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Carola Clasen

Eifelmädchen

Bisher von der Autorin bei KBV erschienen:

»Novembernebel«

»Das Fenster zum Zoo«

»Tot und begraben«

»Auszeit«

»Schwarze Schafe«

»Wildflug«

»Mord im Eifel-Express«

»Spiel mir das Lied vom Wind«

»Tote gehen nicht den Eifelsteig«

»Die Eifel sehen und sterben«

»Nirgendwo in der Eifel«

»Sechs in der Eifel«

»Atemnot«

Seit 1998 schreibt Carola Clasen Kriminalromane, die in der Eifel spielen. »Eifelmädchen« ist ihr neunter Roman mit der eigenwilligen Kommissarin Sonja Senger. Auch mit ihren Kurzgeschichten und Lesungen hat Carola Clasen sich einen Namen in der Region gemacht. Die »Queen of Eifel-Crime« ist Mitglied im Syndikat, lebt und arbeitet in Köln.

Carola Clasen

Eifelmädchen

 

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Originalausgabe

© 2015 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: info@kbv-verlag.de

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von:

© ibush, © Stefan Körber – www.fotolia.de

Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-95441-255-6

E-Book-ISBN 978-3-95441-269-3

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Jeder ist an allem schuld
(F. M. Dostojewski 1821-1881)

Prolog

Der Tag hatte so gut angefangen.
Sie wollten ausreiten, querfeldein, ohne ein Ziel, sie hatten den ganzen Tag Zeit. Es war sein Geburtstag.

Er war noch ein Anfänger und hatte bisher immer die kleine, sanfte Sally geritten, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ. Aber heute war ein besonderer Tag. Es war sein 18. Geburtstag.

Endlich erlaubte sie ihm, Black Magic zu reiten – einen pechschwarzen, selbstbewussten Hengst, der manchmal unberechenbar war. Sie wollte ihm eine Freude machen.

Sie ritten nebeneinander. Sie sagte ihm, was er tun und lassen sollte. Erst hörte er auf sie, aber dann packte ihn der Übermut, er gab Black Magic die Sporen und forderte sie zu einem Rennen heraus.

Im Galopp ging es über den Feldweg hinauf zu den Hügeln. Am Waldrand holte sie ihn ein, ritt ein Stück voraus, wollte ihm den Weg versperren, riss die Zügel herum und schrie ihn an.

Sie schrie auch noch, als ihr Pferd strauchelte, über den Ast am Wegesrand stolperte und die Böschung hinunterstürzte. Sie schrie auch noch, als es sich überschlug und gegen den Baumstamm prallte.

Dann war sie stumm und voller Blut.

1. Kapitel

Mr. Harper?«, fragte der junge Mann, der die schwere Eichentür aufzog.

Tony Harper nickte und bog die Schultern zurück.

»Bitte. Kommen Sie herein.«

Er betrat die dämmrige Empfangshalle, über der ein Geruch von Staub hing.

»Wenn Sie mir bitte folgen würden?«

Ihre Schritte auf dem alten, dunklen Teppich waren fast lautlos. Eine der Türen war angelehnt. Der junge Mann stieß sie auf und sagte: »Bitte sehr«, ehe er sich zurückzog und Tony sich allein auf der Türschwelle fand.

Ein Arbeitszimmer lag vor ihm, ein hoher, langgestreckter Raum mit zwei Fenstern. Vor einem war ein schwerer Vorhang zugezogen, durch das andere fiel ein breiter Lichtstrahl herein, in dem Staubkörner tanzten. Mittelpunkt war ein mächtiger Schreibtisch, hinter dem ein hagerer Mann saß und ihn müde herbeiwinkte.

»Dr. Weinberg!«, grüßte Tony den Mann. »Es freut mich, Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen?«

»Setzen Sie sich.« Dr. Weinberg wies auf einen Ledersessel auf der anderen Seite seines Schreibtisches.

Tony ließ sich ächzend fallen. Mehr als achtzig Meilen über die Interstate 90, von Albany, New York, nach Springfield, Massachusetts, hatte er zurückgelegt, in einem klapprigen Gefährt, das die Bezeichnung Auto nicht mehr verdiente, und war von einem Stau in den anderen geraten. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie erschöpft er von dieser Tortur war. Er konnte es sich nicht leisten. Er brauchte diesen Job dringend. Er war der erste, der ihm seit einem Monat angeboten wurde. Was immer dieser Dr. Weinberg gleich fordern würde, Tony Harper musste es erfüllen. Alles!

Alles? Nein, eines würde er nicht tun, eines um keinen Preis.

Aber Weinberg hüllte sich vorerst in Schweigen. Er sah nicht gut aus, fand Tony. Abgemagert schien der Mann ihm gegenüber, seine Hautfarbe war gelblich, die Schatten unter seinen Augen unübersehbar, die faltigen Wangen eingefallen. Seine ungewöhnlich hohe Stirn war von Altersflecken übersät. Seine hageren Hände zitterten auf den Armlehnen des Ledersessels. Er lehnte seinen Kopf zurück, als machte es ihm Mühe ihn zu halten. Tony schätzte ihn auf Ende siebzig.

Bis auf das Ticken einer stolzen Standuhr war es still. Still wie in einer leeren Kirche. Deckenhohe Bücherregale und schwere Teppiche waren eine gute Dämmung. Eine grüne Bankerlampe mit Messingfuß beschien den Schreibtisch mit der modernen Telefonanlage, einem Tischkalender, einer Schale für Stifte und einer dunkelbraunen Ledermappe.

