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Eva Brhel
Galgenhohle

Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Abtsmoor

 

Eva Brhel, geb. 1971, hat nach ihrer Ausbildung zur Fernsehredakteurin, nach 15 Jahren Kleinkunst (die Autorin der Stücke war sie selbst), nach acht Jahren Öffentlichkeitsarbeit, schließlich einen Krimi geschrieben. Sie lebt in Nordbaden am Rande des Kraichgaus, wo sie das Verbrechen aufspürt.

Eva Brhel

Galgenhohle

Hannah Henker ermittelt

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Originalausgabe

Für Bernd Klußmann-Nittner, † 09.01.2015,
der mir bis zum letzten Vorhang Lehrer,
Schauspielpartner und Weggefährte war.
Hab Dank, mein Freund.

Prolog

Und dann kam das Zittern. Er zitterte am ganzen Körper. Zähneklappern, Herzrasen, in den Ohren hämmerte der Puls. Eisig kroch die Kälte über den Brustkorb bis zum Hals, schnürte ihm die Kehle zu. Etwas stimmte nicht mit seinen Gedanken, sie rasten wild und durcheinander, pochten gegen die Stirn, sein Herzschlag dröhnte. Er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten, sackte zusammen. Dann machte sich ein Bild in ihm breit, und es wurde still: wildes Grün, mystisches Licht und Schattenspiele, ein tiefer Weg, umsäumt von einer Kathedrale aus Bäumen und Büschen.

»Die Galgenhohle«, flüsterte er und ein Lächeln umspielte seine Lippen.

Dann hörte er das metallene Einrasten des Hahns. Kalte Angst in Kopf und Kehle, tosendes Hämmern in den Schläfen, das Blut rauschte durch die Adern, Augenflackern, ein Krächzen: Salva me.

Dann lag er da, Blut drang aus dem Einschussloch. Eine behandschuhte Hand steckte ihm eine Buchseite in die Innenseite des blutbefleckten Jacketts.

Im ersten Morgengrauen wurde der Tote gefunden. In Nassau auf den Bahamas war das Over the Hill nicht ungewöhnlich. Aber ein Europäer, aus Deutschland – das kam selten vor. Touristen verirrten sich nie in diese Gegend. Der Polizeichef stöhnte über den bevorstehenden Aufwand und legte eine weitere Akte an, die sich zu den anderen gesellen würde. Hundert Morde pro Jahr, wer sollte dem gewachsen sein, fragte sich der Polizeichef von Nassau, bevor er sich ein Taxi rief, um sich nach Paradise Island fahren zu lassen. Diese eine Stunde am Vormittag, an einem der schönsten Strände der Welt, die würde er sich nicht nehmen lassen. Auch nicht, wenn der Europäer ein Deutscher war.

1. Kapitel

So hatte Hannah sich das nicht vorgestellt. Nachdem sie sechs Wochen auf der psychosomatischen Station C2 in Bruchsal alles über sich hatte ergehen lassen, Einzelgespräche, Gruppengespräche, Bewegungstherapie und Kunsttherapie, sogar gemeinsam organisierte Spieleabende, hatte sie nur eine Woche nach ihrer Entlassung schon wieder einen Gesprächstermin. Sechs Wochen lang hatte sie nur geredet. Über sich, über die anderen und über den Sinn. Und vor allem hatte sie dann geredet, wenn man es von ihr erwartete. Konkret, wenn die Therapeuten sie aufmunternd ansahen und ihr zunickten.

Dennoch, es hatte ihr gut getan, nach ihrem ersten Fall im Raum Karlsruhe, nach ihrem Hörsturz, nach der gescheiterten Beziehung mit Georg Kaiser, dem Karlsruher Staatsanwalt. Sie hatte gedacht, sie habe ihre große Liebe verloren. Und das hatte sie auch. Den Verlust ihrer Band Labradors, den hatte sie nicht verkraftet. Sogar jetzt, nach ihrem Aufenthalt auf der Psychosomatischen Station, wusste sie nicht, ob sie damit fertig werden würde. Die Auftritte, die Musik, ihr altes Leben – das war vorbei. Aber jetzt war sie hier. Und sie war bereit. Auch, wenn nur die leiseste Erinnerung an dies alte Leben wehtat, akzeptierte sie, dass es vorbei war. In seltenen Momenten ihrer Therapie war sie dankbar, das alles erlebt zu haben. Doch dann erwischte er sie doch, der Schmerz, mit dem sie in ihrer Therapie zu leben gelernt hatte.

Es hatte auch gute Momente gegeben, das gab sie gerne zu. Vor allem mit Philipp Waldhoff, der eine Woche nach ihr gekommen war, hatte sie sich gut verstanden. Sie hatten sich oft davongeschlichen, sich eine ruhige Ecke gesucht, Bier und Tabak immer dabei. Und dann hatten sie das Schweigen und das Verbotene genossen. Und so hatten sie sich angefreundet und ein erstes Treffen nach Philipps Entlassung in Bruchsal vereinbart. In dem Eiscafé unten in der Stadt, wo sie häufig in den sonnigen Oktobertagen gesessen, ihren Espresso gerührt, den vorbeifahrenden Autos nachgeschaut hatten und sie sich, jeder für sich, gemeinsam erholten. Manchmal, wenn die Abendentspannung vorbei war, gingen sie zu dem Italiener, nur ein paar Geschäfte vom Café entfernt, und ließen es sich bei viel Wein und italienischen Spezialitäten gut gehen. Bis um zehn Uhr abends mussten sie auf der Station sein, und oft rannten sie die fünfhundert Meter zurück, weil sie die Zeit vergessen hatten.

Aus welchem Grund Philipp sie jetzt zu seinem Entlassgespräch einlud, das konnte sie sich nicht erklären. Er wusste doch, dass sie diese Gespräche mit den Therapeuten verabscheute. Aber es sollte eben ein Mitpatient anwesend sein, damit dieser auch etwas zur Entwicklung des zu entlassenden Patienten beitrug. Also Innensicht des Patienten, Außensicht des Mitpatienten, Gruppenumarmung, und das war es dann.

