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Klaus Wanninger

Schwaben-Hass

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Schwaben-Rache
Schwaben-Messe
Schwaben-Wut
Schwaben-Hass
Schwaben-Angst
Schwaben-Zorn
Schwaben-Wahn
Schwaben-Gier
Schwaben-Sumpf
Schwaben-Herbst
Schwaben-Engel
Schwaben-Ehre
Schwaben-Sommer
Schwaben-Filz
Schwaben-Liebe
Schwaben-Freunde
Schwaben-Finsternis

Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, evangelischer Theologe, lebt in der Nähe von Stuttgart. Ein großer Teil seiner Bücher entsteht in den Zügen der Bahn, auf deren Schienen Wanninger Jahr für Jahr zigtausende von Kilometern zurücklegt. Bisher veröffentlichte er vierunddreißig Bücher. Seine Schwaben-Krimi-Reihe mit den Kommissaren Steffen Braig und Katrin Neundorf umfasst mittlerweile siebzehn Romane in einer Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplare.

Klaus Wanninger

SCHWABEN-HASS

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1. Auflage 2001

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

Meiner Frau Olivera danke ich für ihre Liebe,
ohne die dieses Buch nicht hätte entstehen können.

Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig. Leider beruhen die Hintergründe aber auf Tatsachen.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

1. Kapitel

Der große, dunkle Wagen kroch langsam um die Ecke, passierte das durch einen löchrigen, zerfledderten Zaun nur notdürftig abgegrenzte Areal eines alten, brach liegenden Industriebetriebes, schob sich im Schritttempo auf die am Straßenrand spielende Gruppe junger Mädchen zu. Die Fahrbahn war übersät mit Schlaglöchern, spitzkantigen, aus dem Pflaster gerissenen Steinbrocken, Glassplittern, Plastikflaschen, Getränkedosen. Ihr Zerfall war ebenso wenig zu übersehen wie der der Häuser auf der linken Seite der Straße – zerschundene, seit Jahrzehnten nicht mehr erneuerte Fassaden, von Wind und Wetter, Abgasen und Schmutz gezeichnet. Wolken von Qualm und Ruß hingen in der Luft, ein stickiges Gemisch von Benzinschwaden, Dieselruß und Braunkohlerauch machte jeden Atemzug zur Qual.

Als das große, dunkle Auto die Kinder erreicht hatte, beendeten sie abrupt ihr Spielen, richteten sich auf, starrten mit ängstlichen Augen zu dem Fahrzeug. Der Wagen stoppte unmittelbar neben den Mädchen.

Oben, aus einem der Häuser, bellte eine tiefe Männerstimme. Die Kinder sprangen auf, stellten sich wie Soldaten beim Appell nebeneinander in Position. Fast alle trugen auffallend enge Blusen, kurze Hosen, schmale, hochhackige Schuhe. Ein mit einem Muskel-T-Shirt gekleideter Mann trat aus dem Haus, blickte, eine qualmende Zigarette und eine Bierdose in der Hand, ins Innere des Autos. Die Kinder blieben fast regungslos stehen, warteten auf einen neuen Befehl.

Die Person in dem Fahrzeug ließ sich Zeit. Ein Hund bellte irgendwo am anderen Ende der Straße, lautes Schreien scholl aus einem der Häuser. Motoren verschiedener Fahrzeuge heulten auf. Plötzlich wurde die Tür des Autos von innen geöffnet, ein männliches Gesicht schob sich für einen Moment – im Halbschatten zwar, doch deutlich sichtbar – ins Tageslicht, den ausgestreckten Arm auf eines der Mädchen gerichtet. Zwei große Geldscheine wechselten den Besitzer, dann verschwand das Kind im Inneren des Wagens.

Die Frau stand hinter dem Vorhang des erhöht gelegenen Hauses und verfolgte das Geschehen auf der Straße mit ihrer Kamera.

Das langsam um die Ecke kriechende Fahrzeug. Klick. Die unmittelbar vor dem Auto spielende Gruppe der Kinder. Klick. Die von Schlaglöchern und Glassplittern, Pflastersteinen und Plastikflaschen übersäte Fahrbahn. Klick. Die in hautenge Blusen gekleideten, mit ultrakurzen, die halben Pobacken entblößenden Höschen und hochhackigen Schuhen in Reih und Glied am Straßenrand aufgestellten Mädchen, das große dunkle Fahrzeug im Blick. 10-, 11-, 12-jährige Kinder, von Drogen gezeichnet, die Arme von Einstichen übersät. Klick. Der im Muskel-T-Shirt mit qualmender Zigarette und Bierdose bewaffnete Mann. Klick. Die geöffnete Tür des Fahrzeugs, der daraus hervorgestreckte Arm. Klick. Das Gesicht des Mannes, das für den Bruchteil einer Sekunde …

Die Fotografin starrte überrascht in die Kamera, drückte impulsiv auf den Auslöser. Das starke Teleobjektiv ließ die Entfernung vergessen. Sie überprüfte das Motiv auf dem Bildschirm der digitalen Kamera, konzentrierte sich auf die Person in dem Fahrzeug, die sie jetzt ganz nah vor sich sah.

Die Gesichtszüge des Mannes waren deutlich zu erkennen, genau, fast bis in alle Einzelheiten. Er war es, ohne jeden Zweifel. Sie war sich absolut sicher. Oft genug schon hatte sie ihn in Zeitungen oder im Fernsehen erblickt.

Die Fotografin drückte auf den Auslöser, fixierte das Fahrzeug in allen Positionen.

Die Geldscheine in der Hand des Mannes. Klick. Das in das Auto geschobene Mädchen. Klick. Der Stern auf der Kühlerhaube. Klick. Das für den Bruchteil einer Sekunde teilweise sichtbare Kennzeichen des Wagens. Klick. Das mit kreischenden Rädern über die holprige Straße davonjagende Auto. Klick.

Die Fotografin ahnte, dass heute ein besonderer Tag war. Was sie in den letzten Sekunden mit eigenen Augen verfolgt und mit ihrer Kamera dokumentiert hatte, würde nicht ohne Folgen bleiben. Nicht für sie und ganz besonders nicht für ihn …

Sie starrte sekundenlang in die Richtung des verschwundenen Mercedes und spürte instinktiv, dass ihr Aufenthalt in dem schmuddeligen Haus fürs Erste beendet war. Sie hatte das baufällige, renovierungsbedürftige Anwesen über einen tschechischen Strohmann für eine – gemessen an deutschen Verhältnissen – lächerlich geringe Summe ein halbes Jahr im Voraus gemietet, in der Hoffnung, Einblick in die florierende Szene in Cheb zu erlangen. Wochenlang hatte sie es sich angetan, das widerliche Geschacher um die Körper gerade dem Grundschulalter entwachsener Kinder mit ihrer Kamera zu verfolgen, den Finger ständig auf dem Auslöser, die Augen hinter dem Sucher, den Ekel über die krankhaften Auswüchse dieser Welt in ihrer Seele.

