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Ansgar Sittmann

Der Tote vom Hauptmarkt

Ansgar Sittmann, seit über zwanzig Jahren glücklich mit Heike verheiratet und stolzer Vater von Linda und Eric, ist am 10. November 1965 in Trier geboren. Dass er wegen seines Berufs zum Weltenbummler geworden ist und nach Aufenthalten in Brüssel, Islamabad, Paris und Washington DC nun wieder in Berlin lebt, liegt sicher an seinem ersten Auslandsaufenthalt und den prägenden Jahren in Fontainebleau von 1977 bis 1981. Die Verbundenheit zur Heimat ist ungebrochen, weswegen seine Hauptfigur, der Berliner Privatdetektiv Castor L. Dennings, immer wieder an der Mosel ermittelt.

Ansgar Sittmann

Der Tote
vom Hauptmarkt

Mosel-Krimi

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Originalausgabe
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Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
Print-ISBN 978-3-95441-233-4
E-Book-ISBN 978-3-95441-244-0

Für Heike

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

1. Kapitel

Und die Seine färbte sich rot. »Le roi le veut«, der König will es. Gaspard, ein ehrlicher Schmied und gottesfürchtiger Katholik, Sohn des Färbers Ludovic und dessen Frau Margot, schloss sich an diesem heißen Sommerabend im August des Jahres 1572 den tapferen Soldaten des Königs an, um ihnen jeglichen Beistand bei ihrer schier unerträglichen, aber unausweichlichen Aufgabe zukommen zu lassen. Die Sünder wurden aus ihrem Schlaf gerissen, Türen und Fenster eingeschlagen, das Unumkehrbare vollzogen. Gellende Schreie, weinende Kinder, Feuer.

Keine Gnade, schon viel zu lang hatte man dem Treiben dieser Ungläubigen zugeschaut, die Unterwanderung von Gottes Gemeinschaft unter dem Deckmantel des christlichen Glaubens auf diesem heiligen Boden geduldet. Wie viel Kraft die wackeren Männer aufwenden mussten, jedwedes Mitgefühl zu unterbinden, als sie entschlossen zur Tat schritten, nicht einmal Halt machten vor ihren Nachbarn, Bekannten, mit denen sie am Vorabend vielleicht noch das Brot geteilt hatten. Keine Gefangenen, keine Widerrede, kein Lamentieren. Mit aller Konsequenz traf das scharfe Metall der Schwerter, Streitäxte und Hellebarden das verdammte Fleisch der gottlosen Ketzer und deren Brut.

Gaspard fragte nicht. Sein Schmiedehammer zertrümmerte Schädel und erwies sich nicht minder geeignet als das Kriegswerkzeug der Truppen des Königs. Wer zu flüchten versuchte, musste zu den Feinden gehören. Der Rechtschaffene hatte keinen Grund, vor der säubernden Klinge der stolzen Krieger zu fliehen.

Wenige Stunden genügten der Heerschar, Paris zu säubern. Bald schon sollte ein kräftiger Sommerregen das Pflaster der Gassen vom Blut der Ketzer reinigen. Erschöpft betrachtete Gaspard das Ergebnis des nächtlichen Gemetzels, bewunderte die Soldaten, wie sie den wenigen wimmernden Verletzten, die den ersten Hieb überlebt hatten, den Todesstoß gaben. Selbst der Himmel blutete an jenem Morgen des 24. August: Das Morgenrot war kräftiger, als Gaspard es jemals gesehen hatte. Ein Priester spendete den Soldaten Trost, von denen einige erst in der Stille des aufgehenden Tages vollständig begriffen, welch historische, wenn auch traurige Tat sie in der Nacht vollendet hatten.

Auch Gaspard beschlichen Zweifel. Als der Priester sich näherte, stammelte er nur: »Der König wollte es doch, Vater?«

Der Priester schaute in die rot unterlaufenen Augen des Schmieds und klopfte auf dessen Schulter. »Nicht nur der König, mein Sohn. Gott wollte es.«

2. Kapitel

Ich saß an der Theke der Brasserie, neben mir Jeff, der unaufhörlich schwafelte. Er habe einen grünen Daumen, hatte er gesagt, und mir seine Hilfe bei der Anlage des Gartens angeboten. Seit drei Tagen wohnte er nun bei mir in meinem neuen Häuschen in Wasserbillig. Ob er krankfeierte oder Urlaub genommen hatte, wusste ich nicht. Es war mir auch egal. Er war so etwas wie ein Freund. Jedenfalls kannten wir uns seit Jahren, und wenn das Geschäft brummte, half er mir bei meinen Ermittlungen, übernahm die ein oder andere Beschattung oder Recherche im Internet oder in Archiven – Dinge, die ihn nicht in Gefahr bringen konnten.

