aus dem Fenster kletterte, sich selbst in Gefahr begebend. Genau in dem Moment verlor sie den Halt. Sie fiel der Länge nach auf die Ziegel, rutschte über die Kante und kam ihr, durch die Luft wirbelnd, blitzschnell entgegen. Das schreckliche Geräusch, als das Mädchen vor ihr auf den Boden prallte – nie würde sie es vergessen. Sie wähnte unzählige Messer in ihrem Leib, mit scharfen Klingen all ihre Eingeweide zerschneidend, spürte, wie das Leben aus ihr selbst zu entschwinden drohte, versuchte zu schreien, so laut sie konnte. Ihre Arme ruderten durch die Luft, suchten Halt, fanden nichts als die nasse Wand des Hauses.

Sie schnappte nach Luft, riss ihren Oberkörper mit letzter Kraft hoch, starrte ins Dunkel der Nacht. Schweiß troff ihr von der Stirn, ihr Herz jagte. Als der Bettrost unter ihr knarzte, begriff sie, wo sie sich befand. Sie sah den fahlen Lichtschein, der durch das breite Fenster von der Straße ins Zimmer fiel, hörte das sachte Miauen der Katze. Am ganzen Leib zitternd drückte sie sich vollends vom Bett hoch.

Seit Monaten ging es so, fast jede Nacht: Wie in einem wiederholt ausgestrahlten Spielfilm lief das Geschehen vor ihr ab. Sie sah das auf dem Dach balancierende Mädchen, ihre vergeblichen Versuche, das Unglück zu verhindern, den Schlag und die Schmerzen. Verschwitzt und mit jagendem Puls schoss sie in die Höhe, versuchte sich von dem Albtraum zu lösen und wieder zur Realität zu finden.

Lisa Neumann blickte sich im Zimmer um, hörte auf die Geräusche der weit fortgeschrittenen Nacht. Irgendwo, mehrere Straßenzüge entfernt, hupte ein Auto. Bremsen quietschten, ein Motor heulte auf, ein Fahrzeug preschte durch menschenleere Häuserschluchten. Die Geräusche einer normalen Nacht.

Und doch war heute irgendetwas anders. Sie wusste zuerst nicht, was sie irritierte, benötigte einige Sekunden, vollends zu sich zu kommen. Dann wurde sie sich der Ursache ihrer Verunsicherung bewusst.

Leise, vorsichtige Schritte. Das Ächzen einer Schranktür, eine Schublade, die etwas zu hastig aus ihrer Verankerung gerissen wurde. Die Geräusche kamen aus dem Nebenraum, dem Wohnzimmer.

War er zurückgekehrt? Ohne sich anzukündigen, mitten in der Nacht?

Vielleicht hatte er etwas vergessen, wichtige Unterlagen, die er für seine aktuellen Recherchen benötigte. Aber warum hatte er sie dann nicht angerufen, sie gebeten, ihm das Material zu schicken oder zu faxen? Weil es zu wichtig, vielleicht zu brisant für seine Ermittlungen war?

Sie wusste es nicht, fühlte sich zu müde, länger darüber nachzudenken. Die Katze miaute leise, starrte misstrauisch zu ihr hoch. Sie fremdelte, zeigte kein Zutrauen zu der Frau, die erst seit zwei Tagen in ihrem Revier hier lebte. Wahrscheinlich war sie für das lautlos durch die Wohnung streifende Tier ein unerwünschter Eindringling, der es in seiner Ruhe und seinem Frieden störte. Vielleicht sollte sie die Katze in den nächsten Tagen mit besonders üppigen Portionen Dosen- und Trockenfutter verwöhnen, um sie für sich zu gewinnen. Erkaufte Liebe, nicht gerade der aufrichtigste Weg zu einem freundschaftlichen Verhältnis – aber verliefen menschliche Beziehungen nicht oft genug nach einem ähnlichen Strickmuster?

Sie musste sich zusammenreißen, ihre Gedanken nicht abschweifen zu lassen, hörte aus dem Nebenzimmer das Geräusch einer schlecht geölten Schranktür. Jemand war dabei das Mobiliar zu durchsuchen. War Martin Gronau tatsächlich in seine Wohnung zurückgekehrt?

Leise richtete Lisa sich auf, erhob sich vom Bett.

* * *

»Ich bin mit langwierigen Ermittlungen beschäftigt«, hatte er ihr vor einer knappen Woche erzählt, als sie sich zufällig im Café Schweickhardt mitten in der Stuttgarter Innenstadt getroffen hatten.

»Immer noch in Sachen Spionage?«, hatte sie gefragt. Sie wusste von früher, dass er als Journalist arbeitete und sich auf Industriespionage spezialisiert hatte.

»Immer noch«, war seine Antwort, »wenn du eine Chance haben willst, an die Hintermänner heranzukommen, brauchst du Zeit, viel Zeit. Nicht Monate, sondern Jahre. Und wenn es dir gelingen soll, wenigstens einen zu überführen und als Drahtzieher dieser Geschäfte zu entlarven, musst du dein halbes Leben investieren.«

Schon im Studium war er übereifrig und wie besessen am Werk gewesen. Kein Schein, keine Seminararbeit, für die er nicht Wochen, manchmal gar Monate aufwendigster Nachforschungen investiert hatte. Kein Wunder, dass er sein Biologie-Diplom mit einer glatten Eins absolviert hatte und gleich von zwei verschiedenen Prüfern aufgefordert worden war, sein Studium mit der Promotion zu krönen. Gronau jedoch hatte es abgelehnt, Lisa erinnerte sich noch genau an die Enttäuschung der Heidelberger Professoren. Er hatte stattdessen ein Volontariat beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg absolviert – wie nicht anders zu erwarten, mit Erfolg. Wodurch sein Interesse am Journalismus ausgelöst worden war – sie hatte es nie erfahren.

