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Anne Kuhlmeyer
Night Train

Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Es gibt keine Toten

Anne Kuhlmeyer, geboren 1961, arbeitete nach dem Medizinstudium an der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin der Universität Leipzig. Sie zog 1990 nach NRW, absolvierte eine Fortbildung zur Psychotherapeutin und lebt heute mit ihrer Familie im münsterländischen Coesfeld. Seit 2003 veröffentlicht sie Kurzgeschichten, Novellen und Kriminalromane. Fragen nach der Rolle von Gewalt in der Gesellschaft, nach dem Umgang mit sogenannten Randgruppen, nach Vorstellungen von Familie oder den Auswirkungen von Individualisierung bestimmen ihr schriftstellerisches Schaffen.

Anne Kuhlmeyer

night
train

thriller

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Originalausgabe

Für einen,

den ich kannte.

Einen

Nichterreichten,

dessen Zug verschwand.

Im Nebel.

Inhalt

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Montag

1.

Nein, der Tod ist nicht der Anfang.

Der Tod ist auch nicht das Ende.

Er ist mehr so mittendrin.

Im Leben.

Zufällig. Oder geplant. Oder zufällig ungeplant.

Und dann steht man vor ihm oder direkt neben ihm, und die Welt dreht sich für Augenblicke andersherum.

Man denkt selten an ihn. Wie Nicola. Wie die meisten Menschen, die keinen akuten Grund haben, über ihn nachzudenken. Die morgens aufstehen, Kaffee kochen, zur Arbeit gehen, ihre Kinder in die Kita bringen, im Supermarkt Kartoffeln kaufen, Nachrichten hören (im Zoo in Wuppertal starb ein Elefantenbaby; Nordkorea hat alle diplomatischen Beziehungen abgebrochen und seine Bomben in Stellung gebracht; eine Explosion in einer Mine in China, dreiundzwanzig Tote), sich über den Chef, den Friseur, die Straßenbahn, die Preise oder das Wetter aufregen. Man kann sich wunderbar über das Wetter aufregen. Das Großartige daran ist, dass es sich nicht wehren kann.

Nicola wartet auf den Zug. Eiskalter Ostwind weht über den Außenbahnsteig und schleudert ihr Kristalle wie Geschosse ins Gesicht. Die rechte Gesichtshälfte schmerzt, die Narbe ist nicht mehr frisch, der Schmerz ist geblieben. In der Halle des Leipziger Hauptbahnhofes ist es wärmer, aber Nicola will rasch und möglichst unauffällig eine Zigarette rauchen, ohne dass irgendein Sittenwächter ihr die Regeln für den Aufenthalt in Bahnhöfen erklärt. Sie hat genug von Regeln und Sittenwächtern jeglicher Art.

Nicola Schulz, die in einem früheren Leben, an das sie nicht erinnert werden will, das sich ihr dennoch jeden Tag im Spiegel zeigt, Nicole Hausmann war und in einem noch früheren, von dem sie nichts oder fast nichts weiß, Didem Yilmaz. Didem, das Auge, sie lacht kurz in die kalte Luft und tastet nach der Narbe auf ihrer Wange und über das Lid, hinter dem eine undurchsichtige Hornhaut ihr den Blick nimmt. Nicola zieht an ihrer Zigarette, stößt den Rauch aus und schnippt die Kippe ins Gleisbett.

Halb verdeckt von einem Schaukasten für die Fahrpläne steht jemand, den sie kennt, den sie lange nicht gesehen hat und keinesfalls wiedersehen will. Er tippt auf seinem Handy herum, sieht nicht auf, und sie geht abgewandt und mit klopfendem Herzen an ihm vorüber, nicht ohne einen Blick über die Schulter zu riskieren. Einen guten Friseur hat er, denkt Nicola, und frisch sieht er aus für sein Alter – graues Haar, trainierte Muskulatur unter dem gut sitzenden Anzug, den Mantel trägt er über dem Arm. Wenn sich das Innere auf dem Antlitz abbilden würde, wäre er …

Man könnte sehen, wie er ist.

Aber man sieht nie, wie sie sind, außer in wirklich miesen Filmen.

Er hat Nicola nicht entdeckt, vermutlich erwartet er sie ebenso wenig wie sie ihn.

Ein paar Meter entfernt steht einer mit aufgemaltem Lachen im kalkigen Gesicht, zu seinen Füßen eine Aktentasche. Ein Clown mitten im März. Vielleicht will er zur Arbeit, in eine Kinderklinik, da haben sie jetzt Clowns gegen den Schmerz. Er rührt sich nicht, betrachtet seine Schuhe und sieht nicht besonders fröhlich aus.

Nicola hat Menschen und Abstand gebracht zwischen sich und den, den sie kennt. Er hält immer noch den Kopf über sein Handy gebeugt. Besser so. Damals hat sie eine Entscheidung getroffen, die sie gezwungen hat, unsichtbar zu sein.

Das Auge des Zugs stiert aus der Ferne. Gemächlich schlendert sie weiter, zurück in die Halle.

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Ich sehe sie. Sie sieht mich nicht. Ich sehe sie alle. Den Mann mit dem Handy, die Dicke mit dem Rucksack, das Pärchen in den abgetragenen Jacken … Auch den, der sich hinter der Maske versteckt. Den muss man im Auge behalten. Die tun so, als täten sie nichts.

Aber Sie machen sich keine Begriffe, was die alles tun, wenn sie meinen, keiner schaue hin. Ich beobachte sie genau. Ich tue nichts Unrechtes. Ich mache hier nur meine Arbeit. Damit Sie und Ihre Kinder in Sicherheit sind.

