image

Kai Magnus Sting

Leichenpuzzle

Kai Magnus Sting, geboren 1978, schreibt Kabarettprogramme, Hörspiele, Kriminalromane, Kurzgeschichten und Kolumnen für Radio und Zeitung. Seit zwanzig Jahren ist er mit seinen Bühnenprogrammen auf Tournee, produziert Live-CDs und Hörspiele, ist im Fernsehen zu bestaunen und im Radio zu hören und hat für seine kabarettistischen Arbeiten zahlreiche Preise gewonnen.

Kai Magnus Sting

Leichenpuzzle

image

Originalausgabe
© 2015 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH,
Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: info@kbv-verlag.de
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Coverillustration: © Heiko Sakurai
Foto Kai Magnus Sting: © Friedhelm Krischer
Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
Print-ISBN 978-3-95441-238-9
E-Book-ISBN 978-3-95441-248-8

»Nachdem A gesagt hatte, dass er schon immer
der festen Überzeugung gewesen wäre,
Veränderung sei das halbe Leben, stellte er fest,
dass sich B überhaupt nicht gewandelt habe,
was diesen zutiefst erschrecken ließ
und sehr zu denken gab.«

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Prolog

Er stand nun bereits eine Viertelstunde vor dem leblosen Körper und dachte krampfhaft über die Möglichkeiten nach, den unförmigen Leichnam problemlos in kleine, appetitliche Stücke zu zerteilen.

Das war im Prinzip wie bei einem Puzzle, nur umgekehrt. Bei dem Puzzle musste man zusehen, wie man den vor einem liegenden Haufen Puzzleteilchen sortiert bekam – der Rand wurde als Erstes zusammengesetzt, dann ging es daran, die Mittelteilchen so gut wie möglich miteinander zu verbinden, sodass sie im Endeffekt ein passendes Ganzes ergaben, das sich zu einem Bild formierte. Katzenmotive, meistens Landschaften, Berge bevorzugt, Schloss Neuschwanstein.

Er dagegen musste aus einem fertigen, wenn auch leblosen Körper kleine, passende Fleischpuzzleteilchen machen. Und diese Aufgabe gestaltete sich schwieriger als angenommen. Vor allen Dingen war er noch nie ein großartiger Bastler gewesen; geschweige denn ein Hobbypuzzler.

Er blickte auf die vor ihm liegende Leiche. Es half alles nichts, da musste er jetzt durch. Die Vorbereitungen waren getroffen, den groben Holztisch in seiner Hinterhofwerkstatt hatte er vorher vorsichtshalber mit einer Abdeckplane überspannt und an den Enden mit einem ziemlich robusten Klebeband versehen, sodass sie nicht verrutschen konnte. Der Werkstattboden war mit alten Tapetenresten ausgelegt, mit denen er einst das elterliche Wohnzimmer beklebt hatte: rosa Blümchen auf beigefarbenem Grund.

Wie wohl das Wohnzimmer des Toten aussehen mochte? Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Und für den Toten erst recht nicht.

Er hatte, zugegeben, mit Blut seine Schwierigkeiten, also genauer gesagt mit Menschenblut. Mit Tierblut kannte er sich aus. Sein Onkel war Metzger gewesen und er hatte damals oft im Sommer bei Onkel und Tante Urlaub machen dürfen auf dem Dorf. In heißen und schwülen Sommern hatte so eine kleine Familienschlachterei ihren ganz eigenen Reiz. Da hatte man Urlaub, spielte den ganzen Tag in den Feldern, ließ Drachen steigen, man sah die ganzen Tiere, die der Onkel hatte, manche von ihnen ein letztes Mal, bald stieg einem dieser Viehgestank in die Nase und der Geruch nach altem, getrocknetem Blut machte sich überall breit, ein Geruch, den er selbst heute, Jahrzehnte danach, nicht vergessen hatte.

Gerüche fressen sich in Nasen wie Falten ins Gesicht.

Einmal hatte er auch den Bolzenschussapparat bedienen dürfen. Der Onkel stand selbstverständlich daneben; ein Schwein davor. Dann drückte er ab. Der Onkel stand noch immer, das Schwein lag. Dann wurde es auseinandergenommen und verwurstet. »Das, was man selber verwurstet, schmeckt immer noch am besten.« Zitat Onkel.

Er schaute auf den Toten vor sich. Verwursten wollte er ihn nicht. Auseinandernehmen schon. Er überlegte, wie man den leblosen Menschen zerteilen könnte, ohne dass es allzu viel Arbeit machte. Schließlich ließ sich nicht behaupten, dass es eine angenehme Beschäftigung sei, einen Toten übers Knie zu brechen. Er überlegte, ob er die weicheren Stellen des Körpers mithilfe eines Filzschreibers markieren sollte, um nachher, wenn es ans Sägen ging, eben jene Partien besser und schneller zu treffen. Oder sollte er den Leichnam nach alter Weidmanns Sitte aufbrechen?

Nein, nein, das wäre des Toten unwürdig. Schließlich lag da ein ehemaliges Menschenwesen vor ihm – und kein Tier. Wie sollte er weiter vorgehen? Weiche Körperpartien mit Filzschreiber markieren war auf jeden Fall nicht schlecht. Aber welcher käme da infrage? Er hatte so ein billiges Werbegeschenk einer Möbelfirma anlässlich dessen fünfzigjährigen Bestehens geschenkt bekommen, das könnte er benutzen. Und dann? Säge? Und wenn ja, welches Modell? Eine handelsübliche Säge, mit der man in der Herbstzeit auch kleinere Laubsägearbeiten durchführen konnte? Oder eine, mit der man auf Bäume klettern und sich dickerer Äste entledigen konnte? Nein, am besten wäre sicher die Kettensäge, das ging bestimmt am schnellsten.

Oder sollte er besser mit der Axt arbeiten? Das wäre deutlich problematischer und arbeitsintensiver. Die Axt hatte er bereits benutzt: Er hatte dem zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Menschen die Axt von hinten, Scheitel ziehend sozusagen, in den Schädel geschlagen. Der Mensch war natürlich auf der Stelle tot gewesen. Die Axt blutig; sie hatte ganze Arbeit geleistet.