Trotzdem, auch Freunde können anstrengen, und ich bereute schon, seine Hilfe angenommen zu haben. Ein Landschaftsbauer wäre auch nicht viel teurer gewesen. Der Spargeltarzan fraß und soff mir die Haare vom Kopf, abends verlangte er nach Unterhaltung, wollte einen trinken gehen. Die Zeche durfte ich zahlen. Jeff war chronisch blank. Er war ein Meister im Geldausgeben. Obwohl er kein Instrument beherrschte, hatte er sich eine Gitarre gekauft, eine Gretsch Stills White Falcon. Dreitausend Euro! Eine Investition, wie er meinte, ein Sammlerstück, das ganz bestimmt im Wert steige. So wie manch einer eben auf Oldtimer mache. Es war schon Mitternacht, und langsam leerte sich das Lokal. Ich bestellte zwei Hennessy.

»Was ich ja wirklich nicht verstehe, Castor, da spielt Martin Barre über vierzig Jahre bei Jethro Tull, der Sound seiner Gitarre gehört zu der Band genauso wie die Querflöte, und dann? Dann lässt Ian Anderson ihn einfach außen vor bei der neuen Thick as a Brick. Verstehst du das?«

»Nein«, antwortete ich einsilbig und merkte, dass der Cognac mir nicht gut tat. Seit Wochen meldete sich mein Magen zu Wort, dieses unangenehme Gefühl in der Magengrube, das der unkundige Kranke gerne mit einem starken Hungergefühl verwechselt. Nahrungszufuhr beruhigte den Magen tatsächlich, wahrscheinlich, weil die Säure endlich einen anderen Stoff als die Magenwand zersetzen konnte.

»Also, ich meine, Ian Anderson ist genial. Stimmt doch? Aber wie er mit seinen Musikern umgeht, finde ich ätzend. Er wechselt sie aus wie Glühbirnen. Denk nur mal an Clive Bunker. Oder Jeffrey Hammond-Hammond. Findest du das richtig?«

»Nein.«

»Also ich auch nicht, Castor. Der Neil ist da anders. Auch nicht einfach, aber guck mal, wie der die Jungs von Crazy Horse immer wieder einbezieht. Das ist Größe, sage ich dir. Das finde ich menschlich echt gut. Prost!«

»Prost.«

»Treue ist wichtig. Gemeinsam durch dick und dünn gehen …«

»Könntest du bitte mal aufhören zu sabbeln, Jeff?«, unterbrach ich ihn.

Jeff reagierte schockiert. Er wurde knallrot und starrte mich mit offenem Mund an. Dann trank er sein Glas leer, stand auf, warf einen Zwanziger auf die Theke und verließ grußlos die Kneipe.

Ich schüttelte nur den Kopf.

»Ist Ihr Freund beleidigt?«, fragte mich der Barkeeper.

»Er hat seine Tage. Geben Sie mir noch einen Bordeaux und gleich die Rechnung.«

Wie angefressen Jeff war, sollte ich spätestens nach Rückkehr in meine neue Bleibe herausfinden. Was mich geritten hatte, ein Häuschen an der Sauer, kurz vor der Mündung zur Mosel, zu kaufen und Berlin den Rücken zu kehren, erschloss sich mir an diesem milden Sommerabend am heiligen Sonntag nicht. Zudem knabberte ich an der finanziellen Doppelbelastung, da ich meine Büroräume an der Spree erst gekündigt hatte, als das Haus mehr oder weniger bezugsfertig war. Einen Vorteil hatte die unfreiwillige Dependance meiner Detektei. Meine Sekretärin Nathalie musste nicht von heute auf morgen die Zelte an der Spree abbrechen, arbeitete dank moderner Kommunikationstechnologie aus der Ferne für mich und konnte immer noch die Option Kündigung ziehen. Wenn es ihr half, war ich bereit, ihr zu kündigen, damit sie mögliche Lohnersatzleistungen ohne Nachteile beziehen konnte. Sie war clever. Und hübsch. Sehr hübsch. Einen neuen Arbeitgeber würde sie sofort finden. Es sei denn, er hatte eine eifersüchtige Ehefrau.

