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Thomas Hoeps

Die letzte Kur

Thomas Hoeps, geb. 1966, lebt und arbeitet in Krefeld und Mönchengladbach. Nach mehreren Buchveröffentlichungen wechselte er 2006 ins Krimifach. Mit dem Niederländer Jac. Toes bildet er seitdem ein internationales Krimiautoren-Team, dessen erster Roman gleich für den Niederländischen Krimipreis Gouden Strop nominiert wurde. Nach dem Abschluss ihrer Patati&Spijker-Trilogie legt Hoeps mit Die letzte Kur nun wieder einen Solo-Krimi vor – das außergewöhnliche Ergebnis eines 2003 gestarteten kuriosen Reiseprojekts, in dessen Rahmen der Autor bereits mehr als dreißig Kurorte in ganz Deutschland besucht hat.

Thomas Hoeps

Die letzte Kur

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Der einzig wahren Suzie Wong
&
dem Kurbadbruderst PSchanz

1. Kapitel

Der Mann lag tot in der Badewanne wie damals Barschel in Genf. Dieser hier war allerdings nackt. Also doch mehr wie der Franzose auf dem Gemälde, das Monk nicht mehr vergessen konnte, seit er es als Kind im Schulbuch gesehen hatte. Französische Revolution, Jean Paul Marat. Der war auch Politiker. Nackt und tot in der Wanne. Allerdings erstochen. Dieser hier war nackt und tot, aber nirgendwo war ein Stich zu sehen, geschweige denn Blut. Nur die reine Sole und darin die welke, beigefarbene Haut eines aus der Form geratenen Endfünfzigers.

Hoffentlich war wenigstens dieser Wannentote kein Politiker. Es war so schon kompliziert genug. Die Wanne stand in einem Trakt des Hotels, der abends abgeschlossen wurde, und der Mann musste sich nachts irgendwie Zugang verschafft haben.

Monk sah auf die Uhr. Er hatte jetzt eigentlich gar keine Zeit für so etwas. Mal hören, was der Arzt sagte. Vielleicht gab es ja überhaupt kein Problem. Ein sauberer, natürlicher Tod und der Fall wäre erledigt, ehe er begonnen hatte.

Hinter ihm räusperte sich jemand. »Viktor Monk, nehme ich an?«

Er drehte sich um. Die junge Polizistin mit dem Pferdeschwanz sah ihn an, als wäre es nicht normal, vor einer Leiche ein paar Minuten lang seinen Gedanken nachzuhängen.

»Waren Sie als Erste am Tatort?«, sagte er unwirsch.

»Nein, das war der Arzt. Frau Metz hatte ihn gerufen.« Ihr Ton war überfreundlich, als wollte sie ihm zeigen, wie das so ging, das mit der zwischenmenschlichen Kommunikation.

»Und der ist jetzt wo?«

»Frau Metz hatte einen Schwächeanfall. Er hat sie nach unten begleitet.«

»Dann schaffen Sie ihn mir bitte jetzt ganz schnell hierher, Frau ... äh ...«

»Jenny van Dooren.«

»Irgendwann soll mal Mittlere Reife für die Schupo gereicht haben ...«, sagte Monk und stöhnte innerlich auf. Der Spruch hatte eigentlich eine Art Scherz werden sollen, um seine Knurrigkeit und garstige Siezerei der jungen Kollegin ein wenig abzumildern. Sie konnte schließlich nichts dafür, dass der Mann hier mit komplett falschem Timing in der Wanne lag.

»Ehe Sie sich weiter anstrengen: Ich kenne schon alle Adelswitze. Und nein, mein Blut ist ganz normal rot«, unterbrach sie ihn und verließ den Raum eine Spur zu aufrecht.

Monk seufzte und sah sich um. Alles vom Feinsten hier oben im siebten Stock des Belle Epoque. Goldene Armaturen, elegant geschnittene Badewanne, wahrscheinlich waren die Terracottafliesen mundgeblasen. Die Wände waren mit Jugendstilkacheln verziert. In den Nischen standen Flötenvasen aus Muranoglas, aus deren langen Hälsen sich exotische Blumen in die Höhe wanden. Und in den Edelholzregalen stapelten sich weiße Handtücher, die so wolkig wirkten wie frisch geschlagene Sahne.

Monk öffnete eine Tür, die von der Badekammer direkt in den Spa- und Entspannungsbereich führte. Die geschwungenen Panoramafenster boten einen exquisiten Blick auf Bad Nauheims Kurzentrum. Er reichte nördlich über den Kurpark bis hin zum Großen Teich und östlich über die gesamte Jugendstilanlage des Sprudelhofs.

Man wusste nicht, wer kühner gewesen war: die Architekten, die dreist den Stil eines angesagten amerikanischen Kollegen kopiert hatten, die Investoren, die so viel für das Grundstück bezahlt hatten, dass die Stadt ein Jahr ohne Kreditaufnahme auskam, oder die Politiker, die im Gegenzug ein ordentliches Stück vom Kurpark mit altem Baumbestand preisgegeben hatten.

»Herr Hauptkommissar?«

Monk zuckte zusammen. »Der Herr Doktor. Wie geht es Frau Metz?«

»Den Umständen entsprechend. Dieser Herr«, er wies auf den Toten in der Wanne, »ist nicht gerade ein Werbeträger für ihr neues Luxushotel.«

»Warum haben Sie uns gerufen?«

»Na ja, ich hab gedacht, sicher ist sicher. Immerhin hat der Mann sich nachts an Orten herumgetrieben, wo er nichts verloren hatte.«

»Und die Todesursache?«

»Noch ungeklärt. Ich habe die Leichenschau unterbrochen, weil mir das alles nicht geheuer erschien und ich keine Spuren zerstören wollte.«

»Sehr lobenswert. Gab es außer dem Fundort noch etwas, das Sie misstrauisch gemacht hat? Spuren von Gewaltanwendung?«, fragte Monk.

»Bis jetzt ein paar kleinere Blutergüsse, die aber sonst woher stammen könnten. Vielleicht ist ja auch alles in Ordnung. So wie er riecht, hat er Alkohol getrunken. Wenn er stark betrunken in der Sole eingeschlafen ist, könnte das bei schwacher Konstitution für einen Kreislaufkollaps mit Herzversagen ausreichen.«

Monk schob die Hände in die Hosentaschen. Das war unbefriedigend. Vermutlich verplemperte er gerade seine Zeit mit der Hasenfüßigkeit eines Tatort-sensibilisierten Arztes. Gerade heute, da er verdammt noch mal Wichtigeres zu tun hatte.

Er schaute zu der Kleidung des Toten hinüber. Sie lag extrem ordentlich zusammengelegt auf einem Hocker: Unterhose, Unterhemd, gefaltete Socken obendrauf, Hose und Hemd sorgsam über die Lehne gelegt. Da fehlten nur perfekt ausgerichtete Schuhe unter dem Hocker. Monk sah sich um, keine Schuhe.