So ist das. Glauben Sie nicht, was man mir nachsagt. Wir sind viele, ja. Wir werden immer mehr. Und wir sind bestens vernetzt. Zu Ihrer Sicherheit. Vertrauen Sie uns! Sie kennen mich nicht? Ich werde Ihnen sagen, wer ich bin. Moment, da kommt noch einer …

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In einen blauen Mantel gehüllt, der zu dünn für die Jahreszeit ist, flitzt André Falkner die Stufen hinauf, über den Querbahnsteig … der Zug läuft ein, Bremsen quietschen … und erreicht den ersten Wagen. Leute steigen aus. Nicht viele. Aber viele drängen sich auf dem Bahnsteig, um den Pendlerzug nach Berlin zu nehmen, wie er selbst. Täglich fährt er morgens hin und abends zurück. André geht am Zug entlang, zwei Waggons weiter schiebt er sich durch die Tür. Drinnen hält er Ausschau nach der Frau (warm ist es hier) und da ist sie und liest, wie immer die eine Hälfte des Gesichts von brünettem Haar verschleiert. Er nickt ihr zu und setzt sich gegenüber. Sie starrt auf ihr Buch, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Hübsch ist sie, schön geradezu, wahrscheinlich. Mehrfach hat er versucht, einen Blick auf ihr ganzes Gesicht zu erhaschen, es ist ihm nicht gelungen.

André lehnt sich zurück, der Zug gleitet durch die schneebedeckte Landschaft. Der Winter will kein Ende nehmen. Mitte März und fünf Grad minus in der Nacht. Wenigstens im Zug ist es warm, ganz im Gegensatz zu seiner Wohnung. Was heißt »Wohnung«? Zu dem Loch, in dem er seit drei Monaten haust. Vor ein paar Tagen haben sie ihm den Strom abgestellt. Die Therme braucht aber welchen, deshalb wachsen Eisblumen an den Fenstern. Die Rechnungen stapeln sich. Er müsste zum Amt, eigentlich. Welche Demütigung! Bis zum Frühling reiche das Geld, hat er gedacht. Wer konnte schon ahnen, dass der Frühling ausbleibt?

Häuser, Bäume, Felder …

Der Zug rollt.

Heute bestimmt! Heute kommt jemand, der dringend seine Hilfe benötigt, seinen Sachverstand, seine Cleverness. Heute wird sein Glückstag! Er hat immer Glück gehabt im Leben. Später, wenn er zurückdenken wird an diese Monate, werden sie nicht mehr sein als Wermutströpfchen im Zeitstrom, mit Anekdoten, die er seinen Freunden erzählt, lachend, mit einem Glas Champagner in der Hand und einer schönen Frau im Arm, unter den Sternen von Mailand oder Madrid. Wenn nur der Winter sein Ende fände. Verdreckt und grau ist alles. Auch die Leute, die vor allem, gerade dort, wo er wohnt.

Ein dünner Mann in fadenscheinigen, hellgrünen Jeans und rotem Anorak drückt sich neben ihn in den Sitz und stellt seinen Rucksack zwischen die Füße, die in braunen Stiefeln stecken. Wo haben die Leute nur ihren Geschmack?

André wendet sich mit einem Anflug von Ekel ab.

Heute kommt ein dicker Auftrag rein! Sein erster Fall, den er mit Bravour lösen wird. Vielleicht sucht ein Millionär ein gestohlenes Gemälde oder eine abhandengekommene Gattin, etwas Großes jedenfalls, das ihm reichlich Honorar und Reputation einbringen wird.

Heute!

Glückstag …

Er muss eingedöst sein, denn plötzlich steht der Zug, entlässt eine Handvoll Menschen und nimmt neue auf. Sie bringen Kälte und den Geruch nach schmutzigen Kleidern herein. Lieber säße er in der ersten Klasse, anstatt sich hier die feuchte Luft mit dem Pöbel zu teilen. Wieso halten ICEs eigentlich – und das auch noch in Wittenberg? Manche halten, manche nicht, André hat das zugrunde liegende Prinzip noch nicht entschlüsselt. Gerade walzt eine fette Alte durch den Gang und rempelt ihm ihre Tasche an die Schulter, walzt weiter, ohne sich zu entschuldigen.

Zur ersten Klasse hat es nicht gereicht. Die Bahncard 100 hat über viertausend Euro gekostet. Für die erste Klasse wären noch mehr als zweitausend dazugekommen. So viel war er Carmen doch nicht wert, obwohl sie es sich hätte leisten können mit ihrem Erbe, das ihr lebtaglang Zinseszinsen einbringt, von denen sie erst kürzlich eine kleine, exklusive Boutique für Hundeoberbekleidung eingerichtet hat (schon jetzt wirft der Laden mehr Kohle ab, als sie ausgeben kann) und um den Globus jettet, um Unterhöschen für siebzig Dollar das Stück einzukaufen. André hätte sogar ihren Namen angenommen, wenn sie ihn geheiratet hätte. Schwarzenberger. Warum nicht, wenn jegliche Kreditkarte damit zu bedienen ist? Doch sie hat ihn nicht geheiratet. Heiraten, sagte sie, sei etwas für Spießer und sie wolle frei sein. Nun ja, das war sie dann auch. Sie war so frei, ihn mit nichts als seinem Koffer vor die Tür zu setzen. Mitten im Winter. Tatsächlich waren es einige Koffer und ein paar Möbel, die er von Berlin nach Leipzig kutschiert hat, in eine Wohnung im Osten, mit Nachbarn aus aller Herren Länder und deren krakeelendem, ungewaschenem Nachwuchs. Muttis in Jogginghosen mit Kinderwagen, Jugendliche in Jogginghosen mit Kampfhunden, alte Knacker in verschlissenen Anzügen mit Teegläsern in den Händen. Man bekommt Augenkrebs, wenn man das jeden beschissenen Tag sehen muss.

Er hätte überall hingekonnt. Nur in Berlin wollte er nicht bleiben. Sicher hätte er etwas Billiges gefunden. Aber was, wenn man ihn rein zufällig da gesehen hätte? (Oder gezielt? Sein Herz beschleunigt sich.) Vielleicht, wie er in ein Haus neben einem türkischen Gemüseladen geht. Was hätte er sagen sollen, wenn er einem alten Bekannten über den Weg gelaufen wäre? Schön dich zu sehen. Du kommst gerade aus Florenz von einer Tagung? Komm rein, willst du vielleicht ein Wasser? Oder einen Tee? Ich könnte die Nachbarn fragen, die haben Strom.