Skalpell ging auch. Das wollte er sich aber für das Zerlegen aufheben, wenn er den Körper auseinandernehmen musste, wenn es an die Innereien ging und er feiner zu arbeiten hatte. Innereien nahm man sich nicht mit einer Säge zur Brust. Und schließlich brauchte er die Teile noch. Ihm lief das Wasser im Munde zusammen, fiel ihm doch ein, wie seine Oma früher immer Leber angebraten hatte. Mit Apfelscheiben und Zwiebeln. Oder Hühnerherzen …

Sollte er die Geflügelschere nehmen? Er dachte daran, als er noch klein war und sein erstes Hähnchen zerteilt hatte, was an und für sich recht gut geklappt hatte.

So kam er nicht weiter. Ein Blick auf die Uhr, es war schon kurz vor zwei. Beherzt griff er zum Filzschreiber, er war müde und musste in fünf Stunden wieder raus. Und dazwischen hatte er den ganzen Menschenkörper mit Filzstift zu bemalen und zu zerteilen, immerhin ein Körper von 185 Zentimetern Größe und einem Gewicht von schätzungsweise 94 Kilo. Diese Angaben allerdings mit Vorbehalt oder, wie es bei den Lottozahlen immer hieß: ohne Gewähr.

Nach einem erneuten Blick auf die Uhr legte er den Filzschreiber zur Seite und griff hinter sich ins Regal. Die Kettensäge lag gut in der Hand. In der linken Leistengegend setzte er zum ersten Mal an, dass es nur so krachte. Schon bei der rechten Leiste war er angenehm überrascht, wie schnell ihm das Zerteilen von der Hand ging. Beim Axthieb in den Hinterkopf hatte er noch ernsthafte Bedenken gehabt. Besonders, ob er überhaupt die Kraft aufbringen würde, den Menschen mit einem einzigen Schlag direkt außer Gefecht zu setzen. Was wäre denn gewesen, wenn er es nicht geschafft hätte? Wenn die Axt im Hinterkopf stecken geblieben wäre, das Opfer hätte sich umgedreht, Blut wäre ihm das Gesicht runtergelaufen und eine horrorfilmartige Verfolgungsjagd hätte stattgefunden? Nicht auszudenken! Er hätte nach solch einem Erlebnis bestimmt wochenlang nicht schlafen können.

Ein Mord musste ja schnell gehen. Da konnte man nicht vorwarnen, mal kurz Maß nehmen, schon mal probehalber ansetzen, das Opfer sachte umdrehen, um ihm dann von hinten den Schädel in zwei Stücke zu schlagen. Nein, die ganze Geschichte war ruckzuck vom Tisch. Das Opfer hatte ihm den Rücken zugekehrt, er hatte die Axt gepackt, weit ausgeholt und sie ihm fallbeilartig direkt in den Schädel gehauen. Die Axt brauste hinein, das Blut spritzte kurz und heftig auf – und gut war’s. Dann hatte er natürlich noch Bedenken gehabt von wegen Mensch und Gewalt, also Totschlag, um nicht zu sagen Mord. Und das mit den eigenen Händen. Beim Axthieb hatte er noch den ein oder anderen Skrupel. Das jetzige Zerteilen sah er vielmehr als sportliche Herausforderung.

Mittlerweile war es schon halb drei. Viereinhalb Stunden noch. Er schaute auf den Leib, von dem einige Teile bereits abgetrennt waren. Jetzt dachte er wieder an das Puzzle: den Rand links, die Mitte rechts. So hier jetzt auch, bei diesem Leichenpuzzle: Den Torso ließ er unbewegt liegen, da musste er ja auch noch dran arbeiten, die abgetrennten Teile legte er ans Kopfende des Tisches. So gesehen war hier die Körpermitte auch die Puzzlemitte, die einzelnen Körperglieder bildeten den Rand.

Er legte die Kettensäge beiseite, fischte aus seiner Hosentasche ein Taschentuch und wischte sich damit durchs Gesicht. Als er das Taschentuch wieder wegnahm und reinblickte, sah er, dass es voller Blut war. Zunächst erschrak er, dann sagte er sich aber, wie zur eigenen Beruhigung, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach das Blut des Toten sein musste. Er fasste den Entschluss, nachher erst mal ein Duschbad zu nehmen.

In einer Dreiviertelstunde würde er fertig sein, den Klebestreifen vom Tisch lösen, die Plane mitsamt der Leichenteile zusammenpacken und fürs Erste alles im Keller verstauen. Morgen würde er dann die Tapetenreste verbrennen und, wenn das zeitlich hinhaute, die Leichenstücke wieder auswickeln und schon mal die Päckchen fertigmachen.

1. Kapitel

Eigentlich begann alles mit einem Toten ohne Hinterkopf in der Badewanne. Aber der Reihe nach: Der alte Backsteinbau schien auf den ersten Blick wenig einladend und vermittelte einem unbeabsichtigt hinaufblickenden Passanten, gerade zur vorgerückten Stunde, einen eher befremdlichen Eindruck. Einige der Bewohner hatten auf den Fensterbänken Geranienkästen angebracht, rote Blüten zumeist. Die sechs Parteien, je zwei pro Geschoss, schienen sich ob ihrer Bepflanzung abgesprochen zu haben. Vielleicht auch was das weitere Interieur anging, denn soweit man es von außen her sehen konnte, hatten die Flurfenster ein und dieselbe Gardinenart, sie unterteilten die Fenster und bedeckten die untere Hälfte mit einem weißen Stoff. Auch die übrigen Fenster hatten Gardinen; kleinere Lampen, Grünpflanzen und sonstiger Fensterschmuck füllten die Fensterbänke aus und versperrten den Einblick in die Wohnstuben. Deutsche Gemütlichkeit auf 60 Quadratmetern. Nebst Schrankwand, Läufer, TV-Schränkchen, röhrendem Hirsch in Öl und Dackel (der nicht in Öl, sondern im Körbchen). Der ganze Bau war symmetrisch, links und rechts die Wohnparteien, in der Mitte die grüne Haustüre, darüber stiegen die Flurfenster hoch, und links und rechts der Flurfenster waren kleinere Fenster mit unklarem Milchglas, um so den Einblick von außen komplett zu verhindern. Mögliche Schatten hätte man wahrnehmen, Personen, Einzelheiten aber nicht erkennen können. Typische Badezimmerfenster also.