»Okay«, sagte er, ich werde mal mit Frau Metz sprechen und mir das Zimmer des Toten anschauen. Wenn sich da nichts Ungewöhnliches ergibt, können Sie die Leichenschau fortsetzen. Bis jetzt sehe ich noch keinen Grund, die Leiche zu beschlagnahmen.«

»Aber mein ganzer Zeitplan gerät durcheinander«, beschwerte sich der Arzt.

Monk winkte nur ab. »Wem sagen Sie das.«

Claudia Metz lag mit geschlossenen Augen auf einer Récamière in ihrem Büro. Das Lieblingsmöbel ihres Großvaters, der ihr das einstmals bedeutende, dann aber ziemlich heruntergewirtschaftete Kurhotel Metz vererbt hatte. Monk erkannte es gleich wieder, als er eintrat. Ein paar ungenaue Erinnerungen klopften sich den Staub ab und projizierten in seinem Kopfkino Bilder aus Schulzeiten: Freistunden, die Claudia und er auf dieser Liege alles andere als totgeschlagen hatten. Monk sah sich um. Die Liege und ein imposantes Schlüsselregal waren zusammen mit Claudia Metz anscheinend die einzigen Überbleibsel des alten Kurhotels, die den Aufstieg in das brandneue Wellnessresort Belle Epoque geschafft hatten.

Zwei Mitarbeiterinnen kümmerten sich um ihre Chefin. Die junge Kommissarin, deren Name Monk schon wieder vergessen hatte, stand mit einem Notizblock in der Hand daneben.

»Viktor, es ist so schrecklich!«, rief Claudia, als sie mühsam die Augen geöffnet und Monk entdeckt hatte. Sie richtete sich auf, als wollte sie sich ihm in die Arme stürzen, aber Monk trat unwillkürlich einen Schritt zurück, sodass ihre Bewegung in sich zusammenfiel.

»Ich habe den Mädchen so oft gesagt, sie sollen die Badeabteilung abends abschließen. Und jetzt – es ist alles vorbei!«

»Na, na, na, das ist doch sicher etwas übertrieben«, beschwichtigte Monk.

»Ich habe die Mitarbeiterinnen schon vernommen. Die verantwortliche Abteilungsleiterin schwört, abgeschlossen zu haben«, schaltete sich die Kommissarin ein.

»Einbruchspuren gab es keine, Frau ...?«

»Immer noch van Dooren, Jenny van Dooren, nicht adelig. Und nein, keine Einbruchspuren.« Sie schüttelte den Kopf und Monk wusste nicht, ob das ihre Aussage bekräftigen sollte oder seiner Vergesslichkeit galt.

»Viktor, könnt ihr das nicht für euch behalten?« Claudia sah ihn mit großen Augen an. »Wir sind doch auf vier Monate ausgebucht. Lauter Prominenz aus Frankfurt, München, Berlin. Und dann die Trendsetter des internationalen Jetsets: Russen, Araber, sogar Chinesen. Von deren Urteil hängt alles ab. Wenn die erfahren, dass bei uns in der Bäderabteilung ... Viktor, die sind scheuer als Rehe«, sie sank kraftlos in ihre Kissen zurück.

»Hat ihr der Arzt denn nichts gegeben?«, wandte sich Monk unwirsch an die Polizistin.

»Ich denke schon.«

»Ich denke schon, ich denke schon ... Ich kann hier nicht noch eine Tote mit Herzversagen gebrauchen«, raunzte er, und Claudia Metz schlug erschreckt die Augen wieder auf. »Ich meinte mich, Claudia, weil ich mich so aufrege. War nur eine Redensart, entspann dich.« Monk tätschelte ihr die Hand.

Kein Wunder, dass sie so fertig war. Das Resort hatte nach einer Rekordbauzeit gerade erst vier Wochen zuvor eröffnet. Claudia hatte alles auf eine Karte gesetzt. Ein Fünf-Sterne-Superior-Hotel, das hätte sich der alte Metz nicht träumen lassen, als er sein Testament schrieb. Obwohl er seiner Enkelin sicher eine Menge zugetraut hatte. Aber Claudia hätte niemals das nötige Geld zusammenbekommen, um das marode Kurhotel zu retten. Doch als dann eine Investorengruppe aus Frankfurt an sie herangetreten war, hatte sie ihre Chance genutzt.

Für das geplante Wellness-Resort brauchten die Investoren nämlich zusätzlich zum städtischen Grund auch die Fläche, auf dem das Kurhotel Metz mit dem Charme des Motels aus Hitchcocks Psycho auf Gäste wartete. Um ein angemessenes Entree von der Straße aus zu schaffen und um baurechtlichen Konflikten mit dem klapprigen Hotelnachbarn aus dem Weg zu gehen. Monk hatte nicht ohne Bewunderung verfolgt, wie seine frühere Schulfreundin Claudia den Geldhaien eine Teilhaberschaft und den Posten der Hoteldirektorin abgehandelt hatte.

Jenny van Dooren winkte Monk nach draußen. Er versprach Claudia, sein Bestes zu tun, und folgte dem Pferdeschwanz.

»Nach Ihrer Bemerkung eben ist der Mann also an einer natürlichen Todesursache gestorben?«

»Bis jetzt gibt es jedenfalls keine Anhaltspunkte für ein Verbrechen.«

»Wäre nur die Frage, wie er ohne Schlüssel in den Trakt kam.«

»Und wieso er nur auf Strümpfen dahin ist«, gab Monk zu.

»Vielleicht haben sie hier keine Badelatschen.«

»Sehr witzig, Frau Kollegin. Haben Sie seine Personalien besorgt?«

»Und seine Suite versiegelt, Herr Kollege. Gehen wir hin?«

Monk nickte. »Wenn Sie dann bereit wären, Ihr Wissen mit mir zu teilen?«

»Werner Schmickler, geboren 30. März 1955, wohnhaft Mülheim-Kärlich, Meisenweg 29b.«

»Beruf?«

»Er war Inhaber eines größeren Betriebs für Sanitär- und Heizungstechnik, hat den Laden aber vor ein paar Jahren verkauft.«

»Und bringt die Kohle jetzt in solchen Suiten durch. Handwerker müsste man sein.«

»Die Suite kostete ihn keinen Cent. Er arbeitete nebenher als Hoteltester.«

»Oh Mann, die Schlagzeilen-Texter werden jubeln. Arme Claudia.«

Sie fuhren mit dem Personalaufzug zurück in den siebten Stock. Neben den Behandlungsräumen, der Saunalandschaft und dem Spa hatte man hier oben drei exklusive Wellness-Suiten mit Hydromassagewanne, Dampfbad, Solarien und Lichtduschen eingerichtet, deren luxuriöse Ausstattung nur noch von der darüber gelegenen Fürstensuite – einem Penthouse mit Dachgarten und eigenem Pool – übertroffen wurde.

»Stammt Ihre Familie eigentlich aus Holland?«, fragte Monk, während Jenny das Siegel abnahm und die Tür zur Suite von Werner Schmickler aufschloss. Die Stimmung im Aufzug war eisig gewesen, und er wusste, dass ganz allein er dafür die Verantwortung trug.