Weiter vorn im Abteil hebt ein Mann seine Tasche aus dem Gepäckfach. Das ist doch … Verdammt! Das darf doch nicht wahr sein! Es ist eine Weile her, dass er dem Grauhaarigen begegnet ist. Es war bei Carmen. Und es war nicht gut. Gar nicht gut. Es war eher eine Katastrophe. Begegnungen wie diese wollte er vermeiden und hat das auch über lange Zeit geschafft. Dass er den hier im Zug … Wieso ist der nicht mit einem seiner Luxusschlitten unterwegs oder wenigstens in der ersten Klasse?

Der Mann nimmt seine Tasche und geht durch den Gang direkt an André vorbei. André drückt sich in den Sitz, hebt die Zeitung vors Gesicht, die jemand liegen gelassen hat, sein Puls hämmert, und er schwitzt. Er linst an der Zeitung vorbei, der Graue zieht die Tür zum nächsten Abteil auf.

Zu weit weg von Berlin konnte er auch nicht. Und nicht aufs Dorf. Bloß das nicht! Leipzig war ein Kompromiss, ein schmerzhafter – so wie Kompromisse eben sind. Damit kennt er sich aus. Obwohl ihm das erst jetzt klar wird, jetzt während er unendlich viel Zeit in Zügen verbringt.

Wenigstens ist die Bahncard noch ein Dreivierteljahr gültig; und das wird er nutzen. Er ist immer gerne gereist. Für Bekannte von Carmen (sie nannte sie Geschäftspartner) hat er Autos, oder besser Luxuslimousinen, überführt. Nach Genf und Amsterdam, nach Barcelona und Moskau, zurück mit dem Zug. Dass etwas schiefgegangen ist, lag wirklich nicht an ihm. Er hat nicht im Mindesten damit gerechnet, einem von Carmens sogenannten Geschäftspartnern hier zu begegnen. Zumindest hat der Graue (André mag nicht einmal seinen Namen denken) ihn nicht entdeckt. André muss etwas tun, damit das so bleibt. Wer weiß, vielleicht nimmt der neuerdings auch regelmäßig den Pendlerzug. André lacht in sich hinein. Pendlerzug. Der! Ausgerechnet! Wozu? Ist ja egal. Er muss achtsam sein.

André liebt das Zugfahren. Wie zum Hohn ist ihm nur diese Bahncard aus der langjährigen Beziehung zu der glamourösen Hexe geblieben. Daneben ein paar Kleidungsstücke, die ihn nicht aussehen lassen wie den letzten Penner. Einen Wintermantel hätte er sich zulegen sollen vor dem Ende. Doch es war einfach zu plötzlich gekommen. Bis dahin hatte er kaum warme Garderobe gebraucht, denn die Winter verbrachten sie auf den Kanaren, in Dubai oder Sydney. Sie feierten bis tief in die Nächte. Die Luft war warm und weich und voll von Musik und Blütenduft. Vielleicht war es auch der Duft der teuren Parfüms, die Carmens teure Freundinnen trugen.

Während er auf das weiße Grauen da draußen schaut, klopft ein Gedanke an, ein Zweifel, den er üblicherweise im Keller seines Gedächtnisses versenkt. Vielleicht hätte er das mit dem Poker … und das mit Josefine … doch nicht …

Er schüttelt den Kopf und strafft die Schultern, spürt den Muskelkater vom Training. Irgendwie muss man sich ja warmhalten. Und fit. Deshalb läuft er fast täglich, danach Situps, Crunches, Liegestützen, alles, was man so tun kann ohne Fitness-Studio. Das kann er sich nicht mehr leisten, jedenfalls kein ordentliches. Kurz besuchte er eines unweit seiner neuen Bleibe. Die Räume waren finster, die Duschen verdreckt, das Schlimmste waren die Leute. Testosterongespritzte Muskelpakete, ganzkörpertätowiert, fette Muttis in rosa Jogginghosen. Da konnte er nicht mehr hin. Er braucht das Saubere, das Gediegene, das Schöne. Das Andere hat er hinter sich.

»Sie haben auch in Berlin zu tun, nicht wahr?« Ein wenig plaudern mit der Schönen, die immer noch in ihr Buch starrt, ohne zu lesen, das wird ihn ablenken. »Ich sehe Sie ja fast täglich inzwischen.« Er setzt dieses Lächeln auf, von dem er weiß, dass es nahezu unwiderstehlich ist …

Der Zug fährt 08:15 Uhr in Leipzig ab und kommt kurz nach zehn in Berlin an. Jeden Tag. Zumindest ist das der Plan. Häufig klappt das. Es sei denn, es ist zu viel Schnee oder zu viel Sonne oder Regen oder Zugbegleiterstreik oder Herbst. Laub auf den Schienen und die modernen Züge müssen langsam fahren wegen der eingeschränkten Bremsfunktion. Die Zugführer kriegen ordentlich Druck von ihren Leitstellen, wenn sie den Fahrplan nicht einhalten. Davon lässt sich der Zugführer nicht beeindrucken. Die können ihn am Arsch lecken. Liegt Schnee, liegt eben Schnee und man muss so fahren, dass die Leute heil ankommen. Er will auch heil ankommen. Mit heiler Haut in die Rente. Er bremst ab und fährt in Schrittgeschwindigkeit durch die Schneewehen hindurch, die es hier immer gibt. Er kennt seine Strecke. Zum Kaffee ist er zu Hause.

Schon wieder dieser Typ. Jeden Tag fährt er mit und setzt sich in ihre Nähe, nickt ihr zu oder wünscht ihr einen Guten Morgen oder einen Guten Abend, als würden sie sich kennen. Nicola linst an ihrem Haarvorhang vorbei und hinter der Barrikade ihres Buches hervor. Es interessiert sie gerade nicht sehr, was drinsteht. Im Hinausgehen hat sie irgendetwas gegriffen, was auf dem Regal neben dem Bett lag. Vorsichtshalber. Als Versteck taugt fast jedes Buch. Dass sie ausgerechnet André Bretons Anthologie des schwarzen Humors, ein Band in einem unhandlichen Format, mitgenommen hat, kann nur ein Omen sein. Es kichert in ihr. Mit Vorahnungen und Zeichen in Buchform hat sie es nicht so. Sie nimmt die Welt am liebsten, wie sie ist, und glaubt nichts, überhaupt nichts mehr, was sie nicht überprüft hat, selbst wenn sich das Überprüfen reduziert hat und momentan nur in Ausnahmefällen sinnvoll erscheint. Rechercheaufgaben gibt es nicht mehr, seit die kleine, unabhängige Frauenzeitschrift, für die sie in den letzten Jahren schrieb, schließen musste. Die beiden Redakteurinnen sind nun genauso frei wie sie. Frei von Arbeit und Geld. So ist das im freien Journalismus. Nur Idealisten und Idioten tun sich das an.