Eines dieser Badezimmerfenster stand offen, das der zweiten Etage rechts. Und dieses Fenster gehörte zu einem sehr schönen, gepflegten Bad. Blaue Fliesen bis rauf unter die Decke, die, da an dieser Seite in eine Dachschräge mündend, auch gefliest war. Und diese blauen Fliesen, die einen feinen, weißen Rand hatten und erstaunlich gut verlegt worden waren, schienen über die Jahre regelmäßig so sorgfältig geputzt und gepflegt worden zu sein, dass jeder noch so kleine Tropfen oder Staubflusen an ihnen sofort unliebsam ins Auge gesprungen wäre.

Deshalb fiel der große Blutflecken an der Fliesenstirnseite nur umso unangenehmer auf.

Es war, als hätte man einen Luftballon ziemlich prall mit Flüssigkeit gefüllt, in diesem Fall Blut, und ihn mit voller Wucht gegen die Fliesen geworfen, woraufhin ihm nichts anderes übrig blieb, als zu zerplatzen, was ein ziemlich kräftiges Blutzentrum beweisen konnte und die Restflüssigkeit folglich dazu zwang, langsam, der Schwerkraft folgend, der Badewanne entgegenzulaufen. Es war aber nicht frisches, warmes Blut. Das Blut hier war schon getrocknet und hatte eher eine Braun- als eine Rottönung. Und der tote Mann in der Wanne, der zu dem Blut gehörte, war eher blass als mit gesunder Hautfarbe ausgestattet. Blutleer fast. Natürlich, befand sich doch ein Großteil seines Blutes an der Fliesenstirnseite, etwas noch an seiner Schläfe und anderen Kopfpartien.

Das Wasser war mittlerweile kalt, noch nicht mal mehr der Hauch einer Schaumkrone war auszumachen, dafür vermischten sich zarte Blutflüsse kess mit dem leichten Blau des Wannenwassers, das Ganze einem Tuschekasten gleich. Der Mann musste seit einigen Stunden so in der Wanne gelegen haben, als sich gegen 16.30 Uhr die Badezimmertüre öffnete und seine Frau eintrat, die in der Bewegung stockte, einen Schritt zurückwich und in einem Reflex die Hände vor ihr Gesicht schlug.

Sofort hatte sie das Gefühl, als legten sich zwei unsichtbare Hände um ihren Hals und drückten ihr die Kehle zu. Sie schluckte, besser: Sie versuchte zu schlucken. Sie ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank, holte eine Flasche Mineralwasser hervor, nahm sich ein Glas von der Anrichte, schüttete es halb voll und trank in großen Schlucken. Dann ging sie wieder ins Bad, um zu überprüfen, ob das, was sie gesehen hatte, auch der Wirklichkeit entsprach.

Und es entsprach.

Wie ferngesteuert nahm sie das Telefon und wählte die Nummer der Polizei. »Ja, äh … Also … Zimmermann hier. Ich … Ich glaube, da … da ist irgendwas mit … mit meinem Mann.«

Da war nicht nur irgendwas mit ihrem Mann, ihr Mann war tot, das war mit ihm. Also war nichts mehr mit ihrem Mann.

»Was ist denn mit Ihrem Mann?«, wollte der Polizeibeamte am anderen Ende der Leitung wissen.

»Der … äh… ja, also … der … der liegt hier.«

»Wo liegt Ihr Mann?«

»Der liegt hier im … im Bad.«

»Ist Ihr Mann umgefallen? Hat er sich verletzt? Ist ihm schlecht geworden? Muss er Tabletten nehmen?«

Bei dieser Art von Verletzung halfen nicht mal mehr Tabletten.

»Nein … Er ist … Da ist so viel Blut … Das war da sonst nie. Ich putze regelmäßig … So viel Blut … Das hat er noch nie gemacht …«

Und heute auch zum letzten Mal.

»Jetzt seien Sie mal ganz ruhig.« Der Beamte schien die Tragweite der Situation zumindest in Ansätzen erkannt zu haben und versuchte, durch das Telefon zu beruhigen. »Setzen Sie sich mal hin und geben Sie mir Ihre Adresse durch, wir sind dann sofort da.«

Frau Zimmermann tat wie ihr geheißen und legte auf. Dann erschrak sie, weil sie sich im Auflegen erneut fragte, ob das, was sie da vorhin im Bad gesehen hatte, auch tatsächlich real gewesen war. So was hatte sie noch nie gesehen.

Warum lag ihr Mann da? Es war Sonntagnachmittag, da lag er sonst nie in der Badewanne, sonst spielte er mit seinen Kollegen Fußball.

Sie ging zurück ins Badezimmer. Ihr Mann lag immer noch in der Wanne, genau so, wie sie ihn vorhin entdeckt hatte. Unbeweglich. Die ganze anatomische Szene wie von Rembrandt als Stillleben festgehalten.

Das braune Blut hing an den Fliesen knapp über seinem Kopf. Und die Blutflecken in seinem Gesicht verrieten, dass er nicht schlief.

Sie setzte sich auf die Toilette neben der Badewanne und betrachtete ihren Mann. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er in seiner rechten Hand eine Pistole hielt, halb auf seinem Bauch ruhend, halb unter Wasser. Wieso war er mit der Waffe in die Wanne gestiegen? Warum wollte er sich erschießen? Warum hat er sich erschossen? Woher hatte er die Waffe?

Sie stand auf, ging zur Wanne und betrachtete ihren Mann. Nackt, blutleer und tot. Sie ging zur Stirnseite und schaute auf das Blut. Und wieder auf ihren Mann. Und dann erst sah sie seinen Hinterkopf. Das heißt das, was von seinem Hinterkopf übrig geblieben war. Die Reste seines Hinterkopfs. Denn dort, wo mal Hinterkopf gewesen war, klaffte jetzt ein großes, schwarzes, blutverkrustetes Loch. Sie starrte auf das Loch und fragte sich, wie man mit einer so kleinen Waffe ein so großes Loch erwirken konnte. Er hatte sich buchstäblich das Hirn weggefetzt. So sah es jedenfalls aus. Sie schaute auf die Fliesen hinter ihm und auf diese Melange aus Blut und Hirnmasse. Wieder legte jemand seine unsichtbaren Hände um ihren Hals und drückte langsam zu, stärker als zuvor.

Sie verließ das Bad, ging ins Wohnzimmer, steuerte auf die große Schrankwand zu, öffnete ein Schrankelement links neben dem Fernseher, förderte ein Schnapsgläschen und einen Obstbrand zutage, goss das Gläschen randvoll, hob an und leerte es in einem Zug. Sie hatte während des Trinkens die Flasche gar nicht aus der Hand gestellt, goss nun nochmals voll, hob an und leerte.