Geldscheine gegen Kinderfleisch, Tag für Tag dasselbe Programm: Kranke, lüsterne Wesen auf der einen, profitgierige, in sozialem Elend Verkommene auf der anderen Seite. Dazwischen die Kinder – Opfer einer verdorbenen Gesellschaft.

Manchmal hatte sie geglaubt, es nicht länger aushalten, das menschenverachtende Geschehen auf der Straße nicht länger ertragen zu können. Mehrfach war sie nahe daran gewesen, alles hinzuwerfen und ihren Aufenthalt in der kleinen Stadt zu beenden. Erst in letzter Sekunde hatte sie sich dann wieder aufgerafft, das Einzige zu tun, womit sie dazu beitragen konnte, das Unrecht auf der Straße zu beenden: Eine Dokumentation des alltäglichen Grauens mit einer Kamera, um wenigstens einige der widerlichen Gestalten aus ihrer Anonymität zu reißen und sie zu überführen.

Wie es schien, war ihr dies heute gelungen. Sie musste zurück, die Bilder auswerten und sie Zeitungen zur Veröffentlichung anbieten.

Claudia Steidle öffnete die Kamera, entnahm ihr den Chip. Die Straße unter ihrem Fenster war leer, das Auto des Mannes verschwunden. Wahrscheinlich war er schon dabei, sich irgendwo in einer billigen Absteige mit dem Kind zu vergnügen. Anonym und ohne das Wissen anderer. Von den Fotos, die seine perversen Neigungen belegten, wusste zu diesem Zeitpunkt nur eine einzige Person.

2. Kapitel

Harry Nuhr lehnte in dem wackligen Metallstuhl vor der prächtig restaurierten Fachwerkfassade des Alten Rathauses in der Fußgängerzone von Winnenden. Die unter freiem Himmel bereitstehenden Stühle und Tische des nach dem Gebäude benannten Restaurants waren an diesem Vorfrühlingstag bis auf den letzten Platz besetzt, ebenso das wenige Meter weiter auf der anderen Seite der Marktstraße aufgestellte Mobiliar des Café am Markt, Ulli’s Café und das der Bäckerei Haag.

Die erst vor wenigen Jahren neu hergerichtete, mit alten Pflastersteinen, zierlichen Büschen und Bäumen sowie blühenden Pflanzen dekorierte Fußgängerzone der kleinen Stadt bot ein stimmungsvolles Bild. Junge Mädchen und Burschen flanierten in knall-farbigen T-Shirts, Handy-bewaffnet, lachend die alte Straße auf und ab, bleiche, noch von den kalten Wintermonaten gezeichnete Mütter nutzten die ersten warmen Stunden des jungen Jahres, ihren Nachwuchs durch die frische Luft zu schaukeln. Ältere Menschen standen in Gruppen zusammen, Jacketts über dem Arm, und tauschten aktuelle Neuigkeiten aus. Vom nahen Marktbrunnen her drang das gleichmäßige Plätschern mehrerer Wasserläufe; Justitia, die Dame mit der Waage, thronte sauber herausgeputzt in mehreren Metern Höhe auf einem mächtigen Steinsockel weit über dem Wasser.

Harry Nuhr nippte an seiner Tasse, prüfte den Geschmack. Die Mischung aus Kaffee, Milch und Zucker stimmte. Genau so, wie er es liebte. Er inhalierte genießerisch den Duft des Kaffees. Es war lange her, als er die kleine Stadt zum letzten Mal besucht hatte.

ln seinem rot gestreiften T-Shirt, schwarzen, an den Knien leicht ausgebeulten Jeans und hellbraunen luftigen Sandalen wirkte er wie ein lässiger, den warmen Frühlingstag genießender Student, der dem Leben seine angenehmen Seiten abzugewinnen weiß. Die kleine, eher modisch als zweckdienlich wirkende Nickelbrille unterstrich diesen Eindruck. Lediglich das schüttere, im Bereich des Hinterkopfes schon leicht ergraute Haar und sein hageres, faltenreiches Gesicht wiesen darauf hin, dass er die vierzig schon seit ein paar Jährchen überschritten hatte.

Harrv Nuhr arbeitete seit dem Ende seines Psychologiestudiums als Journalist – nicht, wie Kritiker seiner Zunft manchmal süffisant polemisierten, aus der Verlegenheit heraus, den ursprünglich angestrebten Beruf durch widrige Umstände verfehlt und deshalb nach einer Ersatzlösung gesucht zu haben, sondern aus Überzeugung und im Bewusstsein, die von Anfang an gewünschte Betätigung gefunden zu haben. Zuerst hatte er ein Volontariat bei einer kleinen Regionalzeitung im Hessischen absolviert, dann zwei Jahre bei einem anderen Blatt unweit seiner Ausbildungsstelle über sich ergehen lassen – mit fast ununterbrochener Wochenend-Präsenz bei den Taubenzüchter- und Gartenbauvereinen des Landkreises. Zu einer vollen beruflichen Entfaltung hatte er erst während seiner Tätigkeit in der Redaktion einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift und dann später im Team der Winnender Zeitung gefunden, seinem einzigen, aus einer Zufallsbegegnung erwachsenen, dann jedoch mehrere Jahre währenden Ausflug in schwäbische Gefilde, eine Zeit, die er heute als äußerst konstruktiv und belebend für seinen weiteren Lebensweg empfand. Nebenbei hatte er sich mit kritischen Berichten aus der Provinz – veröffentlicht in verschiedenen überregionalen Blättern – einen Namen gemacht.

Immer noch auf dem Sprung, etwas Neues zu wagen, war es ihm anschließend nach mehrmonatigen Bemühungen geglückt, bei der Berliner tageszeitung unterzukommen, jener selbst verwalteten Alternativpresse, deren Markenzeichen sowohl gründlich recherchierte Informationen außerhalb des konventionellen Meinungsbreis als auch jahrelanges Entlangschlittern am Abgrund wirtschaftlichen Bankrotts waren. Vermehrter Arbeitseinsatz bei drastisch reduziertem Gehalt prägte den Alltag aller Mitarbeiter, den Harry Nuhrs nicht ausgenommen. Zwar bedeutete für ihn das Engagement in Berlin die Erfüllung seines wichtigsten Studententraums, doch verhinderte das jahrelange Vegetieren knapp über dem Existenzminimum die Zementierung dieses Zustands. So kam Nuhr nach acht Jahren tageszeitung ein Karrieresprung gerade recht: Sofort nach seiner ersten vorsichtigen Anfrage öffnete sich für ihn die Tür zur politischen Redaktion des Stern. Ein drastischer Anstieg seines Gehalts erwartete ihn.

Nuhr stellte seine Tasse zurück, betrachtete die Frau, die unruhig neben ihm auf ihrem Stuhl hin- und herrutschte.

»Verstehst du jetzt, warum ich telefonisch nichts durchgeben konnte?«, fragte sie mit leiser Stimme. Verena Litsche kratzte sich nervös hinter ihrem rechten Ohr. Ihre Augen flatterten fahrig hin und her.