Der Typ gegenüber glotzt. Nicht unfreundlich, zugegeben. Und gut sieht er auch aus. Wahrscheinlich überlegt er, was er sagen könnte, um ein Gespräch anzufangen.

Sie schaut aus dem Fenster, Flocken wirbeln, der Wind zerrt an den Fahnen eines Baumarktes, weißes Weiß gleitet vorbei … Der Winter ist endlos, aber es ist immer noch Frühling geworden.

Der Schlaksige mit der grünen Hose hält die Augen geschlossen und lächelt entspannt. Wahrscheinlich studiert er irgendwas, und seine Eltern schicken ihm Geld für die Miete und die Mensa.

Sie ist heilfroh, dass sie ein paar Cent aus besseren Tagen zurückgelegt hat, wenngleich die nicht weit reichen werden. Und dass Sergej da ist, ein Schrank von einem Kerl. Sie muss den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu blicken, trotz ihrer hohen Gestalt. Lea ist auch okay, obwohl sie dafür, dass sie da ist, nie oder fast nie da ist. Nicola erinnert sich noch ganz genau, wie sie Lea aufgesammelt hat. Es war nach einer vergeigten Prüfung. Sie haben sich in der Moritz-Bastei kennengelernt, einem von Studenten restaurierten und betriebenen Club im unterirdischen Teil der ehemaligen Leipziger Stadtmauer. Lea hat geheult, und Nicola hat sie mit nach Hause genommen. Danach hat sie nie mehr geheult und sämtliche Prüfungen bestanden. Sie studiert Mathematik, ein Rätsel für Nicola. Und sie kocht, wenn sie denn da ist und wenn einer von ihnen Geld für gute Lebensmittel hat. Phantastisch. Sergej hat ihr einmal nach einem ihrer spektakulären Menus einen Heiratsantrag gemacht und Lea hat ihm fröhlich das Dessert auf die Nase gedrückt.

Bevor Nicola und Lea zusammenzogen, hat Nicola natürlich recherchiert. Lea stammt aus Aue im Erzgebirge. Sie hat Nicola mit zu ihren Eltern genommen, einfache Leute in einem einfachen Leben, und sie haben Pflaumen geerntet, entsteint und eingekocht. Lea gab Nicola ihr Zimmer für die Nacht. Es war ein wenig jünger als Lea, mit Postern an den Wänden und den Kuscheltieren ihrer Kindheit auf einem Sessel neben dem Bett. Was es sonst noch enthielt, hat Nicola in der Nacht erforscht. Vieles war darin, aber keine Geheimnisse, nicht einmal in ihrem Tagebuch.

Sergej war ihnen später zugelaufen. Was genau er macht, darüber redet er wenig, etwas mit Autos. Also er repariert sie. In einer kleinen Werkstatt am Rande eines Industriegebiets im Osten von Leipzig. Ein halbes Jahr war Nicola damit beschäftigt, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen, Lea hat sie paranoid genannt. Am Ende kam raus, dass es nichts in Erfahrung zu bringen gibt. Sergej lebt schon lange in Deutschland, eigentlich schon immer. Kurz nach seiner Geburt sind seine Eltern aus Kasachstan gekommen. Er ist hier aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat Mechatroniker gelernt, war eine Zeit arbeitslos, und nun hat er den Job in dieser kleinen Werkstatt. Er mag ihn. Er bringt nur nicht viel ein. Sergej wollte von seinen Eltern weg. Es war ihm zu eng dort. Nicola und Lea besuchten ihn einmal da. Sie saßen in der Küche bei diesen stillen, harten Leuten, die Sergejs Eltern waren, und redeten nicht viel. Sie tranken bis in den Morgen. Nicola hätte gern Sergejs Zimmer genauer untersucht. In Zimmern verstecken sich Geheimnisse. Nur hatte Sergej kein Zimmer. Er schlief auf dem Sofa.

Jedenfalls teilen sie sich die Miete, Küche und Bad.

Und Sergej.

Lea und Nicola.

Sie schlafen abwechselnd mit ihm. Weil er gerade da ist, und weil man auch den Kühlschrank teilt und den Wein. Und weil er okay ist. Er ist Nicola nie nahegekommen. Er ist nur … hübsch.

Deshalb will sie nicht nach Berlin ziehen, obwohl das einfacher wäre, wahrscheinlich. Deshalb und noch aus einem anderen Grund …

Berlin wäre einfacher. Sie hat einen Mini-Job im Bahnhofsbuchladen bekommen, vierhundertfünfzig Euro. In dem Grill gleich in der Nähe ist sie fest angestellt mit fünfzwanzig die Stunde und ein paar Cent Trinkgeld. Erst Buchladen, danach Grill oder umgekehrt. Abends, manchmal nachts, zurück nach Leipzig mit dem Pendlerticket. Sie hatte sich ihr Leben anders vorgestellt. Immerhin hat sie noch eins, ein Leben. Es hätte auch anders kommen können.

Manchmal fährt sie mit der U-Bahn zu der Stelle, an der es passiert ist, wartet, mit einem Springmesser in der Tasche. Danach kommen die Tränen und sie wirft eine Oxycodon ein gegen den Schmerz. Atypischer Gesichtsschmerz heißt das, was sie hat, sagte jedenfalls der Arzt, den sie nach einer Odyssee durch alle Fachbereiche zuletzt besuchte, und gab ihr das Zeug. Er macht immer ein wichtiges Gesicht, wenn er das Betäubungsmittelrezept ausstellt und ermahnt sie, die Dosierungsanleitung einzuhalten. Sie nickte brav und holt sich den Rest für den Monat von einem anderen Doc.