Dann erst stellte sie das Gläschen und die Flasche beiseite, ließ das Schrankelement geöffnet, man wusste ja nie, ging zur Balkontür, öffnete sie, trat auf ihren Balkon, stellte sich an die Brüstung und schrie aus Leibeskräften.

2. Kapitel

Er hatte sie seit einiger Zeit im Visier. Genau betrachtet, Entfernung abgeschätzt, die Umgebung auf sich wirken lassen, sich selbst zur Ruhe gebracht. Wenn jetzt nichts falsch lief, musste er sie haben. Die Kugel musste sitzen. Er stand unter immenser Konzentration.

Um ihn herum ging das Leben weiter, die Vögel zwitscherten in den umherstehenden Bäumen, Menschen saßen in Büros und gingen ihren Tätigkeiten nach, andere liefen über die Straße mit Einkaufstaschen in der Hand.

Eine Kugel. Ein Schuss, ein Treffer. Und aus. Vor allen Dingen musste es unerwartet passieren. Eben so, dass die anderen nicht damit rechneten. Er war ja nicht alleine. Wäre er allein gewesen, hätte er sich noch mehr Zeit lassen können, alles kein Problem. So aber stand hinter ihm der Rest; der Erfolgsdruck saß ihm im Nacken.

Er kniff die Augen zusammen, nahm ein letztes Mal Maß, sog scharf die Luft ein, holte aus und … Treffer.

Punktgenau. Besser hätte er es nicht machen können. Blattschuss, sozusagen. Er nickte, drehte sich zum Rest um und verbeugte sich kurz, woraufhin er leichten Applaus erntete.

»Ein guter Treffer, wahrlich«, so der Kommentar.

Sie trafen sich jeden Montagvormittag zum Boule.

»Den kriegen wir nicht besser hin.«

»Er hat sich ja auch lang genug vorbereitet.«

Friedrichsberg hob beschwichtigend die Hände. »Nur die Ruhe, Freunde, und kein falscher Neid. Wer kann, der kann.« Mit diesen Worten brachte er seinen wuchtigen Körper in Bewegung und sammelte die Kugeln ein.

Gewinner sammelt ein, goldene Regel. Und für Friedrichsberg kein Problem. Er sammelte gerne ein. Und oft. Eben ein Profi in Sachen Boule. Das einzige Problem für ihn war nur, aus der gebückten Haltung einigermaßen mühelos wieder in die Ausgangsposition zu kommen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelang es ihm, auch ohne dabei zu tänzeln wie eine Primaballerina im Tütü, immerhin, bei 128 Kilo und 182 Zentimetern. Er ächzte. Er war, durch seine Größe und sein Gewicht, sehr imposant und wirkte sehr mächtig, konnte er doch, wenn er einen Raum betrat, durch sein visuelles und akustisches Erscheinen sämtliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Oft wirkte er wie ein Nilpferd im Stresemann bei einer Ausstellungseröffnung: nett anzusehen und unterhaltsam, aber irgendwie deplatziert.

»Schiffswrack gehoben, zehn Mann Verlust!«, rief Straaten, als Friedrichsberg endlich wieder stand. »Mich wundert es nur, dass du nicht längst ans Verlieren denkst, nur damit du die Kugeln nicht mehr einsammeln musst.«

Wurf des Cochonnets fürs nächste Spiel.

»Dafür gewinne ich viel zu gerne.« Friedrichsberg grinste übers ganze Gesicht, fuhr sich mit der Linken über seinen Schnurrbart und kam zu der Gruppe zurückgerudert. »Neues Spiel, selbe Dame?«

»Das ist aber das letzte. Wir müssen noch was essen und in anderthalb Stunden habe ich meinen nächsten Schüler. Ausnahmsweise. Terminverschiebung.« Willi Dahl wedelte mit der Hand auf und ab. »Ich will sie nicht vernachlässigen. Also die Schüler.« Er war Lehrer an der Musikschule. Für Geige. Nebenher noch Klavier. Das aber nicht als Lehrer, sondern als Hobby. »Wer weiß, wenn das so weitergeht …«

Friedrichsberg lenkte ein: »Wie: Wenn das so weitergeht? Du als Holzquäler …«

»Violinist«, korrigierte Dahl.

»Sag ich ja.«

Straaten trieb zur Eile. »Auf, Leute, die letzte Runde. Ich hab auch schon ein leichtes Hungergefühl.«

»Hätte mich auch arg gewundert, wenn du mal kein leichtes Hungergefühl gehabt hättest.«

Merke: Montags um elf Uhr Boule, danach, meistens zwischen halb eins und eins, Mittag. Boule immer am selben Ort und das Mittagsmahl meistens auch. Im Lamm. Außer es hatte mal ein neues Restaurant eröffnet. Dann wurde das natürlich ausprobiert und der Prüfung dreier kritischer Gaumen unterzogen.

Alfons Friedrichsberg, Jupp Straaten und Willi Dahl. Sie kannten sich nunmehr seit über vierzig Jahren, hatten sich im Studium kennengelernt. Jeder fing mit demselben Studiengang an, der eine brach ab, der andere wechselte, einer behielt ihn bei. Dahl hatte das Studium als Einziger auch zu Ende gebracht; das hatte er nun davon.

Und seit einigen Jahren waren sie zusammen im Herrensingkreis. Mittwochs, 19 Uhr Herrensingkreis Rheintreue 1898 e.V. in den Gesellschaftsräumlichkeiten von Haus Aldenrath, warme Küche von 12 bis 14 Uhr und von 18 bis 22 Uhr. Wer gegen neun Uhr abends kam, musste allerdings schon damit rechnen, nichts Warmes mehr zu bekommen. Montags Ruhetag.