Nuhr nickte, fuhr sich mit der Hand über sein stoppeliges Kinn. »Seit wann arbeitest du daran?«

Die Frau trommelte mit ihren Fingern auf dem Tisch, sah sich unruhig um. »Seit einem halben Jahr. Das Material umfasst mehrere Aktenordner.« Sie schwieg, betrachtete mit weit aufgerissenen Augen den Mann, der an den Nachbartisch getreten war, um sich dort auf einem erst vor wenigen Minuten freigewordenen Platz niederzulassen. »Außerdem unzählige Disketten«, setzte sie mit gedämpfter Stimme hinzu.

Nuhr beobachtete sie, wie sie ihr Glas an den Mund führte und trank. Ihre Hand zitterte, die Flüssigkeit schwappte über den Rand.

Verena Litsche wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Sie saß klein und schmal auf dem Stuhl und wackelte mit den Beinen – ein deutliches Zeichen ihrer Anspannung. Die blonden Haare hingen strähnig in die Stirn, ein breiter, silbrig glänzender Ring baumelte – fast ununterbrochen in Bewegung – am rechten Ohr. Das weite dunkelblaue T-Shirt hing schlabbrig, in breiten Falten um ihren Oberkörper, unterstrich ihr dürres Aussehen. Verena Litsche war nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Harry Nuhr kannte sie seit ihrer Mitarbeit bei der tageszeitung vor mehreren Jahren. Ausgebildet als Gymnasiallehrerin hatte sie nach dem Englisch- und Germanistikstudium und dem darauf folgenden Referendariat keine Anstellung gefunden und sich dann als freie Journalistin durchgeschlagen – mit dem Ruf, absolut gründlich und objektiv zu arbeiten. Irgendwann, Anfang der Neunziger, war sie aus privaten Gründen bei der tageszeitung ausgeschieden. Ihr Kontakt war abgebrochen – bis zu ihrem Anruf in der letzten Woche.

»Du hast sie hier?«

Verena Litsche schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht bewegte sich hastig hin und her, die Augen flackerten nervös zu dem neuen Gast nebenan.

»Das wäre zu gefährlich«, zischte sie, »ich habe Angst, dass sie eine Veröffentlichung verhindern wollen.«

Harry Nuhr schlürfte genießerisch seinen Kaffee, betrachtete den Kellner, der die Bestellung am Nachbartisch entgegennahm.

»Es existieren Kopien«, flüsterte die Frau, »komplett von allem. Ich habe sie bei Freunden deponiert, für den Fall …«

Er nickte, setzte seine Tasse ab. »Das ist vernünftig«, bestätigte er, »ich könnte mir vorstellen, dass du gut daran tust, auf deine Sicherheit zu achten. Wenn die Lobby von deinen Plänen Wind bekommt, kann es ungemütlich werden. Die wehren sich gegen jede Veröffentlichung, garantiert. Schließlich wollen sie sich nicht ihre Geschäfte zerstören lassen. Es geht um zig Milliarden, Jahr für Jahr.«

»Sie drohen am Telefon«, sagte Verena Litsche.

»Wer?« Harry Nuhr blickte irritiert zu ihr hin.

»Verschiedene Typen. Sanfte und auch grobe Stimmen. Mal so, mal so. Verteilt über Tag und Nacht. Mehrfach mitten in der Nacht. Sie wissen genau, woran ich arbeite: Ich würde doch wohl nicht so dumm sein, mein Leben zu riskieren, indem ich damit an die Öffentlichkeit gehe.«

Er schwieg, hörte ihr zu.

»Sobald ich Kontakt zur Presse aufnehme, stünde ich auf ihrer Abschussliste. Ich solle mir jeden Schritt genau überlegen. Wir werden dich erwischen, du hast keine Chance. Du weißt doch genau, wie schnell das geht auf der Straße: Du läufst irgendwo und plötzlich rast ein Auto auf dich zu. Aus und vorbei. Ein Wort zu Journalisten und …«

»Seit wann geht das so?«, fragte er.

Dem Fahrzeug in der nahen Straße entstieg eine ältere Frau, dann bewegte sich der Wagen mit quietschenden Reifen rückwärts, sodass die Frau ein wenig beiseitespringen musste, und verschwand.

»Zwei, drei Monate vielleicht«, erklärte Verena Litsche.

»Du hast es auf Band?«

Sie nickte mit dem Kopf. »Ich werde Sie bei der Polizei anzeigen, antwortete ich, mehrfach schon. Gelächter, höhnisches, spöttisches Gelächter. Versuche es ruhig, konterte sie, am besten gleich, jetzt sofort! Glaubst du vielleicht, die helfen dir? Liebe Frau, wie naiv bist du? Begreifst du nicht, welche Interessen hier im Spiel sind? Du pokerst hoch. Du allein gegen das halbe Land. Du hast keine Chance. Gib auf. Lass den Quatsch und gönne dir noch was vom Leben, sonst ist es zu spät

»Du hast es gemeldet?«

Die Frau zuckte nervös mit der Schulter. »Wozu?«

Nuhr konnte ihre Ohnmachtsgefühle nachempfinden. Er nickte, betrachtete die nahe Straße, auf der sich ein Lastwagen rückwärtsfahrend näherte, kurz stoppte, dann von einem kräftigen jungen Mann schnell entladen wurde. Der mit einer hellbraunen Uniform bekleidete Lieferant schleppte seine Pakete zu einem nahen Zeitungsladen, spurtete kurz darauf wieder zu seinem LKW zurück. Sekunden später verschwand das Fahrzeug, Wolken aus stinkendem Dieselqualm hinterlassend.

»Du solltest deine Wohnung wechseln und untertauchen«, stöhnte Nuhr, »das Projekt ist der reine Wahnsinn.« Er hatte Mühe, gegen den Motorenlärm des Lastwagens anzukommen.

Der Kellner bediente den Mann am Nachbartisch, servierte eine kleine Flasche Bier. Verena Litsche verfolgte das Geschehen, trommelte nervös auf den Tisch.

»Du bist dir sicher, dass du die Sache in der Redaktion durchbringst?«

»Absolut«, äußerte Nuhr. »Wir kennen uns gut genug. Dein Projekt ist irre wichtig. Es muss an die Öffentlichkeit. Unbedingt. Die tageszeitung ist genau das richtige Medium dafür. Wir veröffentlichen jede Woche den neuesten Stand. Woche für Woche. Das wird einschlagen wie eine Bombe. Garantiert.«

Litsche starrte auf die Straße, betrachtete misstrauisch einen kräftigen jungen Mann, der breitbeinig an der Brunneneinfassung lehnte und zu ihnen herüberstarrte. Er trug ausgewaschene hellblaue Jeans und eine kurze dunkle Lederjacke.

»Du weißt genau, dass dir zehn Tage genügen?«, fragte Harry Nuhr. »Du darfst nicht übertreiben. Lieber eine Woche später …«

»Es wird klappen«, betonte sie, »ich benötige nur noch die Ergebnisse aus drei Kreisen, vorausgesetzt, ich komme an das Material. Die Schwierigkeiten kennst du.«

Nuhr nickte zustimmend.