»Sie haben auch in Berlin zu tun, nicht wahr?«, sagt der Typ gegenüber. Er zupft eine unsichtbare Fussel von seinem hellen Kaschmirpullover, den er über einer fast gleichfarbigen Cordhose trägt. »Ich sehe Sie ja fast täglich inzwischen.« Er setzt ein Lächeln auf, das er wohl für unwiderstehlich hält.

Er sieht wirklich gut aus mit dem Dreitagebart und dem zurückgekämmten von erstem Grau durchzogenen Haar. Sie würde sich mit ihm unterhalten, wäre da nicht dieser Blick unter den halb geschlossenen Lidern hervor, so einer von oben herab. Arrogantes Arschloch, das mit einem goldenen Löffelchen im Mund zur Welt gekommen ist. Angeblich soll man keine Vorurteile haben, doch sie täuscht sich nie. Vorurteile sind ungerecht, aber nützlich.

Sie weiß Bescheid inzwischen. Das muss sie auch. Das hat ihr schon ein paar Mal das Leben gerettet.

Was soll’s? Völlig unhöflich will sie auch nicht sein, zumal der Grünhosenstudent die Stöpsel aus den Ohren genommen hat und auf ihre Antwort wartet.

»Ja«, sagt sie deshalb und befiehlt ihrem Mund ein Lächeln.

Bevor sie sich wieder hinter ihrem Buch verschanzen kann, sagt der Kaschmirpullover: »Wohnen Sie in Berlin oder arbeiten Sie da?«

Das geht dich einen Scheißdreck an. »Ich finde Berlin sehr schön.«

Der Andere nickt. »Ich würde glatt hinziehen, wenn ich eine Wohnung in einem passenden Stadtteil fände. Rein kulturell ist da ja …« Er lässt sich über Oper, Theater und Ausstellungen aus, von denen sie keine einzige kennt. Die Worte ziehen an ihr vorüber wie die Landschaft. Sie wirft einen verstohlenen Blick auf die Uhr, aber er hat es gesehen und sie sieht, dass er es gesehen hat. Sie müssen bald da sein. Der Kaschmirpullover redet immer noch. Von Sehenswürdigkeiten, Architektur und Galerien. Meine Fresse, ist der ausdauernd, denkt Nicola. Der Grünhosenmann nickt eifrig in seine Richtung. Wahrscheinlich studiert er Kunstgeschichte.

Der Schaffner kommt durch die Tür. Sie wühlt in ihrer Tasche, in der anderen Tasche, in der Innentasche, in der Handtasche, in der Brieftasche …

Der Schaffner kommt näher. Einen Moment sieht sie ihn genauer an. Wenn sie nicht wüsste, dass das nicht sein kann … Er kommt ihr bekannt vor. Aber sie sieht dauernd Leute, die ihr bekannt vorkommen, zumeist sieht sie Marco – und dann ist er es gar nicht. Er ist es nie. Bisher war er es nie. Er kann es gar nicht sein. Vor Marco ist sie sicher, wenngleich nicht für immer.

Was ist schon für immer?

(Manchmal, jetzt zum Beispiel, hätte sie gerne ein Immer, zur Sicherheit. Sie würde einiges dafür tun. Alles. Nein, nicht alles. Keinesfalls alles! Sie tastet nach der Narbe. Keine Kompromisse mehr!) Nicht einmal mehr für lange. Und danach …?

Der Schaffner … Sie kramt in ihrem Gedächtnis, in der Handtasche, den Hosentaschen, hinten und vorn, den Jackentaschen, der kleinen Tasche im Futter. Da ist nichts. Es ist weg. Das Ticket ist weg.

Am anderen Ende des Abteils wird es laut, weil

1 Mann in sein Handy brüllt,

1 Frau ihn anbrüllt, weil er so laut brüllt,

1 Mann den Schaffner anbrüllt,

1 Schaffner zurückbrüllt,

1 Brünette sich einmischt,

1 Blondine sich einmischt,

1 Handy Ravel spielt.

Der Zugbegleiter ist ein vierschrötiger Mensch mit rotem Haar, rotem Gesicht und blauen Tattoos am Hals. Die fünf Leute haben nur 1 Ticket.

Da bin ich ja fein raus, denkt Nicola, ich habe für nur eine Person kein Ticket.

Wir verstehen uns selbst immer nur im Vergleich.

Aber das scheint nicht das Problem zu sein, sondern der Vorwurf des Schaffners, der Mann mit dem Handy nutze sein Monatsticket, um wildfremde Mitfahrer für Geld in seinem Zug zu transportieren. Betrug an der Deutschen Bahn! Wenn man sich das mal ausrechnet: viermal fünfzehn Euro und das bei jeder Fahrt – ein einträgliches Geschäft, abgesehen davon, dass es ein verbotenes ist.

»Beim nächsten Halt informiere ich die Polizei. Sie begehen eine Straftat!« Der rotblaue Schaffner hebt die Stimme auf ein Niveau, mit dem Ravel nicht mithalten kann, und ballt die Faust, öffnet sie, ballt sie, geht, drängt sich durch die aufgebrachte Gruppe und hält sein Funkgerät an den Mund. Zwischen Daumen und Zeigefinger trägt er drei blaue Punkte.

Quereinsteiger, denkt Nicola.

Zugbegleiter werden gebraucht. Die Bahn bietet einen mehrwöchigen Kurs und schon ist man Zugbegleiter, egal, was man vorher war. Man verdient Geld, von dem man sich eine Wohnung leisten kann. Wechselschicht, auch an Sonn- und Feiertagen. Dienstanweisung: Schwarzfahrer werden nicht geduldet. Rausschmeißen beim nächsten Halt! Polizei holen! Immer freundlich bleiben!

Nicola versteht nicht, was der Schaffner sagt, denn

1 Handy klingelt

1 Handy schreit: Ich bin’s, dein Handy, geh ran, du Arsch!

1 Mädchen will Cola, entschieden!

Nicola ist einen Moment unaufmerksam.