»Meine Großeltern, oder Urgroßeltern, keine Ahnung«, antwortete sie knapp.

»Ich finde es sehr wichtig zu wissen, wo man herkommt.« Monks Satz kam direkt aus dem Herzen, klang aber wie aus dem Großen Buch der Merksätze für Oberlehrer. Da würde wohl kaum mehr was zu retten sein. Scheißtag.

»Ich komme aus Friedberg. Und man sollte auch wissen, dass es nicht Holland, sondern Niederlande heißt.«

»Schon okay«, sagte Monk resigniert und betrat die Suite.

Überrascht von der Größe und Ausstattung der Räume blieben sie eine Weile an der Türschwelle stehen. Auch hier war ein bis zum Boden reichendes Panoramafenster eingebaut. Direkt davor stand frei eine große Badewanne mit Massagedüsen.

»Warum schleicht sich einer nachts in die Behandlungsräume, wenn er so ein Ding in seinem Zimmer stehen hat?«, fragte Monk ungläubig.

»Vielleicht sind hier keine Solebäder möglich. Und ihn hat irgendein Hautproblem gequält.«

Er schaute sie irritiert an. »Ein Hautproblem, hm.«

»Gott, was weiß ich. Vielleicht war er auch einfach nur besoffen. Ich weiß nicht, wie solche Typen ticken.«

Sie durchstreiften die Suite. Dafür, dass Schmickler erst vor einem Tag angereist war, herrschte schon ein erstaunliches Chaos. Überall lagen gebrauchte Kleidungsstücke, Bonbonpapiere, Zeitungsteile und andere Kleinigkeiten herum.

»Da hat der Herr Schmickler in der Badekammer aber deutlich mehr Ordnungssinn bewiesen«, sagte Jenny van Dooren.

»Entschieden mehr«, bestätigte Monk und nickte. Das hatte sie gut beobachtet. Er ging weiter in den Wohnbereich. »Seine Quelle«, sagte er und wies auf eine leere Flasche Rotwein auf dem Couchtisch. In dem Burgunderkelch daneben befand sich noch eine Pfütze mit etwas Weinstein. Monk ging vor dem Glas in die Hocke und winkte van Dooren zu sich. »Sehen Sie das?«

»Auf dem Glas? Nein, ich sehe nichts.«

»Genau. Nichts. Keine Lippenspuren, keine Fingerabdrücke. Aber die Schale mit dem Gebäck dort ist fast leer. So fett- und krümellos kann ja wohl das leichteste Wellnesszeug nicht sein.«

Die junge Polizistin sah sich um und ging zu einem edlen Sideboard, in dem eine Phalanx von Gläsern für diverse Getränkearten bereitstand. Sie wollte zum Hoteltelefon greifen, besann sich aber und nahm ihr Handy, während Monk weiter hinten neben einer Liege eine Aktentasche entdeckte.

Er zog Einmalhandschuhe aus seiner Jacketttasche und streifte sie über, ehe er die Tasche öffnete. Ein Päckchen Taschentücher und ein Ordner. Er holte ihn heraus und begann zu blättern.

Nach ihrem Telefonat kam Jenny van Dooren zu ihm und schaute ihm über die Schulter. »Was ist das?«

»Anscheinend haben wir es mit einem Schriftsteller zu tun.« Er blätterte auf die erste Seite zurück.

»Bring mir die Asche der dänischen Königin. Kriminalgeschichte von Werner Schmickler«, las sie laut.

»Außerdem liegt ein Einladungsbrief für Schmickler im Ordner. Von der Zeitschrift Der Kurbad-Kompass. Wenn ich richtig verstanden habe, wollen die in einem Kurzkrimi-Wettbewerb ihren neuen Chefredakteur bestimmen. An diesem Wochenende.«

»Und wo?«

»Richtung Wehrheimer Wald. Schlosshotel Raabe. Ab 9.30 Uhr.«

»Also ab jetzt.« Sie hielt ihm ihre Armbanduhr vor die Nase, und er fluchte leise. Ihren fragenden Blick ignorierte er. »Und was haben Sie da hinten herausgefunden?«

»Der Inventarliste zufolge fehlen zwei Weingläser. Ich habe alle Müllkörbe gecheckt. Kein Glas, nicht mal eine Scherbe. Dafür schaute aus seinem Kulturbeutel das hier heraus. Digitalis. Schmickler war herzkrank.«

»So ein Mist. Ich habe an diesem Wochenende für so etwas gar keine Zeit.«

»Ich weiß.« In ihrem Blick mischten sich Mitleid und Belustigung.

»Dass es in dieser Stadt jeder weiß, macht den Irrsinn für mich komplett.« Monk presste die Lippen aufeinander. Das hatte jetzt doch beinah mitleidheischend geklungen. Er räusperte sich. »Also mal sehen. Was haben wir? Einen Hoteltester, der sich mit zwei Gläsern parallel betrinkt. Anschließend lässt er die Gläser verschwinden und ersetzt sie durch ein Alibiglas, ehe er in die Bäderabteilung einbricht, um sich ein ausgedehntes Solebad zu gönnen. Gut gegen Neurodermitis, aber Gift für Herzkranke. Ach ja, und er hinterlässt sein Schlafzimmer wie Sau, aber in der Bäderabteilung legt er seine Sachen zusammen wie ein Soldat mit Schiss vor der Spindkontrolle. Also, wissen Sie was, Frau van Dooren, ich möchte die Sache gerne zu den Akten legen.«

»Aber ...« Sie sah ihn erstaunt an.

»Ja?«

»Aber das geht doch nicht. Sie müssen doch weiter ermitteln!«

»Genau, Frau Kollegin, das Leben ist kein Wunschkonzert. Wir müssen beide also weiter ermitteln. Sie beschlagnahmen die Leiche, versiegeln die Suite, nein, am besten die ganze Etage. Ich fahre derweil mal kurz nach Hause, fordere aber von unterwegs aus die KTU und den Rechtsmediziner an. Wenn Sie hier fertig sind, fahren Sie zum Schlosshotel. Aber Sie gehen noch nicht rein, sondern warten auf mich. Ich komme so schnell wie möglich nach.«

»Unmöglich. Ich muss zurück zur Hauptstraße, Herr Monk. Der Polizeiposten ist schon seit Stunden unbesetzt. Alle Kollegen sind wegen des Elvis-Festivals im Streifendienst.«

»Und ich bekomme im Augenblick keinen Kripokollegen zur Unterstützung. Ich verlasse mich auf Sie!«

»Ich fühle mich geehrt.«

»Frau van Dooren!«

»Nein wirklich! Nach allem, was man in der Zeitung so über Sie liest.« Sie sah ihn mit betont unschuldigem Blick an.

Monk öffnete den Mund, schloss ihn wieder und winkte resigniert ab.