»Eingearbeitet ist es schnell. Das Programm steht. Eine Sache von wenigen Minuten.«

»Prima. Dann werde ich die Texte für die erste Veröffentlichung vorbereiten. Wir sollten eine Wochenend-Ausgabe anpeilen. Heute ist Mittwoch. Vielleicht übernächsten Samstag?«

»Du musst vorsichtig sein«, wandte sie ein, »sobald sie davon erfahren, werden sie alles unternehmen, euch fertig zu machen. Die haben die besten Anwälte. Sie warten nur auf den kleinsten Fehler.«

»Wir haben genügend Erfahrung mit diesen Typen. Kein anderes Presseorgan wurde in den letzten Jahren so oft von der Industrie oder von Rechts und Links bedroht wie die tageszeitung. Das dürfte dir zur Genüge bekannt sein.«

Verena Litsche nickte. »Ich hoffe, du hältst Wort«, erklärte sie, »es ist sehr wichtig für mich.«

Der Mann am Nachbartisch träumte uninteressiert vor sich hin. Sie betrachtete ihn trotzdem misstrauisch.

»Es wird klappen, ganz bestimmt. Dein Projekt ist mein letzter großer Beitrag für die tageszeitung

Nuhr drehte den Kopf zur Seite, um einer jungen Frau nachzuschauen, die durch die Fußgängerzone lief.

»Obwohl es natürlich auch ein irre gutes Mitbringsel für den Stern wäre. Sozusagen meine zweite Bombe zum Einstand.«

Nuhr zog ein Couvert aus seiner Aktenmappe, entnahm ihm mehrere Fotos. »Deshalb bin ich heute im Süden. Fotos abholen. Kennst du den Herrn?«

Verena Litsche betrachtete die Bilder. »Schau an, der Herr Minister. Wo hast du die her?«

»Ein alter Bekannter. Er spezialisierte sich auf die Vermittlung delikater Fotos und Texte. Sie stammen von einer Frau, die sich mit Menschenhandel und Prostitution beschäftigt. Dabei kam ihr der Kerl zufällig vor die Linse. Sie konnte es selbst kaum glauben, als ihr sein Gesicht unterkam. Aber an seiner Identität gibt es keinen Zweifel. Macht sich gut, oder? Sie fotografierte die Geldscheine, das Mädchen, das in das Fahrzeug wechselte, das Gesicht des Mannes. – Mein erster Beitrag für den Stern«, meinte Nuhr mit süffisantem Lächeln, »der Minister der Landesregierung beim Einkauf von Frischfleisch.«

Er nahm die Fotos wieder an sich, verstaute sie im Umschlag. »Eine ganz schöne Bombe, zumal hier im Süden«, sagte er, steckte das Couvert wieder in seine Mappe. »Aber zugegeben, völlig bedeutungslos im Vergleich zu deiner Arbeit. Ein kleiner, unbedeutender Sprengsatz, sozusagen. Und die Atombombe lieferst du.«

Das dunkle Auto kam langsam die Mühltorstraße hoch, näherte sich zügig der Freiluftterrasse des Alten Rathauses und raste dann urplötzlich los. Verena Litsche spähte gerade nervös zu dem jungen Mann an der Brunneneinfassung, sah entsetzt, wie das Fahrzeug auf die Terrasse ausscherte und direkt auf sie zujagte. Sie wollte schreien, ihren Gesprächspartner auf die hinter seinem Rücken drohend auftauchende Gefahr aufmerksam machen, brachte vor Schreck jedoch keinen einzigen Ton zustande. Das Auto räumte das gesamte, vor der Ostseite des Gebäudes aufgestellte Mobiliar des Lokals aus dem Weg. Stühle wirbelten durch die Luft, Tassen, Gläser, Flaschen, Teile von Tischen. Menschen schrieen auf.

Verena Litsche drückte sich mit den Füßen vom Boden ab, warf sich zurück. Das Geschehen lief wie in einem spannenden Kinofilm auf Großleinwand vor ihr ab. Halb in Trance, wie eine unbeteiligte Zuschauerin verfolgte sie ohnmächtig das Toben des Wahnsinnigen.

Das Auto hatte ihren Tisch erreicht. Im Fallen nahm sie wahr, dass Nuhr von der dunklen Karosserie erfasst und samt seinem Stuhl in die Höhe katapultiert wurde. Sie hörte das Schreien von Menschen, splitternde Gläser, Tassen und Teller, auf den Boden prasselnde Metall- und Plastikteile. Mitten in all dem Tumult ein laut aufheulender, davonjagender Motor, dann heftiges Quietschen von Bremsen und den erneut aufkreischenden Motor, das Hupen eines davonjagenden Autos. Sie wusste nicht mehr, was um sie herum geschah, fühlte, wie ihr Herz heftig pochte und ihr Atem in kurzen Stößen frische Luft in ihre Lungen jagte. Dann versank sie in einer weichen, warmen Masse.

Panische Stimmen aus allen Richtungen.

»Der rast durch die Schlossstraße!«

»Holen Sie doch endlich Hilfe! Ist kein Arzt da?«

»Sind Sie verletzt?«

Verena Litsche starrte geradeaus, sah das Gesicht unmittelbar vor sich. Ein fremder, älterer Mann.

»Sie können mich erkennen?«

Sie begriff langsam, dass er mit ihr sprach, löste sich aus ihrer Trance. Es dauerte einige Sekunden, bis ihr Körper den Befehlen des Gehirns folgte. Schwerfällig nickte sie.

Der Mann starrte sie an.

Sehr viel länger brauchte sie, bis sie wieder auf ihren Beinen stand. Unsicher und zitternd, kaum dazu imstande, das Geschehene zu begreifen.

Der Boden war übersät mit Trümmern. Hektik und aufgeregte Stimmen auf allen Seiten.

»Die Kissen haben Ihnen das Leben gerettet«, sagte der Mann.

Verena Litsche drehte sich um, sah einen Berg aus dicken, weichen Sitzbelägen, die hier auf einem Stuhl übereinander gereiht gelegen hatten.

»Danken Sie Gott, dass Sie genau hier saßen.«

Sie starrte den Mann verständnislos an, spürte das Verkrampfen in ihrem Inneren. Langsam begann ihr Körper zu begreifen, was geschehen war.

»Der Kerl ist verrückt«, rief eine Stimme, »warum hat er das getan?«

Die gesamte Fußgängerzone voller Menschen – Männer, Frauen, Jugendliche, Kinder, schimpfend, heftig miteinander diskutierend, alle auf das Durcheinander vor dem Alten Rathaus starrend, – drehte sich wie ein Karussell oder Panoptikum vor ihren Augen. Sie hörte Wortfetzen, Entsetzensschreie; Sirenen, irgendwo, erst weit entfernt, dann immer lauter anschwellend. Sirenen, aus verschiedenen Richtungen.

Sie wusste, warum sie es getan hatten. Er oder sie, wer immer hinter dem Steuer des Autos saß. Sie allein wusste es.