»Die Fahrkarten, bitte«, sagt der Rotblaue und sieht Nicola ins halbe Gesicht.

»Ja«, sagt sie und macht nichts.

Der Schaffner lässt seinen Blick über die nächsten Fahrgästen schweifen und streckt ihr die Hand entgegen.

»Ihre Fahrkarte?« Etwas, das wie ein Lächeln aus einem Service-Training-Seminar aussieht, gleitet über sein Gesicht. Es ist unrasiert und schwitzt.

Nicola nestelt an allen Taschen, von denen sie weiß, dass sie kein einziges Ticket beherbergen.

»Moment«, sagt sie, um Zeit zu gewinnen, mit der sie sowieso nichts anfangen kann. Der Kaschmirkulturelle lässt seinen Blick auf ihr ruhen, einen offenen, fast warmen Blick, den sie an ihm noch nicht bemerkt hat.

Der Blick des Schaffners hingegen gefriert. »Haben Sie nun ein Ticket oder vierzig Euro?«

»Ich …«

André zieht seine Brieftasche aus dem Mantel und hält dem Schaffner seine Bahncard unter die Nase. »Sie ist meine Begleitung.« Er wendet sich der grünen Hose zu, an dem das Getöse vorbeigegangen zu sein scheint, denn er hält schon wieder die Augen geschlossen und träumt in seine Musik. »Und er auch.«

Schlitzförmiger Blick vom Schaffner. »Was zahlen die Ihnen?«

»Na, hören Sie mal!«

Der Rotblaue greift André an seinem Pullover und reißt ihn hoch. »Wie viel?« Er starrt seinem Gegenüber ins Gesicht. »Da musst du ganz schön oft hin und her fahren und den ganzen Waggon einladen, damit sich deine Nobel-Bahncard rechnet, was?«

»Nehmen Sie die Hand da weg«, zischt André.

Der Rotblaue stinkt nach Schweiß. Im Wagen ist es still, bis auf das Mädchen, das immer noch dringend Cola will, während ihre Mutter das nicht will.

»Aber Sie können doch nicht …«, wendet ein alter Mann von der anderen Seite ein.

»Und ob ich …« Der Schaffner holt aus und Nicola sieht, wie sich die blaue Schlange an seinem Hals spannt. (Die hat er damals nicht gehabt. Damals … Nein, es ist ein anderer. Jetzt ist sie sicher. Immer ist es ein anderer. Sie atmet aus.) Aber André ist schneller und landet seine Faust präzise zwischen Nase und Oberlippe, wohldosiert.

Der Rotblaue fällt um wie Totholz und verstopft den Gang.

Aus den Lautsprechern säuselt eine Ansage: »Liebe Reisende, in wenigen Minuten läuft Ihr Zug in Berlin-Hauptbahnhof ein. Zur Weiterfahrt …«

André zupft seinen Pullover zurecht, setzt sich wieder und legt sein Unwiderstehlichkeitslächeln an. Nicola glotzt mit offenem Mund und einer, ach was, zwanzig Fragen im Kopf. Mit einer absichtsfreien Geste streicht sie sich das Haar aus dem Gesicht. Sein Lächeln kippt.

Sie ist blind. Sie ist auf dem rechten Augen blind, denkt André. Opal die Hornhaut. Und diese Narbe …

Verdammte Scheiße. Er will so was nicht sehen. Er kann nichts Hässliches …

Carmen war schön, sie war überirdisch, ganzgesichtlich schön. Warum, zum Teufel, hat sie ihn nicht geheiratet? Das Pokern hat er aufgegeben und das mit Josefine war doch nur …

Der Zug hält.

Der Schaffner hat sich hochgerappelt, mit seinem Funkgerät hantiert und ist den Gang entlanggehetzt. Die fünf Leute mit dem einen Ticket schieben sich eilig an ihnen vorbei, und André kann noch immer nicht den Blick von Nicolas Gesicht nehmen.

»Darf ich?«, sagt der Student, während er sich in seinen Anorak quält und den Rucksack über ihre Köpfe hebt. »Danke. Aber ich hatte eine Fahrkarte. Nichts für ungut. Eine schöne Reise noch«, nickt er André zu. Summend schlängelt er sich hinaus.

Sozialpädagogik. Er studiert bestimmt Sozialpädagogik.

Der Waggon ist fast leer, als Nicola ihr Haar wieder über die rechte Gesichtshälfte fallen lässt und den Kopf senkt.

»Es liegt in Die Stadt der Toten.« Sie errötet. Links. Es steht ihrer hellbraunen Haut gut, wenn er nicht wüsste, dass es rechts gibt.

»Sara Gran. Ich wollte das Buch einer Freundin mitbringen.« Als ob sie Freundinnen in Berlin hätte. »Und das Ticket liegt drin.« Sie lacht auf und zeigt ihm das Buch, welches sie stattdessen mitgenommen hat, Anthologie des schwarzen Humors. »Sie haben einen gut.«

»André Falkner«, sagt er und hält ihr die Hand hin, weil ihr das Haar wieder ins Gesicht gefallen ist. Sie betrachtet seine Hand eine Weile, seufzt und schlägt ein.

»Nicola Schulz.«

»Ach?« Er hätte mit einem italienischen Namen gerechnet oder einem französischen. Paris, denkt er.

»Ich muss«, sagt sie. »Aber wir treffen uns bestimmt …«

»Nicht noch Zeit auf einen Kaffee?« Sie interessiert ihn. Trotz des Wissens um rechts. Man kann Wissen nicht rückgängig machen, aber man kann den Blick davon wenden.

Sie erheben sich; der alte Mann, der sich eingemischt hat, schlurft vor ihnen her; Nicola ist kurz neben André (sie riecht gut), und steigen aus.

»Also?«, fragt er auf dem Bahnsteig. Nicola sieht auf die Uhr.

»Einen kleinen, dann muss ich zur Arbeit.«

Sie nehmen das Bistro unweit des Buchladens.

»Espresso?«, fragt sie.

»Einen Doppelten, wenn er gut ist.«

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Ich sehe sie. Sie gehen zum Bistro hinüber. Zusammen. Interessant. Ich lasse es aufzeichnen. Alles, alles lasse ich aufzeichnen. Schauen Sie nicht so. Sie brauchen sich nicht aufzuregen. Es ist zu Ihrer Sicherheit!