Philipps Termin war auf Sonntagabend 18 Uhr gelegt worden, wahrscheinlich weil Hannah schon wieder arbeitete. Für alle Fälle hatte sie eine Flasche Whisky dabei, denn es war klar, dass sie noch mit Philipp anstoßen würde.

Wird schon werden, dachte Hannah, als sie auf den leeren Parkplatz rollte, einparkte und den Motor abstellte.

Oben auf der Station C2 angekommen lief sie direkt über den langen Flur ganz nach hinten zu dem Besprechungsraum. Die Tür stand offen. Hannah sah auf ihre Uhr. Fünf vor sechs. Sie war nicht zu spät. Dr. Niemahl saß lesend in seinem Sessel, der Tür zugewandt, den Patienten erwartend. Zögernd klopfte Hannah an.

»Frau Henker, guten Abend! Heute sind Sie aber einmal pünktlich«, sagte er mit der immer gleich monotonen Stimme, schüttelte Hannah die Hand und schloss die Tür hinter ihr.

»Ich war doch eigentlich immer pünktlich«, antwortete Hannah und ärgerte sich im selben Moment, dass sie dem Psychotherapeuten eine Vorlage gegeben hatte.

»Es war nicht meine Absicht, Sie zu verärgern. Ich wollte nur anerkennen, dass Sie so pünktlich gekommen sind. Alles andere ist Ihr Anteil.«

Unschlüssig stand Hannah vor dem schmächtigen Mann mit den kurz geschorenen Haaren, der wie immer eine dunkelblaue Hose mit einem karierten Hemd trug, dessen Ärmel er hochkrempelte.

Dies war der Raum, in dem Hannah sechs Wochen lang ihre Seele auf den kleinen Tisch geworfen, akribisch durchsucht und erforscht hatte. Hannah ließ sich unaufgefordert in den Patientensessel sinken, der ab jetzt nichts weiter als eine Sitzgelegenheit für sie war. »Wo ist denn Philipp? Der ist doch sonst immer so überpünktlich?«, fragte Hannah.

»Das empfinde ich eigentlich als therapeutischen Fortschritt, dass er einmal die Erwartungen an ihn nicht erfüllt. Ich warte jetzt schon eine Stunde auf Herrn Waldhoff. Über das Wochenende war er an sich recht zurückgezogen, aber durchaus guter Stimmung, wie ich hörte. Wir sollten einmal nach ihm sehen, meinen Sie nicht?«

»Er war über das Wochenende stationär? Warum?«, fragte Hannah irritiert nach.

»Er hatte am Freitagabend ein Treffen mit seiner Verlobten …«

»Um sich endgültig von ihr zu trennen, das hat er mir erzählt«, unterbrach Hannah den Therapeuten. »Aber was hat das damit zu tun, dass er das Wochenende auf der Station verbrachte?«

»Weil er hier einen Schutzraum vor seiner Verlobten hatte. Im Team hielten wir diese Entscheidung für klug. Meistens beruhigt sich so eine Situation wieder nach ein paar Tagen.«

»Und nur deswegen hat er ein ganzes Wochenende freiwillig auf der Station verbracht?«, fragte Hannah ungläubig.

»Liebe Frau Henker, jetzt muss ich Sie daran erinnern, dass Sie hier auf meiner Station nicht als Kommissarin agieren«, sagte Dr. Niemahl, ein feines Lächeln auf den Lippen. »Ich werde Herrn Waldhoff jetzt holen gehen. Darf ich Sie bitten, kurz vor der Tür zu warten?«

Hannah folgte dem Arzt, blieb aber bei den Stühlen gleich neben der Tür stehen. Sie wusste, dass das Zimmer von Philipp schräg gegenüber lag. Sie war gespannt, wie Philipp reagieren würde, wenn er bemerkte, dass er seine eigene Entlassung verpasst hatte.

Dr. Niemahl klopfte. Nichts. Als nach wiederholtem Klopfen keine Reaktion erfolgte, drückte er die Klinke herunter. Doch die Tür war verschlossen.

»Er ist nicht da«, registrierte der Therapeut verwundert.

»Ich ruf ihn auf dem Handy an«, sagte Hannah und zog es aus ihrer Manteltasche. Als sie das Freizeichen hörte, schrillte Philipps Klingelton aus dem Zimmer.

»Dann hat er wohl sein Handy in seinem Zimmer gelassen. Es tut mir sehr leid, Frau Henker, da sind Sie ganz umsonst gekommen«, entschuldigte sich Dr. Niemahl.

»So wie ich Philipp kenne, hätte er den Termin abgesagt. Wir sollten in seinem Zimmer nachsehen«, insistierte Hannah.

»Frau Henker, das ist unsere Verantwortung. Belasten Sie sich nicht unnötig. Das hatten Sie sich doch vorgenommen, nicht wahr?«

Hannah nickte und reichte dem Therapeuten zum Abschied die Hand. »Eine Frage hätte ich aber doch noch, Herr Dr. Niemahl. Warum sollte ich dabei sein?

Normalerweise finden die Entlassgespräche unter der Woche im Anschluss an die Morgenrunde statt. Wie kam es dieses Mal zu einer Ausnahme?«

»Uns gegenüber hat er beteuert, Sie wüssten Bescheid. Es war sein ausdrücklicher Wunsch, dass Sie ein Protokoll anfertigen«, erklärte der Arzt.

»Was für ein Protokoll?«

»Ich darf Ihnen das sagen, weil er uns gegenüber beteuerte, Sie noch am Freitag zu verständigen. Es ging um Dinge, die in der Folge zu einer Anzeige führen sollten.«

Hannah verstand noch immer nicht.

»Er wollte seinen ehemaligen Arbeitgeber anzeigen«, fuhr Dr. Niemahl schließlich fort. »Ein großer Schritt für ihn …«

Hannah lief ins Schwesternzimmer, riss den Generalschlüssel vom Haken und prallte in der Tür beinahe mit Dr. Niemahl zusammen. Sie schob ihn beiseite und war in wenigen Schritten an Philipps Zimmertür.