Sie waren hinter ihr her, hatten es auf sie abgesehen, wollten verhindern, dass sie ihr Projekt veröffentlichte. Denke daran, sobald du Verbindung zur Presse aufnimmst, stehst du auf unserer Abschussliste. Überlege dir genau jeden Schritt. Wir werden dich erwischen, du hast keine Chance. Du weißt doch genau, wie schnell das geht auf der Straße: Du läufst irgendwo und plötzlich rast ein Auto auf dich zu. Aus und vorbei. Ein Wort zu Journalisten und …

War es nicht genauso gekommen?

Ein heftiger Schwindelanfall ließ sie straucheln. Sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Ihr Kopf drohte zu zerspringen. Sie spürte stechende Schmerzen, die von der Brust bis hinunter in ihren Arm ausstrahlten.

Ein kaltblütiger Mordanschlag, mitten in Winnenden, keine fünfundzwanzig Kilometer von Stuttgart entfernt? Nicht in New York, Los Angeles, Moskau oder Caracas, nicht einmal in Frankfurt oder Berlin, nein, hier in der süddeutschen Provinz? War sie in einen Kinofilm geraten oder in einen schlimmen unbegreifbaren Traum?

Wo war Nuhr?

»Ich bin Arzt«, hörte sie eine Stimme, »es ist sinnlos. Dieser Mann ist tot.«

Immer noch halb in Trance, torkelte sie schwankend über die Terrasse. Gaffende Augenpaare, Neugierige an weit aufgerissenen Fenstern, hinter den Scheiben der benachbarten Läden, mitten in der Fußgängerzone.

Nur weg von hier, arbeitete es in ihr, nur weg!

Sie stieg über das Tohuwabohu, bewegte sich am Eingang des Restaurants vorbei, in Richtung Torturm. Unmittelbar neben ihr ein ganzer Pulk von Menschen, schimpfend und schreiend, auf den Boden starrend. Verena Litsche wollte sich durch die Menschenmenge winden, um den Platz zu verlassen, als ihr Blick auf den Boden fiel: Die Überreste eines Menschen.

Ein rot gestreiftes T-Shirt, schwarze Jeans, an einem Fuß der Rest einer zerrissenen hellbraunen Sandale. Oben, am anderen Ende der Gestalt eine blutige zerquetschte Masse. Nur die schütteren, am Hinterkopf schon leicht ergrauten Haare waren noch heil.

Nuhr!

Das Zittern wanderte von den Kniekehlen durch ihren ganzen Körper, erfasste sie. Mühsam kämpfte sie sich durch die gaffende Menschenmenge.

Du tust gut daran, auf deine Sicherheit zu achten, hatte Nuhr vor wenigen Minuten erklärt. Wenn die Lobby von deinen Plänen Wind bekommt, kann es ungemütlich werden. Die wehren sich gegen jede Veröffentlichung, garantiert. Schließlich wollen sie sich nicht ihre Geschäfte zerstören lassen. Es geht um Milliarden, Jahr für Jahr.

Und dann hatten sie sich gewehrt. Und er war das Opfer. Das Letzte?

Von der Mühltorstraße her schob sich ein Rettungswagen mit Blaulicht und Sirene in die Fußgängerzone hoch. Alle Augen gafften zu dem Fahrzeug.

Verena Litsche begriff auf der Stelle, dass sie die Chance nutzen musste. Sie nahm alle Kraft zusammen, kämpfte sich durch die dicht gedrängte Menge, rannte auf den Torturm zu. Menschen eilten der Terrasse des Alten Rathauses zu. Neugier prägte die Gesichter.

»Ich werde Sie bei der Polizei anzeigen«, hatte sie mehrfach gedroht, wenn sie wieder ihren telefonischen Terror ausübten.

Gelächter, höhnisches, spöttisches Gelächter. »Versuche es ruhig«, war die Antwort, wann immer sie gekontert hatte, »am besten gleich, jetzt sofort. Glaubst du wirklich, die helfen dir? Liebe Frau, wie naiv bist du? Begreifst du nicht, wie viele Interessen hier im Spiel sind? Du pokerst hoch. Du allein gegen das halbe Land. Du hast keine Chance. Gib auf. Lass dein Projekt und gönne dir noch was vom Leben, bevor es zu spät ist.«

Verena Litsche rannte mit pfeifender Lunge durch den Torturm, die restliche Fußgängerzone entlang, dann in die Unterführung der Bundesstraße. Als sie sich dem Bahnhofsvorplatz näherte, sah sie von Backnang her eine S-Bahn in den Bahnhof einfahren. Sie jagte die Treppen hinunter, dann wieder hinauf, schaffte es in letzter Sekunde, sich in den abfahrbereiten Zug zu werfen. Die Türen schlossen sich unmittelbar hinter ihr. Ihr ganzer Körper schlackerte, als sie sich in der letzten Sitzgruppe des Wagens in ein hartes Polster drückte.

3. Kapitel

Der Ärger begann auf der Rückfahrt vom Tatort. Steffen Braig, Kommissar beim Stuttgarter Landeskriminalamt, überließ nach ausführlicher Untersuchung der Café-Terrasse in der Winnender Fußgängerzone die restliche Arbeit den Kollegen von der Kriminaltechnik um Markus Schöffler und eilte zur Bahn, um die Staatsanwaltschaft über den Mord und die bisher erzielten Ermittlungsergebnisse zu unterrichten. Der mysteriöse Tod des Journalisten und der überraschende Fund der einen Minister der Landesregierung eindeutig belastenden Fotos bargen, so ahnte Braig, ein gewaltiges Potential an Sprengstoff in sich. Ob Zusammenhänge zwischen dem Verbrechen und den Bildern existierten oder nicht, die Untersuchungen würden Unannehmlichkeiten mit sich bringen, mochte man auch noch so behutsam vorgehen. Einen Minister des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu bezichtigen – und dieses Delikt führten die Aufnahmen unübersehbar vor Augen – konnte, sollte auch nur ein Hauch dieser Beschuldigung an die Öffentlichkeit dringen, ein politisches Beben auslösen.

Konnte dazu noch der Verdacht, der Tod des Journalisten stehe in weitläufigem oder gar unmittelbarem Zusammenhang mit den Fotos, nicht vollständig ausgeräumt werden, wurde die Sache keineswegs erfreulicher.

Braig dachte jetzt schon voller Widerwillen und Ekel an die Einschüchterungsversuche und unverhohlenen Drohungen von Seiten der verschiedenen Ministerien, denen sie bei ihren Ermittlungen erfahrungsgemäß ausgesetzt sein würden.

Der Zug fuhr in den Bahnhof, kam zum Stehen. Braig sah die von Farbsprays verunstalteten Seitenwände: Graffiti auf den Metallrahmen der Wagen, den Fenstereinfassungen, sogar auf den Scheiben selbst. Schmierereien in verschiedenen Farbtönen, ohne erkennbare Formen, einfach kreuz und quer über die Seitenwände der Waggons verteilt. Dazu kaum lesbare Parolen, in eng ineinander verschlungenen Bögen hingekrakelt, deutlich zu erkennen allein die mehrfach wiederkehrenden Worte Fuck, Votze und Wichser.