Eine gute Stunde später lenkte Monk sein silbernes 81er Datsun-Coupé auf den Waldpfad, der in langen Windungen zum Schlosshotel Raabe führte. Van Dooren wartete in einem Seitenweg vor dem schmiedeeisernen Tor. Monk nickte ihr zu, während er im Schritttempo an ihr vorüberfuhr, um den Lack seines Wagens nicht durch aufspritzenden Split zu beschädigen. Ihr Handgelenk, das sie demonstrativ hochgehoben hatte, um anklagend auf ihre Uhr zu tippen, sank in Zeitlupe herunter, und sie starrte ihm ungläubig hinterher.

Als sie ihren Wagen vor dem Schlossportal neben seinem Datsun abstellte und ausstieg, schienen elektrische Ströme ihr Gesicht zu durchzucken. Sie kämpfte auf heroische Weise, das hätte selbst Monk zugeben müssen, aber schließlich verlor sie doch und musste so heftig herausprusten, dass ihr sogar etwas Schnodder aus der Nase tropfte, während sie weiter lauthals lachte und mühsam nach Luft schnappte.

Monk zog mit süßsaurer Miene ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und hielt es ihr hin.

Sie nahm es dankbar nickend an und putzte sich, immer noch von kurzen Glucksern geschüttelt, die etwas stupsig geratene Nase. »Entschuldigen Sie, Herr Monk, bitte ganz ehrlich um Entschuldigung«, japste sie Silbe für Silbe heraus und zeigte auf seinen Anzug. »Aber ... aber das ist nicht Ihr Ernst, oder?« Sie brach erneut in ein unbändiges Lachen aus.

Davon angelockt erschien der Portier des Schlosshotels an der Tür und sah Monk mit unbewegter Miene an, wie es sich für einen Mann seines Metiers gehörte.

2. Kapitel

Der tugendhafte Dengler. Auf seine Art war er doch ein schräger Typ. Stil hatte er zwar, und das hieß schon etwas in einer stillosen Welt. Aber er hatte einfach keine klare Linie, so wenig wie ein Architekt, der alle Epochenstile wild durcheinander mischt. So stand er jetzt da in seinem Tweed-Anzug, mitten in dem auf englische Club-Bibliothek getrimmten Salon des Schlosshotels. Absolut 19. Jahrhundert. Aber dann auf dem Tisch vor ihm dieses riesige Goldfischglas mit den weißen Pappkapseln darin, in denen Zettelchen mit ihren Namen steckten. Das war wiederum perfekt kopierte Fernsehkultur des 20. Jahrhunderts, Sportschau, Ernst Huberty, Pokalauslosung. An solchen Kuriositäten hatte Dengler Spaß. Na ja, irgendwie liebenswert. Aber gut auch, dass er bald abtrat. Denn das 21. Jahrhundert würde er stilistisch sicher nicht mehr erreichen.

Götz Keitels Gedankenstrom zerstob in den Schallwellen eines grässlichen Geräuschs. Der junge Hecker hatte seine Beine von der einen Lehne seines ochsenblutfarbenen Sessels auf die andere geworfen und dabei ein unerträgliches, knarzendes und quietschendes Ledergeschmurgel erzeugt. Nur Luftballons hatten eine üblere Wirkung auf Keitels empfindsames Gehör. Konnte dieser miese, kleine Karrierist nicht mal fünf Minuten ruhig sitzen?! Eines Tages würde er ihn, nein, nein, Keitel durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. Das bezweckte der Ehrgeizling mit seinem Herumgehampel doch nur!

»Bevor wir mit der Auslosung Ihrer Lesepositionen beginnen, möchte ich Sie mit dem Ablauf unseres kleinen Wettbewerbs vertraut machen«, hob Dengler jetzt an. »Die Vorleserunden beginnen heute und morgen jeweils um zehn und um fünfzehn Uhr hier in der Bibliothek. Pro Termin werden jeweils zwei Geschichten vorgelesen. Da der Kollege Schmickler es offenbar doch vorgezogen hat, nicht teilzunehmen, ist jetzt eine Kapsel zu viel im Glas. Wir legen den Namen dann einfach beiseite. Ohne Herrn Schmickler werden wir den Sieger oder die Siegerin nun schon am Sonntagmorgen küren können. Ihre Vorlesezeit ist, wie ich Ihnen ja schon geschrieben hatte, auf fünfundvierzig Minuten begrenzt. Jeweils im Anschluss an die zweite Lesung bitte ich Sie, miteinander zwanzig bis dreißig Minuten über die vorgetragenen Geschichten zu diskutieren. Die Vorleser dürfen sich zu ihren eigenen Geschichten dabei nicht äußern.«

»Wir sollen uns von unseren Konkurrenten kritisieren lassen?«, fragte eine zittrige Stimme.

Da war sie ja schon, die Heulboje, dachte Keitel. Uwe Weinrich, der leider gleich im Sessel neben ihm saß, hatte natürlich schon jetzt die Hosen voll. Dabei sollte selbst ihm klar sein, dass er hier keine Chance hatte und Dengler ihn nur aus Mitleid eingeladen haben konnte.

»Ganz genau, lieber Herr Weinrich«, nickte Dengler der Heulboje aufmunternd zu. »Damit komme ich zu den Auswahlkriterien. Wie Sie wissen, muss ein guter Chefredakteur nicht nur gut schreiben können, er muss auch ein kompetenter Leser sein. Und vor allem: Er muss Kritik so üben können, dass sie den Kritisierten nicht vernichtet, sondern aufbaut, ihm Wege aufweist, wie er sich und seine Texte verbessern kann.«

Und wieder musste Keitel aufpassen, dass er nicht laut aufstöhnte. Elendes Gutmenschenwischiwaschi. Entweder man hatte es drauf, oder nicht. Man hielt was aus, oder eben nicht. Die Leute brauchten eine klare Ansage. Dass das in diesem Land einfach niemand begreifen wollte: Es war keinem damit gedient, wenn die Talentlosen immer mit durchgeschleppt wurden.

»Deshalb habe ich beschlossen«, fuhr Dengler fort, »nicht nur Ihre Kriminalgeschichten zur Grundlage meiner Entscheidung zu machen, sondern auch die Art und Weise, wie Sie auf die Texte Ihrer Kolleginnen und Kollegen reagieren. Es ist Ihnen nicht nur erlaubt, sondern ich fordere Sie ausdrücklich dazu auf, die Beiträge der anderen kritisch zu analysieren und auf kollegiale Weise Positives und Negatives zu benennen. Dieser Teil Ihrer Aufgabe wird die Wahl meines Nachfolgers zu vierzig Prozent bestimmen.«

»Oder Ihrer Nachfolgerin«, ergänzte Anna Wallner in ihrer typisch überlauten und überaufgeräumten Art.

»Oder meiner Nachfolgerin, natürlich«, lächelte Dengler.

Nachsichtig wie immer, der Alte.