Meinen Wagen hatte ich in der Näher der Porta Nigra geparkt. Ein kleiner Spaziergang sollte mir guttun. Außerdem hatte ich im Radio gehört, dass die Polizei am Wochenende vermehrt Alkoholkontrollen durchführen wollte, in einer Weingegend ein unverschämtes, aber einträgliches Unterfangen. Sollte ich ein Taxi nehmen? Ob Jeff eines aufgetrieben hatte? Unter der Römerbrücke würde er bestimmt nicht schlafen. Ich zündete eine Zigarette an und spürte gleichzeitig wieder diesen unangenehmen Druck in der Magengegend. Ich rieb meinen Bauch, in der Hoffnung, dass die Wärme den Magen beruhigen würde.

»Ey«, hörte ich auf einmal einen Mann rufen. »Ey … du … warte … mal …« Es war das geschriene Lallen eines Betrunkenen.

Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich drehte mich um und sah einen Anfang Dreißigjährigen, der auf mich zu torkelte.

»Hey … warte … bleib mal stehen … Mann.«

Ich blieb stehen. Kein Penner. Abgesehen von seiner unerträglichen Fahne und den leicht zerzausten Haaren, wirkte er sehr gepflegt. Sehr schöne, dunkelbraune Lederschuhe im Budapester Stil, schwarzer, modischer Anzug, weißes Hemd. Erst als er direkt vor mir stand, konnte ich erkennen, dass sein Hemd unschöne Spuren von Erbrochenem aufwies.

»Äh … Taxi …«

»Ich bin kein Taxi, Kumpel, sorry.«

Er senkte den Kopf und lachte. »Hat mich … rausgeschmissen. So’n Arschloch …« Er fing an zu würgen. Der Kerl war voll wie eine Strandhaubitze. Vermutlich hatte er ins Taxi gekotzt, woraufhin ihn der Fahrer unsanft aus dem Wagen geschmissen hatte. »Fahr … fahr … mich nach Haus … okay … ich zahle …«

Ich war genervt. »Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Mach dich vom Acker. Auch Trinken will gelernt sein.« Ich drehte mich um, wollte weitergehen.

Aber er ließ nicht locker, hielt mich am Arm fest, brachte nur noch ein weiteres »Ey« raus, bevor sich sein Magen zum wiederholten Mal in einem Schwall entleerte und meine Schuhe in Mitleidenschaft gezogen wurden. Das reichte. Mit der freien Hand verpasste ich ihm eine Backpfeife. Er strauchelte, stürzte auf das harte Pflaster am Hauptmarkt und blieb liegen. Der Kerl gab mir den Rest. Auch wenn ich keinerlei Schuldgefühle ihm gegenüber verspürte, wollte ich doch sicher gehen, dass er nicht an seiner widerspenstigen Restnahrung erstickte, und brachte ihn in eine stabile Seitenlage. Er blutete leicht am Hinterkopf. Selbst schuld. Ich ging weiter, irgendeiner würde ihn schon aufgabeln.

Etwa zwanzig Minuten später plagte mich das schlechte Gewissen. Ich saß auf einer Bank am Zurlaubener Ufer und ließ meine Blicke über die ruhige Mosel schweifen. Das schwarze Wasser war beruhigend. Ich bildete mir ein, dass sich mein Alkoholspiegel nach einer guten Stunde so weit reguliert hatte, dass ich wieder ins Auto steigen könnte. Ich kramte in der Hosentasche nach meinem Handy und rief den Notruf an.

»Auf dem Hauptmarkt liegt ein Mann, der ärztliche Versorgung benötigt. Ein Besoffener, der dort wahrscheinlich eingeschlafen ist.«

»Vielen Dank für den Hinweis«, antwortete eine höfliche Stimme am anderen Ende. »Wir schicken einen Krankenwagen. Könnten Sie mir bitte noch Ihren Namen nennen?«

»Der tut nichts zur Sache. Also, wie gesagt, am Hauptmarkt. Dort liegt ein Mann auf dem Boden. Schönen Abend.« Dann legte ich auf.

Werbung in meinem Metier war wichtig, negative Schlagzeilen dagegen so unnötig wie ein Kropf. Ich sah schon die Meldung im Lokalteil: Betrunkener Detektiv schlägt anderen Trunkenbold zu Boden. Nicht mit mir! Meine Rufnummer wurde unterdrückt, die Leitstelle der Feuerwehr würde meinen Anruf nicht zurückverfolgen können. Die Begegnung mit dem speienden Kotzbrocken sollte eine ephemere Randnotiz einer unbefriedigenden Nacht bleiben und sich nicht in meinem Langzeitgedächtnis festsetzen.

Sollte.