Der Arzt blieb konsterniert stehen und rief: »Bleiben Sie stehen! Sie dürfen sich nicht Zutritt zu dem Zimmer verschaffen, Frau Henker!«

Als Hannah nicht reagierte, forderte Dr. Niemahl mithilfe des Funks Pfleger an. Er versuchte noch, Hannah aufzuhalten, doch sie war schneller.

Sie betrat das bereits im Dunkeln liegende Zimmer. Sofort stieg ihr ein unangenehmer Geruch in die Nase. Sie schaltete das Licht ein und ging langsam ein paar Schritte in das Krankenzimmer hinein. Ein Schatten an der Wand ließ sie innehalten. Sie drehte sich zur Badezimmertür um und wich zur Wand zurück.

»Mein Gott, aber das konnte doch keiner ahnen. Er war gefestigt, dafür gab es keine Anhaltspunkte. Das werden Ihnen die Kollegen bestätigen«, sagte Dr. Niemahl, der jetzt neben ihr stand, mehr zu sich als zu Hannah.

»Sie Arschloch. Sie Riesengranatenarschloch«, stieß Hannah aus.

* * *

Es wurde Zeit für ihn. Der Mann ohne Träume begann sein Abendwerk. Die Träume waren sein wahrer Feind. Es war Wind aufgekommen, und nun peitschte kräftiger Regen gegen die Fensterscheiben. Langsam zog er sich aus, hängte seine Kleider Naht auf Naht auf den stummen Diener und lief nackt zu der unsichtbaren Pforte, die ihn zum Innersten einlassen sollte. Er drückte die Kombination, und schon öffnete sie sich einen Spalt. Er atmete ein, und ein leichter Schauer lief ihm den Rücken hinab. Es war erhaben. Das gedämpfte Licht, der leichte Geruch von Weihrauch und Myrrhe, die leisen gregorianischen Gesänge. Er trat ein, zog die Tür hinter sich zu und betätigte den Schließmechanismus. Das war Luxus. Der einzige, den er sich gönnte. Nur sonntags, am Tag des Herrn, betrat er das Innerste schon in den frühen Abendstunden.

Seine Tunika lag bereit, wartete auf ihn. Bevor er sie sich überzog, befühlte er das reine Leinen, grob, aber nicht rau. Dann, eingekleidet, ging er an dem schweren Sideboard aus dunkler Eiche entlang. Hier standen sie, in Reih und Glied, ohne ein Körnchen Staub. Er überprüfte sie, ob sie auch alle die exakt gleiche Zeit anzeigten, dann zog er sie der Reihe nach auf. Beinahe zärtlich stellte er jeden Wecker zurück an seinen Platz, nicht ohne den Zeigern eine Weile zuzusehen, ob sie sich auch bewegten.

Erst als er damit fertig war, erlaubte er es sich, die Decke anzusehen. Himmlisch, ganz wunderbar, beinahe so, als wäre er in der Sixtinischen Kapelle. Nur einen Moment lang legte er sich auf sein großes Bett, das einem Thron gleich in der Mitte aufgebahrt war, mit einem purpurnen Bezug aus Atlas und Seide eingekleidet. Es raschelte, als er die Arme zu beiden Seiten ausstreckte, die Handflächen nach oben gedreht, die Füße leicht übereinandergeschlagen. Der Mann ohne Träume kniete sich auf die Bank nieder, faltete die Hände und las: »Und ihr habt gänzlich den Zuspruch vergessen, worin euch wie Söhnen erörtert wird: Mein Sohn, achte die Zucht des Herrn nicht gering und ermatte nicht, wenn du von Ihm überführt wirst. Denn wen der Herr liebt, den züchtigt Er und geißelt jeden Sohn, den Er als den Seinen annimmt.«

Er sah zur Decke, betrachtete den Finger des David. Nur diesen Finger, kurz vor der Berührung. Niemand kannte sein Glück. Und doch war es da.

* * *

Er hing an der Stange, die in den Türrahmen des Badezimmers geklemmt war. Instinktiv hatte sie schon beim Eintreten gewusst, dass er tot war. Die Darmentleerung hatte es verraten.

Die Zunge hing heraus, die Augen waren weit hervorgetreten, dünne Spuren von Tränenfluss zeichneten sich in den Lachfältchen der Augen ab, Blut war in feinen Fäden aus der Nase gelaufen. Deutlich waren die Einblutungen der vorderen Halsmuskulatur zu sehen. Wie oft hatte sie ihm zugesehen, wenn er an der Stange Klimmzüge trainierte. Sie hatte Philipp für seine Disziplin gleichzeitig ausgelacht und bewundert.

»Wir müssen hier raus«, hörte sich Hannah sagen und schob Dr. Niemahl aus dem Zimmer. »Besorgen Sie mir eine Kanne Kaffee, ich verständige so lange meine Kollegen. Rufen Sie alle Diensthabenden im Stationszimmer zusammen. Ich will sie selbst informieren.«

Erst jetzt bemerkte Hannah, wie blass Dr. Niemahl geworden war. Er hob den Blick und sagte: »Jetzt übernehmen Sie, das habe ich verstanden. Aber bitte, im Umgang mit den Patienten …«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben in diesen Dingen Routine. Ich will mich mit Ihren Kollegen abstimmen. Mir ist klar, dass sich die Patienten hier ohnehin in einem emotionalen Ausnahmezustand befinden. Wir werden umsichtig ermitteln, das kann ich Ihnen zusagen.«

»Sie denken doch nicht an ein Verbrechen?«, flüsterte Dr. Niemahl und trat näher an Hannah heran.

»Ich denke nicht, ich ermittle. Erledigen Sie eine Sache nach der anderen, das hilft«, sagte Hannah den Satz, von dem sie nicht mehr wusste, wie oft sie ihn schon gesagt hatte. »Und entschuldigen Sie, bitte. Ich hätte Sie vorhin nicht beschimpfen dürfen.«

Dr. Niemahl nickte der Kommissarin zu und machte sich auf den Weg.