Tony saß im Schatten. Er räusperte sich, um sich bemerkbar zu machen. Weinberg reagierte nicht. Seine Augen waren zugefallen, vielleicht war er eingeschlafen, vermutete Tony und erhob sich. Auf Zehenspitzen trat er neben Weinberg, hob vorsichtig den Deckel der Ledermappe mit dem Daumen an und lugte hinein. Ein kleiner Stapel marmoriertes, dickes Papier, auf dessen erster Seite unter einem rot-blauen Wappen in großen Lettern stand: LETZTER WILLE. Tony ließ die Mappe zufallen, als er ein kleines, knackendes Geräusch vernahm, das aus der Telefonanlage kam. Dort blinkte ein grünes Licht, aber das hatte es schon die ganze Zeit über getan.

»Geboren ist er Ende 1978«, vernahm er eine raue Stimme hinter sich.

»Wer?«, fragte Tony irritiert.

»Mein Sohn!«

»Ihr Sohn?«, wiederholte Tony. Wieso wusste Dr. Weinberg nicht das Geburtsdatum seines Sohnes?

»Finden Sie ihn!«

»Ich brauche seinen Namen – und das Problem ist gelöst.«

»Feldmann«, stieß Dr. Weinberg hervor.

Tony zog die Stirn in Falten. »Und der Vorname?«, wiederholte er freundlich und beugte sich ein wenig hinab.

Dr. Weinberg schüttelte den Kopf.

Wieso wusste er nicht den Vornamen seines Sohnes?

Er forderte Tony mit einer Handbewegung auf, sich wieder zu hinzusetzen. »Man hat Sie mir empfohlen.«

»Das freut mich«, brachte Tony mühsam hervor.

»Sie sollen gut sein.«

»Das bin ich«, bestätigte er und warf mit kühnem Schwung seine Haare zurück. Sie waren grau, steingrau, und lang, hingen fast bis auf seine breiten Schultern. Sie waren dicht und glatt, und er war stolz darauf. Damit konnte er locker seine Leibesfülle überspielen. Er legte ein Bein auf das andere und betrachtete liebevoll seine grasgrüne, handgestrickte Socke. Es gab jemanden, der für ihn strickte. Die alte Mrs. Blankworth.

»Dann machen Sie Ihrem Ruf Ehre.«

»Darum bin ich hier, Dr. Weinberg.«

»Ich würde es selbst tun, aber mein Arzt hat mir das Reisen untersagt.«

»Das tut mir leid«, sagte Tony halbherzig.

Weinberg klopfte mit einem krummen Zeigefinger auf die Armlehne. »Bringen Sie meinen Sohn hierher. Hierher in dieses Haus. Zu mir, haben Sie verstanden?«

»Selbstverständlich.«

»Und jetzt gehen Sie, gehen Sie endlich!« Weinberg winkte ihn davon.

»Moment, bitte«, warf Tony ein. »Was darf ich ihm sagen? Vielmehr – was soll ich ihm sagen?«

»Das ist Ihr Problem. Sagen Sie ihm, was Sie wollen.«

»Wie Sie meinen. Aber da gibt es noch etwas, was ich Sie fragen möchte.«

»Ihr Honorar?«, fragte Weinberg mit bitterer Miene.

»Nein, nein. Das hatten wir geklärt: 800 Dollar pro Tag plus Spesen.«

Tony musterte sein Gegenüber und hoffte, dass Weinberg sich in der Zwischenzeit nicht eines Besseren besonnen hatte.

»1.000, wenn Sie es in 14 Tagen schaffen.«

1.000! Tony stockte der Atem. Für 1.000 Euro am Tag würde er alles machen. Restlos alles.

»Wenn ich vorher sterben sollte, zahlt meine Firma Sie aus. Ich habe entsprechende Anweisungen gegeben. Sie sehen, ich habe vorgesorgt.«

»Wo soll ich nach ihm suchen?«, fragte Tony und ging in Gedanken alle nordamerikanischen Staaten durch, die er per Zug, Bus oder Auto leicht erreichen konnte.

»In Europa.«

»Nein!«, entfuhr es ihm. Dr. Weinberg ahnte nicht, was er da verlangte.

»In Deutschland.«

»Nein!« Tonys Stimme brach.

»Haben Sie etwas gegen Deutschland?«

»Nichts«, beteuerte er schnell.

Im Gegenteil: Deutschland war sogar ein winziger Lichtblick. Im Gegensatz zu Amerika, wo man lediglich mit der entsprechenden Sozialversicherungsnummer weiterkam oder dann, wenn der Gesuchte mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war, gab es in Deutschland wenigstens ein sogenanntes Einwohnermeldeamt, das bei Recherchen behilflich sein konnte. Aber Fliegen?

»Wittlich heißt die Stadt.«

»Witt… Wie schreibt sich das?«

Weinberg buchstabierte, Tony schrieb.

»Sprechen Sie eigentlich deutsch?«, wollte Weinberg wissen.

Tony machte das internationale Zeichen für ein bisschen. »Aber das ist kein Problem. Unsere Sprache ist eine Weltsprache, nicht wahr?«

»Wir werden sehen. Was wollen Sie noch wissen?«

»Was ist mit der Mutter Ihres Sohnes?«

Weinberg schüttelte entschieden den Kopf. »Das gehört nicht hierher.«

»Ein Foto von ihr würde mir helfen.«

»Es gibt keines. Und wenn es eines gäbe, wäre es 36 Jahre alt.«

»Gut«, sagte Tony. »Aber Sie können sich doch sicherlich an ihren Vornamen erinnern?«

Weinbergs Blick wanderte über Tony hinweg und kehrte zu ihm zurück. »Berthilde«, gab er endlich preis, sprach den Namen so leise aus, als handelte es sich um eine geheime Information.