Jeff zog doch tatsächlich die Konsequenzen. Zwar hatte er mangels Alternativen wie in den Tagen zuvor auf dem Sofa im Wohnzimmer meines Hauses geschlafen, doch noch in der Nacht seine Reisetasche gepackt. Die Sonne, deren Strahlen sich fröhlich durch das Dachfenster in mein Schlafgemach mogelten, hatte mich früh wachgeküsst. Nicht den Anschein eines verkaterten Schädels, und so freute ich mich auf die erste Zigarette am Morgen, die ich genüsslich am offenen Fenster rauchte. Pinkeln und Kaffee aufsetzen. Ein sich seit Jahrzehnten wiederholendes Ritual, egal an welchem Ort ich mich aufhielt. Kippe, Klo, Kaffee, meine heilige Dreifaltigkeit der täglichen Ks. Das Röcheln der Kaffeemaschine weckte Jeff auf.

»Morgen, Jeff.«

Er antwortete nicht, sah mich nicht einmal an und verschwand ins Bad. Das alte Fachwerkhaus war eindeutig zu hellhörig, und wieder einmal lobte ich mir die Vorzüge des Singlelebens und Alleinwohnens. Ich hörte ihn strullern, spucken, duschen und Zähne putzen. Frisch gestriegelt machte er sich an seiner Reisetasche zu schaffen, verstaute seine Badartikel.

Ich nippte an meinem Becher. Der Kaffee war heiß, weckte die Sinne und meinen Magen, der mich eindringlich ermahnte, außer Lungenbrötchen Nahrhaftes zuzuführen. Während ich stumm aus dem Küchenfenster schaute, merkte ich, dass Jeff unentschlossen im Türrahmen stand.

»Ähm … ich gehe dann jetzt, Castor.«

»Kein Kaffee?«, fragte ich. Es war herzzerreißend und eines Hollywoodschinkens würdig, wie er da stand, mit seiner Reisetasche, abwägend zwischen melodramatischem Bruch oder tränenreicher Versöhnung.

Weder auf das eine noch auf das andere hatte ich Bock. »So, jetzt stell dich nicht so an. Nimm dir einen Pott Kaffee, mach dir ein paar Rühreier, und nach dem Frühstück fahre ich dich zum Bahnhof. Mir geht es gerade nicht so gut, Jeff, mein Magen macht mich nervös. Also, sorry für gestern.«

Sein Gesicht hellte sich sofort auf. Bevor er mich umarmen konnte, schlug ich vier Eier auf und heizte den Ofen für die Brötchen und Croissants aus dem Tiefkühlfach vor.

Irgendwie war mir die traute Zweisamkeit, die den Raum beim Frühstück füllte, unangenehm. Jeff langte herzhaft zu. Aufschnitt, Käse, Ei, die Butter dick geschmiert auf dem warmen Brötchen. So leidenschaftlich am Morgen essen konnte ich meiner Erinnerung nach allenfalls nach einer Liebesnacht während eines Urlaubs am Meer. Ich aß ein Croissant und etwas Ei, trank einen Kaffee nach dem anderen, bis ich merkte, dass mein Bauch endgültig rebellierte. Die Magensäure erklomm ihren Weg unaufhaltsam durch die Speiseröhre, der Speichelfluss im Mund erreichte ein Maß, dass ich mit dem Schlucken kaum nachkam. Ich stürmte ins Bad. Gerade rechtzeitig gelang es mir, den Klodeckel hochzuheben, die Schüssel zu umarmen und den Magensäften freien Lauf zu lassen.

Minutenlang quälten mich Krämpfe und Speichelfluss, selbst als gar nichts mehr dem Magen entweichen konnte. Als der Brechreiz nachließ, spülte ich den Mund aus und trank einen Schluck Wasser aus dem Hahn. Der Spiegel offenbarte das ganze Elend. Dunkle Augenränder, bleiche Haut, belegte Zunge. Jeff focht mein Gesundheitszustand nicht mehr an, als es die Höflichkeit gebot.

»Ich sag‘s ja immer, Castor, nicht durcheinandertrinken«, meinte er schmatzend.

»Guter Tipp.« Ich setzte mich zu ihm an den Tisch und streckte meinen Oberkörper. Die Intervalle zwischen den Krämpfen wurden immer kürzer. Die eine oder andere Gastritis hatte ich in der Vergangenheit managen können. Das hier war mehr, und mir schwante Böses. »Am Schlauch führt wohl kein Weg vorbei.«

»Was für ein Schlauch?«, fragte Jeff. Dann zeigte er auf die Kaffeekanne. »Kann ich den Rest haben?«

Beim Gedanken an Kaffee rebellierte mein Magen erneut. Ein weiteres Mal suchte ich das Bad auf, wusch mein Gesicht mit eiskaltem Wasser und trank ein paar Schlucke. Ich riss das Fenster auf und atmete tief durch.