Jahre später, Gronau hatte längst eine Anstellung als Redakteur beim damaligen Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart gefunden und sich auf Industriespionage spezialisiert, waren ihre Kontakte abgebrochen – bis zu dem überraschenden Aufeinandertreffen vor einer Woche. Er hatte von zwei gescheiterten Ehen und seiner starken Beanspruchung als inzwischen frei arbeitender Journalist gesprochen, war deutlich gealtert, mit grauen Haaren und einer großflächig gewachsenen Glatze geziert.

»Und du? Wie geht es dir?«, hatte er dann gefragt und, nach ihrem Zögern, aufgezählt, was er von ihr wusste. »Du bist an der Schule, verheiratet, ein Kind – ein Mädchen, wenn ich richtig erinnere?«

Der Widerwille, über sich selbst zu sprechen, hatte sich kaum überwinden lassen. »Das ist vorbei.« Ihre Worte waren nur mit Mühe zu verstehen gewesen.

»Geschieden?«

Ihre Antwort hatte ihn eines Besseren belehrt. »Ein Unfall. Sie waren sofort tot.«

Was sollte sie auch sonst sagen?

Dass sie die Schule nicht mehr schaffte seit jenem Tag, den Anforderungen des Unterrichts nicht mehr gewachsen, stattdessen von Angst und depressiven Anfällen geplagt war, dass Albträume und Attacken in einer Kombination von Niedergeschlagenheit und Verzweiflung sie heimsuchten, wo immer sie sich aufhielt, was immer sie unternahm? Anna und Michael, ihre Tochter und ihr Lebensgefährte, existierten nicht mehr – was interessierte sie der Rest der Welt?

»Du willst nicht darüber reden?«, hatte Gronau gefragt.

Ihr Kopfschütteln war Antwort genug. Er hatte sich damit begnügt zu erfahren, dass sie für die nächsten drei Monate krankgeschrieben und krampfhaft damit beschäftigt war, den Schmerz zu überwinden und zu einem neuen Leben zu finden. Wie sie auf die Idee verfallen waren, dass sie während seiner Abwesenheit in seine Wohnung ziehen könne, wusste sie nicht mehr.

»Du brauchst einen Tapetenwechsel«, hatte er irgendwann erklärt, »Stuttgart bietet mehr Abwechslung als dein kleines Dorf.«

Das war ohne jeden Zweifel richtig. Das Leben in Walddorfhäslach brachte nicht viel mehr als die unablässige Erinnerung an Anna und Michael. Die Stunden, die Tage, die Jahre mit ihnen waren eingebrannt in jeden Winkel der Umgebung.

»Meine Wohnung liegt zentral.«

Von der Libanonstraße aus waren es nur wenige Minuten per Bus oder Stadtbahn ins Zentrum, selbst zu Fuß benötigte sie kaum mehr als eine Viertelstunde. Und Martin Gronau zeigte sich froh und dankbar darüber, dass er nicht schon wieder seine unfreundlichen Nachbarn um Hilfe bei der Versorgung seiner Katze angehen musste.

* * *

Das Quietschen der Schranktür im Nachbarzimmer riss Lisa aus ihren Gedanken. Sie tastete sich im Dunkeln durch den Raum, spürte an ihrem rechten Bein den weichen Körper der Katze, schob sich zur Tür vor. Genau in dem Moment, als sie sie erreicht hatte, erschütterte ein lauter Schlag die Stille der Nacht. Irgendein schwerer Gegenstand war im Wohnzimmer auf den Boden gefallen.

Erschrocken blieb sie stehen, lauschte.

Sekundenlang herrschte Totenstille, nur ihr Puls rauschte in den Ohren. Dann hörte sie neue Geräusche. Schritte, das Rascheln von Papier, das leise Klappern einer Computer-Tastatur. War Gronau doch zurückgekehrt?

Lisa drückte ohne jede weitere Überlegung die Klinke, öffnete die Tür. Der Raum lag im Dämmer, nur vom Flimmern des Computer-Bildschirms erhellt. Die Person, die auf den kleingedruckten Text starrte, war nur schemenhaft wahrzunehmen.

»Martin?«, fragte sie laut.

Der Schlag traf sie von der rechten Seite, mitten ins Gesicht. Der große, schwarze Gegenstand tauchte unverhofft vor ihr auf, prallte auf ihre Nase, die Stirn, die Wangen. Sie spürte noch die höllischen Schmerzen, fühlte Tränen aus den Augen schießen, verlor den Kontakt zur Welt. Ohne jede Gegenwehr sackte sie in sich zusammen, fiel auf den Boden. Undurchdringliche Dunkelheit nahm sie in sich auf.

3. Kapitel

Das Gesicht sah aus, als ob sich der Teufel persönlich damit befasst hätte. Die Wangen, die Partien um die Augen und die Stirn bis zur Unkenntlichkeit zerkratzt, das Kinn und der Mund zertrümmert und seltsam verrenkt. Wäre es dem schaudernden Publikum in einem Horrorfilm via Mattscheibe oder Kinoleinwand präsentiert worden – jeder Zuschauer hätte, eine eiskalte Gänsehaut auf dem Rücken und ein unablässiges Zittern in allen Gliedern, geschworen, dass es sich um die von einem hervorragenden Maskenbildner gestaltete Fratze einer Gummipuppe handelte. Nur Steffen Braig, der an diesem trüben Novembermorgen an den Ort des Verbrechens gerufene Kommissar des Stuttgarter Landeskriminalamtes, war gezwungen, sich mit der kaum begreifbaren Tatsache auseinander zu setzen, dass es sich um die Überreste einer bis vor kurzer Zeit noch lebendigen jungen Frau handelte.