Braig spürte Wut, stieg in den Zug. Er suchte sich einen Platz, fand eine freie Vierergruppe, wunderte sich über sich selbst. Was war mit ihm los? Woher kamen seine Wut, sein Hass, die Aggressionen auf Leute, die er gar nicht kannte? Der Ärger über Vorgänge, die nicht in seinen Einflussbereich fielen? Waren Schmierereien dieser Art erhebliche Sachbeschädigungen oder vernachlässigenswerte Nichtigkeiten, die man einfach zu übersehen hatte, wollte man sich das Leben nicht unnötig schwer machen?

Wegsehen, Vorbeisehen, bewusst in eine andere Richtung Schauen – so lautete doch das Motto dieser Zeit. Toleranz, Freiräume, Treibenlassen, nur ja niemanden in seiner freien Entfaltung behindern. Gott, bewahre!

Vielleicht lag es an seiner derzeitigen beruflichen Überarbeitung, einer sich von Woche zu Woche verschärfenden Situation, hervorgerufen durch erfolglose, nicht enden wollende Ermittlungen und eine Kette immer neuer Gewalttaten im Großraum Stuttgart, welche die zuständigen Kriminalpolizeidirektionen und das Landeskriminalamt fast ohne Unterbrechung in Atem hielten.

Angefangen hatte die verhängnisvolle Serie mit dem Verschwinden eines sechsjährigen Mädchens in Filderstadt Anfang Oktober des vergangenen Jahres. Die kleine Alexandra war beim Verlassen der Schule im Ortsteil Bonlanden gegen 11.30 Uhr zum letzten Mal gesehen worden, seitdem war sie nicht mehr aufzufinden, obwohl man von Seiten der Polizei alles getan hatte, um auf Spuren des Kindes zu stoßen. Die Bevölkerung wurde um Mithilfe gebeten, mit Flugblättern, Zeitungsberichten und Rundfunksendungen auf das Verschwinden des Mädchens aufmerksam gemacht. Hunderte von Hinweisen wurden verfolgt, die gesamte Umgebung des Schulgeländes mit den angrenzenden Waldgebieten von Spürhunden und mehr als 200 Beamten bis auf den letzten Quadratmeter durchsucht. Hubschrauber mit Wärmebildkameras überflogen Felder, Spezialtrupps durchkämmten unwegsame Wälder und Gestrüpp. Fachleute der Wasserschutzpolizei suchten den Grund des Bärensees bei Plattenhardt ab, eine Einsatzgruppe filzte mehrere Tage lang den Hausmüll aus Bonlanden, stellte sogar das Müllheizkraftwerk in Stuttgart-Münster auf den Kopf – vergeblich.

Wenige Tage nach dem Verschwinden Alexandras wurden im gesamten Bundesland Fahndungsaufrufe mit dem Bild des Mädchens plakatiert, das Schicksal der 6-Jährigen beschäftigte Jung und Alt. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart und private Spender setzten für sachdienliche Hinweise 23.000 DM Belohnung aus, im Fernsehen stellte die Sendung Aktenzeichen XY ungelöst den Fall vor – alles ohne Ergebnis.

Es war wie verhext. Ein Großteil der Kriminalbeamten schob Überstunden, das Kind jedoch blieb spurlos verschwunden.

Zusätzliche Brisanz entwickelte die Angelegenheit drei Wochen später: An einem Angelsee bei Weil im Schönbuch, nicht weit von Filderstadt entfernt, war der elf Jahre alte Tobias, durch zahlreiche Messerstiche getötet, gefunden worden. Der Druck auf die ermittelnden Beamten hatte sich erneut schlagartig verstärkt, Hysterie und Angstpsychosen drohten sich auszubreiten. Erst Alexandra, dann Tobias.

Hatte derselbe Täter zugeschlagen, der für Alexandras Verschwinden verantwortlich war? Würde er weiter morden? Konnte man Kinder überhaupt noch unbeaufsichtigt aus dem Haus lassen? Immer mehr Eltern beantworteten diese Fragen mit einem eindeutigen Nein, begleiteten ihre Töchter und Söhne auf jedem Weg. Unmut und Verärgerung über die Misserfolge der Kriminalpolizei wuchsen.

Mitte November dann ein Ermittlungsergebnis: Ein erst 16-jähriger Schüler wurde als mutmaßlicher Mörder des kleinen Tobias ermittelt. Das Entsetzen und die Empörung waren riesengroß, die Nachricht von der Verhaftung des jugendlichen Täters verbreitete sich in Windeseile in der gesamten Region.

Ein pubertierender Heranwachsender als Täter? Was war los mit der jungen Generation? Welche Umstände veranlassten einen erst 16 Jahre jungen Mann, ein Kind zu töten? War die bisher scheinbar doch weitgehend heile Welt Schwabens jetzt auch vom Trend der Zeit erfasst?

Zumindest in den Kreisen der Polizei war die Erleichterung über den Ermittlungserfolg nicht zu überhören. Die Arbeit der Fahnder hatte endlich ein Ergebnis gebracht. Sofort aufkommende Fragen nach einem Zusammenhang des geklärten Verbrechens mit dem Verschwinden Alexandras jedoch blieben unbeantwortet, der genaue Tathergang nebulös und verworren.

Vier Wochen nach der Verhaftung des jungen Mannes war dann die die Bombe geplatzt: Alle Beweise gegen ihn hatten sich nicht verifizieren, seine Inhaftierung in keiner Weise begründen lassen. Der 16-Jährige musste freigelassen werden.

Zu der Enttäuschung über das Versagen der Polizei kam die Empörung über die falsche Verhaftung: Mehrere Monate nach dem Verschwinden bzw. dem Tod der Kinder war scheinbar nicht einmal ein Ansatz zur Aufklärung der beiden Fälle zu entdecken. Frustration, Stress und Hektik prägten den Alltag sämtlicher an den Ermittlungen beteiligter Kriminalbeamten.

Mitten in dieser verfahrenen Situation hatten sich heute zwei weitere Kriegsschauplätze ergeben: Hans Breidle, der bekannte Rundfunkmoderator eines Stuttgarter Privatsenders war in den frühen Morgenstunden bei Schwäbisch Gmünd getötet, dann, keine acht Stunden später, Harry Nuhr in Winnendens Fußgängerzone Opfer eines Mordanschlags geworden. Zwei Journalisten an einem Tag, nicht weit voneinander entfernt, ein Zufall?

Steffen Braigs Nerven lagen blank, er fühlte sich überfordert, gereizt und schlecht gelaunt, litt unter Kopfschmerzattacken wie selten zuvor. Muss ich mich bei meinem Zustand wirklich wundern, überlegte er, dass mich eine verunstaltete S-Bahn derart in Rage bringt?

Vielleicht lagen die Ursachen seiner Verstimmung aber auch ganz einfach in der Tatsache begründet, dass er älter wurde, mit Riesenschritten auf die vierzig zuging, dass es ihm immer schwerer fiel, die Entwicklung dieser Gesellschaft zu begreifen, ja zu sagen zu der Richtung, in die alles lief? Früher – versuchte er sich zu beruhigen – früher hätte er sich über Lappalien dieser Art kaum aufgeregt, sie wahrscheinlich nicht einmal bewusst als Unrecht wahrgenommen.