Jupp Straaten war Anfang sechzig und der mit Abstand Sportlichste. Regelmäßig betätigte er sich in irgendeiner Art sportlich, war demgemäß gekleidet und langte deshalb auch beim Essen immer tüchtig zu. Wie sagte man da immer: andere Verbrennungswerte. Wo Friedrichsberg gleich ordentlich zunahm, passierte bei Straaten noch lange nichts. Er war schlank und hoch gewachsen, hatte ein dünnes, fast asketisches Gesicht und trug die Haare immer ordentlich gescheitelt. Straaten hatte ihr gemeinsames Studium als Erster abgebrochen, auf Journalismus umgeschwenkt und eine Stelle bei der Zeitung angenommen. Schon zu Studienzeiten hatte er ab und zu für die örtliche Presse geschrieben, Kritiken, Rezensionen, Kolumnen und Karnickelzüchterausstellungsberichte (also es wurden Karnickel ausgestellt und nicht Karnickelzüchter) verfasst. Und irgendwann war die Arbeit so viel geworden und seine ortsbezogene Schreibbekanntheit so groß, dass er das Angebot der Zeitung, fest bei ihnen einzusteigen, nicht ausschlagen konnte und wollte. Seitdem war er Redakteur bei der ortsansässigen Zeitung.

Straaten hielt in der Bewegung inne und schaute zum Himmel. »Na ja, da hinten da braut sich was zusammen. Vielleicht überspringen wir das letzte Spiel und kehren ein bisschen früher ein.«

Es war Anfang November, der Sommer längst vorbei, der goldene Herbst lag auch hinter ihnen, es war trüb, ungemütlich, feuchtkalt und man musste jeden kleinen Sonnenstrahl nutzen. So man ihn denn nutzen wollte. Seit Wochen spielte der krumme Hund November auf der Depressionshammondorgel des Gemüts seine schaurigen Weisen.

»Stimmt«, pflichtete Dahl bei, »sieht nach Regen aus.«

Willi Dahl war recht klein, schmächtig, wirkte alles in allem gedrungen, schien immer ein wenig verunsichert und eingeschüchtert. Auch wenn er von den dreien am gesündesten lebte, so war er doch auch der, der am häufigsten krank war; einem Hypochonder gleich. Sein Gesicht hatte, auch aufgrund seiner Blässe, immer etwas Krankes an sich.

Anders der Dritte im Bunde: Alfons Friedrichsberg. Auch zunächst mit dem Musikstudium begonnen, aufgrund einiger unerfreulicher Querelen mit einigen ebenso unerfreulichen Professoren den durchaus erfreulichen Entschluss gefasst, dass es doch besser sei, eine andere, erfreulichere Zukunftsvision ins Auge zu fassen, das Studienfach gewechselt, Germanistik studiert, da gingen ihm allerdings nach kurzer Zeit die unerfreulichen Mitstudenten so gehörig auf den Geist, von den Dozenten (ebenfalls unerfreulich) sei an dieser Stelle besser nicht die Rede, dass er es nicht mehr ertrug und erneut abbrach. Er begann eine Buchhändlerlehre, schloss irgendwann ab, machte seinen eigenen Laden auf und betrieb eben diesen bis zu dem Punkt, an dem er keine Lust mehr gehabt hatte. Und das war vor einem Jahr, kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag gewesen.

Seitdem war er ein freier Mensch. Besser: Seitdem hatte er das Gefühl, ein freier Mensch zu sein. Er versuchte, spärliche Teile seines Ersparten sparsam unter die Leute zu bringen und verdingte sich als Privatier. Seine Freunde Dahl und Straaten mussten noch ein paar Jahre. Nicht wegen der Lust, sondern wegen der Rente.

Friedrichsberg hatte die Kugeln bereits in dem dafür vorgesehenen Behältnis verstaut.

»Und wer trägt den Gewinner jetzt zur Speisung?«, bellte er seine Mitspieler an.

Antwort Straaten: »Der Meister der geworfenen Kugel kennt den Weg und er kann sich selber tragen, er ist alt genug.«

image

»Wunderbar, da sind Sie ja. Auf Sie kann man sich wenigstens noch verlassen.«

Das Lamm war ein Restaurant am Rande der Innenstadt, das durch gehobene bürgerliche Küche bestach. Man bekam einen strammen Max genauso wie ein Rumpsteak, aber ein ausgezeichnetes Rumpsteak, genauso wie einen gebeizten Lachs an Blattspinat unter einem Hauch Sauce hollandaise oder ein Lammragout mit Crèmekartoffeln, Kräuterkarotten und Birnenkompott, integriert in ein Fünf-Gang-Menü oder wie das alles hieß. Es war für jeden Geschmack etwas dabei, jede Zielgruppe fand ihr Gericht, allein die typischen Schnitzelfresser und Spaghetti-Bolognese-Verschlinger konnten in dieser Lokalität nicht glücklich werden. Das Restaurant war erst knapp anderthalb Jahre zuvor eröffnet worden, hatte sich aber in dieser Zeit schon einen exzellenten Ruf erarbeitet.

Die drei wurden vom Chef persönlich begrüßt: Georg Bartolt, Besitzer des Lamm und Küchenchef, stand vor dem Eingang und breitete, als sie um die Ecke bogen, die Arme aus.

Straaten rieb sich die Hände. »Ich habe Hunger, was steht denn heute auf der Tageskarte?«

»Was ganz was Besonderes. Wie wäre es mit frischen Pfifferlingen in einer leichten mit Rauke und rotem Pfeffer abgeschmeckten Sahnesauce, dazu hausgemachte Butternudeln und ein gemischter Salat? Vorneweg eine klare Rindfleischbrühe mit Markbällchen.«

Friedrichsberg schürzte die Lippen: »Sehr schön. Erst versuchen Sie uns mit der Brühe dem tierischen Wahnsinn näher zu bringen und danach ein weiterer üppiger Schritt zur Verfettung, oder wie hab ich’s?«

Bartolt lächelte leicht diabolisch. »Sie haben mich durchschaut, meine Herren. Setzen Sie mich vorher noch als Alleinerbe ein?«

»Lohnt sich nicht, lohnt sich nicht«, winkte Friedrichsberg ab. »Und da Ihre Tötungsabsichten allesamt und absolut für die Katz sind, stimme ich Ihrer Menüfolge zu. Ein einziger Punkt macht mich stutzen.«

»Und der wäre?«, fragte Bartolt verunsichert.

»Der Nachtisch, das Dessert, der Abschluss ließ bis jetzt thematisch auf sich warten. Sie wissen doch, Nachtisch ist für mich fast schon überlebenswichtig.« Friedrichsberg strich sich über seinen Bauch und wartete gierig eine Antwort ab.

»Herrencrème mit frischen Waldfrüchten.«

Friedrichsberg strahlte übers ganze Gesicht. »Gekauft. PS: Die Waldfrüchte können Sie bei mir getrost weglassen, dafür das Doppelte an Crème, bitte. Meine Herren, wie sieht’s mit Ihnen aus?« Er wandte sich an seine Spielgefährten und erntete einstimmiges Nicken.