Nachdem Hannah die obligatorischen Telefonate geführt hatte, dauerte es nicht lange, bis die ersten uniformierten Polizisten vor Ort waren. Sie postierte die Kollegen vor Philipps Krankenzimmer und ging ins Schwesternzimmer, um sich mit dem Krankenhauspersonal abzusprechen. Man einigte sich darauf, die Mitpatienten im Speisesaal zu versammeln und den Polizeibeamten zu einer ersten Befragung zwei Therapeuten zur Seite zu stellen.

Als Hannah das Stationszimmer verließ, wartete Moritz Schmidt schon auf sie und drückte ohne viele Worte ihren Arm. Sie wusste diese unaufdringliche Geste zu schätzen. »Und ausgerechnet hier warst du stationär?«, wollte Moritz wissen. »Aber nicht in diesem Zimmer?«

»Nein, mein Zimmer war nebenan. Das ist der Mitpatient, von dem ich dir erzählt habe. Wir haben uns gleich vom ersten Tag an gut verstanden«, antwortete Hannah.

»Weißt du, warum er das getan hat?«

»Philipp Waldhoff hat sich nicht umgebracht. Da kannst du sicher sein«, entgegnete Hannah.

»Gibt es Anhaltspunkte dafür?«, fragte Moritz vorsichtig nach. »Ich meine, ob sich das durch die Spurenlage belegen lässt?«

»Wie soll ich das wissen? Mathias hat sich noch nicht blicken lassen, und die KTU ist gerade mal zehn Minuten hier«, antwortete Hannah.

»Immerhin besteht zumindest die Möglichkeit …«

»Unmöglich, Moritz. Ein Suizid ist ausgeschlossen. Ich war heute zu seinem Entlassgespräch eingeladen, weil er seinen Arbeitgeber anzeigen wollte. Er war gut drauf, glaub mir. Beides können die Therapeuten bestätigen. Und außerdem hat er sich mit mir für nächste Woche verabredet.«

Moritz grinste: »Und so etwas lässt man sich natürlich nicht entgehen. Kennst du das Unternehmen, für das er gearbeitet hat?«

»Das kann man wohl sagen. Für die CAP, die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft.«

»Das sind doch die, die diese Kaufhauskette prüfen. Die Besitzer haben die Immobilien an sich selbst verkauft und dann wieder an das Unternehmen für Unsummen vermietet. Und erst danach ging es mit dem Kaufhaus abwärts. Und irgendwie war diese WPG involviert. Und dieser Philipp Waldhoff …«

»Genau, Philipp war bis vor Kurzem Prüfungsleiter bei genau dieser Kaufhauskette und wollte, dass ich heute bei seinem Entlassgespräch ein Protokoll für eine Anzeige gegen sich und seinen Arbeitgeber erstelle. Nur deswegen sollte ich hier sein.«

»Und dann soll er sich kurz davor das Leben genommen haben? Praktisch für CAP«, überlegte Moritz.

»Meine Worte. Das dauert mir hier zu lange. Lass uns zu seiner Ex-Verlobten gehen«, sagte Hannah und lief schon los.

Moritz hielt sie zurück: »Das kannst du vergessen. Wir bekommen Besuch.«

* * *

So hatte er sich das nicht vorgestellt. Nachdem er beinahe anderthalb Stunden an der Bouillabaisse gearbeitet, das Fischfleisch den richtigen Garpunkt erreicht hatte, die Brühe sämig, aber noch nicht dickflüssig war und der Weißwein die richtige Temperatur hatte, wollte er jetzt genießen. Erst hatte er sein Handy überhört, aber nachdem es nicht verstummen wollte, ging er ran. Georg Kaiser hörte lange zu und gab schließlich sein Wort. Schon beim Auflegen bereute er es. Inzwischen war die Bouillabaisse über den Punkt. Der Staatsanwalt nahm den schweren Topf vom Herd, öffnete den Weißwein und trank den ersten Schluck. Nein, so hatte er sich seinen frühen Sonntagabend nicht vorgestellt. Seit einer Woche wartete er auf einen Anruf von Hannah. Er hatte es genossen, mit einer Frau nichts als Sex zu haben, nur die Wochenenden mit ihr zu verbringen.

Ende August hatte sich ihm Hannah plötzlich in Karlsruhe als die neue Hauptkommissarin vorgestellt. Doch er kämpfte zu diesem Zeitpunkt noch um seine Familie, wollte seine Frau und seine Kinder zurück. Und dann hatten Hannah und er ihren ersten gemeinsamen Fall. Als Staatsanwalt war er wegen einer schweren Grippe mehr oder weniger ausgefallen, und Hannah hatte sich wirklich gut geschlagen. Als er wieder gesund war, brach Hannah wegen eines Hörsturzes zusammen und erst dann wusste er es: Er wollte Hannah. Aber sie wollte jetzt nicht mehr. Es passe nicht mehr, hatte sie gesagt, mehr nicht. Gleich danach ließ sie sich auf der Psychosomatischen Station in Bruchsal behandeln. Das war die Situation. Er hatte gehofft, sie würde sich nach ihrer Entlassung bei ihm melden. Aber nichts. Sie wollte tatsächlich nicht. Stattdessen meldete sich der Leiter der Klinik, in der Hannah sich hatte behandeln lassen. Ein Mitpatient war in seinem Zimmer aufgehängt gefunden worden und Hannah war schon zur Stelle – und zwar mit großem Aufgebot, was den Klinikleiter auf die Palme brachte. Er hatte mit Thilo Heinz gemeinsam in Mannheim Jura studiert. Und der guten Jahre wegen, weil die Väter schon miteinander die Schulbank gedrückt hatten, wurde er jetzt gebeten, seiner Hauptkommissarin auf die Finger zu schauen, sie zur Raison zu bringen. Aber so hatte Georg sich ihr Wiedersehen nicht vorgestellt.

Er gönnte sich noch einen kleinen Schluck von dem Weißwein, holte seinen Mantel, machte das Licht aus und verschloss die Tür seiner Wohnung. Im Auto stellte er sofort das Radio an, um zu hören, ob schon über den Suizid berichtet wurde.