Es war, bei aller Routine und der jahrelangen Konfrontation mit den Schattenseiten der Gesellschaft, einer der grauenvollsten Anblicke, denen er bisher ausgesetzt war. Irgendjemand hatte der Frau, die hier am Rand eines von brüchigem Asphalt geprägten Parkplatzes an der Waiblinger Fronackerstraße lag, bestialisch mitgespielt. Braig fragte sich nicht zum ersten Mal in seiner Karriere als Ermittler, welche Kräfte am Werk waren, Menschen zu derartiger Aggression verrohen zu lassen. Homo homini lupus, hatte der englische Philosoph Thomas Hobbes schon im 17. Jahrhundert unter dem Eindruck fortwährender Bürgerkriegsgräuel erklärt; der Mensch ist des Menschen Wolf. Aber waren Tiere wirklich so brutal zueinander?

»Da hat sich einer in einen wahren Blutrausch gesteigert«, brummte der Arzt, der die Tote seit mehreren Minuten untersuchte, »so ein Ende wünsche ich nicht mal meinen schlimmsten Feinden.«

Er hatte sich Braig als Dr. Raile vorgestellt, zeigte deutlich seine Abscheu vor dem unbekannten Verbrecher.

»Sie glauben, es war ein einziger Täter?«

»Das müssen Ihre Spurensicherer herausfinden.« Er deutete auf Rössle und Hutzenlaub, die in wenigen Metern Entfernung den Asphalt des Platzes untersuchten. »Ich würde es nicht ausschließen. Auch wenn die Frau so übel zugerichtet wurde – wenn es ein starker Mann war, ist das kein Problem. Wahrscheinlich hat er sie im Dunkeln überrascht.«

»Wurde sie vergewaltigt?«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Sie sehen doch – sie ist vollständig bekleidet.«

Braig betrachtete den mit einer braunen Cordjacke und einer hellen Hose versehenen Körper der Toten, konnte nur am Oberteil der Jacke Spuren einer Auseinandersetzung erkennen. Knöpfe fehlten, der Kragen war an mehreren Stellen eingerissen. Das Sweatshirt darunter schien in Ordnung.

»Der ging ihr nur ans Gesicht und den Hals«, setzte Dr. Raile hinzu.

»Vielleicht kam er nicht zu seinem Ziel, weil sie sich heftig wehrte.«

»Und vor lauter Wut darüber verging er sich an ihrem Gesicht?«

»Wäre doch möglich, oder?« Braig starrte auf die völlig deformierten Wangen, das zertrümmerte Kinn der Toten, spürte selbst, wie wenig überzeugend seine Worte klangen. Nein, nach einem Sexualdelikt sah die Sache hier nicht aus, zumindest nicht auf den ersten, noch recht oberflächlichen Blick. Er musste sich noch um weitere Informationen bemühen, ehe er auf die Beweggründe des oder der Täter eingehen konnte.

»Wie lange ist sie tot?«, fragte er. »Können Sie schon etwas dazu sagen?«

Dr. Raile richtete sich kurz auf, schaute auf seine Uhr. Er ließ sich einige Sekunden Zeit, die Frage des Kommissars zu bedenken. »Jetzt ist es kurz nach acht. Heute Nacht hatten wir recht niedrige Temperaturen, ich denke mal, kaum über fünf Grad. Wenn sie die ganze Zeit hier auf dem Platz lag … Die Leichenstarre hat schon vor einer ganzen Weile eingesetzt. Auch wenn es auf den ersten Blick unwahrscheinlich klingt, aber acht, neun Stunden schätze ich schon.«

»So lange?« Braig zeigte sich überrascht. »Hier in der Stadt?« Er schaute die Straße auf und ab, betrachtete die Umgebung. Auf beiden Seiten der Straße Mehrfamilienhäuser mit Wohnungen, Büros und Geschäften, am Ende des Parkplatzes das lang gezogene Gebäude der Verkaufsstelle des Bauernmarktes, gleich daneben ein Kinderspielplatz und ein schmaler, betonierter Weg, der zur Bahnhofstraße hochführte. Die Waiblinger Kollegen hatten alle Hände voll zu tun, die Neugierigen fernzuhalten.

»Vor Mitternacht also«, setzte Braig hinzu. »Das kann doch wohl nur bedeuten, dass sie woanders getötet und erst heute Morgen hier abgelegt wurde, oder?« Er konnte sich nichts anderes vorstellen, angesichts der Lage der Straße mitten in der Stadt.

»Da bin ich mir nicht sicher. Ich wüsste nicht, was dagegen spricht, dass es hier geschah. Medizinisch, meine ich. Und die Flecken dort vorne …« Der Arzt deutete auf die Stelle, die die beiden Kriminaltechniker seit einiger Zeit analysierten.

»Blut«, rief Helmut Rössle, »von wie viele Persone wisset mir noch net. I denk, die hent hier kämpft. Arme Frau.«

»Und niemand hat sie gehört oder früher entdeckt?« Braig blickte sich fragend um. Kurz nach sechs am frühen Morgen war ein Mann, der seinen Hund ausführte, auf die Leiche aufmerksam geworden und hatte sie der Polizei gemeldet. Das Tier war wenige Meter vor ihm gelaufen, hatte sich plötzlich auf einen dunklen Schatten unmittelbar am Rand des Parkplatzes gestürzt und seltsam gebellt. Beunruhigt war Franz Weifler seinem Hund gefolgt, hatte in der Dämmerung der frühen Stunde die Umrisse der jungen Frau entdeckt.

»Ich rannte sofort nach Hause und benachrichtigte Ihre Kollegen«, hatte er Braig erklärt, »meine Frau ist diese Woche bei ihrer Schwester und hat ihr Handy dabei, darum konnte ich nicht sofort anrufen.«

Der Kommissar hatte ihn gleich nach seinem Eintreffen in Waiblingen befragt und sich den Vorgang genau beschreiben lassen. Zwischen sechs und halb sieben morgens pflegte Weifler seinen Hund auszuführen, weil er danach zur Arbeit musste, jeden Tag auf den gleichen Wegen. Braig sah keinen Anlass, dem Mann zu misstrauen.