»Wann geht dein Bus?«, rief ich durch die verschlossene Tür. Jeff musste meine Frage gehört haben, doch er stellte sich stumm. Insgeheim musste er gehofft haben, dass ich ihn zum Bleiben überredete. Njet, mein Sohn, ein anderes Mal vielleicht.

»Ich muss zum Doc. Ich kann dich zum Bahnhof bringen, wenn du gleich mitkommst.«

Not amused, aber Realist genug, kramte er sein Reisenecessaire aus der Tasche. »Ich putze mir noch schnell die Zähne. Dann können wir los.« Während er seine Kauleisten vom Rest der Croissants und Brötchen befreite, rief ich im Brüderkrankenhaus in Trier an. Mein Hinweis auf meine private Krankenversicherung überzeugte meine Gesprächspartnerin von der Dringlichkeit meines Anliegens.

»Wir können noch einen Termin bei Oberarzt Dr. Endres einschieben. Er ist eine Koryphäe in der Gastroenterologie. In zwei Stunden. Passt Ihnen das, Herr Dennings?«

»Vielen Dank. Sollte ich bis dahin einen Magendurchbruch haben, komme ich vielleicht etwas früher, zur Notaufnahme.«

Zehn Minuten vergingen, bis Jeff aus dem Bad kam. »Sorry, musste noch ein Ei legen.«

So genau hatte ich es nicht wissen wollen. Ich nickte anerkennend, und wir gingen gemeinsam aus dem Haus. Sein Fernbus sollte in einer Stunde ab Hauptbahnhof fahren. 28 Euro für die Fahrt von Trier nach Berlin. Unschlagbar günstig, hatte mir Jeff erklärt. Als eingefleischter Autofahrer hatte ich mir noch keine Meinung über Fernreisen per Bus gebildet. Sicher, mehr Konkurrenz für die Bahn konnte nicht schaden. Aber noch mehr Verkehr auf den ohnehin überfüllten Autobahnen? Andererseits: In den Bussen saßen ja nicht nur Ex-Bahnfahrer, sondern auch Ex-Autofahrer.

Der Abschied war kurz und schmerzlos. Ich bedankte mich artig für Jeffs Hilfe bei der Gartenanlage und versicherte, dass ich natürlich bei nächster Gelegenheit wieder gerne seine Hilfe in Anspruch nehmen würde.

Vom Bahnhof waren es nur noch wenige Minuten zu den »Brüdern«, wie man hier das Krankenhaus in der Kurzform nannte. Staubige. Barmherzige. Warme. Jedenfalls brauchte ich sie, und selten war ich so erleichtert, in das seriöse Gesicht in Gestalt von Oberarzt Dr. Endres zu blicken.

»Sie haben Magenschmerzen, Herr Dennings?«

»Magenkrämpfe, Herr Doktor, und ich fürchte, dass das mehr als eine kleine Schleimhautentzündung ist.«

Meine Eigendiagnose ließ der Arzt unkommentiert. Nach einem kurzen Anamnesegespräch wurde zur Tat geschritten. Ich fühlte mich wie ein Schwein, das zur Schlachtbank geführt wird. Dann folgte das Unausweichliche. Eine Krankenschwester in den besten Jahren, also gerade noch etwas jünger als ich und nur noch an Festtagen wie Altstadtfest oder Weiberfastnacht mal Objekt der Begierde, erklärte mir behutsam und bestimmt zugleich, wie der Schlauch für die Endoskopie geschluckt werden musste.

»Keine Angst, Herr Dennings. Sie bekommen ein betäubendes Spray in den Rachen. Es ist nicht schmerzhaft. Viele geraten in Panik und haben deswegen Erstickungsgefühle. Atmen Sie ruhig durch die Nase und schlucken Sie, wenn wir den Schlauch einführen. Glauben Sie nicht den Horrorgeschichten, dass der Schlauch manchmal versehentlich in die Luftröhre geführt wird und Patienten fast daran ersticken.«

Ich nickte. Sie musste es ja wissen. Und tatsächlich, es funktionierte. Ich schloss die Augen, atmete durch die Nase, schluckte und schluckte, bis das Schlauchende seinen Bestimmungsort gefunden haben musste. Die Untersuchung dauerte wenige Minuten.