»Wenn Sie dann keine Fragen mehr haben, beginne ich jetzt mit der Auslosung.«

Da zeigten sich dreißig Jahre ARD-Zuschauererfahrung. Dengler quirlte wirklich in dem Goldfischglas herum wie weiland Astrid Kumbernuss als Sportschau-Ehrengast, ehe er die erste Kapsel herausholte, öffnete und ihnen mangels einer Kamera das Namensschild direkt entgegenhielt. »Hubert Waterhuus. Und sein Lesepartner oder seine Lesepartnerin ...«, Anna Wallner nickte beifällig, Denglers Hand quirlte wieder im Glas herum und fischte die nächste Kapsel heraus, »... ist Kai Hecker.«

Das war gut, Hecker ganz früh und jedenfalls vor ihm. Keitel nickte zufrieden. Hecker gehörte zu den Besseren hier, aber Keitel würde nun die Chance haben, den möglicherweise starken Auftritt Heckers später mit seiner eigenen Lesung vergessen zu machen.

Die nächste Paarung interessierte Keitel kaum: Weinrich, die Heulboje, würde dafür sorgen, dass einem der Nachmittag verdammt lang vorkam, ehe das große, junge Talent des Kurbad-Kompass seinen Auftritt bekäme. Nina Kinzig, Heckers Mal-ja-mal-nein-Freundin. Ihre Hotel- und Bäder-Rezensionen hatten einen spritzigen, frischen Ton, aber sie war mit Mitte zwanzig sicher noch zu jung für den Chefredakteursposten. Also alles weiter gut, Keitel würde erst am zweiten Tag dran sein.

Als Dengler gerade die Hand für die dritte Runde im Glas versenkte, öffnete sich die Tür und Keitel glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. Nur die irritierten Blicke und Tuscheleien seiner Reporterkollegen bestätigten ihm, nicht an einer Halluzination zu leiden.

In der Tür stand ein Typ mit schwarzem Haar und schwarzen Cowboystiefeln – und dazwischen einem glänzenden, goldenen Anzug, dessen Nähte und Revers mit silbernen Paillettenbändern abgesetzt waren. »Ist dies hier der Kurbad-Kompass-Wettbewerb?«, fragte er mit einer dunklen, sonoren Stimme.

»Auf jeden Fall nicht der Elvis-Look-Alike-Contest«, konterte Keitel stolz über seine Schlagfertigkeit.

Im Gesicht des Goldfasans zeichnete sich plötzlich eine große Müdigkeit ab, als hätte er in seinem Leben schon zu viele derbe Scherze hätte hören müssen. Er ging ein paar Schritte weiter, eine Polizistin erschien hinter ihm.

»Sind Sie Siegfried Dengler?«, fragte sie.

Als der Chefredakteur nickte, wies der Elvis-Verschnitt auf die Tür. »Mein Name ist Monk, Kripo Friedberg. Ich würde Sie gerne alleine sprechen. »In der Zwischenzeit«, er wandte sich Keitel und den anderen zu, »bitte ich Sie, sich der Kollegin van Dooren gegenüber auszuweisen.«

»Warum sollten wir das tun?«, fragte Hecker gereizt.

»Das werden Sie etwas später erfahren«, antwortete Monk und lud Dengler ein, voranzugehen.

Kurz bevor die Tür ins Schloss fiel, gelang es Keitel aufzutrumpfen: »Ladies and Gentlemen, Elvis has left the building!«

Kinzig, Waterhuus und ein, zwei andere lachten. Keine schlechte Quote, wenn man bedachte, dass ihn mit den meisten hier eine herzliche Antipathie verband und sie eh keinen guten Witz verstanden. Eins war jedenfalls klar: Wenn sie in der Wetterau solche Freaks bei der Polizei beschäftigten, brauchte man sich hier als Täter wohl keine großen Sorgen zu machen.

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»Verzeihen Sie meine unangemessene Kleidung. Aber ich wollte es selbst übernehmen, Sie zu informieren, habe aber gleich eine anderweitige Verpflichtung, bei der ich dieses Ding tragen muss«, entschuldigte sich Monk auf möglichst komplizierte Art.

»Ich weiß schon. Bei Ihnen läuft ja gerade das European Elvis Festival. Worüber wollen Sie mich denn informieren?«

»Es geht um Werner Schmickler.«

»Oh Gott, hatte er einen Unfall? Er ist heute nicht erschienen. Ohne abzusagen.«

»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Herr Schmickler in der Nacht verstorben ist.«

»Nein!« Dengler sank auf einen Stuhl. Er hob mehrfach die Hand und öffnete den Mund, ohne einen Ton herauszubringen.

Dengler war ähnlich wie Schmickler Ende fünfzig. Trug eine zu große Brille, sein graues Haar war kurz geschnitten, etwas gewellt, korrekter Scheitel, ein leichter, aber für die Jahreszeit immer noch deutlich zu warmer Tweedanzug. Typ britischer Gentleman.

»Er war einer Ihrer Mitarbeiter«, bot ihm Monk einen Einstieg, als Dengler immer mehr in sich versank.

»Ja.«

»Ein besonders guter.«

»Nein. Ehrlich gesagt, nein.« Dengler schüttelte den Kopf, als überprüfte er noch einmal sein Urteil.

Es war ein mühsames Geschäft mit diesem Dengler. »Aber Sie mochten ihn«, versuchte Monk es weiter.

Wieder hob der Mann hilflos die Hand. »Ach, na ja, Werner ist kein ... er war kein wirklich sympathischer Mensch, aber er war die letzte Verbindung zu meiner Frau.«

Monk sah ihn fragend an.

»Sie starb vor zwei Jahren. Die Bauchspeicheldrüse. Sechs Wochen nach der Diagnose war es vorbei. Wir hatten noch ... wir wollten noch ...« Ein Schluchzen entrang sich ihm, aber Dengler fasste sich sofort wieder.

Das Ergebnis von zwei Jahren Training, dachte Monk mitleidig. Das unvermittelte Auftrumpfen einer verdrängten, unwiderruflichen Tatsache, die verzweifelte Erkenntnis, dass man nie mit ihr fertig würde. Eine Realität wie ein Fels, an dem man sich den Kopf zerschlägt. Und dann der Befehl, es wieder beiseite zu drängen, weil das Leben einfach so weitergeht, weil es sich einen Dreck darum schert. Monk hätte sein Wissen darüber lieber aus Büchern und nicht aus seinem eigenen Leben gehabt. Er musste sich beherrschen, Dengler nicht die Hand auf die Schulter zu legen. Leidensverwandtschaften. Well, I’m so lonely, I’ll be so lonely, baby, I could die. An Herzschmerzliedern hatte Elvis wahrhaftig keinen Mangel gehabt.

»Werner war ihr einziger Bruder. Er hätte Zweitklässleraufsätze schreiben können, und ich hätte ihn nicht fortgeschickt. Wie ist er ...?«

»Die genaue Todesursache ist noch nicht ermittelt. Er wurde in Bad Nauheim im Hotel Belle Epoque aufgefunden.« Monk räusperte sich. »Es gibt einige Merkwürdigkeiten. Wenn ich Ihnen ein paar Fragen stellen dürfte, würde sich manches sicher klären lassen.«

»Fragen Sie.« Dengler schaute versunken auf seine Hände.