»Nachts ist hier nicht viel los«, erklärte Dr. Raile, »zumindest an einem normalen Wochentag im November wie heute. Am Wochenende schon eher.«

Braig nahm die Aussage des Arztes zur Kenntnis, hatte Schwierigkeiten, sich auf die weitere Ermittlung zu konzentrieren. Die kalte, feuchte Luft und das blasse Licht machten ihm zu schaffen. Er fröstelte, öffnete mit klammen Fingern seine Jacke, zog seinen Schal fester.

Kurz nach halb sieben war er geweckt worden, die Botschaft des Waiblinger Leichenfundes am Ohr. Ohne Frühstück hatte er sich zum Fundort begeben, hungrig, verschlafen und mit bohrenden Schmerzen im Kopf.

Es war spät geworden am Abend zuvor. Den ganzen Tag über hatten sie sich – auf besonderen Wunsch des Wirtschaftsministeriums, wie die Sache vornehm umschrieben wurde – ohne Pause bemüht, einen als vermisst gemeldeten führenden Manager eines großen Konzerns aufzuspüren – ohne jeden Erfolg. Bis dann kurz nach 21 Uhr klar geworden war, dass der Mann einen geschäftlich bedingten Auslandsaufenthalt dazu genutzt hatte, einen privaten »Wellness-Tag« anzufügen, wie auch immer dies zu interpretieren war. Mitten in all dem Frust und der Hektik ihrer mühseligen Arbeit hatte Braig erfahren, dass Ann-Katrin Räubers Operation im Stuttgarter Diakonissenkrankenhaus am selben Morgen nicht ohne Komplikationen verlaufen war. Kurz vor 16 Uhr, mitten in ihren Ermittlungen um den Verbleib des Managers, hatte er die Klinik aufgesucht, von den betreuenden Schwestern jedoch nur erfahren, dass seine Freundin noch zu erschöpft und in den nächsten Stunden nicht ansprechbar war. Auch sein Besuch am späten Abend hatte keine Neuigkeiten gebracht. Ann-Katrin Räubers Zustand hatte sich in den letzten Monaten aufgrund der immer noch nicht verheilten Schussverletzungen kontinuierlich verschlechtert, bis den Ärzten als Ausweg nur die erneute Operation geblieben war. Braig hatte Mühe, seine Gedanken von den Sorgen um seine Freundin zu lösen und sich auf den akuten Mordfall zu konzentrieren.

Er zog den Reißverschluss seiner Jacke wieder nach oben, starrte erneut auf die Leiche. »Woran ist sie gestorben? Haben Sie schon einen Befund?«, fragte er.

Dr. Raile schüttelte den Kopf. »Das muss ich dem Pathologen überlassen. Sie hat so viele lebensgefährliche Verletzungen, dass ich mich nicht festlegen will. So schnell jedenfalls nicht. Innere Blutungen, Würgemale am Hals …« Er untersuchte den Kehlkopf mit einer kleinen Taschenlampe, wies auf die Hautabschürfungen unterhalb des Halsansatzes. »Vielleicht durch Erwürgen. Sehen Sie, hier!«

Braig folgte seinen Fingern, sah die Umrisse schmaler, lang gezogener Druckstellen.

»Möglicherweise war das der endgültige Schlusspunkt, ich weiß es noch nicht. Auf jeden Fall hat sie schrecklich leiden müssen.«

»Wer macht so was?«, schimpfte Rössle. Er hatte sich erhoben, kratzte einen Spatel sauber, mit dem er vorher den Boden abgesucht hatte. »Des muss doch a bsonders auskochter Deifel sei, oder?«

»Du glaubst, wir können den Kreis der potentiellen Täter eingrenzen?« Der Kommissar sah skeptisch zu seinem Kollegen auf. »Aufgrund der Brutalität des Verbrechens?«

Rössle zuckte mit der Schulter. »Keine Ahnung. Du bisch der Ermittler.«

»Nein«, sagte Braig, »das können wir leider nicht. Jeder ist dazu fähig. Und wenn die Tat noch so bestialisch ausgeführt wurde.«

Er merkte, dass der Arzt mit überraschtem Gesichtsausdruck zu ihm herschaute, so als hätte er etwas Obszönes von sich gegeben. Wahrscheinlich schickte es sich nicht, alle Menschen gleichermaßen dafür geeignet zu erklären, solch unvorstellbare Aggressionen zu entwickeln. Aber die Erfahrungen der letzten Jahre und die Begegnungen mit Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft, die als Totschläger, Sadisten oder Mörder überführt worden waren, ließen ihm keine andere Wahl. Er hielt inzwischen jeden und jede fähig zur Bestie zu werden, vorausgesetzt, die jeweiligen Umstände trugen ihren Teil dazu bei.

»Wie alt war sie?», fragte Rössle.

Braig nahm den Ausweis der Toten, den er in ihrer Geldbörse gefunden hatte, zur Hand, überflog die Daten der Frau. »Christina Bangler. 1982 geboren. 21 Jahre jung. Am Anfang ihres Lebens.« Er sah, wie der Kriminaltechniker den Kopf schüttelte, konzentrierte sich wieder auf die Kennkarte. »In Stuttgart zur Welt gekommen, in Schwaikheim gemeldet. Familienstand ledig.«

»Ein eifersüchtiger Liebhaber«, meinte der Arzt, »oder ein verlassener. Irgendein heißblütiger Südländer vielleicht, ein Italiener, Spanier oder Türke. Das könnte ich mir am ehesten vorstellen. Wenn wirklich nichts gestohlen wurde …«

Braig betrachtete den Mann mit großen Augen, überlegte, ob er ihm antworten, ihn auf etwaige rassistische Vorurteile ansprechen solle, ihm berichten, dass er in Belgrad geboren, von einer dieser heißblütigen Killernationen abstammte.