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Es ist Winterfrühling, Vormittag. Auf dem Berliner Hauptbahnhof. Der Zug hält immer noch. André und Nicola gehen den Bahnsteig entlang. Hinter einer Säule schnellt eine Hand hervor, reißt André herum. Die andere Hand knallt in Andrés Magen. Er sackt auf die Knie und schnappt nach Luft. Sekundenschnell das Ganze. (Eins in die Fresse geht fix, anders als im Kino.) Der Schaffner zieht seine Uniform glatt und lächelt mit den Zähnen, bevor er davonschlendert. Alle haben es gesehen. Auch die Kameras. Sie laufen weiter.

2.

Nicola sortiert Bücher in die Regale.

Privatdetektiv, ja klar. Sherlock Holmes. Oder noch besser Philipp Marlow. Und ich bin Spiderman, denkt sie. Der Espresso war gut, und sie haben ein bisschen geplaudert.

Sie schiebt einer Kundin Shades of Grey über die Ladentheke. Die Frau trägt einen Pagenschnitt, ein Kostüm und einen verschämten Blick. Wahrscheinlich liest sie sonst Krieg und Frieden. Der Sohn bekommt Whinnie Pooh. Immerhin.

Danke, hat mich gefreut. Gute Reise.

Nett war es schon, dass er sie gerettet hat. Hätte er ja nicht tun müssen. So ein Dreckssack von Schaffner. Wenn sie nur wüsste, woher … Sie hat sich geirrt, diesmal hat sie sich bestimmt geirrt.

Wer weiß, wofür sie ihn verknackt haben. Vielleicht hat er jemanden umgebracht. Und dann lassen sie solche auf die Menschheit los. Die Amerikaner haben noch die Todesstrafe. (Manchmal wünschte sie … Sie wagt den Gedanken nicht. Sie ist nicht so. Nur wenn sie an Marco denkt, wünschte sie …) Mit der kommen die ja auch nicht weiter. Keiner verkauft ihnen mehr das Zeug, womit sie die Verurteilten umbringen. Zuletzt hat eine Firma in Dänemark sich geweigert und sie haben es bei einer Hinterhofproduktion in England in Auftrag gegeben. Hinterhofdrogen für staatlichen Mord. Und nun ist auch noch das Verfallsdatum abgelaufen, also für die legal verfügbare Todesspritze. Es muss schon ordentlich zugehen. Tod ja, aber mit definierten, zugelassenen Substanzen innerhalb kontrollierter Verfallsintervalle. Ihr letzter Artikel, bevor die Zeitung schloss, handelte davon.

André, man ist unmittelbar zum Du übergegangen, hat sich schnell gefangen. Nur die Wut über die Niederlage hielt über den Kaffee hinweg an. Eigentlich ist er ganz okay. Nur Privatdetektiv? Die leben in Büchern und nicht in Berlin oder Leipzig oder dazwischen. Eigentlich hätte sie gern eine zweite Tasse Kaffee mit ihm getrunken. Er hat eine angenehme Stimme, handwarm. Sie haben sogar gelacht. Gegen den zweiten Kaffee und alles, was hätte kommen können (mit ihm oder einem anderen; ein Date vielleicht, Kino, ein Spaziergang an der Pleiße, wenn es Frühling wird und der Bärlauch im Auwald blüht), spricht ihr Gesicht.

Nach dem …

Ereignis hat es lange gedauert, bis sie sich wieder in die Öffentlichkeit getraut hat. Nun muss sie die Öffentlichkeit auf Abstand halten. Ist besser so. Nur einsam.

Ein Mann nimmt ein Kochbuch und eins über Schnitzen.

Eine dicke Blonde will eine Computerzeitschrift.

Ein Jugendlicher schlendert durch die Gänge und guckt, ob sie nicht guckt. Sie guckt nicht. Sie hat keine Lust, sich mit ihm anzulegen, falls er ein Mickey-Mouse-Heft stiehlt.

Wenn sie ihn im Zug trifft, wird sie ihm einen Guten Tag wünschen und übers Wetter reden. Und nie mehr ihr Ticket vergessen!

Vor dem Schaufenster stehen zwei schmierige Typen und glotzen sie an. Von rechts. Sie muss besser aufpassen. Sie muss immer auf alles aufpassen, besonders auf rechts. Am liebsten würde sie den Mittelfinger hochhalten. Stattdessen geht sie aufs Klo und heult eine Runde. Als sie fertig ist damit, klatscht sie sich Wasser ins Gesicht und stellt sich dem Spiegel. Wie eine Schlange windet sich die Narbe vom Jochbein zum Kinn.

Schlange. Blaue Schlange. Schaffner.

Sie könnte die Narbe wegtätowieren lassen. Sie fährt mit dem Finger den blassen Strich entlang, der vom Kalk geblieben ist. Es hätte gar nichts bleiben dürfen. Aber ihre Haut war zu dünn. Außerdem kam dieses Bakterium, sagten die Ärzte und haben geschnitten und transplantiert und …

Es schmerzt. Jeden Tag.

Eine neue Hornhaut sollte ihr Auge auch haben. Von einem Toten. Wie sieht man mit dem Blick eines Toten? Sie konnte sich nicht entschließen. Lieber bleibt sie blind. Die Narbe schmerzte mehr als die Blindheit. Inzwischen ist sie nicht mehr sicher.

Das Weiß ihres Augapfels schillert.

Wie André sie angesehen hat! Wohlwollend mit dem einen und angeekelt mit dem anderen Auge. Er ist der erste Mann, mit dem sie seit damals bekannt wurde, abgesehen von Sergej. Sergej zählt nicht.

Sie hätte heiraten und Kinder haben und ein ganz normales Leben führen können. Ihre Eltern (etwas gluckst in ihrer Kehle, Eltern, die Leute, die sie aufgezogen haben) hätten sich sicher gefreut. Heirat mit einem Beamten, Reihenhäuschen in Falkensee, zwei Enkel. Oder sind das Adoptivenkel? Und wenn die Frau, die sie Mutter nannte, klapprig würde – Pflege aus Dankbarkeit.