»Mir wär’s nur recht, wenn es …«

»Ich weiß doch, ich weiß es«, beschwichtigte der Koch in Dahls Richtung. »Ihre Schüler. Aber das kriegen wir hin.«

Die vier betraten das Gebäude. Es war sehr hell und freundlich gehalten, alte Eichendielen knarrten bei jedem Schritt, Zwischenbalken trennten die Tische angenehm voneinander ab, ließen jeden Platz zum kulinarischen Intimbereich werden, die Tische waren mit blauen Decken versehen, über dieser, quer, eine weitere, weiße Tischdecke, Teller, Besteck, weiße Stoffservietten, passend zur Decke blaue Kerzen, Bilder an den Wänden, teilweise auch auf dem Boden stehend, rundeten den Gesamteindruck perfekt ab: ein kleines, feines Etablissement der gehobenen Esskultur.

Direkt gegenüber dem Eingang an der Wand hingen mindestens fünf Dutzend eingerahmte Fotos, alte Familienfotos, Urlaubsfotos, Bilder aus der Kindheit, Jugend, Ausbildungszeit und Jetztzeit des Chefs. Mit den Eltern früher, mit Freunden, Kollegen, auch mit prominenten Gästen seines Restaurants. Da war ein Politiker dabei, ein Schauspieler und ein jodelnder Volksmusikjapaner. Eine nostalgische Fotodokumentation aus über vier Jahrzehnten Menschenleben, die viele Gäste zum kurzen Verweilen einlud und besonders Friedrichsberg jedes Mal von Neuem faszinierte. Er blieb immer kurz davor stehen, begutachtete die Bilder, immer wieder fiel ihm etwas Neues auf, er fragte nach, verglich die Fotos miteinander und hatte schlicht seine helle Freude dran. So auch heute.

»Ist das nicht Zürich?«, wollte Friedrichsberg wissen und wies mit seinem Zeigefinger auf ein kleines Foto in der linken, unteren Ecke.

»Gut beobachtet. Das ist Zürich. Da war ich mit meiner ersten Freundin. Das ist aber schon … Ach Gott, das muss ja fast dreißig Jahre her sein. Schon bald gar nicht mehr wahr. Wie wär’s mit einem hübschen Platz am Fenster?« Bartolt wies mit der Rechten in den Raum.

»Von uns aus. Wenn das nur mit der Zeit hinhaut«, fügte Dahl noch schnell an.

»Du kannst es auch gar nicht abwarten.« Friedrichsberg schüttelte den Kopf. »Anstatt dass du es deinen Schülern mal gönnst, dass du ein bisschen zu spät kommst, nein, pünktlich muss angefangen werden. Arme Kinder.«

»Ich weiß gar nicht, was du immer hast. Wenigstens habe ich noch einen anständigen Beruf.«

»Ja. Armer Irrer. Halbwegs vernünftige Menschen lassen sich schon längst die Sonne auf den Wanst braten und den lieben Gott einen guten Mann sein.« Er schaute in Richtung Bartolt. »Ich hätte gerne einen hübschen Weißwein. Und für unseren Schmalspurpaganini ein Selters.« Friedrichsberg nahm Platz an einem Tisch, den sie von Bartolt zugewiesen bekamen.

»Ich nehme auch einen Wein«, nickte Straaten dem Chef zu.

»Und ich bleibe beim Wasser. Ist schon recht. Ich muss ja noch arbeiten.« Dahl hatte sich seinem Schicksal ergeben.

Sie waren fast alleine. Außer ihnen saß nur noch einige Tische weiter ein einzelner Herr. In diesem Zusammenhang passte der Ausdruck Herr wirklich wie die Faust aufs Auge. Es war ein recht beleibter, gut gekleideter Mann, glatt rasiert, mit schwarzen, pomadigen, glatt nach hinten gekämmten Haaren. Er aß und trank, schien dabei vollkommen konzentriert und absolut bei der Sache. Neben dem Teller hatte er einen kleinen, weißen Block liegen, in den er ab und zu etwas schrieb.

Bartolt kam an den Dreiertisch, brachte die Getränke.

»Heute sind wir ja gar nicht alleine«, bemerkte Straaten leise und nickte mit dem Kopf in Richtung Fremder.

»Nein, da haben Sie vollkommen recht. Heute haben wir noch einen weiteren Gast; aber trotzdem sind es nur vier. So ist das eben montags, da haben die Leute keine Lust, essen zu gehen. Die sind noch satt vom Wochenende. Vor allen Dingen wollen sie nicht mittags essen. Und die meisten müssen eh jetzt arbeiten. Und Mittagstisch lohnt sich nicht. Die wollen was Schnelles, Leichtes. Sushi, Baguette, Wrap … Das kann ich ihnen nicht bieten.«

»Na, wenn’s Geld zum Ende der Woche reinkommt, kann es Ihnen ja egal sein.« Dahl schlürfte an seinem Selters.

»Nun, egal ist mir das nicht. Aber ich mache mir auch keinen Kopf. Wohlsein.« Bartolt nickte, machte einen leichten Diener und bog nach hinten ab. Auf seinem Weg zur Küche machte er noch Station beim Beleibten, wechselte kurz einige Worte und verschwand dann durch die Doppelschwingtüre.

»Wisst ihr eigentlich, wer das da hinten ist?« Straaten deutete vage mit seinem Kopf nach links.

»Bismarck?«, mutmaßte Friedrichsberg.

»Unsinn. Nicht der auf dem Bild an der Wand, der Dicke da in der Ecke.«

»Hm … Lass mich überlegen … Ist das nicht dieser … Herrjeh, Namen …«

»Dieser Restaurantkritiker«, mischte sich Dahl ein.

»Genau, jetzt wo du’s sagst. Der Restaurantkritiker.« Friedrichsberg nickte versonnen. Er hatte kurz zuvor noch einen Artikel von ihm gelesen. Ein ziemlicher Verriss irgendeines Restaurants. Heftig, heftig, hatte Friedrichsberg noch gedacht. »Burkunther heißt der Mann doch, oder irre ich mich da?«

»Nein, nein, du hast vollkommen recht. Der ist eigentlich ziemlich bekannt in der Szene. Hat einen Namen, der Mann.«

»Klar, Burkunther. Im Übrigen ein ziemlich blöder Name für einen Restaurantkritiker, oder? Burkunther …« Friedrichsberg ließ den Namen wieder und wieder über seine Zunge rollen, um ihn wirken zu lassen. Leise allerdings, damit eben jener nichts davon mitbekam. »Burkunther …« Er nahm einen Schluck Wein.