Er seufzte laut auf, blieb aber ruhig. Es war zu früh am Morgen, jetzt schon den ersten heftigen Streit vom Zaun zu brechen. Sollte der Arzt glauben, was er wollte. Er, Braig, hatte hier in der Umgebung von Stuttgart schon viel zu viele von völlig normalen Bürgern hingerichtete Opfer vor sich liegen sehen, als dass er auf die Hypothese der heißblütigen Südländer angewiesen war. Der Hass und die Aggressionen, die dabei im Spiel gewesen sein mussten, waren jeder sizilianischen oder anatolischen Blutrache-Fehde ebenbürtig. Nein, die junge Frau hier am Rand der Waiblinger Innenstadt konnte jedem im Normalfall noch so seriös auftretenden Mitbürger zum Opfer gefallen sein – aus welchem Grund auch immer.

Nach einem Sexualdelikt sah es nicht aus, nach einem Raubüberfall ebenso wenig, jedenfalls war es nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen nicht sonderlich wahrscheinlich, dass einer dieser Gründe der Anlass des Verbrechens gewesen sein sollte. Die Geldbörse enthielt an die siebzig Euro: einen Teil Scheine, der Rest Münzen, dazu Giro- und Telefonkarte, Ausweis und Führerschein. Welcher potentielle Dieb schlug minutenlang – so hatte der Arzt den Vorgang beschrieben – auf ein Opfer ein, um es dann mit allen wertvollen Besitztümern zurückzulassen?

»Und wenn sie einen anderen, besonders teuren Gegenstand bei sich trug, auf den es der Täter abgesehen hatte?« Helmut Hutzenlaub blickte fragend zu ihnen her. »Dann musste er nur das Geld und die Ausweise dalassen und schon ermitteln wir in eine völlig falsche Richtung.«

»Welche teuren Gegenstände sollen das sein?«

»Schmuck zum Beispiel, ein Ring, eine Halskette, eine Brosche.«

Dr. Raile schüttelte den Kopf. »Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass der Frau etwas gewaltsam von den Fingern gerissen wurde. Und von der Brust oder vom Hals …« Er ließ die Antwort offen, zeigte eine skeptische Miene.

Braig schloss sich insgeheim dem Urteil des Arztes an. Verletzungen in einem solchen Ausmaß und einer solchen Intensität resultierten in den allermeisten Fällen aus gestörten persönlichen Beziehungen, wusste er aus Erfahrung. Wer seinem Opfer physisch so bestialisch zusetzte, war selbst monate- oder gar jahrelang psychisch gequält worden – sei es bewusst, unbewusst oder der eigenen wahnhaft veränderten Wahrnehmung nach. Meist waren es Männer, die aus verletztem Stolz oder vermeintlicher Brüskierung heraus allein mit körperlicher Gewaltanwendung wieder zu ihrem Recht zu finden glaubten. Kam dann im Moment des Aufeinandertreffens noch eine unglücklich geäußerte, allein durch die aufgeladene Situation problematische Bemerkung hinzu, drohten die Emotionen außer Kontrolle zu geraten. Christina Bangler, so schätzte Braig, musste in dieser Nacht einer Person begegnet sein, die sie näher kannte.

Braigs Aufgabe war es, das persönliche Umfeld der jungen Frau zu untersuchen, um den Verbrecher zu finden. Er musste sich sofort auf den Weg machen, um die notwendigen Ermittlungen einzuleiten. Es war der einzige Dienst, den er dem grauenvoll entstellten Opfer noch leisten konnte.

4. Kapitel

Mit dem langsam aufleuchtenden Licht kamen die Schmerzen. Zuerst war es nur ein undefinierbares Brummen in sämtlichen Regionen des Kopfes, ein sich ständig verstärkendes, immer unerträglicher tobendes Geräusch, dann kamen der Druck und das Stechen dazu; der Druck auf den Schädel, die Stirn, die Augen; das Stechen in den Muskeln, den Knochen, der Haut. Zeitgleich zerstob die Dunkelheit – milchig weißer Nebel waberte vor den Augen, machte nach und nach einer in dämmriges Morgenlicht getauchten Umgebung Platz.

Lisa Neumann glaubte zu träumen, zum ersten Mal seit Monaten ein völlig anderes als das Nacht für Nacht ständig wiederkehrende Geschehen, begriff nur langsam, dass es Realität war, in die sie Minute um Minute immer weiter vordrang. Die Schmerzen machten jeden vernünftigen Gedanken unmöglich; das Ringen nach Luft, der Versuch, ihrem Körper auf dem harten Boden eine möglichst erträgliche Haltung zu geben, verlangten all die Konzentration und Aufmerksamkeit, zu der sie überhaupt fähig war. Sie stierte ins Nichts, versuchte das Toben ihrer Nerven zu ertragen. Erst der Anblick der kleinen, grau getigerten Katze, die scheu und in gebührendem Abstand um sie herumstrich, rief ihr endgültig ins Bewusstsein, wo sie sich befand.

»Joschka«, hatte Martin Gronau erklärt, als sie seine Wohnung zum ersten Mal gemeinsam betreten hatten, »meine Katze ist zwar weiblichen Geschlechts, hört aber folgsam auf diesen Namen.«

»Ein politisches Bekenntnis?«, hatte sie augenzwinkernd gefragt.

Er war nicht darauf eingegangen, hatte nur leise gelacht.

Sie folgte Joschka mit ihrem Blick, betrachtete die Einrichtung des Zimmers aus der Perspektive des Tieres. Links von ihr der mächtige Korpus des massiven Spiegelschranks, rechts die schmale, mit einem dicken Kissen bedeckte Truhe. Die Tapete unmittelbar daneben zeigte deutliche Spuren scharfer Krallen.

Lisa spürte Brennen in ihren Wangen, als sie den Kopf zur Seite schob, sah die einen Spaltbreit geöffnete Tür vor sich, dahinter den toten Bildschirm des Computers im Nachbarraum. Mit einem Mal erinnerte sie sich, was geschehen war.