Eine Sache ließ ihm keine Ruhe. Sein Studienfreund Thilo Heinz hatte ihn in seiner Eigenschaft als Klinikleiter nicht nur auf die Folgen für die Klinik aufmerksam gemacht. Es war der Unterton, mit dem er ihn auf die Herkunft des Toten hinwies: Philipp Waldhoff kam nicht nur aus einer alten, finanzstarken Familie, er war selbst einflussreich. Als Wirtschaftsprüfer bei der CAP war er in so jungen Jahren schon Senior Manager und hatte insofern tiefe Einblicke in verschiedene Unternehmen. Auch entscheidende M&A-Geschäfte hatte er abgeschlossen. Das alles wusste er. Man sollte hier also ganz besonders vorsichtig agieren. Aber warum reagierte sein alter Studienfreund beinahe panisch? Was befürchtete er? Es konnte passieren, dass auch Leute wie Philipp Waldhoff des Lebens überdrüssig wurden. Wenn er seinen Studienfreund richtig verstanden hatte, schloss Hannah einen Suizid aus.

Diese Frau stellt schon lange genug mein Leben auf den Kopf, dachte Georg, als er sich auf der Abbiegespur in Richtung Krankenhaus einordnete. Georg ließ sich nicht gerne vor irgendjemandes Karren spannen, auch nicht von einem einflussreichen Studienfreund, aber schon gar nicht von Hannah. Ohne ihn konnte, nein durfte sie nichts entscheiden. Das würde er ihr jetzt schon klarmachen.

Wütend knallte er die Wagentür auf dem Parkplatz des Bruchsaler Krankenhauses zu. Als er die Journalisten vor dem Klinikeingang sah, wurde seine Laune nicht besser.

»Die hat doch tatsächlich das große Aufgebot bestellt!«, fluchte Georg und beeilte sich, an den Journalisten vorbeizukommen.

Als Georg aus dem Aufzug stieg, sah er in einiger Entfernung Hannah mit Moritz, die sich gerade in Bewegung setzten. Es entging ihm nicht, dass Moritz Hannah zurückhielt und ihn auf sein Kommen aufmerksam machte. Es versetzte Georg einen Stich, sie so zu sehen. Sie hatte die letzten Wochen abgenommen und sich offensichtlich gut erholt. Die dunklen Ringe unter den Augen waren verschwunden; es schien ihr gut zu gehen. Außerdem wirkten Hannah und Moritz wie eine Einheit. Wie das gut eingespieltes Team, das sie wohl auch waren. Es ärgerte Georg, dass die beiden stehen blieben und keine Anstalten machten, ihm entgegenzukommen, sodass er auf sie zugehen musste.

Denen geht es wohl zu gut, dachte Georg.

»Hannah, Moritz, wo können wir ungestört eine erste Besprechung abhalten?«, rief er zur Begrüßung.

Hannah bemerkte, wie müde und verknittert Georg aussah, als er schlecht gelaunt, quer über den Gang, nach einem Besprechungsraum fragte.

Sie wollte nicht auch noch über den Gang rufen, denn die Kollegen von der Streife und der SpuSi schienen bereits auf eine Fortsetzung zu hoffen. Deswegen beeilte sie sich, Georg in großen Schritten entgegenzulaufen.

»Schön dich zu sehen, Georg Wir können hier in den Gruppenraum gehen«, sagte sie. Unauffällig stieß sie Moritz an, der auch sofort nachzog und den Staatsanwalt freundlich begrüßte, während sie in Richtung des Gruppenraums gingen.

Kaum hatte Hannah die Tür geschlossen, machte sich Georg Luft: »Was hast du dir verdammt noch mal dabei gedacht? Wäre es vielleicht auch eine Nummer kleiner gegangen? Mal ganz abgesehen davon, dass wir hier in einer Klinik sind, wäre dieses Aufgebot auch in einer anderen Umgebung überdimensioniert!«

»Es war aber kein Suizid, da bin ich mir sicher«, widersprach Hannah.

»Auf welchen Tatsachen basiert deine Einschätzung?«

»Er wollte mich heute Abend bei seinem Entlassgespräch dabei haben, weil er vorhatte, Anzeige gegen seinen Arbeitgeber zu erstatten.«

»Und das hältst du für eine Tatsache? Gibt es eine Spurenlage, die das rechtfertigt? Ein Motiv, irgendetwas?«

»Die SpuSi hat doch eben erst ihre Arbeit aufgenommen! Und ein Motiv kann ich natürlich erst präsentieren, wenn …«

»Bist du noch zu retten? Du kannst doch hier nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, nur weil du mal wieder persönlich involviert bist!«

Hannah ließ sich Zeit. »Was genau meinst du mit ›persönlich involviert‹?«

»Was soll ich schon damit meinen! Es hat sich bis zu mir rumgesprochen, dass du mit diesem Philipp Waldhoff … dass du mit ihm, sagen wir, besonders befreundet warst.«

Statt Georg eine Antwort zu geben, setzte Hannah sich an den Tisch und wartete ab.

»Hannah, ich frage dich das nur ein einziges Mal: In welcher Beziehung hast du zu Philipp Waldhoff gestanden?«

Moritz durchquerte den Raum und stellte sich wortlos hinter Hannah. Sie nickte ihrem jungen Kollegen kurz zu, bevor sie dann Georg direkt in die Augen sah.

»Philipp und ich haben uns hier auf der Station kennengelernt. Wir haben uns gut verstanden, und ich kann sagen, wir standen am Beginn einer Freundschaft.«

»Und das war alles?«

»Ich weiß nicht, was du hören willst.«

»Warst du mit ihm im Bett?«

»Sag mal, das geht doch jetzt zu weit!«, fuhr sie Georg an.

»Antworte bitte einfach: Hattet ihr ein intimes Verhältnis?«

»Nein, das hatten wir nicht«, antwortete Hannah gefährlich leise.