Aber war das wirklich die korrekte Erklärung für seinen Ärger? Waren sein Verdruss, seine Wut nicht auch darin begründet, dass die Allgemeinheit sich in den letzten Jahren fast an solch sinnlose Zerstörung gewöhnt hatte? Defekte Telefonzellen, mutwillig außer Kraft gesetzte Fahrkartenautomaten, Schmierereien an Zügen, Bussen, Gebäuden, Unterführungen, Brücken?

Braig blickte sich im Wagen um, erkannte an den Polstern und der gesamten Einrichtung, dass es sich um eine neue, erst vor kurzer Zeit in Betrieb genommene Bahn handelte. Die Sitze waren in dezentem Grau mit grünen Streifen gehalten, die Trennwände aus durchsichtiger Kunststoffverglasung, das gesamte Interieur in unübersehbar gepflegtem Zustand – noch!

Hinter sich, durch den Mittelgang von ihm getrennt, hörte er lautes Lachen, Grölen, dann ein lang gezogenes, kräftiges Rülpsen. Braig drehte angeekelt den Kopf, sah zwei modisch gekleidete junge Männer um die zwanzig, die Füße samt Schuhen auf den gegenüberliegenden Polstern, Bierdosen in der Hand, lauthals miteinander diskutierend.

Lag es wirklich nur an seinem Alter, dass er, wohin er auch sah, überall immer deutlichere Erscheinungen von Verwahrlosung zu erkennen glaubte, eine Verrohung der Sitten, eine Brutalisierung des Umgangs der Menschen miteinander, wachsende Rücksichtslosigkeit und Aggression in allen Teilen der Gesellschaft, vor allem auch der Jugend?

Warum konnte er die breit auf die hellgrauen Polster des Zuges gedrückten Schuhe nicht als einen Ausdruck besonders cooler Lebenseinstellung verstehen? Junge Leute unterschieden sich von den Älteren eben nicht nur durch ihr Äußeres: Offensichtlich gehörte es heute, am Beginn des neuen Jahrtausends zum guten Ton, sich mit deutlich sichtbarem Markenlabel auf der Kleidung in der Öffentlichkeit zu zeigen und sich gleichzeitig ohne jede Hemmung danebenzubenehmen. Was ihm, Braig fehlte, war nur das Gespür für die Faszination dieser neuen Lebensart!

Er zwang sich, das laute Schreien der beiden zu überhören, starrte aus dem Fenster. Die Kratzer in der Scheibe, ein wirres Zickzack, waren nicht zu übersehen. Braig streckte seine Hand aus, fuhr sie langsam mit den Fingerspitzen nach. Sie waren mit Messerspitzen oder anderen scharfen Gegenständen eingeritzt. In einem neuen, wohl erst einige Wochen alten Zug.

Vielleicht hatte er seinen Beruf als Polizeibeamter im Verlauf der Jahre derart verinnerlicht, dass er überall, wo er nur Unrecht witterte, sofort den Ordnungshüter herauskehren musste? Braig arbeitete seit fast zehn Jahren beim Landeskriminalamt in Stuttgart, galt bei Kollegen und Vorgesetzten als angenehmer, erfolgreicher Ermittler. Nicht, dass er seinen Beruf als den großen Traum oder gar die Erfüllung seines Lebens betrachtet hätte – dazu brachte der Alltag zu viele negative Erfahrungen, stocherte er mit seinen Ermittlungen doch allzu oft im Morast menschlicher Beziehungen. Nein, Braig war nicht der geborene Super-Cop, der jeden Tag strahlend seine Begeisterung über den Beruf herausschrie.

Natürlich gab es auch Momente, in denen ihm seine Tätigkeit Spaß machte: Momente, die viel zu selten wiederkehrten, ihn dann aber zu verstärkter Arbeit ermunterten.

Braig wusste um die Gefahren jeder Gewöhnung, hasste nichts mehr, als um des bloßen Prinzips willen als Verteidiger von Recht und Ordnung aufzutreten. Jahrelang nur im Sumpf zu wühlen, überwiegend mit Existenzen in Kontakt zu kommen, die Schwierigkeiten hatten, das Leben zu bewältigen, konnte nicht ohne Folgen bleiben. Der Teil der Bevölkerung, mit der Braig aus beruflichen Gründen Umgang hatte, benötigte ab und an eine starke Hand, die sie daran erinnerte, dass Normen und Gesetze dazu geschaffen waren, sich an ihnen zu orientieren, um ein einigermaßen friedliches Zusammenleben so vieler verschiedener Individuen zu ermöglichen. Über Jahre hinweg diese starke Hand zu verkörpern, nach außen hin sich einen Panzer aufzubauen und jederzeit bereit zu sein einzuschreiten, – Braig benötigte keine psychologischenen Erkenntnisse, um sich der Folgen für ihn selber sicher zu sein.

Nein, die immer häufigere Beobachtung fortschreitender Verwahrlosung entsprang nicht seiner Einbildung: Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hatte eine Gesellschaft einen derartig hohen Lebensstandard für nahezu alle Leute erreicht wie jetzt – und doch wurde der Umgang mit dem, was allen gehörte und auch der Umgang miteinander immer ruppiger, aggressiver, immer deutlicher von Ellbogen und egoistischer Rücksichtslosigkeit bestimmt. Da war ein Rad am Laufen, eine Entwicklung im Gang, die immer schneller in die falsche Richtung lief.

Braig verließ den Zug an der Nürnberger Straße, folgte ihr bis zum Augsburger Platz. Hätte er eingreifen, die jungen Männer ermahnen sollen, die Schuhe von den Sitzen zu nehmen? Das Thema ließ ihn nicht los. Er wusste keine Antwort.

Er überquerte die Gleise der Güterbahn, die parallel zur stark befahrenen Augsburger Straße lagen, bog in die Dennerstraße ein. Keine hundert Meter von ihm entfernt stoppte ein Streifenwagen, zwei uniformierte Polizisten sprangen aus dem Fahrzeug, hielten auf einen Mann zu, der sich an einem dort geparkten Motorrad zu schaffen machte. Braig wartete am Rand der Straße, ließ zwei Autos passieren, bemerkte die beiden Jungen hinter sich erst, als er ihre lauten Stimmen hörte.

»Ey da, guck mal!«

»Was denn?«

Sie blieben direkt neben ihm stehen, beobachteten die Ermittlung der beiden Beamten.

»Die Scheißbullen dort vorne!«

Steffen Braig glaubte, nicht richtig zu hören, starrte die Jungen an. Sie waren höchstens vierzehn, mit kurzen dunkelblonden Haaren, grünem bzw. rotem Sweatshirt der Marken Nike und Adidas und blauen Jeans bekleidet, gafften neugierig zu den Polizisten hinüber.

»Die filzet den echt.«

Braig sah, wie der Mann am Motorrad eine Kennkarte zückte und sich auswies, blickte die Straße auf und ab, schickte sich an, hinüberzugehen.