»Ulcus ventriculi«, brummte der Arzt. »Einige … hm … ordentliche Durchmesser.« Ordentlich meinte bestimmt nicht gut. Ärztejargon. Oh, das ist aber ein großes Geschwür. Respekt. Vor lauter Anspannung vergaß ich meine Schmerzen. Nachdem der Schlauch den Rückzug angetreten hatte, verabreichte man mir eine milchige Flüssigkeit und ein Antibiotikum. Ich solle doch noch mal kurz ins Wartezimmer, bis der Arzt eine eindeutige Diagnose getroffen habe.

Ein paar traurige Gestalten teilten mein Los und warteten in dem schmucklosen Raum auf den Urteilsspruch. Im Hintergrund lief der örtliche Radiosender. Nach Helene Fischer und Unheilig folgten die Nachrichten. Vergangene Nacht gegen ein Uhr wurde auf dem Hauptmarkt ein Mann niedergestochen und tödlich verletzt. Die Polizei geht von einem Streit aus. Das Opfer trug seine Brieftasche bei sich, und es scheint kein Geld entwendet worden zu sein. Es war offenbar der Täter selbst, der den Notruf verständigt und ärztliche Hilfe erbeten hat. Der Notarzt konnte nur noch den Tod des Mannes feststellen. Mögliche Zeugen werden gebeten, sich an die Kripo Trier zu wenden …

Ein Uhr am Hauptmarkt? Ein Mann niedergestochen? Das konnte nur der arme Teufel sein, der mich belästigt hatte! Ich versuchte mich an jedes Detail vom Vorabend zu erinnern. Sturzbesoffen hatte der Kerl nach einer Fahrgelegenheit gesucht. Ich hatte selbst die Lampen brennen und dem komischen Vogel eine verpasst, dann die 112 gewählt. Ich musste Roller sprechen. Jedes Mal, wenn ich in Trier aufschlug, hatten der strebsame Kommissar und ich ein Stelldichein.

Ich schaute in das leere Gesicht meines Gegenübers. Es schimmerte grün. Auf Ende sechzig schätzte ich den Mann, knappe zehn Jahre älter als ich. Hohlwangig, dürr, die matten Augen starr auf den kleinen Lautsprecher an der Decke fixiert, als würde er mit ihnen hören. Das Stadium Magengeschwüre hatte er gewiss überschritten. Bestimmt hatte er Krebs, vielleicht einen künstlichen Darmausgang.

»Herr Dennings.« Die Tür zum Behandlungszimmer öffnete sich. Ich wurde hineingebeten.

Dr. Endres stand auf und lächelte mich mitleidig an.

»Mindestens sechs Wochen Diät, Herr Dennings, und eine medikamentöse Behandlung Ihrer Geschwüre. Die Laborresultate werden erst morgen vorliegen, aber ich bin mir sicher, dass Ihre Geschwüre bakteriell verursacht wurden.«

»Helicobacter pylori«, fügte ich an.

»Genau der. Sie hatten schon mit ihm zu tun?«

»Ich hatte schon öfter einen nervösen Magen, Herr Doktor. Diät, sagen Sie. Was heißt das?«

»Strenges Alkoholverbot, kein Kaffee, salzarm essen, wenig Fett. Und Antibiotika. Wenn Sie etwas fülliger wären, würde ich sagen, genau die richtige Diät.« Endres reichte mir ein Rezept.

»Kein Alkohol. Auch kein Wein?«

»Auch kein Wein, Herr Dennings, so leid es mir tut. Wenn Sie den Heilungsprozess hinauszögern wollen und keine Angst vor Krebs haben, können Sie gerne zum Abendessen einen kräftigen Bordeaux trinken. Sie rauchen doch auch, oder?«

Bevor er meinem nächsten Laster den Garaus machte, stand ich auf. »Vielen Dank, Herr Doktor. Dann werde ich mal zur Apotheke gehen. Wann soll ich mich wieder melden?«

»Rufen Sie morgen Nachmittag an. Dann habe ich den Laborbefund. Wenn er meinen Verdacht bestätigt, sehen wir uns erst in sechs Wochen wieder.«