»Wenn das jetzt nicht stimmt, Hannah, und das kommt raus … Es ist schon so, aufgrund eures gemeinsamen Klinikaufenthaltes, grenzwertig genug.«

»So wie ich das sehe, ist das ein Vorteil. Ich kannte Philipp nur ein paar Wochen. Also, wie soll es jetzt weitergehen?«

»Ganz eindeutig sind wir zuständig, das ist keine Frage. Wir müssen eine SOKO gründen, unter deiner Leitung – natürlich mit Moritz. Ihr bekommt Räumlichkeiten und personelle Verstärkung seitens der Kripo Bruchsal. Ich regle das und gebe Bescheid.«

Es klopfte an der Tür. Ohne ein Herein abzuwarten, betrat der Pathologe Mathias Sperling den Raum. Hannah sah ihm an, dass er etwas gefunden hatte.

»Ihr könnt euch beruhigen. Ich hab hier was, was euch interessieren dürfte.«

Bei diesen Worten wurde es still im Raum.

»Philipp Waldhoff wurde ermordet. Das kann ich mit Sicherheit sagen! Gute Nase, Hannah. Ohne das große Aufgebot wäre uns dieser Fall durch die Lappen gegangen.«

2. Kapitel

Mathias, warte!«, rief Hannah dem Pathologen hinterher. »Hannah, wir sind noch nicht fertig«, rief Georg.

»Nur fünf Minuten«, antwortete Hannah, schon auf dem Flur.

Kurz vor dem Aufzug erwischte Hannah den Pathologen: »Mathias, ich wollte noch was fragen.«

»Wartet doch auf den Bericht. Ich kann noch nicht mehr sagen. Eigentlich hätte ich überhaupt nichts sagen dürfen.«

»Was soll das heißen?«

»Dass ich im Grunde keinen einzigen Beleg dafür habe, dass hier Fremdverschulden vorliegt. Die Totenflecken passen nicht zu der restlichen Spurenlage, aber der Tote wurde eindeutig erhängt. Das sind alles nur Indizien, bis jetzt. Das Bett ist übrigens mehrmals in Richtung Bad geschoben worden, was weiß ich.«

Hannah packte Mathias am Arm: »Bist du total durchgedreht? Gerade hast du noch behauptet, dass Fremdverschulden vorliegt. Du hast von Mord gesprochen!«

»Ach komm schon, das war doch in deinem Sinne. Jetzt haben wir wenigstens die Möglichkeit, ein Verbrechen nachzuweisen. Einem von uns beiden wird das wohl gelingen. Das nennt man Zusammenhalten«, grinste Mathias Sperling, der im Krankenhauslicht todkrank aussah.

»Super, Mathias! Der Fall ist noch nicht mal eine Stunde alt, und ich habe mehr Druck denn je. Wir hätten das auch anders hingekriegt, hätten wir uns abgesprochen.«

»Ich hatte Lust, Georg ans Pein zu pinkeln, das war alles.«

»Das wird ja immer besser!«

Mathias forderte den Aufzug an: »Was regst du dich so auf, Hannah? Da stimmt was nicht, das habe ich sofort gesehen. Ich kann das nur noch nicht lückenlos beweisen. Und wenn ich das gegenüber Georg genau so formuliert hätte, dann würde es jetzt keine Ermittlungen geben. Also jammere nicht, fang einfach an zu ermitteln.«

Die Aufzugtür öffnete sich und Mathias trat rasch ein.

»Mathias, du tust das doch nicht, nur damit du abgelenkt bist? Annika ist doch übern Berg?«

Mathias grinste, denn die Aufzugtür war im Begriff sich zu schließen, doch Hannah stellte ihren Fuß dazwischen.

»Also?«

Mathias seufzte: »Wir müssen noch den histologischen Befund abwarten. Man kann einfach nichts tun. Annika plant eine Ausstellung mit Bildern und Skulpturen, und mir ist es ganz recht, wenn ich einen Fall auf dem Tisch habe, der mich ablenkt.«

»Redet sie denn mit dir? Zu mir ist sie so …«, Hannah suchte nach dem richtigen Wort.

»Abweisend«, schlug Mathias vor.

»Genau, sie ist so abweisend«, bestätigte Hannah.

»Lass uns ein anderes Mal darüber reden«, antwortete Mathias, stieß ihren Fuß aus der Aufzugtür und ließ Hannah ratlos zurück.

Hannah hatte Annika zwar erst im Sommer kennengelernt, aber es war, als würden sie sich schon lange kennen. Sie verstanden sich einfach gut. Manchmal kam es Hannah vor, als sollte sie im Sommer nur nach Bahnbrücken gekommen sein, um endlich eine Freundin zu finden. Und Annika hatte einmal gesagt, es komme ihr so vor, als hätte sie immer auf Hannah gewartet. Kurz nach Hannahs Hörsturz wurde bei Annika Blasenkrebs festgestellt. Hannah hatte gedacht, dass Annika sie jetzt besonders brauchen würde, doch sie zog sich zurück. In ihre Bilder, in ihre Skulpturen, in sich selbst. Hannah kam nicht mehr an sie heran.

Ich bin doch da, dachte Hannah, als sie zurück zu Georg ging, der noch immer vor dem Besprechungszimmer stand. Schnell ging sie den Flur entlang auf ihn zu. Hinter jeder Tür lagen Kranke, die entweder genesen oder sterben würden. So einfach, dachte Hannah, schwarz oder weiß, dazwischen gab es nichts.

Als sie nur wenige Schritte von Georg entfernt war, der auf dem Flur auf sie wartete, konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht interpretieren. War er wütend oder einfach nur unruhig?

»Das hat aber ganz schön gedauert!«

»Tut mir leid, Georg. Ich hatte noch ein paar Fragen, die für die Ermittlungen wichtig sind.«

»Lass uns unter vier Augen reden«, wurde sie von Georg unterbrochen und hielt ihr die Tür zum Gruppenraum auf. »Moritz befragt inzwischen das Personal.«

Hannah kannte diesen Ton nur zu gut und machte sich auf einen erneuten Angriff gefasst. War es so lange her, dass sie sich jedes Wochenende auf Georg gefreut hatte? Dass sie seine Ruhe und Ausgeglichenheit in sich aufgesogen hatte? Dass sie Lust auf ihn hatte, kaum, dass sie ihn sah oder nur an ihn dachte? Wohin war das alles verschwunden, überlegte Hannah, während sie Georg beobachtete, wie er seine Hände aneinanderrieb und ebenfalls seinen Gedanken nachzuhängen schien.