»Der bringt doch auch eine eigene Zeitschrift heraus, ein Magazin. Der Genießer heißt das. Hohe Auflage mittlerweile. Hat sich richtig hochgearbeitet.«

Bartolt servierte die Suppe und kommentierte das mit einem: »Guten Appetit.«

Straaten räusperte sich: »Erst war er ein kleines Licht in der kulinarischen Abteilung irgendeiner Tageszeitung, dann machte er sich vor einigen Jahren selbstständig und bringt seitdem dieses Magazin raus. Und mit seiner Meinung steht und fällt das Schicksal des beschriebenen Restaurants. Kriegst du einen positiven Bericht über deinen Laden: wunderbar, Kundschaft für die nächsten Jahre ist dir sicher. Zerreißt er dich allerdings in der Luft, und das macht er oft und gerne, deshalb ist er ja auch so gefürchtet, dann aber gute Nacht, Marie.«

Der Duft der Brühe stieg ihnen in die Nasen.

»Sag mal«, fragte Friedrichsberg zwischen Rinderkraftbrühe und Markbällchen, »woher weißt du das eigentlich alles?« Bei dieser Frage waren einige Tropfen Rindsbrühe versehentlich auf Dahls Krawatte gelandet.

»Ach, das darf ja wohl nicht wahr sein. Das gibt es doch nicht. Die Krawatte ist hin, die ist versaut. So Brüheflecken kriege ich doch nicht wieder raus!«

»Ich gebe dir das Geld für eine neue, ich habe genug Kleingeld dabei. Und die versaute war eh zu hässlich«, entschuldigte sich Friedrichsberg. »Und reg dich jetzt nicht gekünstelt auf. Gleich hast du wieder deine wehrlosen Schüler, an denen kannst du deinen Frust schon noch loswerden.« Er wandte sich an Straaten. »Also, woher weißt du das alles?«

Straaten hatte den Verzehr seiner Suppe beendet, wischte sich die Mundwinkel mit der Serviette ab, faltete sie zusammen, nippte am Wein und lehnte sich zurück. »Ich habe das Magazin doch abonniert. Und außerdem interessiert mich dieser Burkunther. Interessanter Typ. Manche kommen mit ihm nicht zurecht, einige hassen ihn, er ist wohl auf dem Weg zur Spitze auch über die ein oder andere Leiche gegangen, aber manche schätzen ihn auch. Er schreibt irgendwie sehr witzig. Am besten ist er, wenn er zerreißt.«

»Aha, soso.« Friedrichsberg war nun auch durch mit der Suppe und ließ das Gehörte wirken. »Und was macht der hier? Gut, essen, das sehe ich ja auch. Aber ob er hier nur isst oder ob er auch drüber schreiben will, das würde ich nun gerne wissen.«

»Ich denke, dass er schreiben wird, wenn er schon hier sitzt mit Block und so …«

Bartolt erschien, räumte die Suppenteller ab. »War’s zu Ihrer Zufriedenheit?«

»Sehr.« Die drei nickten gehorsam.

Bartolt wollte gerade wieder in die Küche eilen, als er erstarrte, sich seine Augen weiteten und er voller Entsetzen zu Dahl hinuntersah.

»Was … was ist los? Hab ich da was?«, stotterte Dahl.

»Ja. Ich möchte mich nur ungern einmischen, aber was ist denn mit Ihrer Krawatte? Ich denke, Sie müssen noch unterrichten.«

Straaten und Friedrichsberg mussten unwillkürlich lachen. Bartolt grinste und verschwand, und auch Dahl konnte nach anfänglichem Ärger ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

Kaum war an ihrem Tisch erneut Ruhe eingekehrt, tauchte Bartolt schon wieder aus der Küche auf und servierte dem beleibten Burkunther einen weiteren Gang. Die drei konnten nicht erkennen, um was es sich handelte. Bartolt und der Restaurantkritiker wechselten kurz ein Wort, dann verschwand der Chef des Hauses wieder in die Küche.

»Ich würde schon gerne erfahren, ob der hier testet oder nicht«, gestand Straaten.

Friedrichsberg nickte zustimmend. »Fragen wir ihn gleich doch einfach.«

»Wen? Den Kritiker?!« Dahl schien ehrlich entsetzt.

»Natürlich.« Friedrichsberg zog die Augenbrauen hoch und die Lippen zu einem O zusammen.

»Aber das geht doch nicht.«

»Warum denn nicht? Ich gehe da jetzt gleich rüber, schiebe seine Ente oder seine Gänsestopfleber oder seinen Fisch oder sein Steak oder was immer da tot auf seinem Teller liegt, beiseite, und sage: So, jetzt aber mal Butter bei die Fische, wird hier getestet oder nicht und wie schneidet unser Leib- und Magenkoch ab? Gut oder schlecht? Wenn gut, dann gut, wenn schlecht, dann Rübe ab. Aber ganz glasklar. Kann er sich selber serviert bekommen. Gourmetkopf auf Silbertablett an Kartoffelschaum, unter glasiertem Honigromanesco mit Apfel im Maul. Wohl bekomm’s.«

»Du willst wirklich zu ihm rüber?« Dahl wurde nervös.

»Mann, wir werden Bartolt fragen …« Straaten schüttelte den Kopf.

»Ach, ihr. Euch kann man auch nicht für voll nehmen.« Dahl schaute zu Burkunther hinüber. »Ich kann den irgendwie nicht leiden. Der ist mir unsympathisch.«

»Ich glaube, das ist kein Kunststück. Der ist nicht vielen sympathisch. Ah, da kommt der Hauptgang.« Straaten lehnte sich erneut zurück, breitete die Serviette auf seinem Schoß aus und ließ sich von Bartolt den Teller vor die Nase stellen.

»Sagen Sie mal«, Friedrichsberg winkte den Chef des Hauses ein bisschen zu sich runter. »Sagen Sie mal, das da drüben… das ist doch dieser Kritikertyp, oder nicht?«

»Ja, warum fragen Sie?«

»Warum ist der denn hier?«

»Vielleicht hat er Hunger?« Bartolt kniff ein Auge.