»Wie bitte?«

»Berthilde.«

»Schöner Name«, sagte Tony, weil er dachte, dass Weinberg das gern hörte. »Berthilde Feldmann.«

Weinberg nickte.

»Können Sie sich noch an den Namen der Straße erinnern, in der sie gewohnt hat?«

»Mozartstraße«, stieß Weinberg hervor und presste die Lippen aufeinander, als hätte er schon viel zu viel gesagt.

»Wunderbar«, lobte Tony ihn. »Und die Hausnummer?«

Weinberg richtete seinen Blick nach innen.

»Ist auch schon alles sehr lange her«, tröstete Tony ihn und bemühte sich, sein wachsendes Entsetzen über den Auftrag in Schach zu halten. Wie sollte er das Zoe beibringen? Sie kannten sich noch nicht lange, er ließ sie ungern allein. Er war eifersüchtig und sie empfänglich für Komplimente.

»Ich war von 1970 bis 1977 in Spangdahlem stationiert«, hörte er Weinberg sagen. »Ich war Captain bei der Air Force.«

Tony wartete, dass er fortfuhr. Aber er tat es nicht. »Danach sind Sie zurück nach Amerika?«, half Tony nach einer Weile nach.

Weinberg klopfte auf seine rechte Armlehne. »Ja, hierher. Ich musste zurück. Ich gehöre hierher. Mein Vater hatte große Pläne mit mir. Ich habe die Army quittiert und studiert. Wissen Sie, ich sollte immer in die Firma meines Vaters einsteigen. Und ich habe es nie bereut. Mir konnte überhaupt nichts Besseres passieren.«

»Was ist das für eine Firma?«, fragte Tony.

»Das Weinberg Research Center. Wir betreiben medizinische Grundlagenforschung und haben uns auf seltene Krankheiten spezialisiert. Krankheiten, an denen weniger als 10.000 Menschen weltweit leiden. Krankheiten, die nicht lukrativ sind, es lohnt sich nicht, sie zu erforschen. Die meisten Institute haben weder Interesse daran noch machen sie Geld dafür frei.«

»Sehr interessant. Und Sie haben das Geld?«

Dr. Weinberg überging seine Frage. »Wenn Sie es genauer wissen wollen, kann ich Ihnen eine Broschüre mitgeben.« Er öffnete die Schublade seines Schreibtisches und zog einen Hochglanzprospekt hervor. Er schob ihn Tony entgegen.

»Sie sind also Arzt?«

»Neurologe.«

»Und Sie leiten die Firma immer noch?«

»Im Prinzip ja. Was soll ich machen? Ich habe keinen Erben … mehr«, Dr. Weinberg schloss die Augen und schüttelte kaum merkbar den Kopf.

»Das tut mir leid«, sagte Tony und bemühte sich, Mitgefühl zu zeigen. Er dachte, dass es Schlimmeres auf der Welt gebe, zum Beispiel gar keine Firma zu haben.

»In einem rosa Haus hat Berthilde gewohnt«, hörte er Weinberg sagen.

Tony wollte ganz sicher sein, sich nicht verhört zu haben. »In einem rosa Haus auf der Mozartstraße, also.«

Weinberg nickte, ohne ihn anzusehen.

»Sie war doch sicher auch berufstätig?«

»Ja, sie war eine Blumenverkäuferin«, antwortete Weinberg. »So habe ich sie auch kennengelernt. Ich wollte Blumen kaufen für ein Abendessen, zu dem mich mein Colonel eingeladen hatte.« Er kratzte sich am Hinterkopf. »Ich wollte Rosen für seine Frau kaufen, aber Betty, ich meine Berthilde, hat mich davon überzeugt, dass Lilien viel passender sind. Weiße Lilien hat sie mir verkauft, ich weiß es noch ganz genau.«

»Können Sie sich erinnern, wo das Blumengeschäft war?«

Dr. Weinberg nickte erst, aber dann schüttelte er bedauernd den Kopf.

»Gut«, sagte Tony, obwohl nichts an diesem Auftrag gut war. Außer dem Honorar.

»Wann fliegen Sie?«, fragte Dr. Weinberg und richtete sich auf.

»Ich nehme morgen sofort den ersten Flieger vom Albany International«, behauptete Tony und klang sehr entschlossen, obwohl sich sein Magen allein bei der Vorstellung, ein Ticket zu lösen, bereits verkrampfte.

»Erst?« Weinberg war enttäuscht. »Warum fliegen Sie nicht heute? Ich könnte das arrangieren. Ich habe noch immer gute Beziehungen zur Air Force, Sie landen direkt in Spangdahlem und können sofort loslegen …«

»Oh nein! Oh nein!«, Tony winkte erschrocken ab. Das ging viel zu schnell. Er musste sich erst seelisch auf den Flug einstellen. Dazu brauchte er mindestens eine Nacht. Eigentlich ein ganzes Leben. »Da muss ich Sie enttäuschen. Aber ich muss zuerst noch in mein Büro. Ich muss ein paar dringende Dinge erledigen und an meinen Assistenten delegieren, Sie verstehen, Sie sind nicht mein einziger Auftraggeber.«

»Nun denn«, kommentierte Dr. Weinberg sichtlich unzufrieden.

»Soll ich Sie telefonisch auf dem Laufenden halten?«, bot Tony an.