»Du hast dich nicht gemeldet.«

»Mensch, Georg, uns rennt die Zeit weg. Können wir das nicht ein anderes Mal besprechen? Ich will dringend Marlene Koch, die Verlobte, genauer gesagt, die Ex-Verlobte von …«

»Du hast mich benutzt, Hannah! Den ganzen Sommer über hast du mich hingestellt, als hätte ich dir weiß Gott was angetan. Nur, weil ich nicht gleich eine Beziehung mit dir wollte, als du hier aufgetaucht bist. Ich war verdammt noch mal mitten in einer Trennung! Und dann, als ich es konnte, da wolltest du einfach nicht mehr. Wegen der paar Wochen, die ich für mich gebraucht habe?«

Hannah dachte nur noch an Marlene Koch. Wenn sie es genau überlegte, hatte Philipp ihr nie etwas über Marlene erzählt. Vielleicht sollte sie auch deswegen selbst und vor allem als Erste die Nachricht von Philipp Waldhoffs Tod seiner Verlobten überbringen.

»Verdammt Hannah, es tut mir doch auch leid. Ich wollte dich nicht irgendwie zappeln lassen. Aber das ist einfach alles gleichzeitig passiert, und ohne die eigenen Kinder weitermachen zu müssen …«

Hannah überlegte fieberhaft, wer ihr bei Marlene Koch zuvorkommen konnte. Sie kannte sich in der Region noch nicht aus, wusste nichts darüber, wer hier mit wem verbandelt war. Wenn Marlene Koch beispielsweise nahe Verwandte unter dem Klinikpersonal hätte oder gar in der Klinikleitung, dann wusste sie wahrscheinlich bereits Bescheid. Hannah sah auf ihre Uhr. Es war schon kurz vor halb neun. Sie musste jetzt weg, egal wie.

»Sag mal, Georg, wie kommt es eigentlich, dass du so schnell hier aufgetaucht bist?«, fragte Hannah unvermittelt.

»Hast du mir nicht zugehört?«

»Du hast bestimmt mit allem recht. Und ich stimme dir auch wirklich zu«, antwortete Hannah schnell.

»Dann machen wir das so?«, trat Georg lächelnd auf die Kommissarin zu.

»Ja, von mir aus« wich Hannah schnell in Richtung Tür aus, »nur ich hab einfach keine Ruhe, bevor ich nicht bei Marlene Koch war.«

»Das verstehe ich.«

»Sag mal, jetzt weiß ich immer noch nicht, warum du so früh hier gewesen bist«, fragte Hannah in der offenen Tür noch mal nach.

»Ach, das erzähle ich dir in Ruhe. Bei dir oder bei mir?«

Verdammt, dachte Hannah, warum hatte sie nicht zugehört? Sie hielt einen Moment inne, zog die Tür wieder zu und traf eine Entscheidung.

»Ich glaube, das muss warten«, begann sie unsicher. »Wir sollten erst diesen Fall lösen. Und nicht die Arbeit schon wieder mit unserer Beziehung vermengen. Das war bereits bei meinem ersten Fall ein Problem. Okay?«

Georg nickte: »Okay, das klingt vernünftig.«

»Sagst du mir noch kurz, warum du so schnell hier warst?«, gab Hannah nicht auf.

»Mein alter Studienfreund Thilo Heinz, der Klinikleiter, hat mich angerufen und mich darüber informiert, dass du unverhältnismäßig ermittelst. Die wollen hier natürlich keine unnötige Unruhe riskieren. Mehr war es nicht.«

»Aha«, sagte Hannah, als sie die Tür endgültig hinter sich zuzog und irgendwie nicht fassen konnte, was sie schon wieder angerichtet hatte. Das Private war nicht gerade ihre Stärke. Trotzdem befand sie, dass sie sich ganz gut aus der Affäre gezogen, Zeit gewonnen und jetzt erst mal einen Fall zu lösen hatte.

* * *

Dr. Wolfram von Köhnen rückte im Gehen seine Krawatte zurecht. Es war mehr eine kontrollierende Angewohnheit denn eine Notwendigkeit, die ihn in Spannung versetzte. Er mochte das Adrenalin, das mit jedem weiteren Schritt in Richtung kleiner Konferenzraum durch seine Adern floss, bevor er eine Bombe platzen ließ. Genau diese angenehme Erregtheit brauchte er, denn sonst würde sein Auftritt wirkungslos bleiben. Ihm selbst genügte es schon zu wissen, dass er einen entscheidenden Vorsprung vor den Jungen hatte. Ihre Jugend und all ihre Intelligenz nutzten ihnen nichts, denn er war Partner – und sie wollten es werden. Das immer wieder zu spüren, war Labsal auf seiner alternden Seele.

Schwungvoll öffnete er die Tür zum Konferenzraum: »Meine Herren, bleiben Sie sitzen. Keine Floskeln, wir kommen zur Sache.«

Sofort verstummten die Männer in dem Raum, und es machte sich eine konzentrierte Stille breit. Nur die leisen Schritte Dr. von Köhnens waren zu hören, die im weichen Teppich versanken. Er glitt an den Kopf des großen Tisches, zu dessen beiden Seiten die vier Männer saßen. »Ich sage es Ihnen so, wie es ist: Waldhoff hat uns alle, jeden Einzelnen von uns, im Stich gelassen. Zuerst hat er sich wegen eines Burn-outs einweisen lassen und sich somit seiner Verantwortung entzogen. Und gestern hat er sich umgebracht. Diese Feigheit ist nicht nur eine Todsünde, sie ist eine Schande. Unsereins ist nicht am Ende. Unsereins lässt seine Kollegen nicht im Stich. Auf uns kann man sich verlassen, immer.«