Sie hätte ganz etwas anderes tun können.

Sie hat etwas anderes getan. Marco. In der Schule war er okay. Sehr okay sogar. Sonst hätte sie nicht mit ihm … Es war falsch. Grundfalsch war das!

Ihre nasse Hand knallt auf den Spiegel.

Ich will das nicht mehr!

Eine Schlange! Jetzt!

Und dann den Blick des Toten!

3.

Sie wartet das Ende der Schicht ab, Nachmittag, heute muss sie nicht grillen. Sie fährt mit der U-Bahn nach Kreuzberg. Es ist nicht sehr voll. Ein paar Jugendliche machen sich lustig über einen Mann, der eine Clownsmaske trägt. Sie schubsen ihn, einer spuckt, kicken seine Tasche durch den Gang. An der nächsten Haltestelle entreißt er ihnen seine Aktentasche und schlüpft aus der Bahn.

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Ich sehe ihn. Er steigt aus der Bahn und rennt davon. Es ist der Clown. Der Clown ist es! Der ist mir schon ein paar Mal untergekommen. Ich muss das festhalten. Wer rennt und Masken trägt, ist verdächtig. Ich mache hier nur meine Arbeit. Eine, die ich schon immer gemacht habe. Sie glauben mir nicht? Sie sagen, früher hätte es mich nicht gegeben? Haben Sie eine Ahnung! Ich bin so alt wie Ihresgleichen. Mich gab es immer. Anders, ja. Meine Vorfahren waren … anders. Davon erzähle ich Ihnen später. Sie kommen ja sicher wieder einmal vorbei. Und ich sehe Sie sowieso. Überall.

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Wahrscheinlich gibt es jede Menge Tattoo-Läden in Berlin, jedes Nest hat so ein Ding, aber in Kreuzberg kennt Nicola jemanden.

Sie hat vorgesorgt und will ankommen, bevor sie kotzt, hat drei Oxycodon eingeworfen, vorsichtshalber gegen den Schmerz, knapp zwei Stunden bis zur Wirkung – und zur Nebenwirkung. Wenn das Oxycodon keinen Schmerz hat, auf den es wirken kann, entfaltet es seine Nebenwirkung. Übelkeit, Schwindel, Müdigkeit. Hat der Doc gesagt. Und sie hat es ausprobiert.

Der Laden liegt in einem Hinterhof. Wenn man nicht wüsste, dass es ihn gibt, wäre er nicht zu finden. Mehr etwas für Insider. Für die aber allemal, denn Annabell ist eine Berühmtheit. Sie ist früher Krankenschwester gewesen, hat eine Zeit im OP gearbeitet, bis sie keine Lust mehr auf Schwester Hannelore hatte (jeder OP hat mindestens eine Schwester Hannelore, eine Frau im Fastrentenalter mit viel Erfahrung, Stützstrümpfen und der Krankenhaushierarchie in den Genen). Eine Weile hat sich Annabell an einem winzigen Theater als Maskenbildnerin durchgeschlagen, nebenbei geputzt, später hat sie den Laden aufgemacht. Was sie von Schwester Hannelore gelernt hat – Sterilität und sauberes Arbeiten –, hat sie mitgenommen und mit ihrem bildnerischen Talent gemixt. Sie sticht die kunstvollsten Tattoos der Welt!

»Eine Schlange mitten im Gesicht«, sagt Annabell. »Bist du bekloppt?«

Sie lacht, nachdem sie Nicola umarmt hat. Annabell, die Nicola noch als Nicole kennt und die auch von Didem weiß, die Marco kennt und die ganze Geschichte. Okay, zumindest die halbe. Sie würde Nicola niemals verraten. Und niemand weiß von Annabell. Sie hätten Nicola Annabell nicht erlaubt, damals.

»Warum probierst du nicht erst mal ein kleines auf der Schulter?«

»Nein«, sagt Nicola. »Meine Schulter ist ganz. Mein Gesicht nicht.«

»Aber …«

Nicola schweigt, streicht sich das Haar aus dem Gesicht, wartet.

Annabell (einsfünfundachtzig, knochig, rot gefärbtes Strubbelhaar) pfeift durch die Zähne. »Das haben die ganz ordentlich hingekriegt. Nur dein Auge …«

»Das kommt auch noch dran. Nach der Schlange. Machst du’s nun oder muss ich mir jemand anderes suchen?«

Annabell hebt die Schultern. »Des Menschen Wille …« Sie verschwindet hinter eine Tür, ist kurz darauf zurück und bringt ein chromglänzendes Kästchen herein, einen Ordner mit Bildern, die sie selbst entworfen hat, einen Packen verschweißter Kompressen, ein steriles Abdecktuch, Desinfektionslösung, Tupfer, Farbtöpfchen …

Nicola stöhnt, während das Grün des Tuches das gleißende Licht der Lampe dimmt. Nach einer Stunde windet sich, blutig noch, eine Schlange durch Nicolas Gesicht. Sie sieht zufrieden aus.

4.

Der Schaffner legt sein Schaffnersein auf dem Stuhl rechts neben der Tür ab. Die Luft ist warm und schwer in dem kleinen Zimmer, Schneeregen peitscht gegen die Scheiben, drinnen rotgelbes Licht, draußen graublaues. Tanja fährt mit dem Finger über die Schlange an seinem Hals. Tanja heißt gar nicht Tanja, sie hat einen Namen, den er immer vergisst, deshalb heißt sie Tanja. Sie war die erste von den Tanjas, die er mitgebracht hat. Nun fickt sie schon ein paar Jahre in diesem Zimmer. Wenn es gerade passt, kommt er vorbei.

Sie sagt nichts, zeigt ihm das Lächeln, dass sie für alle bereithält, nur zahlen muss er dafür nicht. Er knetet ihre kleinen Brüste, die in einem schwarzen Spitzenteil stecken, bis ihr ein kurzer Schmerzenslaut entfährt. Sie sagt etwas in einer Sprache, die er nicht versteht. Es klingt zornig, er lacht leise.

Glatte, zartbraune Haut.