Weinberg winkte ab. »Auf keinen Fall. Unterstehen Sie sich. Sie bringen mir den Jungen. Sonst nichts.«

»Wird gemacht.«

Weinberg drückte auf einen Knopf auf seiner Telefonanlage und beugte sich über den Lautsprecher. »Unser Gast möchte gehen«, sagte er, als sich eine Frauenstimme meldete.

Kurz darauf öffnete sich die Tür und eine Frau ohne Alter erschien im Türrahmen.

Tony steckte seinen Notizblock ein, rollte den Hochglanzprospekt zusammen und schob ihn in die Tasche seiner schwarzen Cordjacke, die an den Rändern und am Kragen schon blank war. Er streckte die Hand aus und versprach: »Sie hören von mir.«

»Ich will nichts von Ihnen hören, ich will den Jungen hier haben.« Dr. Weinberg nahm Tonys ausgestreckte Hand nicht an. »Und beeilen Sie sich!«, sagte er und gab seinem Drehsessel einen Schwung, sodass er Tony den Rücken zukehrte.

»Das werde ich tun«. Auf dem Weg hinaus konnte Tony es nicht lassen, die Hausangestellte zu fragen. »Sind Sie schon lange für Dr. Weinberg und seine Frau tätig?«

»Seine Frau?«, fragte sie erstaunt zurück. »Er hat keine Frau.« Sie zog die schwere Eingangstür auf. »Gute Fahrt und auf Wiedersehen!«

Tony setzte einen Fuß auf die Außentreppe und holte tief Luft. Sie war klar, frisch und hell. Ein wahrer Genuss nach dem abgestandenen, staubigen Geruch im dämmrigen Inneren des Hauses. Der Blick in den Himmel versprach einen glänzenden Septembertag, den Tony nicht in Albany im Ridgefield Park würde genießen können. Keine durchzechten Nächte mehr im Bogie’s, seiner Stammkneipe. Keine vertrödelten Tage mehr lang ausgestreckt auf der Couch im Souterrain, ausgestattet mit einer Illustrierten, einem doppelten Whisky und Michael Jackson. Die Zeiten des bequemen Wartens auf einen Auftrag waren vorbei.

Als die Tür hinter ihm zugeschoben wurde, warf er einen Blick in den Hochglanzprospekt des Weinberg Research Centers. Gleich auf der ersten Seite fand er ein Foto des Firmeninhabers. Prof. Dr. Dr. Daniel Weinberg aus dem Jahre 1984. Ein heller, wacher Blick in einem schmalen Gesicht mit einem wohldosierten Lächeln. Er trug seine dunklen Haare raspelkurz.

Im Text darunter folgte ein kurzer Abriss der Firmengeschichte. Die folgenden zehn Seiten widmeten sich Statistiken und grafischen Darstellungen über medizinische und geschäftliche Erfolge des WRC. Man rühmte sich der Zusammenarbeit mit anderen Instituten und diversen Universitäten. Schwerpunkt der Tätigkeit war die Erforschung seltener Erkrankungen, sogenannter orphan deseases. Die Liste dieser Erkrankungen, mit denen sich die Forschung nur ungern beschäftigte, war erschreckend lang. Tony hatte von keinem der Syndrome je gehört, aber sie klangen alle ziemlich aussichtslos. Erschüttert schlug er den Prospekt zu und steckte ihn wieder in seine Jackentasche. Eigentlich sollte er das WRC aufsuchen, um sich ein Bild von der Firma zu machen, aber der Senior hatte ihm keine Zeit gelassen, den Fall von der Pike auf zu recherchieren.

Tony sah sich um, hielt nach nichts Bestimmtem Ausschau, ließ den Anblick nur auf sich wirken. Das Gelände war menschenleer, gepflegt symmetrisch angelegt und mutete barock an. Exakt geschnittene Buchsbaumhecken schlängelten sich an den Kieswegen entlang. Zwei Springbrunnen plätscherten. Zwei Marmorstatuen bewachten einen kleinen Säulengang. Sogar die Vögel und die Wolken am Himmel traten paarweise auf.

Linker Hand waren eine Scheune und Stallungen zu erkennen, offene Boxen, eine Weide, ein kleiner Parcours und ein runder Longierplatz. Aber kein einziges Pferd war unterwegs.

Tony steckte die Hände in die Hosentaschen, stieg die Treppen hinab und pfiff Thriller von Michael Jackson. Der Auftrag war genial, 800, vielleicht sogar 1.000 an einem einzigen Tag! Unfassbar! Unvorstellbar! Wenn er zurückkam, konnte er sich ein neues Auto leisten. Und wenn er länger als 14 Tage brauchte, musste er nur sehen, dass er deutlich länger brauchte, dann kam er auch auf seine Kosten.

Wenn nur der Flug nicht wäre!

Wenn er Mrs. Blankworth, die seine Socken strickte, erzählen würde, dass er nach Europa reisen musste, würde sie ihm blaue Socken mit gelben Sternen stricken. Sie wohnte über ihm in Albany in der Norwood Avenue. Vielmehr wohnte er unter ihr im Souterrain. Er hatte der alten Damen zwei Jahre zuvor einen Dienst erwiesen. Sie war am helllichten Tag in ihrem Appartement überfallen und ausgeraubt worden. Nicht viel hatten die Diebe erbeutet, aber eine am Boden zerstörte Mrs. Blankworth zurückgelassen. Tony Harper war es – im Gegensatz zur Polizei – gelungen, den skrupellosen Einbrecher wenige Wochen später zu stellen. Der hatte das gestohlene Geld inzwischen allerdings ausgegeben, kam aber für eine Weile hinter Schloss und Riegel. Statt eines Honorars versprach Mrs. Blankworth Tony lebenslänglich handgestrickte Socken. Und sie strickte schnell, lieferte unaufhaltsam jeden Monat ein Paar ab. Ein fortschreitender grauer Star war schuld daran, dass die Socken mit der Zeit immer bunter und greller wurden und die Muster immer abenteuerlicher.