Sie blieb einen Moment ohne jede Bewegung liegen, versuchte über die tobenden Schmerzen hinaus fremde Geräusche wahrzunehmen. Irgendwo im Haus wurde eine Wasserspülung betätigt, in einiger Entfernung heulten Motoren. Nichts wies darauf hin, dass sich außer ihr und der Katze noch jemand in Gronaus Wohnung aufhielt.

Lisa winkelte die Arme an, drückte sich vorsichtig vom Boden hoch. Tränen schossen ihr in die Augen, ihr Kopf drohte zu zerspringen, die Schmerzen raubten ihr fast den Verstand. Mühsam kam sie auf die Beine.

Die ganze Einrichtung begann sich um sie zu drehen. Der Schrank, die Truhe, das Fenster, die Tür – alles jagte wie ein Karussell an ihr vorbei. Sie taumelte, klammerte sich am Türrahmen fest, hatte Mühe Halt zu finden. Die Katze verfolgte ihre Anstrengungen mit starrer Miene; sie saß im Eck hinter dem Bett, äugte gebannt zu ihr hoch.

Nach einigen Minuten hatte sie es geschafft: Das Karussell war zur Ruhe gekommen, setzte sich nur noch ab und an für wenige Sekunden wieder in Bewegung.

Lisa schob die Tür zum Nachbarraum zurück, warf einen Blick in das Zimmer. Die Spuren der nächtlichen Durchsuchung waren nicht zu übersehen. Herausgerissene Schubladen, auf den Boden verstreute Manuskript-Blätter, umgestürzte Aktenordner. Wer immer dafür verantwortlich zeichnete, er hatte sich nicht mehr die Mühe gemacht, das von ihm verursachte Chaos zu verschleiern.

Sie bückte sich nieder, nahm einige der Papiere in die Hand. Ein Schwindelanfall raubte ihr für einen Moment die Sicht, erinnerte sie an den Zustand, in dem sie sich befand. Sie legte die Papiere auf den Schreibtisch neben den Computer, stieg über die Aktenordner weg, schlich zur Diele. Die Tür zum Bad stand offen.

Sie betrat den kleinen Raum, stellte sich vor den Spiegel. Das Monster, das ihr entgegenblickte, hatte geschwollene Wangen, dunkelbraune Flecken auf der Stirn, unnatürlich dicke Lippen.

Lisa griff nach einem ihrer Handtücher, hielt es unter den Wasserhahn, bis es sich mit Wasser vollgesogen hatte, tastete dann vorsichtig die verletzten Partien ab. Die Schmerzen trieben ihr erneut Tränen in die Augen, kleine Tröpfchen perlten über die Wangen. Sie schnappte nach Luft, wartete, bis sich ihre Nerven wieder beruhigten, versuchte die Schwellung mit dem nassen Stoff zu besänftigen. Minutenlang verharrte sie vor dem Waschbecken. Die kühlende Wirkung des Tuches ließ sie langsam wieder zu sich finden.

Sie begab sich in die Küche, suchte eine große Schüssel, füllte sie mit Wasser, setzte sich an den Tisch. Das Tuch wieder und wieder eintauchend, linderte sie die Folgen des Überfalls. Sie spürte, wie sie an neuer Lebensenergie gewann, war sich darüber im Klaren, dass sie die Verletzungen ohne Arzt bewältigen wollte. Ohne Arzt und ohne Polizei! Nicht schon wieder die gleichen unerträglichen Prozeduren.

Wie lange sie so in der Küche gehockt hatte, konnte sie später nicht mehr erinnern. Sie war ununterbrochen damit beschäftigt, ihr schmerzendes Gesicht zu kühlen, erwachte erst wieder aus ihrer Trance, als sich Joschka schüchtern, aber mit unnachgiebiger Ausdauer an ihr Bein drückte.

Lisa schob die Schüssel und das Handtuch von sich weg, ging zum Vorratsschrank, nahm eine der kleinen Dosen, öffnete sie. Mit extra feinem Fleisch und Thunfisch prangte in dicken Lettern auf dem Etikett. Sie füllte die Hälfte des Inhalts in den Napf, hatte Mühe, den kleinen Löffel zurückzuziehen, weil sich die Katze ohne jedes Zögern über das Futter hermachte. Joschka schleckte das Fleisch der Reihe nach ab, schaufelte es dann mit gierigen Bissen in sich hinein. Sein Schmatzen übertönte jedes andere Geräusch.

Lisa spürte ebenfalls Hunger, kochte sich eine Gemüsebrühe, nahm ein Stück Brot dazu. Jede Mundbewegung schmerzte, Kauen war unmöglich. Sie legte das Brot zur Seite, begnügte sich mit der Suppe.

* * *

Langsam fühlte sie sich besser. Sie stand auf, trat ins Wohnzimmer, nahm einige der herumfliegenden Papiere zur Hand.

Industriespionage – deutsche Firmen als Opfer der USA?

Windenergietechnologie des 21. Jahrhunderts – in Deutschland konstruiert – von US-Geheimdiensten gestohlen – die Beweise.

Botschaftsangehörige als Industriespione – welche Länder sind aktiv?

Dazu seitenlange Ausführungen, detaillierte Erklärungen, Landkarten, die Namen bekannter Politiker. Gronau war offensichtlich bestens informiert, was die Geschäfte mit den schmutzigen Methoden anbelangte. So gut, dass bestimmte Leute an seinem Wissen interessiert waren. Nur an seinem Wissen?

»Ich kann nicht ausschließen, dass es gefährlich sein kann, sich in meiner Wohnung aufzuhalten«, hatte er ihr vorgestern noch erklärt. »Ich arbeite an brisanten Untersuchungen. Du musst es dir gut überlegen, ob du mein Angebot annimmst.«

»Du glaubst, es gibt Leute, die dir nachspionieren?«, hatte sie gefragt.