Sechs Wochen ohne meinen geliebten Traubensaft! Für mich ähnlich schlimm wie sechs Wochen ohne Sex. Nein, schlimmer. Es war kurz nach Mittag. Noch keine Herausforderung. Erst am Abend sollte sich herausstellen, ob ich den Weisungen des Arztes folgen konnte. Dass ich um diese Uhrzeit bereits an die entgangene Freude am Abend dachte, ließ meine Alarmglocken schrillen. Seit wie vielen Jahren rettete mich der Gedanke an meinen Roten am Abend über den Tag hinweg? Und wenn schon. Wie viele Jahre blieben mir noch, und wie viel Freude und guten Schlaf hatte er mir beschert. Über den Sinn des Lebens dachte ich ungern nach. Das Leben war kompliziert genug, ihm einen Sinn geben zu wollen, ein Unterfangen, dem zu Recht in anderen Zirkeln nachgegangen wurde. Da hielt ich es lieber mit Fakten und dem nötigen Maß an Ablenkung. Fakt war, dass ein junger Bursche ermordet worden war, kurz nachdem ich seine unfreiwillige Bekanntschaft gemacht hatte. Ich musste Roller sprechen.

Die Wege waren kurz in Triers Innenstadt. Warum den Wagen strapazieren und mich über zig Ampeln in der Nordallee quälen, wenn mir die noch frische Morgenluft und das Laufen gut taten. Hinter dem Lenkrad sitzend konzentrierte ich mich sowieso nur auf den Schmerz auf der Höhe des Solarplexus. Während des halbstündigen Spaziergangs zur Polizeidirektion kreuzte immerhin das ein oder andere weibliche Geschöpf meinen Weg, noch intakt und unbekümmert. Jedes Mal atmete ich tief ein, um einen Hauch der frischen Morgentoilette zu erhaschen.

Mein letzter Besuch hatte einen bleibenden Eindruck bei den Beamten hinterlassen. Nicht von ungefähr, wurde er doch begleitet vom tödlichen Sprung eines Schlägers durch Rollers Bürofenster.

»Herr Dennings! Sie wollen bestimmt zu Herrn Roller?«

»Bemühen Sie sich nicht«, antwortete ich dem Beamten am Empfangstresen, »ich kenne den Weg.«

Kriminalhauptkommissar Roller prangte auf dem Schild neben der Tür. Hatte er den Haupt schon, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten, oder hatte eine Beförderung für den Ersatz des Ober gesorgt?

Ich glaube, er freute sich, mich zu sehen, jedenfalls glätteten sich die Kummerfalten auf seiner Stirn, und er sprang gleich vom Schreibtisch auf, um mich zu begrüßen. Immer noch jugendlich und mittlerweile stilsicher, vermutlich das Werk einer hübschen Moselfränkin. Er trug nun einen angedeuteten Seitenscheitel, das dichte Haar dezent mit Gel aufgelockert.

»Dennings! Was für eine Überraschung! Ich habe ja mitbekommen, dass Sie sich hier niedergelassen haben, aber dass Sie mich besuchen, ehrt mich.«

»Danke. Wissen Sie, seitdem ich meinen alten Freund Rosshaupt nicht mehr sehe, suche ich nach Ersatz.«

Kommissar Rosshaupt, obwohl nur wenige Jahre älter als ich, war in Berlin so etwas wie ein väterlicher Freund und Vertrauter, zudem eine anerkannte Institution, selbst unter Ganoven. Wir hatten ein gesundes Verhältnis von Geben und Nehmen.

»Ist er in Pension?«

»Ja«, antwortete ich. »Vor ein paar Wochen schrieb er eine kurze Mail. Er genießt den Ruhestand, hat sich ein teures Rad angeschafft und will Deutschland auf dem Drahtesel erkunden. Ich fürchte, das war so etwas wie eine Besuchsankündigung. An der Mosel gibt es schöne Radwege.«

Roller grinste und schüttelte den Kopf. »Sie mögen Freunde nur, wenn Sie nichts investieren müssen, hm?«

»Vielleicht. Kommissar«, fuhr ich fort, »einen Höflichkeitsbesuch wollte ich sowieso abstatten, aber es gibt da noch was. Der Tote vom Hauptmarkt.«

Roller hob die Augenbrauen. »Komische Sache. Daran sitze ich gerade. Wir versuchen die Telefonnummer des Täters herauszubekommen. Gleich nach der Tat rief er den Notdienst an. Ich vermute eine Affekthandlung. Totschlag. Wahrscheinlich war der Täter von der Wirkung seines Stichs selbst schockiert. Wäre er bloß am Tatort geblieben. Ich hoffe, er meldet sich von selbst.«

»Das wird er ganz bestimmt nicht, Roller, denn es war kein Unfall. Kein Affekt. Kein Totschlag. Es war Mord.«

Roller schaute mich ungläubig und verdattert an.