Tonys grasgrüne Socken leuchteten in der Sonne, als er auf sein rostiges Gefährt zuging, das in traurigem Kontrast zur gepflegten Umgebung stand. Über die Beifahrertür stieg er ein und quetschte sich zum Fahrersitz durch. Nach einigen Anläufen sprang der Motor gnädig an. Mit asthmatischem Husten wendete das Gefährt in der Einfahrt und entließ in die klare Landluft eine blau-schwarze Rußwolke, durch die Tony einen letzten Blick auf den beeindruckenden Herrensitz werfen konnte.

2. Kapitel

Frieda Stein zählte ein weiteres Mal die Umzugskartons, die sich vor ihr auftürmten. Sie kam auf vier Reihen à vier Kartons, das machte 16 Kartons. Ihre Wohnung stand schon randvoll. Heute ging es nicht um Möbel, sondern um Schrankinhalte: Geschirr, Kleidung und Bücher. Bücher stellten zwei Drittel ihres Besitzes dar.

Sie sprang von der Ladefläche des gemieteten Sprinters, griff nach einem Karton, trug ihn über den Bürgersteig zwei flache Stufen hinauf ins schmale Treppenhaus, das hinter den Glasbausteinen lag, und stellte ihn auf die anderen, die sie dort zwischengelagert hatte. Als sie ihn abstellte, spürte sie einen heftigen Stich in den Lendenwirbeln. Sie stöhnte auf und stemmte beide Hände in die Hüften. Vielleicht hätte sie doch das Angebot ihrer Freunde annehmen sollen, anstatt etwas theatralisch darauf zu bestehen, diesen Weg – diesen ungeliebten Weg – allein zu gehen, allein und aufrecht. Von aufrecht konnte bald keine Rede mehr sein.

Sie lief zurück zum Auto und fuhr sich durch die kurzen Haare. Sie waren feucht. Sie strich über ihr Sweatshirt. Feucht. Es regnete leicht. Ein feiner, vornehmer Nieselregen, der aber auf Dauer nicht besser als ein ordentlicher Landregen war. Aber es war nicht kalt an diesem letzten Tag im September.

Ab morgen hatte sie endlich ein Auto zu Verfügung, und die Zeiten der kostspieligen Taxis, verpassten Straßenbahnen und ausgefallenen Busse waren endlich vorbei. Der Dienstwagen schien ihr einer der wenigen Vorteile ihres neuen Arbeitsplatzes zu sein. Ein weiterer war sicherlich das regelmäßige Einkommen, mit dem sie sich ein für alle Mal aus den Fängen ihres Vaters befreien konnte. Das Thema Vater war heikel. Aber jetzt war nicht die Zeit zu grübeln und zu hadern, jetzt war die Zeit zu handeln. Es galt, Kartons von A nach B zu tragen und den Sprinter bis 18 Uhr wieder abzuliefern.

Frieda stemmte einen weiteren Karton hoch, presste ihn an ihre Brust und schleppte ihn über den Bürgersteig ins Treppenhaus, einen Weg, den sie heute schon gefühlte hundert Mal gegangen war. Mehr als acht Kartons fasste der Eingangsbereich nicht. Nun ging es nach oben in den zweiten Stock, vorbei an geschlossenen Wohnungstüren, vergessenen Schuhen, Kinderwagen und Regenschirmen, und Frieda verfluchte jede einzelne Treppenstufe. Noch hatte sie keinen ihrer Nachbarn zu Gesicht bekommen. Es kam ihr vor, als wohnte sie ganz allein im Haus Nr. 73 auf der Reinaldstraße.

Ihre Wohnungstür stand offen. Sie setzte den Karton ab. Leider war von ihrer schönen Wohnung nicht mehr viel zu erkennen. Aber als sie sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie ihr gefallen. Sie war schlicht und einfach. Ohne Schnickschnack. Baujahr 1984. Das Bad hellblau, die Küche hellgrün gefliest, Diele, Wohn- und Schlafzimmer mit dem gleichen Teppichboden (mittelbeige meliert) ausgelegt. Die Loggia bot einen unendlich weiten Blick über Ackerfurchen. An den Wänden klebten altmodische, ein wenig vergilbte Tapeten, die aber sehr gut zu den altmodischen Deckenlampen passten, die der Vormieter zurückgelassen hatte, der ein Nichtraucher gewesen war.

Friedas Mutter war entsetzt gewesen und hatte sich bereit erklärt, die Kosten für die Renovierung zu übernehmen. Aber Frieda hatte abgewinkt. Die Möblierung beschränkte sich nun im Wesentlichen auf Bett und Schrank, Tisch und Stühle, und ein kleines, gelbes Sofa stand im Wohnzimmer. Ein Sammelsurium aus Beständen von Freunden, so wie es in ihren verschiedenen WG-Zimmern gewesen war, die sie während ihres Studiums an der HWR in Berlin bewohnt hatte. Danach war sie auf Drängen ihrer Eltern nach Köln zurückgekehrt – ein Fehler, wie sich herausgestellte. Aber immerhin hatte sie die erste Möglichkeit beim Schopf ergriffen und wieder das Weite gesucht. Und nun war sie hier in Euskirchen.