»Ich bin mir sicher«, war seine Antwort gewesen, »das hat mit Glauben nichts zu tun. Dass sie mich beobachten, ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«

Sie betrachtete die Papiere, überflog die Texte. Sie beschrieben verschiedene Methoden, mit denen hochmoderne Technologien ausspioniert und in andere Staaten geschmuggelt wurden, listeten die Länder auf, die daran beteiligt waren, nannten konkrete Namen von Händlern und Politikern, die in die Geschäfte involviert waren. Lisa arbeitete Blatt für Blatt durch, merkte plötzlich, wie sich die Buchstaben in undefinierbare Hieroglyphen zu verwandeln begannen, um dann – nach einer Weile – in weißes, milchiges Nichts zu verschwimmen.

Ein Schwächeanfall. Sie kroch zum Sofa, legte den Kopf zurück. Ihre Schläfen pochten, das Blut rauschte in den Ohren. Noch war es zu früh, sich derartige Strapazen zuzumuten.

Sie wartete, bis ihre Kraft langsam wieder zurückkehrte, dachte daran, dass sie Gronau über den Vorfall informieren musste.

»Wenn etwas Unvorhergesehenes geschehen sollte, ruf mich an«, hatte er sie gebeten, »aber nur per Handy oder aus einer Telefonzelle, niemals vom Festnetz der Wohnung.« Er hatte ihr eine Nummer gegeben und eindringlich darauf hingewiesen, sie gut zu verwahren und niemandem mitzuteilen.

Lisa erhob sich vom Sofa, blickte zur Uhr. Kurz nach zwei. Sie hatte den ganzen Morgen damit verbracht, ihre Wunden zu kühlen und die Schmerzen zu lindern. Sie zog ihren Geldbeutel unter dem Kopfkissen vor, suchte das Papier mit Gronaus Geheimnummer. Als sie ihr Handy vom Nachttisch nahm, begann es zu läuten. Erschrocken starrte sie auf das kleine, schwarze Gerät. Wer wollte jetzt etwas von ihr?

Mit zitternden Fingern drückte sie die Empfangstaste.

Gronau selbst war am anderen Ende. »Alles klar?«, fragte er.

Sie benötigte einige Sekunden, bis sie sich konzentrieren konnte. »Ich hatte Besuch«, sagte sie, »heute Nacht.«

»Heute Nacht?«

»Einbrecher. Sie waren in deinem Wohnzimmer.« Jedes Wort bereitete ihr Mühe. Ihr Kiefer schmerzte. Die rechte Wange schien von unzähligen Nadeln durchstochen.

»Du hast es heute Morgen bemerkt?«

»Heute Morgen?« Sie lachte bitter, zum ersten Mal an diesem Tag. »Ich bin aufgewacht, als sie Schubladen aus deinem Schrank zogen. Ich dachte, du seist zurückgekehrt.«

»Und dann?«

»Ich bekam einen Schlag ins Gesicht. Irgendwann am Morgen wachte ich wieder auf.«

»Oh nein! Du bist verletzt?«

»Es geht«, antwortete sie, »ich kann es aushalten.«

Gronau schwieg einen Moment, fragte dann leise: »Du hast die Polizei informiert?«

»Ich will keine Polizei«, sagte sie, »ich hatte in den letzten Monaten genug mit der zu tun. Der Unfall, verstehst du?«

Seine Antwort kam prompt. »Das ist gut. Mir ist es ebenfalls lieber, wir lassen sie außen vor. Ich möchte nicht, dass sie meine Unterlagen zu Gesicht bekommen und darin schnüffeln. Das wäre nicht gut.« Er verstummte, wartete auf ihre Reaktion. Als sie keine Antwort gab, fragte er, ob sie einen Arzt benötige.

»Ich hoffe, es geht so«, erklärte sie. »Ich mag keine Ärzte. Du weißt nicht, was ich mitgemacht habe – seit der Sache.«

»Du bist dir sicher?«

»Im Notfall besorge ich mir Salbe in einer Apotheke. Wenn es gar nicht anders geht.«

»Es tut mir Leid.« Seine Stimme klang besorgt. »Ich hätte dir die Wohnung nicht anbieten dürfen. Sie wollen unbedingt an mein Material.«

»Du hast mich gewarnt. Es war meine Entscheidung.«

»Was ist mit der Tür? Wie kamen sie in die Wohnung?«

»Wie?« Sie verstand die Frage nicht.

»Haben sie die Tür zertrümmert? Oder benutzten sie ein Fenster? Du weißt, ich habe ein Spezialschloss.«

Daran hatte sie noch nicht gedacht. »Ich habe noch nicht nachgeschaut«, gab sie zu, »ich hatte die ganze Zeit mit meinen Schmerzen zu tun.« Sie lief in die Diele zur Wohnungstür, überprüfte sie. »Nichts«, erklärte sie, »ich kann nichts erkennen. Die Tür scheint okay.«

»Was ist mit den Fenstern?«

Die Wohnung lag im ersten Obergeschoss, mindestens drei Meter oberhalb der Straße und dem Hof. Sie kontrollierte die Fenster dennoch, eins nach dem anderen, konnte keinerlei Beschädigung entdecken.