»Jetzt mal im Ernst«, setzte Friedrichsberg nach. »Testet der heute bei Ihnen oder nicht?«

»Der testet, jawohl.«

»Au. Und? Wie sieht’s aus?«

»Hm … Ganz gut, glaube ich. Er ist beim letzten Gang, es kann nun nichts mehr schiefgehen.«

»Na dann. Vielen Dank für die Informationen.«

»Gerne. Danke für das Interesse.« Bartolt ging ab.

Das folgende Verzehren der Hauptspeise verlief weitgehend ton- und kommentarlos, man ließ den Kritiker vorerst ruhen. Gefräßige Stille setzte ein.

Dann rückte Dahl mit einem neuen Gesprächsthema heraus. »In meinem Kammermusikensemble ist etwas passiert, das mich sehr erschreckt hat. Beziehungsweise uns vom Ensemble.« Pause. Die anderen sahen ihn fragend an. »Einer unserer Musiker hat sich umgebracht. Erschossen.«

»Wie: erschossen? Selbstmord oder was?« Friedrichsberg ließ von den Pfifferlingen ab und visierte Dahl konzentriert.

»Ja, Selbstmord. Gestern. Da fand ihn seine Frau tot in der Badewanne.«

»Und wer?«

»Zimmermann.«

»Zimmermann? Werner Zimmermann? Den haben wir doch letztens erst getroffen, als ihr da bei dieser komischen Schulaulaeinweihung spielen musstet. Und der soll sich erschossen haben?« Straaten schien entsetzt.

»Ja, der hat sich erschossen.«

Friedrichsberg strich sich über den Schnurrbart. »Und warum? Weiß man da was? Hat er irgendetwas hinterlassen? Einen Abschiedsbrief? Oder hatte er einen Grund sich umzubringen? War er krank? Ärger mit dem Finanzamt? Schulden et cetera?« Friedrichsberg tupfte sich mit der Serviette den Mund ab und spülte mit Wein nach.

»Nicht, dass ich wüsste.« Dahl schüttelte den Kopf. »Er hat auch nichts erzählt, nie mal was gesagt. Weißt du, wenn er mal irgendwas erwähnt hätte: Geldprobleme, Steuern nachzahlen … Oder Krankheiten, schwerere … Gut, mal eine Erkältung. Oder der Blinddarm letztes Jahr, aber alles nichts Ernstes.«

Friedrichsberg nahm einen weiteren Schluck. »Und wie sah es beruflich bei ihm aus? Gab es da Probleme?«

»Auch nicht. Also nicht, dass er uns irgendetwas erzählt hätte. Ja, er hatte das ein oder andere Mal gestöhnt: Schüler und heutige Arbeitsmoral und Faulheit und das Korrigieren der ganzen Arbeiten und die Vorbereitungen… Aber er erwähnte auch nie etwas von Stress mit irgendwelchen Schülern. Auch nicht im Kollegium. Mobbing.« Pause. Dahl überlegte. »Ich meine, wir haben ja auch nie großartig nachgehakt. Warum auch? Wir haben nichts gemerkt, vielmehr: Er hat sich nichts anmerken lassen, also da war nichts.«

»Und ob er erst kurz vor seinem Selbstmord etwas erfahren hat? Das ihn kurz vor seiner Tat etwas aus der Bahn geworfen hat?«, fragte Straaten nach.

»An einem Sonntag? Da warst du nicht beim Arzt, da kommst du nicht aus der Schule. Da könnte allerhöchstens etwas Privates vorgefallen sein«, gab Friedrichsberg zu bedenken.

Dahl zuckte mit den Achseln. »Aber was denn? Ich weiß es doch auch alles nicht. Ratlos, einfach ratlos bin ich. Wir sind alle absolut geschockt.«

»Wie hast du das denn erfahren?«

»Ich habe mit seiner Frau telefoniert. Heute Nachmittag hätten wir doch eigentlich wieder geprobt, aber heute muss ausfallen, weil das Cello Elternnachmittag hat. Und da wollte ich Zimmermann absagen. Und seine Frau sagte mir, dass er tot ist. Die ist total fertig.«

»Und was sagt die Polizei?«

»Wie: Polizei?«

»Ja, nun. Irgendwas muss doch die Polizei dazu sagen. Die müsste doch eingeschaltet worden sein, oder nicht? Kam es nicht zu Untersuchungen?«

Dahl überlegte. »Weiß ich nicht. Ich denke mal schon, dass die was untersucht, aber nichts gefunden haben. Ich meine, was soll die auch schon finden? Bei Selbstmord?«

»Ja aber glaubst du denn, dass es Selbstmord war?«

»Ja, was denn sonst?«, gab Dahl schnell zurück. Dann überlegte er erneut. Und er überlegte lange. Dann kam ein überzeugtes, energisches: »Nein. Eigentlich nein. Unmöglich. Der hatte keine Probleme. Das war doch ein absolut lebenslustiger, positiver Mensch. Ein offener Mensch. Bis zum Schluss. Wenn er wirklich ernsthaftere Probleme gehabt hätte, hätte er uns bestimmt etwas davon erzählt. Wir hätten was gemerkt. Wir musizieren nun schon seit … also seit … seit Jahren miteinander, er hätte uns was gesagt. Wenn da etwas gewesen wäre. Nein, so einer bringt sich doch nicht einfach um. Werner nicht.«

Friedrichsberg nickte. »Ich kann es mir auch nicht vorstellen. Ich kenne ihn zwar nicht so gut wie du, aber die paar Male, wo ich ihn getroffen habe, machte er mir gegenüber einen durchaus rundum positiven Eindruck.«

Straaten, der sich weitgehend aus der Diskussion rausgehalten hatte, mischte sich an dieser Stelle ein. »Warum hast du denn nicht gleich heute Morgen davon erzählt? Das muss dir doch auf der Seele gebrannt haben.«

»Nun … ich … also ich wollte nicht«, stammelte Dahl, »ich wollte doch nicht unser Boule mit der Geschichte stören. Und uns das Essen hier versauen.«

»Ja, fasst man’s?!«, donnerte Friedrichsberg. »Das ist doch Unsinn! Dafür sind wir doch da. Erzählen hättest du es sollen. Und zwar gleich. Und ohne langes Drumrumgerede.«

Dahl schaute etwas beschämt Löcher in die Tischdecke.

»Und nun? Was sagt uns das jetzt? Was machen wir?«, stellte Straaten in den Raum.