Sie lief die Treppen hinunter, nahm zwei Stufen auf einmal. Auf dem Bürgersteig rannte sie beinah einen vorübergehenden Mann um. Sie stolperte und hielt sich im letzten Moment an der geöffneten Tür des Sprinters fest.

15 Uhr. Zeit, eine Pause einzulegen. Sie stemmte sich hoch zur Ladefläche, setzte sich und ließ die Beine baumeln. Aus ihrer Schultertasche fischte sie sich eine Dose Cola hervor, öffnete sie, legte den Kopf in den Nacken und setzte sie an die Lippen.

Das Haus, in dem sie ab sofort leben würde, war das vorletzte auf der Reinaldstraße und bestand eigentlich aus zwei aneinandergebauten Häusern. Sie waren hellgelb gestrichen und boten auf zwei Stockwerken, jeweils sechs Parteien ein Dach über dem Kopf. Über beiden Eingängen, Nummer 73 und 75, erstreckten sich die Treppenhäuser hinter Glasbausteinen. Die Stockwerke wurden durch rot angestrichene Mauerabsätze getrennt.

Auf der Rückseite zeigten Loggien zu einer schmalen Rasenfläche mit einem kleinen Kinderspielplatz und einer Reihe eingezäunter Schrebergärten. Darauf folgten Ackerland, Überlandleitungen, ein Handymast, Windräder, am Horizont zog ein Traktor lautlos seine Runden. Idyllisch.

Aber irgendetwas stimmte hier nicht.

Nicht typisch – und damit Minuspunkte – waren die mehrstöckigen Wohnhäuser, die der kleinen Einfamilienhaus-Siedlung in einer Zeit der Wohnungsnot aufs Auge gedrückt worden waren. Zumindest wirkte das so. Wenn das hier ein Brennpunkt war – dann war Frieda Stein hier genau richtig.

Sie sah an ihrem Wohnhaus hoch. Alle Fenster, die zur Straßenseite zeigten, waren geschlossen. Gardinen schienen eine angepasste Ordnung zu verbergen. Aber darin irrte Frieda Stein. Gründlich.

Im Nachbarhaus, im zweiten Stock links, versank eine junge Frau gerade in ihrem Schaumbad. Immer, wenn sie aus dem Blumenladen kam, nahm sie zuerst ein langes, heißes Bad. Egal um welche Uhrzeit. Es war ein Ritual. Um die ganze Blumenerde loszuwerden, wie sie sich sagte, vielleicht war es auch mehr. Vorher war sie jedenfalls zu nichts zu gebrauchen. Zu dem Ritual gehörte es, die Badezimmertüre abzuschließen, nur die kleine Lampe über dem Spiegel leuchten zu lassen und den kleinen CD-Spieler auf den Badewannenrand zu stellen. Seitdem sie sich von ihrem Freund getrennt hatte, schwärmte sie für Liebeskummerlieder, und unter denen ganz besonders für den Ohrwurm Auf anderen Wegen. Den Refrain kannte sie in- und auswendig:

Mein Herz schlägt schneller als deins,
sie schlagen nicht mehr wie eins,
wir leuchten heller allein,
vielleicht muss es so sein …

Sie summte die Melodie mit, schloss die Augen und ließ sich tiefer sinken, bis sie unter Wasser lag und nur noch ihre Fußspitzen herausschauten. Der Schaum knisterte in ihren Ohren. Als er in ihre Augen lief, zog sie sich am Wannenrand hoch, griff nach dem Badehandtuch auf dem Schemel, trocknete ihre Augen ab und öffnete sie wieder mit klimpernden Lidern. Und erstarrte im gleichen Moment.

Die Türklinke senkte sich.

Sie hielt den Atem an. Ihr Herz schlug schneller. Angst kroch in ihre Adern. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Sie fror im heißen Wasser.

Die Türklinke hob sich. Begleitet von einem leisen Quietschen wurde sie erneut heruntergedrückt und ein großer, dunkler Schatten presste sich gegen den Ausschnitt im Türblatt aus geriffeltem Glas. Es sah aus und es hörte sich an, als gebe die Tür nach. Jeden Moment. Knacken, Schaben, Reißen. Das Türblatt wölbte sich ein wenig. Die beiden Angeln schienen bersten zu wollen.

Ich geb dich frei
Ich werd dich lieben
Bist ein Teil von mir geblieben

Die Sekunden standen still. Krampfhaft hielt Sandra sich am Wannenrand fest. Nackt und hilflos lag sie im Wasser. Ausgeliefert, ausweglos. Das halbhohe Fenster im Bad bot im zweiten Stock keine Fluchtmöglichkeit. Der Spiegel über dem Waschbecken war beschlagen. Ein Gefängnis. Sie saß in der Falle. Noch einmal presste sich der Schatten gegen die Tür, dann zog er sich zurück und verschwand. Schritte gingen im Flur hin und her, bedrohlich langsam, bedrohlich hart, mal kamen sie näher, mal entfernten sie sich, mal setzten sie aus, dann waren sie wieder zu hören.