»Das waren Profis«, sagte Gronau, »das Schloss kostete fast tausend Euro.«

»Und jetzt?«, fragte sie. »Kommen die wieder?«

»Du willst zurück in deine Wohnung?«

Lisa überlegte nicht lange. »Nein, das will ich nicht. Sofern ich hier Überlebenschancen habe, werde ich mich weiter um deinen Joschka kümmern.«

»Ich will dir nichts garantieren«, antwortete er, »obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass sie es sofort wieder versuchen. Sie konnten nichts finden – jedenfalls nicht das, worauf sie scharf sind. Ich denke, sie haben begriffen, dass in der Wohnung nichts zu holen ist.«

»Dann kann ich bleiben.«

»Ich würde mich freuen. Für Joschka.«

Sie wollte nicht zurück, nicht daran erinnert werden, was geschehen war, wie ihr Leben von einem Tag auf den anderen zerstört, lebensunwert geworden war …

»Du solltest die Wohnungstür zusätzlich sichern. Nimm einen Stuhl, belade ihn mit Geschirr. Er muss umfallen, wenn jemand die Tür von außen öffnen will. Lärm schreckt ab, das ist das Einzige, wovor sie sich fürchten. Öffentliche Aufmerksamkeit können sie nicht gebrauchen.«

Sie lachte leise, wusste nicht, was sie von seinem Vorschlag halten sollte. Er klang reichlich naiv. »Warum rufst du an?«

Gronau zögerte. »Ich wollte …«

»Ja?«

»Das wird jetzt nicht gehen. Du bist verletzt?«

»Es wird besser.«

»Wie stark?«

Sie ging ins Bad, stellte sich vor den Spiegel. Das Monster trat ihr in einer neuen Farbmischung gegenüber. »Sei froh, dass du mich nicht sehen kannst.«

»Dann muss ich es auf andere Weise versuchen.«

»Es geht um deine Recherchen?«

Gronau zögerte erneut. »Eine Diskette. Ich benötige eine Information, die ich dort gespeichert …« Er verstummte, wollte nicht zuviel verraten.

»Wo ist sie?«, fragte sie. »Ich werde sie holen.«

»Ich hatte sie vollkommen vergessen. Dabei bin ich dringend auf sie angewiesen.«

»Gib mir die Adresse. Ist es hier in Stuttgart?«

»Mario hat das Material. Ich kann ihn nicht erreichen. Wahrscheinlich ist sein Handy nicht eingeschaltet. Er arbeitet nachmittags und abends im Imbiss in der Marktstation im Hauptbahnhof.«

»Wie kann ich ihn erkennen?«

»Frag einfach nach seinem Namen. Erzähle ihm von Joschka und davon, dass die Katze hohes Fieber habe. Er wird dir die Diskette ohne weitere Fragen geben.«

»Und dann?«

»Sie steckt in einem adressierten Umschlag. Wirf ihn in den nächsten Briefkasten. Am besten in den im Hauptbahnhof. Der wird ständig geleert.«

Lisa Neumann überflog erneut ihr lädiertes Gesicht. »Kann ich warten, bis es draußen dunkel ist?«

»Kein Problem. Das dauert ohnehin nicht mehr lange. Wir haben November.«

Sie wusste, dass er Recht hatte, versprach seinen Wunsch zu erfüllen.

»Es tut mir wirklich Leid«; sagte er. »Ich hoffe, dass deine Schmerzen bald vergehen. Pass auf dich auf.«

Sie spürte impulsiv, dass sein Ratschlag das Wichtigste war, was sie in den nächsten Tagen beachten musste.

5. Kapitel

Das war uns seit langem klar, dass es mit ihr so enden wird. Gott lässt sich nicht spotten!«

Erika Bangler trommelte mit den Fingerspitzen ihrer rechten Hand energisch auf den weiß lackierten Küchentisch, starrte Braig mit vor Zorn glühenden Augen ins Gesicht. Sie saß hoch aufgerichtet auf einem der unbequemen Stühle, zeigte nicht einmal einen Ansatz von Mitleid oder Anteilnahme am Tod ihrer Adoptivtochter.

»Zwei Jahre lang ging das so«, hatte sie dem Kommissar mit kräftiger Stimme ins Gesicht geschleudert, »ein Kerl nach dem anderen. Und alles hinter unserem Rücken.«

Braig, der davon ausgegangen war, einem vor Schreck völlig paralysierten Elternpaar mit der Botschaft vom abrupten und unerwarteten Tod ihrer Tochter gegenübertreten zu müssen, hatte die Reaktion der Frau fassungslos hingenommen.

Das Haus war nicht einfach zu finden gewesen. Es lag an einer verwinkelten, leicht hügelanführenden Seitenstraße am Rand von Schwaikheim, schien dem schlichten Baustil nach den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu entstammen. Die Fassade zeigte Schmutzflecken und Risse, der Verputz schrie unübersehbar nach Ausbesserung und frischem Anstrich. Eine kurze, mit brüchigen Steinplatten belegte Treppe führte zur Haustür. Braig war sie vorsichtig hochgestiegen, hatte zweimal kurz geläutet.

Erika Banglers Reaktion war umgehend erfolgt. Noch bevor er seine Hand von der Klingel zurückziehen konnte, hatte sie ihm mit neugierigen Augen geöffnet. Er war nicht sofort zur Sache gekommen, hatte sich erst vorgestellt und darum gebeten, eintreten zu dürfen. Die Frau hatte gezögert, ihn dann aber ohne Umweg in ihre Küche geführt und auf die Stühle am Tisch gezeigt.

»Polizei? Was führt Sie zu uns?«

Langsam und zögernd hatte er ihr gegenüber Platz genommen, war dann seiner traurigen Informationspflicht nachgekommen.

Erika Bangler hatte seine Worte schweigend und ohne sichtbare Reaktion hingenommen. Kein Aufschrei, keine Tränen, keine hysterischen Bewegungen. Stattdessen eine Antwort, kurz und emotionslos, die ihm fast das Blut hatte gefrieren lassen.

»Es braucht Ihnen nicht Leid zu tun. Strafe erhält, wer Strafe verdient.«

Er hatte geglaubt, nicht richtig zu verstehen, hatte seinen eigenen Ohren misstraut.

»Ihre Tochter Christina«, hatte er betont, langsam, Wort für Wort wiederholend, »Sie verstehen?«

Sie hatte verstanden, ohne Zweifel. »Sie ist nicht mehr unsere Tochter«, war ihre Antwort, »seit über einem Jahr nicht mehr.«

Braig hatte den Sinn ihrer Aussage zuerst nicht begriffen, sich dann den von Wut und Enttäuschung geprägten Bericht über den Zerfall einer angeblich vorbildlich intakten Familie angehört.