»Nach dem Anrufer müssen Sie nicht mehr fahnden«, fuhr ich fort. »Das war ich.«

»Dennings!«

»Das Opfer und ich sind kurz nach Mitternacht aneinandergeraten, worauf ich ihm eine Backpfeife verpasst habe. Er stürzte und blieb liegen. Zwanzig Minuten später rief ich die 112 an, weil ich befürchtete, dass sich der Kerl beim Sturz vielleicht doch schwerer verletzt hatte. Nicht alle Trinker haben einen aufmerksamen Schutzengel. In den zwanzig Minuten zwischen unserer Auseinandersetzung und meinem Anruf muss der Mord stattgefunden haben.«

Roller war blass. Er setzte sich. »Mann, Dennings, wieso ziehen Sie den Ärger so magisch an?« Er griff nach seinem Kugelschreiber und rückte ein weißes Blatt Papier zurecht. »So, und nun das Ganze noch einmal der Reihe nach.«

3. Kapitel

Das Wichtigste war: Roller glaubte mir. Warum sollte er dies auch nicht tun? Für ihn machte das die Angelegenheit allerdings nicht einfacher. Hatte er es zunächst mit einem vermeintlichen Totschlag zu tun, haftete ihm nun ein Mord an der Backe. Mir blieb bei den staatsanwaltlichen Ermittlungen die Rolle eines Zeugen, und zu gegebener Zeit würde ich als solcher einer Gerichtsverhandlung beiwohnen müssen. Aber nicht als Angeklagter, selbst wenn die Spurensicherung Fingerabdrücke, eines meiner grau melierten Haare oder einen Faden meiner Klamotten an der Leiche gefunden haben sollte. Schließlich bestritt ich ja nicht die für den Jungen kurze und schmerzhafte Bekanntschaft. Die Staatsanwaltschaft konnte mich vielleicht piesacken, ernsthaft der Tat verdächtigen wohl kaum. Also, für mich war die Sache eigentlich erledigt. Eigentlich. Wenn mich nicht dieses plötzliche Mitleid mit dem jugendlichen Trunkenbold beschlichen und meine volle Aufmerksamkeit gefordert hätte. Gepaart mit einer berufstypischen Neugier und einigen interessanten Infos von Roller führten mich diese Umstände ins Trierer Stadttheater Am Augustinerhof.

Was hatte den Burschen veranlasst, sich dermaßen die Kante zu geben? In seiner Brieftasche fanden die Ermittler Kreditkarten, Ausweis, Führerschein, eine stattliche Summe Bargeld sowie eine Theaterkarte für eine Vorstellung von Hair. Die Karte war angerissen, was darauf schließen ließ, dass er die Vorstellung besucht hatte. David Knop hieß er; auch das ließ sich Roller bereitwillig entlocken. Ob Knop vorgeglüht oder in den Pausen gesoffen hatte, konnte ich nur mutmaßen. Jedenfalls hatte er schon ordentlich Hochprozentiges bechern müssen, um zwischen dem Ende des Musicals und meinem Verlassen der Brasserie diesen Zustand erreichen zu können.

Hair. Dass dieses Stück immer noch gespielt wurde. Die Leinwandversion unterschied sich von der Bühnenfassung. Ich kannte beide, wie vermutlich die Mehrzahl meiner Altersgenossen, von denen die meisten nicht wussten, warum sie rote Shirts mit dem Konterfei von Che Guevara trugen. Es war einfach schick und Ausdruck von Rebellion. Und Hair war schick. Gegen den Krieg, für die freie Liebe, geile Mucke. Mal rockig und fröhlich, dann traurig, dass es die Tränen in die Augen trieb. Let the sunshine in.

Es war kurz nach vier an diesem schönen Nachmittag. Eigentlich ein Traumwetter, um sich auf der Terrasse eines Straßencafés niederzulassen und einen ersten Aperitif zu sich zu nehmen. Ein Drücken im Magenbereich erinnerte mich an die verordnete Diät. Enttäuscht fischte ich meine Zigaretten aus dem Jackett und genehmigte mir eine.

Ich betrachtete das schmucklose Gebäude. Hier kam es definitiv nicht auf das Äußere an. Don’t judge a book by its cover. Solange die Darbietungen mitrissen, konnten die Fassade und die Lage gerne etwas enttäuschen. Ich dachte an das schmucke Nationaltheater in Weimar, auf dessen Vorplatz Schiller und Goethe in Bronze vereint die kulturhungrigen Gäste empfingen.

Bunten, Bild, Gala