»Wenn ich den Einladungsbrief richtig verstanden habe, den wir bei Ihrem Schwager gefunden haben, bestimmen Sie bei diesem Treffen Ihren Nachfolger. Herr Schmickler wollte auch an diesem Wettbewerb teilnehmen?«

»Unbedingt. Ich hätte ihm eigentlich sagen müssen, dass er kaum eine Chance gegen die anderen haben würde. Aber man weiß ja nie, wie einer über sich hinauswachsen kann, wenn er etwas wirklich möchte.«

»Aber laut Rezeption sind alle anderen neun Teilnehmer inklusive Ihnen bereits gestern Nachmittag angereist, und Sie hatten beim Hotel auch nur eine Kaffeetafel für neun Personen bestellt. Warum sollte Herr Schmickler erst später zu Ihnen stoßen?«

»Das geschah auf seinen eigenen Wunsch. Er wollte den Wettbewerb mit einem Testbesuch im Belle Epoque verbinden, wo es doch hier gleich um die Ecke liegt. Mein Schwager war ein Effizienz-Fanatiker. Wenn es die Fließbandarbeit nicht schon gäbe, er hätte sie erfunden.«

»Hatte Ihr Schwager ein Alkoholproblem?«

»Gott, er hat gerne Wein getrunken, aber ein Problem? Davon weiß ich nichts.«

»Aber das Trinken war nicht gerade gut für seine Gesundheit, oder?«

»Er hatte zwei Herzinfarkte, aber ob das vom Alkohol kam? Am einen Tag schreibt doch die Zeitung, dass Rotwein das Leben verlängert, und am nächsten Tag wieder das Gegenteil.«

»War er vielleicht lebensmüde? Hat er schon mal Andeutungen gemacht?«

Dengler schaute ihn erstaunt an. »›Schon mal‹ ist gut. Aber das war doch nur leeres Geschwätz. Als Doris noch lebte, versuchte er immer, ihre Aufmerksamkeit damit zu gewinnen. Doris, das ist meine Frau. Er hatte nicht viel Glück bei Frauen, wissen Sie, er war etwas, etwas, na, vielleicht: grob, ja ›grob‹ trifft es wohl. Und wenn es wieder mal schiefgelaufen war, hat er sich besoffen und nachts Doris angerufen und angekündigt, dass er sich auf die Schienen legen würde. Das war anstrengend, aber ernst haben wir das nie genommen. Meinen Sie, er hätte ...?«

»Ich versuche mir nur ein Bild zu machen, Herr Dengler. Hatte er Streit mit jemandem?«

»Leider, immer wieder. Wie gesagt, er war nicht gerade der Feinfühligste. Aber ich wüsste von nichts wirklich Schlimmem.«

Monk hasste es, so im Nebel herumzustochern. Wenigstens eine vage Richtung hatte er sich von dem Gespräch mit Dengler erhofft. Noch ein Versuch: »Wie standen denn seine Kollegen vom Kurbad-Kompass mit ihm?«, fragte er.

»Meine Reporter sind alle freiberuflich tätig. Und jeder hat sein eigenes Revier. Sie begegnen sich eigentlich nur bei unserem jährlichen Redaktionsworkshop und bei der Weihnachtsfeier. Werner war als Verwandter sicher häufiger als die anderen in der Redaktion, aber soweit ich weiß, gab es keine besonders engen Kontakte.«

»Vielleicht hat einer der Reporter im Konkurrenzkampf um Ihren Job das Maß verloren.«

»Unvorstellbar!« Dengler sprang vor Erregung von seinem Stuhl auf. »Das sind alles absolut integre Leute. Mit den meisten von ihnen arbeite ich seit Jahren, mit manchen sogar seit Jahrzehnten zusammen. Ich würde für jeden von ihnen meine Hand ins Feuer legen.«

Wie viele verkohlte Armstümpfe hätte er in seinem Polizeileben schon gesehen, wenn er die Leute beim Wort genommen hätte, dachte Monk.

»Sie glauben also, dass es Mord war?«, fragte Dengler.

»Wie gesagt, wir müssen in jede Richtung ermitteln. Derzeit liegen aber keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod vor«, sagte er beschwichtigend. »Nur noch eine letzte Frage, Herr Dengler. Warum wählen Sie Ihre Nachfolge in solch einem Wettbewerb aus?«

»Ich weiß zwar nicht, wie Ihnen das weiterhelfen soll ...« Dengler stutzte, als hätte Monk eine absolute Selbstverständlichkeit in Frage gestellt. »Mein Lehrer – der zugleich mein Vater war, Edmund Dengler – hat immer gesagt, der wahre Journalist beweist sich erst in der großen Form. Aber die große Form ist für den Journalisten nicht der Roman – wenn Sie mich fragen, es wäre besser, wenn Journalisten nicht immer glaubten, sie müssten der Welt auch noch einen epochalen Roman hinterlassen –, die große Form für den Journalisten ist die Kurzgeschichte. Sie ist nah an der Reportage. Sie bringt das Wesentliche verdichtet zum Ausdruck. Und sie berichtet von einem besonderen Augenblick in einem sonst vielleicht vollkommen unaufgeregten Leben. Deshalb der Kurzgeschichten-Wettbewerb. Und da ich meine, dass dem Kurbad-Kompass ein wenig Spannung guttäte in einer Zeit, die immer mehr auf das Spektakuläre setzt, habe ich mir von meinen Reportern Kriminalgeschichten gewünscht.«

»Ein ziemlich ungewöhnliches Verfahren. Oder gibt es so etwas häufiger?«, wunderte sich Monk.

»Es ist ungewöhnlich, weil unser Magazin ungewöhnlich ist. Die Geschichte des Kurbad-Kompass reicht bis ins neunzehnte Jahrhundert zurück. Mein Vater, mein Großvater, mein Urgroßvater, sie haben diese Unternehmung nur sicher durch die Wirren der Zeiten steuern können, weil sie das Blatt immer wieder neu erfunden haben.«

Monk staunte, wie sich der eben noch so zerstörte Dengler jetzt an der großen Tradition seines Kurbad-Kompass wieder aufrichtete. »Dann fürs Erste vielen Dank«, sagte Monk. »Wir melden uns, wenn wir die Ergebnisse der rechtsmedizinischen Untersuchung haben und die Lei... die sterblichen Überreste Ihres Schwagers freigegeben werden.«

»Ja«, Dengler schien für eine Sekunde wieder in seiner Trauer zu versinken, aber dann stellte er doch noch eine Frage: »Sagen Sie, haben Sie im Gepäck meines Schwagers eine Geschichte gefunden?«

»Ja, so etwas haben wir gefunden.«

»Ich würde sie hier gerne vorlesen. Im Gedenken an ihn. Wäre das möglich?«

»Im Augenblick kann ich Ihnen das nicht versprechen. Aber ich kümmere mich.«

»Vielen Dank, Herr Kommissar. Und Ihnen viel Glück für das, was Sie noch vorhaben.« Er wies auf Monks goldenen Anzug, und Monk schaute erschreckt auf seine Uhr.