»Scheißbullen, elende«, schimpfte der Junge hinter ihm, »die müsset ihre Schnauze doch überall neistecke!«

Braigs Reaktion kam schnell, ohne Überlegung. Er holte aus, knallte dem Jungen mit seiner Rechten auf die linke Wange, drehte sich nur kurz um. »Das sind immer noch Polizisten«, hörte er seine empörte Stimme, »Polizeibeamte, klar?«

Die beiden Jugendlichen standen wie erstarrt, funkelten ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Der Abdruck seiner Hand im Gesicht des Größeren war deutlich zu erkennen. Er hatte die Straße bereits überquert, als er die Schreie hinter sich hörte.

»Kinderschänder, dreckiger!«

»Das kostet dich ein paar Tausender, du Arschficker, mein Vater ist Anwalt.«

Er achtete nicht weiter auf das Gezeter, lief geradewegs auf das weit aufragende Gebäude des Landeskriminalamtes zu. Sollen sie doch die Scheißbullen zu Hilfe holen, um gegen mich vorzugehen, überlegte er.

Braig fuhr mit dem Aufzug hoch, betrat sein Büro. Der Schreibtisch sah unverändert aus, auch im Fax steckte nur eine Nachricht. »Bin bereit. Hofmann.« Aufgegeben kurz vor 17 Uhr. Vor dreißig Minuten also.

Er lief zum Wasserhahn, wusch die Hände, wischte sich das Gesicht, den Hals und den Nacken nass ab, ließ dann ein Glas volllaufen, trank.

Jürgen Hofmann, der Oberstaatsanwalt, der auf Schwerstkriminalität spezialisiert war, hatte die Sache an sich genommen. Zwei Journalisten, an einem Tag ermordet, noch dazu in ähnlicher Tatausführung, war keine Angelegenheit mehr für die unteren Ränge. Braig atmete tief durch. Hofmann war eine der angenehmsten Erscheinungen in der gesamten Behörde, ein in der Sache harter, im Umgang mit Mitarbeitern jedoch sehr freundlicher und auch in schwierigen Situationen äußerst ruhiger, überlegt handelnder Mann, Mitte fünfzig. Mochten Ermittlungen noch so lange ergebnislos dahin ziehen, neue Untersuchungen wieder und wieder in Sackgassen verlaufen, Hofmann zeigte stets Verständnis, verlor nie seine Contenance, war immer bemüht, an neuen Lösungswegen mitzuwirken. Außerdem verfügte er über ein breit gefächertes, weit über sein Fach hinausreichendes Wissen und eine alle Normen sprengende Offenheit und Bereitschaft, auch unkonventionelle Wege zu verantworten, wie es der Kommissar selten erlebt hatte.

Hofmann hatte es nicht – wie manch anderer – nötig, durch kleinkarierte Machtspielereien seine Bedeutung zu beweisen, er stand einfach darüber und war ohne jedes Aufheben bereit, seine Person hinter sachlichen Erwägungen zurücktreten zu lassen. Dass jemand wie er im weitgehend stromlinienförmig, nämlich parteibuchstrukturierten Justiz- und Verwaltungsapparat des Ländles eine solch bedeutende Stellung erhalten hatte, trug dazu bei, Braig den Glauben an eine gewisse Leistungsorientierung in der Beamtenhierarchie wiederzugeben.

Der Kommissar trank ein zweites Glas Wasser, tupfte sein Gesicht mit dem Handtuch trocken, suchte die Unterlagen zusammen und verließ sein Büro.

Hofmanns Abteilung lag zwei Stockwerke tiefer am entgegengesetzten Ende des Gebäudes. Braig traf im Flur auf die auffallend dünne, große Gestalt Kriminalmeister Stöhrs, grüßte, klopfte an Hofmanns Tür. Der Oberstaatsanwalt bat laut um Eintritt.

Er saß aufrecht hinter seinem Schreibtisch, Papiere aller Größenklassen in übereinandergestapelten, farbigen Kunststoffboxen auf der rechten Seite der Arbeitsplatte verstaut. Er hatte glatte hellblonde Haare, rot gefärbte Wangen, trug eine dünne Brille mit schmalen Gläsern. Als Braig ins Zimmer trat, erhob er sich schnell, ließ die Blätter, die er gerade bearbeitete, liegen und reichte dem Kommissar freundlich lächelnd die Hand.

»Es ist wahrlich kein schöner Anlass, der uns zusammenführt«, sagte er, »aber gewinnen wir unserem Treffen das Beste ab.« Er bot Braig einen Platz in der kleinen Sitzecke an, fragte ihn, ob er Earl Grey wünsche, stellte dann zwei Tassen samt Untertellern und Milchkännchen in die Mitte, nachdem der Kommissar dankend zugestimmt hatte.

»Sie kommen direkt vom Tatort?«, fragte Hofmann. Er nahm die bereitstehende Thermoskanne, schenkte beide Tassen voll. Seine Vorliebe für schwarzen Tee war in der ganzen Behörde bekannt; sie rührte von mehreren längeren England- und Wales-Aufenthalten des Oberstaatsanwaltes her, die dieser im Rahmen seines Jura- und Anglistikstudiums genossen hatte.

Braig bedankte sich. »Mit einer kurzen Unterbrechung, die mir beinahe eine Anzeige eingebracht hätte, ja.«

Hofmann sah ihn überrascht an, setzte sich dann seinem Gesprächspartner gegenüber.

»Es ging um eine Ohrfeige«, sagte Braig, berichtete von dem Vorfall. »Vielleicht war ich zu aufgewühlt von dem Mord in Winnenden. Und der verschmierten Außenwand einer neuen S-Bahn.« Er erwähnte das Verhalten der jungen Männer im Zug, brachte seinen Ärger unverhohlen zum Ausdruck. »Und jetzt frage ich mich einmal mehr, ob ich nicht immer stärker in pessimistischem Trübsinn versinke oder mir das alles nur einbilde, weil ich älter werde und durch meinen Beruf zur Schwarzmalerei tendiere.«

Jürgen Hofmann grinste, nahm einen Schluck Tee, stellte die Tasse zurück. »Und ich dachte immer, ich sei der Einzige, dem die Entwicklung unserer Gesellschaft zu schaffen macht«, bekannte er, »ein Fossil, das nicht mehr in die bunte, neue Welt passt.« Er schüttete Milch in die hellbraune Flüssigkeit, rührte um, hielt sich dann die Tasse unter die Nase, um das Aroma zu genießen. »Wo liegen die Ursachen? Was machen wir alle falsch? Was läuft schief in unserem Land?«

Steffen Braig zuckte mit der Schulter. »Fragen Sie nicht mich. Ich bin kein Psychologe.«

Hofmann trank von seinem Tee. »Offiziell sind es die Eltern, die ihre Kinder aus reiner Bequemlichkeit weitgehend sich selbst überlassen und sie mit dem Konsum immer neuer Artikel zufriedenstellen. Und die Lehrer, die sich zu wenig engagieren. So kolportieren es jedenfalls viele Medien.«

»Um von sich selber abzulenken.«

»Da könnte ich Ihnen zustimmen. Irgendwann lernt selbst der dümmste Heranwachsende, dass es zum Leben in unserer Gesellschaft einfach dazugehört, seine Schuhe auf die Sitze zu knallen und Scheißbulle