Vielleicht muss es so sein
vielleicht muss es so sein
so sein so sein so sein

Endlich fiel die Wohnungstür ins Schloss. Sie stellte die Musik ab und lauschte. Langsam stemmte sie sich hoch, kletterte aus der Wanne und stellte sich auf ihre Kleidung, die verstreut auf dem Boden lag und eigentlich in die Schmutzwäsche gehörte. Nass wie sie war und mit kleinen Schaumkronen bedeckt, stieg sie in ihre Unterwäsche, zog die Jeans hoch und streifte den Pullover über. Die Socken ließ sie weg. Sie löschte das Licht und trat zur Tür. Sie versuchte, durch das geriffelte Glas etwas zu erkennen. Der helle Teppich, der im Flur lag, warf ein diffuses, gelbes Licht zurück. Vorsichtig drückte sie die Türklinke herunter und zog die Tür auf. Die Türen zu Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer standen offen. Kein Schatten fiel von dort in den Flur. Sie horchte in ihre Wohnung hinein. Stille. Die einzigen Geräusche waren ihre eigenen Atemzüge. Kinderlachen drang von irgendwoher im Haus zu ihr. Ein Auto fuhr auf der Reinaldstraße vorbei. Eine Tür schlug zu. Musik verklang.

Mit nackten Füßen stieg sie in ihre hellgrauen Sneakers, die weißen Schnürsenkel ließ sie offen. Auch wenn sie sich langsam bewegte, war sie in allergrößter Eile. Noch ein Schritt, und sie war draußen. Sie schloss ab, als ihr das Medaillon einfiel. Sie fasste sich an den Hals. Sie hatte es ausgezogen, bevor sie in die Badewanne gestiegen war. Es musste noch auf der Ablage über dem Waschtisch liegen. Ohne Medaillon konnte sie unmöglich gehen. Aber zurück in die Wohnung und ins Bad? Nein!

Auch ihre Handtasche ließ sie zurück. Sie zog die Wohnungstür zu und schloss ab. Zweimal drehte sie den Schlüssel herum, ehe sie ihn in die Gesäßtasche ihrer Jeans schob und sich auf Zehenspitzen zur Treppe wandte. Am Geländer blickte sie hinab. War er noch im Haus? Wartete er unten auf sie? Ihre Beine zitterten, ihre Knie waren weich wie Butter, als sie sich krampfhaft am Geländer festhielt und Stufe für Stufe bewältigte. Sie verlor das Gleichgewicht, stieß mit der rechten Hand gegen die Wand – einen Rauputz, der ihr die badeweiche Haut an den Händen aufriss. Endlos bauten sich die Stufen vor ihr auf, verschwammen vor ihren Augen. Auf den Treppenabsätzen hielt sie kurz inne. Aber mehr als ihr Atem war nicht zu hören.

Je weiter sie hinabstieg, desto heller wurde es im Treppenhaus, denn durch die Haustür aus Glas fiel das Licht des Tages. Drei Stufen und sie hatte es geschafft. Mit letzter Kraft zog sie die Haustür auf, lehnte sich gegen den offenen Rahmen und schnappte nach Luft.

Am Straßenrand lud eine Frau Umzugskartons in einen Sprinter. Sandra versuchte zu rufen und zu winken, aber ihr Arm wollte ihr nicht gehorchen. Die Frau war beschäftigt, sah nicht herüber, sondern wandte Sandra den Rücken zu. Sie öffnete den Mund und rief: »Hallo!« Aber stattdessen brachte sie nur ein Wimmern zustande. Ihre Knie gaben nach, sie rutschte langsam am Türrahmen entlang.

Frieda Stein hielt inne. Ein seltsam unpassendes Geräusch drang zu ihr. Sie drehte sich um, blickte suchend umher und entdeckte in der Haustür des Nachbarhauses schließlich eine Frau, die am Türrahmen in der Hocke saß. Ihre langen, aschblonden Haare waren klatschnass und hingen ihr über das gerötete Gesicht, sodass nur ein offenstehender Mund zu erkennen war.

Mit wenigen Schritten war Frieda bei ihr und fing sie auf, hob sie hoch, trug sie auf ihren Armen kurzerhand zu ihrem Sprinter und legte sie auf die Ladefläche. Eine der Arbeitsdecken schob sie in einem Knäuel unter ihren Kopf, mit einer zweiten deckte sie sie zu. Aber die Frau strampelte sich sofort wieder frei. Beruhigend sprach Frieda auf sie ein, während sie in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch suchte, aber nur ein benutztes aus Stoff fand, das sie kaum anbieten konnte.

Die Frau legte beide Hände über ihr Gesicht. Auf dem Handrücken und den Fingerknöcheln der rechten Hand waren die frischen Schrammen nicht zu übersehen. Ein Fingernagel war abgebrochen. Sie trug Jeans und einen dunkelgrünen Pullover mit langen Ärmeln, sodass Frieda keine weiteren Wunden erkennen konnte. Bei näherem Hinsehen bemerkte sie, dass ihr Pullover auf links gedreht und der Reißverschluss der Jeans nur halb hochgezogen war, der Knopf nicht im Knopfloch. Vereinzelte, nasse Flecken auf den Oberschenkeln. Der linke Sneaker saß am rechten Fuß und umgekehrt. Die Schnürsenkel waren nicht zugebunden. Und Socken trug sie auch nicht. Ihre Fesseln glänzten feucht und waren von einer Gänsehaut überzogen.

Zögernd ließ die Frau die Hände von ihrem Gesicht sinken, als wollte sie sich vergewissern, ob ihre Retterin noch da war. Frieda lächelte ihr zu. Seltsamerweise sah die Frau rosig, wie frisch gebadet aus, ihre Augen waren gerötet. Frieda schätze sie auf Mitte dreißig.