»Sie entschuldigen mich«, sagte er. Er öffnete die Tür zur Bibliothek und schob nur schnell den Kopf hinein: »Frau van Dooren, ich muss los. Wir treffen uns gegen Mittag im Polizeiposten.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte er sich um und lief los.

Das Grinsen der Kurbadreporter nagte an seinem Nacken.

3. Kapitel

Das billige Elvis-Imitat hatte noch einmal seine Nase ins Zimmer gesteckt und war davongerauscht, ohne wenigstens einen einzigen ordentlichen Hüftschwung zu zeigen. Schlimm, wer sich so alles berufen fühlte, die Ikonen der Popgeschichte zu kopieren. Allerdings fand sich Keitel durch den Abgang der jungen Polizistin mehr als entschädigt. Nachdem sie enervierend umständlich alle Personalien aufgenommen hatte, hatte sie die Bibliothek mit einer kecken Drehung verlassen, die sogar ihren blonden Pferdeschwanz zum Wippen gebracht hatte.

Hecker wäre beinahe der Sabber aus dem Maul gelaufen, was auch Nina Kinzig nicht verborgen geblieben war, die Hecker seitdem mit Nichtachtung strafte. Es war und blieb ein Kindergarten, und Keitel war jetzt doch froh, seine Bemerkung über die Vorteile zu klein gewählter Uniformen heruntergeschluckt zu haben. Man durfte sich mit diesen Leuten nicht zu sehr gemein machen. Vermutlich wäre es auch ziemlich dumm gewesen, sich gerade jetzt mit den Ordnungsbehörden anzulegen.

Dengler hatte seinen Platz hinter dem Tisch mit der Glaskugel wieder eingenommen. Er schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank es gedankenverloren in kleinen Schlucken bis zur Neige, als würde er einen Schluckauf bekämpfen. Als sich ihm aber Laetitia Weidenfeld, das Seelchen mit der Lizenz zum Trösten, näherte, hob Dengler freundlich abwehrend die Hand und stand schnell auf. »Liebe Kolleginnen und Kollegen«, er machte eine Pause, um neue Kraft zu sammeln, »soeben wurde mir mitgeteilt, dass unser Kollege Werner Schmickler nicht mehr unter uns weilt. Die genauen Umstände sind noch unklar, die Polizei wird uns auf dem Laufenden halten. Sie werden verstehen, dass mir der Sinn im Augenblick wenig nach einer Fortsetzung des Wettbewerbs steht.«

Was hieß denn hier Fortsetzung, fragte sich Keitel, er war noch nicht mal losgegangen. Dengler würde doch jetzt wohl nicht … bloß wegen Schmickler?

»Es fällt mir also nicht leicht ...«

Nein, nein, nein! Das wirst du nicht tun, das wirst du nicht tun.

»... wenn ich jetzt erkläre, unser Treffen nicht abzubrechen.«

Ja! Keitel jubelte innerlich. Dengler hatte also doch Eier in der Hose, wenn es drauf ankam.

»Es wäre ganz in Werners Sinn gewesen, der, obwohl ja nur eingeheiratet, sein Engagement für den Kurbad-Kompass immer als Frage der Familienehre betrachtet hatte. Wir wollten an diesem Wochenende die Weichen für die Zukunft stellen, und wir werden dies von nun an im Angedenken an Werner Schmickler tun.«

Keitel sprang auf und begann heftig zu applaudieren. Ein paar folgten zögerlich: Hecker, Kinzig, sogar der verklemmte Weinrich und das Seelchen Weidenfeld schlugen die Patschhändchen zusammen.

Jetzt waren sie nur noch zu acht. Das war ein Fortschritt, selbst wenn Schmickler ohnehin ein talentloser Kretin gewesen war.

Dengler musste sich erkennbar einen Ruck geben, ehe er wieder in die Glaskugel griff und die letzten zwei Paarungen ausloste. Am Samstagmorgen würden sich demnach die beiden mittelalten Grazien des Kompass die Ehre geben: Anna Wallner und Laetitia Weidenfeld. Das hieß – Keitel formte jetzt innerlich vor Freude die Becker-Faust – es hieß also, dass er in der letzten Abteilung am Samstagnachmittag lesen würde, ein unglaublicher Vorteil. Und es wurde geradezu perfekt, als Jens Jensen, der tödliche Schweiger aus dem ostfriesischen Rheiderland, auf Platz Sieben gezogen wurde. Welche der beiden letzten Kapseln auch immer Dengler jetzt aus dem Goldfischglas zog, es würde Keitel sein, der als Letzter lesen würde. Denn der Träger des Namens auf dem Zettel in der anderen Kapsel war seit dieser Nacht so tot wie ein Stück Beefsteak.

Keitel würde sein Bestes geben, er würde den glorreichen Höhepunkt dieser Leserunde setzen, der die zuvor gelesenen Geschichten heller überstrahlen würde, als ein goldener Elvis-Anzug in der Sonne glänzen konnte. Ja, das war eine sehr gute Formulierung, ein absolut treffender Vergleich, Keitel ließ seine Handgelenke knacken, Keitel war in Höchstform, er würde sich das später in der Pause sofort notieren, das würde er bestimmt noch mal in einem Text verwenden können.

»Gut, nachdem die Reihenfolge nun feststeht, sollten wir keine Zeit verlieren und mit dem Vorlesen beginnen. Vielleicht wird uns das ein wenig ablenken«, erklärte Dengler mit leiser Trauer in der Stimme. Ich bitte also nach vorne«, er überprüfte seine Liste, »unseren lieben Kollegen Hubert Waterhuus.«

Man kannte Waterhuus eigentlich nur mit Tweedjackett. Diese Vorliebe teilte er mit Dengler, auch wenn Waterhuus, ziemlich genau zehn Jahre jünger als der Chefredakteur, es in aller Regel mit einem Paar Blue-Jeans kombinierte. Für den August war ihm das Jackett allerdings offenbar zu warm gewesen, und er trug nur ein weißes Two-Ply-Hemd mit Umschlagmanschetten.

Waterhuus war ein sympathischer Kerl, und vielleicht war das der Grund, warum Keitel ihn nicht mochte. Entspannt, empathisch, wertkonservativ, humorvoll. Alles, was Keitel selbst hätte sein können, wenn er nicht von den negativen Zügen eines Charakters beherrscht worden wäre, den ihm sein Vater als Erblast mit auf den Weg gegeben hatte.

Waterhuus trat an das Vorlesepult, schüttete sich ein Glas Wasser ein, trank einen Schluck, und schaute mit einem freundlich-ironischen Lächeln in die Runde. So unaufgeregt würde er morgen auch herüberkommen, nahm sich Keitel vor.

»Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie mit meiner kleinen Erzählung in das Bad Pyrmont der vergangenen Jahrtausendwende entführen.« – Dass er »Erzählung« und nicht »Kurzkrimi« sagte, weckte in Keitel einen feinen Nervositätsstrom. Dieser superentspannte Waterhuus war erklärtermaßen ein Literaturkenner, der wusste, was einen Klassiker ausmachte. Vor dem würde er sich in Acht nehmen müssen.

»Nun fangen Sie schon an«, rief Keitel, aber es gelang ihm nicht, Waterhuus aus dem Konzept zu bringen.

»Es geht um einen jener Menschen, die fern der Heimat Tag für Tag auf den kleinen und großen Bühnen der Kurbäder stehen, und doch weiß kaum jemand etwas von ihnen und ihren kleinen und großen Tragödien. Meine Geschichte heißt: ...«

Gelatine. Eine Kuranwendung

Der Himmel lag schwer über den Dächern Bad Pyrmonts. Seit einer Woche hatte sich die Wolkendecke keinen Millimeter fortbewegt. Es sah aus, als begänne es jede Sekunde zu regnen. Aber es regnete nicht. Die Nervosität wuchs. Immer wieder gruben die Kurgäste ihre Knirpse aus den Handtaschen, ließen Stockschirme aufschnappen, hasteten unter Palmendächer, weil gerade irgendwer im Park einen Tropfen auf der Stirn gespürt zu haben meinte.

Regen hätte alles verändert. Regen hätte die Last von der Stadt genommen und die Menschen aus dem Wartestand gerissen. Gewiss wäre sogleich ein böiger Wind aufgekommen, hätte heftig an den Schirmen gezerrt, sie fortgerissen, und man wäre ganz durchnässt ins Hotel zurückgelaufen, so gut es eben ging, mit Schmerzen in den Hüftgelenken, einer Erkältung im Anzug. Aber all das wäre immer noch besser gewesen als die blauschwarzgraue Trübnis, die die Verbrechen der Nachkriegsarchitekten noch ein wenig verbrecherischer wirken ließ.

Ohne hinzusehen, fischte Laszlo mit seinen virtuosen Fingern nach einem Fruchtsaftbären mit natürlichem Vitamin C. Die Gummitiere waren der einzige Luxus, den er sich leistete. Jeden Tag eine Tüte für 4,50 Mark. Ein Kurgast hatte ihn einmal auf der Allee angesprochen, sein exquisites Repertoire gelobt und ihm einen Fruchtsaftbären aufgedrängt. Seitdem verzichtete Laszlo auf die Flasche Cola, die er seit seiner Ankunft 1985 aus einem nicht näher erklärbaren Pflichtgefühl seiner neuen Heimat gegenüber täglich getrunken hatte, und ersetzte sie durch Bärengelatine. Der Ekel, der ihn dabei erfasste, hatte sich inzwischen tief in seine Gesichtszüge eingegraben. Denn Laszlo hatte Süßigkeiten schon als Kind gehasst und nur seinen Onkeln und Tanten zuliebe in sich hineingestopft. Nun waren die Kurgäste seine Onkel und Tanten.

Laszlos feingliedrige Finger ertasteten drei Bären. Sanddorn, Zitrone, Kirsche. Er hatte irgendwann nach der zweihundertsten Tüte bemerkt, dass die Bären, drückte man sie, je nach Sorte unterschiedlich stark nachgaben. Unvorsichtigerweise hatte er bei einer Probe davon erzählt und war im selben Moment zum Gespött des Orchesters geworden. Er, der Orchesterleiter.

Der Kontrabassist bot ihm bis ins Falsett lachend eine Wette an. Um seine Autorität zu wahren, bestimmte er mit verbundenen Augen die Bären einer ganzen Tüte. Fehlerquote: Null. Er gewann hundert Mark, doch er verlor die Würde seines Amtes. Sobald das Kurorchester im Frühling auf fünfzehn Mitglieder aufgestockt wurde, gaben die Festangestellten nicht eher Ruhe, bis er den aus Russland, Rumänien und Bulgarien angereisten Saisonmusikern sein besonderes Talent vorgeführt hatte.

Jahr für Jahr wiederholte sich von nun an diese Schmach. Und wenn er sich über die Nachlässigkeit seiner Mitmusiker erregte, wieder zu spät gekommen, Turnschuhe zum schwarzen Anzug, morgendlich zitternde Finger nach einer Nacht im Mon Cheri Club, zückte nun garantiert jemand eine Tüte und bot ihm zur Beruhigung Fruchtsaftbären an. Es war nicht einmal als Affront gemeint. Nein, sie glaubten wirklich, er würde sich auf diese Weise schneller beruhigen. Ein Dirigent und Erster Violinist, von dem man annahm, er ließe sich mit Süßigkeiten besänftigen, war keiner mehr.

Noch drei Bären. Wenn die Tüte leer sein würde, wenn er sie glatt gestrichen und auf den Stapel des Jahres 1999 gelegt haben würde, dann wäre es soweit. Laszlo würde aufstehen und hinausgehen, um die Angelegenheit zu erledigen.

Er hatte schon oft vorgehabt, die Angelegenheit zu erledigen. Eigentlich jeden Tag, wenn er mit langen Zähnen dasaß und die Gummitiere zermalmte. Aber er wusste, dass die Zeit noch nicht gekommen war. Dann musste er wenigstens über die Angelegenheit reden. Mit ihr. Wenn sie gute Laune hatte, nannte sie ihn Idiot. Er verzieh ihr das, denn sie konnte nicht wissen, was ihn noch hinderte.

Anfangs hatte sie ihn noch erschreckt angesehen, mit der Polizei gedroht, geweint, gefleht, ihm einmal sogar angeboten, mit ihr zu schlafen, wenn er dann nur Ruhe gäbe. Was er selbstverständlich ausgeschlagen hatte. Fürchten sollte sie ihn durchaus, doch schlafen sollte sie mit ihm nur, weil sie ihn begehrte. Aber sie begehrte den anderen.

Wenn man das, was man begehrt, ständig empfängt, kann man dann überhaupt noch von Begehren sprechen? Laszlo begehrte sie, mit jeder Pore seiner einstmals stattlichen, nun nach Jahren des Süßigkeitenverzehrs arg gedrungenen Statur.

Es hatte lange gedauert. Vor vier Jahren begriff er endlich, was sich buchstäblich hinter seinem Rücken getan hatte. Während er vorne am Mikrofon stand und in routinierter Raffinesse k.u.k.-monarchistische Eleganz und postsozialistische Ironie zu Conferencen verband, begann sie, am Flügel sitzend, wortlos mit Pattloch zu flirten.

Mit Pattloch! Dem deutschen Klotz am Kontrabass! Mit Wurstfingern, die jede Aufnahmeprüfung für ein Z-Orchester zur Katastrophe werden ließen! Verdammt seien alle Eltern, die ein Kind solchermaßen in die Irre gehen lassen.

Kurtreff bei Hilla