Dr. von Köhnen setzte sich und holte tief Luft, bevor er weitersprach: »Philipp Waldhoff war ein Fehler. Ich verspreche Ihnen hiermit, Ihnen nie wieder solch einen schmerzlichen Fehler zuzumuten. Ich muss mich bei Ihnen allen entschuldigen. Erst jetzt begreife ich, was ich Ihnen zugemutete habe. Ab sofort, meine Herren«, von Köhnen sah einen nach dem anderen an, »will ich Ihnen allen wieder ein Partner sein, wie Sie ihn verdienen. Jetzt heißt es, zusammenstehen wie ein Mann. Gemeinsam werden wir von der CAP Mannheim diese Zeit durchstehen und gestärkt aus ihr hervorgehen. Schonen Sie mich nicht, ich bin immer für Sie da. Wir werden gemeinsam jede Aufgabe meistern, die man uns überantwortet. Die Candon, Peymour & Partner braucht jeden Einzelnen von uns. Die Gesellschaft braucht Männer wie uns. Männer, die ihre Arbeit tun, Männer, auf die man zählen kann.«

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»Nicht von schlechten Eltern«, sagte Moritz, als sie vor der Villa am Berghang standen. Unter ihnen breiteten sich im Dunkeln die Lichter Bruchsals über die kleinen Ortschaften bis nach Karlsruhe aus.

»Glaubst du, sie weiß es schon?«, fragte Hannah ihren jungen Kollegen.

»Ich fürchte, ja. Es ist immerhin schon neun Uhr. Wir werden es gleich wissen«, antwortete Moritz.

Die Ermittler gingen die Stufen hoch und besahen sich die beiden Klingelschilder. Unten stand Fam. Franz Koch, auf der oberen Marlene Koch.

»Ach, sie wohnt über den Eltern. Das hätte ich nie gewollt«, bemerkte Hannah.

»Auch nicht in dieser Lage? Wenn man schätzungsweise 160 Quadratmeter umsonst zur Verfügung gestellt bekäme, wäre das vielleicht schon eine Option«, meinte Moritz beleidigt.

»Entschuldige, ich hab nicht daran gedacht, dass du über deinen Eltern wohnst. Tut mir leid. Nur bei meiner Mutter wäre so was echt nicht machbar gewesen. Bei meinen Großeltern wäre ich wahrscheinlich auch lange geblieben«, versuchte Hannah, ihren Kollegen zu besänftigen.

»Du hast Eltern und Großeltern? Ich dachte, du hattest nur eine Band und …«

»Halt die Klappe und klingle endlich«, lachte Hannah.

Sie mussten nicht lange warten, bis die Tür geöffnet wurde.

Vor ihnen stand eine mondäne Frau mittleren Alters, die roten Locken offen über einem tiefbraunen Seidenkostüm.

»Sie sind wohl die Polizeibeamten. Darf ich mich vorstellen, Angelique Koch, ich bin die Mutter. Weisen Sie sich doch bitte aus, man weiß ja nie, heutzutage.«

Hannah und Moritz taten, wie ihnen geheißen, und beeilten sich, Angelique Koch in den oberen Teil des Hauses zu folgen. Schon das Treppenhaus verriet, dass das Anwesen größer war, als es von außen schien.

»Bitte warten Sie einen Moment. Ich werde meine Tochter kurz auf Ihr Kommen vorbereiten.« Mit diesen Worten war die Rothaarige ins Innere der oberen Wohnung verschwunden.

»Ich hoffe wirklich, dass deine Unterredung mit Georg wichtig war«, flüsterte Moritz Hannah zu.

Hannah zuckte nur kurz mit den Schultern. Dann wurden sie zu Marlene Koch vorgelassen.

»Es tut uns sehr leid, Sie stören zu müssen«, begann Hannah.

Die junge Frau saß auf einem großen Landhaussessel, der sie beinahe wie ein Kind wirken ließ. Bevor sie etwas sagen konnte, mischte sich die Mutter ein: »Sie tun zwar nur Ihre Arbeit, aber wir hätten uns sehr gewünscht, Sie hätten ein wenig mehr Pietät gezeigt.«

»Mein Name ist Hannah Henker, und das ist mein Kollege Moritz Schmidt«, trat Hannah einige Schritte näher. »Glauben Sie, wir können uns über Ihren Ex-Verlobten unterhalten?«

»Was heißt Ex-Verlobten? Meine Tochter und Philipp Waldhoff wollten im Frühjahr heiraten. Die Vorbereitungen laufen bereits auf Hochtouren. Also, ich muss Sie dringend bitten, dergleichen nicht zu wiederholen.«

»Frau Koch, können wir mit Ihnen unter vier Augen reden?«, unternahm Hannah einen erneuten Versuch, mit der jungen Frau in Kontakt zu kommen.

Sie hob kurz die Augen, als sie wieder unterbrochen wurde: »Meine Tochter hat eben erst ein starkes Beruhigungsmittel genommen. Sie ist wohl kaum in der Lage …«

»Mutter, bitte lass uns einen Moment allein. Du hast sicherlich recht damit, dass ich müde bin. Aber ich komme zurecht. Danke.«

Hannah war erstaunt über den tiefen, angenehmen Alt. Sie hatte ein dünnes Stimmchen erwartet, so schmal und unscheinbar wirkte die junge Frau. Ohne ein weiteres Wort verließ die Mutter die Wohnung.

»Bitte, setzten Sie sich doch«, forderte Marlene Koch die Beamten auf. »Also, fangen Sie an. Was wollen Sie wissen?«

Hannah und Moritz nahmen auf einer Ledercouch gegenüber dem Sessel, in dem Marlene Koch selbst saß, Platz. Erst jetzt fielen Hannah die tiefen Augenringe auf, die die junge Frau schon länger haben musste. Er hat sich tatsächlich von ihr getrennt, dachte Hannah.

»Wann haben Sie Philipp Waldhoff das letzte Mal gesehen?«, begann Moritz.

»Dieses Wochenende. Am Freitagnachmittag, um genau zu sein, haben wir uns um 16 Uhr im Schlosscafé getroffen. Umso absurder, dass er sich ... Ich verstehe es einfach nicht.«

»Wie haben Sie eigentlich von Philipp Waldhoffs Tod erfahren?«, fragte Moritz weiter.

»Mutter ist mit Thilo Heinz, dem Klinikleiter, befreundet. Er hat sie angerufen. Warum ist das wichtig?«