»Wo bin ich?«

Frieda breitete die Arme aus. »In meinem Umzugswagen. Nicht besonders komfortabel, aber besser als nichts.«

»Und wer sind Sie?«

Frieda zeigte erst zum Haus und klopfte sich dann auf die Brust. »Ihre neue Nachbarin. Nummer 73. Ich ziehe gerade ein. Mein Name ist Stein. Friederike Stein.« Sie hoffte, die Frau würde ihr nun auch ihren Namen verraten. Aber sie presste ihre Lippen aufeinander. Sie versuchte sich aufzusetzen, stemmte die Hände auf die Ladefläche und verzog dabei ihr Gesicht.

»Immer langsam«, sagte Frieda und wollte sie stützen.

Die Frau wehrte sie mit einem finsteren Blick ab.

Frieda wich zurück und hob die Hände. »Was ist passiert?«

»Hingefallen«, stieß sie hervor, ließ die Beine von der Ladefläche baumeln, verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete den nassen Fleck, den sie hinterlassen hatte.

»In die Badewanne?« Frieda legte den Kopf schief. Es fiel ihr schwer, nicht über den Rücken der Frau zu streicheln. Er war so bemitleidenswert schmal und krumm. »Ich bringe Sie sofort zu einem Arzt.«

»Nein!«

»Ich kann einen Notarzt rufen.«

»Nein!« Sie zog ihre Stirn zornig zusammen.

»Soll ich Sie etwa zurück in Ihre Wohnung bringen?«

Entsetzt blickte sie zu ihrem Haus hinüber.

»Dann vielleicht zu einer Freundin?«, schlug Frieda vor. Die Blicke der Frau hellten sich auf und sie nickte leicht.

»Gut«, sagte Frieda erleichtert, denn ihre nächste Frage wäre gewesen, ob sie zur Polizei wolle. Zur Polizei hatte sie ein gespaltenes Verhältnis. »Dann müssen Sie aber jetzt herunterklettern.« Sie trat einen Schritt zurück. Sie hatte nicht vor, die Frau noch einmal zu berühren.

Die Frau sprang vorsichtig herunter, kam unsicher auf, schwankte und hielt sich unwillkürlich an Friedas Armen fest. Schnell nahm sie ihre Hände wieder zurück, steckte sie kurz in beide Gesäßtaschen und zog sie sofort wieder hinaus.

Frieda machte einen großen Bogen um sie und öffnete die Beifahrertür des Sprinters. Ein rascher Blick auf die Uhr. Unwahrscheinlich, dass sie den Sprinter zeitig abgeben konnte. Als sie neben der Frau einstieg, hatte die sich schon angeschnallt.

»Wollen Sie Ihre Freundin nicht lieber vorher anrufen, ich meine, es könnte sein, dass sie nicht da ist und dann …?«

»Doch, ja«, antwortete sie mit leiser Stimme. »Aber mein Handy ist oben …«

Frieda zog ihres aus der Hosentasche und reichte es ihr. Es war eingeschaltet.

Die Frau tippte auf einige Tasten und hielt das Handy ans Ohr. »Nadine? Ja, hallo, ich bin’s. Sandra. Nein, ist nicht mein Handy … ist doch egal … erzähl ich dir später … kann ich zu dir kommen? Jetzt sofort! Bitte! Ja? Gut. Ich bin noch in Euskirchen. Bis später.«

Sandra und Nadine, registrierte Frieda und klopfte aufs Lenkrad. Soweit so gut.

»Fahren Sie schon los«, kommandierte Sandra.

»Wohin denn?«

»Nach Groß-Vernich.«

»Aha«, sagte Frieda. »Und wo haben wir das? «

»Wenden Sie erst mal und fahren Sie die Straße da runter auf die Kessenicher Straße und danach da unten links«, sagte Sandra mit ausgestrecktem Arm.

Frieda tat wie ihr geheißen, fuhr über die Theodor-Nießen-Straße bis zur Kreuzung, bog links ab und passierte das Ortsschild Kessenich. Die restlichen Umzugskartons rutschten im Laderaum hin und her. Der Kessenicher Straße folgten sie am Ortsausgang in die Rechtskurve, überquerten die Erft und gelangten bald auf die Kölner Straße.

Frieda Stein, die sich weder in Euskirchen noch im Umland auskannte, entdeckte exotisch klingende, aber trostlos scheinende Orte wie Wüschheim, Ottenheim, Derkum, Hausweiler und fand, dass sie mit einer großen Stadt wie Euskirchen doch recht gut bedient war. Immerhin gab es dort sogar ein Kino.

Ihre Begleiterin schwieg. Frieda musterte ihr Profil. Die niedrige Stirn, eine Nase, die sich neugierig in die Höhe reckte und die vorstehende Oberlippe gaben ihr etwas Mädchenhaftes.

»Ich mache mir Sorgen um Sie«, sagte Frieda möglichst beiläufig und schaltete einen Gang höher.

»Das müssen Sie nicht.«

»Was haben Sie gesagt?«

»Das müssen Sie nicht«, schrie Sandra und rang die Hände.

»Aber ich mache es trotzdem.« Frieda blickte auf die nasse Jeans. »Das sieht nicht nach einem Sturz aus.«

»Wieso nicht?«

»Ich bin auch schon einmal hingefallen.«

»Ach, ja?«

»Bei mir persönlich hat sich nicht dabei der Pullover automatisch auf links gedreht. Mir sind nicht die Socken von den Füßen gefallen und die Schnürsenkel haben sich auch nicht geöffnet. Vom Reißverschluss meiner Jeans ganz zu schweigen. Und meine Haare waren nur dann nass, wenn ich in eine Pfütze gefallen bin …«