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Die »Herbie Feldmann«-Krimis:

Spinner

Rabenschwarz

Der neunte Tod

Malerische Morde

Hart an der Grenze

Totentänzer

Abendlied

Aus finsterem Himmel

Mord mit Eifelblick

Ein Grab für zwei

Außerdem gehören Herbie und Julius zu den Hauptdarstellern des Gemeinschafts-Romans Acht Leichen zum Dessert, der von den acht Autoren des Krimi-Camps verfasst wurde.

Darüber hinaus vom Autor bei KBV erschienen:

Tief unterm Laub

Still und starr

… denn sterben muss David!

Kurz vor Schluss (Kriminalgeschichten)

Ein Viertelpfund Mord (Kriminalgeschichten)

Ein kaltes Haus

Nacht zusammen (Kriminalgeschichten)

Stimmen im Wald

Voll ins Schwarze (Kriminalgeschichten)

Starker Abgang (Kriminalgeschichten)

Mord und Totlach (Kriminalgeschichten)

Totholz

Schuss mit lustig (Kriminalgeschichten)

Ihr Mord, Mylord (Kriminalgeschichten)

So tot wie nie (Kriminalgeschichten)

Kurz und kopflos (Kriminalgeschichten)

Ralf Kramp, geb. 1963 in Euskirchen, lebt in einem alten Bauernhaus in der Eifel. Für sein Debüt Tief unterm Laub erhielt er 1996 den Förderpreis des Eifel-Literatur-Festivals. Seither erschienen mehrere Kriminalromane und zahlreiche Kurzgeschichten. In Hillesheim in der Eifel unterhält er zusammen mit seiner Frau Monika das »Kriminalhaus« mit dem »Deutschen Krimi-Archiv« (30.000 Bände), dem »Café Sherlock«, einem Krimi-Antiquariat und der »Buchhandlung Lesezeichen«. www.ralfkramp.de · www.kriminalhaus.de

Ralf Kramp

Ein Grab für zwei

Ein Herbie-Feldmann-Krimi

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Originalausgabe

2021 © KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: info@kbv-verlag.de

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp unter Verwendung von
© creativenature.nl und © Georgy Dzyura - stock.adobe.com

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-95441-524-3

E-Book-ISBN 978-3-95441-535-9

Für Simone und Patrick und ihre Familien.
Willkommen, Frederik!

»Die Katastrophe fängt damit an,

dass man aus dem Bett steigt.«

Thomas Bernhard

»Man sagt von Toten

nichts als Gutes,

ja, man tut’s

aus Pietät, das ist klar.

Wir woll’n trotzdem

bei alledem

nicht überseh’n,

was für ein Dussel er war.«

aus: Den Seinen unvergessen von Ulrich Roski

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

Prolog

Nehmen wir mal an, Sie wollen eine Leiche vergraben …

Es gibt für alle möglichen Dinge ideale Plätze. Wundervolle, einzigartige, prädestinierte Plätze, die über ausgezeichnete Voraussetzungen verfügen. Belebte Stellen beispielsweise, an denen man gute Geschäfte machen kann, mit hübsch viel Laufkundschaft. Man braucht dafür bevölkerte Orte, die häufiger frequentiert werden als andere, bei denen die Menschen aber dennoch nicht so in Eile sind, dass sie gleich weiterströmen. Plätze, an denen alles stimmt – je nachdem, was man vorhat.

Es gibt Plätze, von denen aus man einen perfekten Überblick hat, eine durch nichts verstellte Weitsicht, die einem viele Geheimnisse offenbart, wenn man aufmerksam das Auge schweifen lässt.

Es gibt aber auch das Gegenteil davon. Plätze, an denen man verborgene Dinge tun kann. Will man eine Unternehmung im Geheimen durchführen, benötigt man einen Platz, an dem niemand etwas von den Heimlichkeiten mitbekommt, denen man dort nachgeht. Solche Orte, so scheint es, werden zunehmend seltener in unserer Zeit.

Nehmen wir also an, Sie wollen eine Leiche vergraben. Wirklich nur mal angenommen. Auf den ersten Blick kann man das natürlich überall tun. Im Stadtpark, im Gebüsch hinter der Autobahnraststätte, im Grünstreifen neben dem Finanzamt, in der Weitsprunggrube der Sportanlage … All das ist selbstverständlich nicht angeraten, das ahnen Sie schon selbst. Man braucht dazu einen idealen Platz. Einen Platz, an dem man sehen kann, ohne gesehen zu werden. Einen Platz, den man unbeobachtet erreichen und wieder verlassen kann. Man braucht Mut, Kraft und ein bisschen Geschick. Und selbstverständlich eine Leiche.

Nehmen wir mal an, bei Ihrer Leiche handelt es sich um einen mittelgroßen Körper. Nicht zu schwer. Einen leblosen Körper zu bewegen, ist eine Heidenarbeit, wenn man dabei nicht mehr als seine eigene Muskelkraft zur Verfügung hat. Wahrscheinlich haben Sie eine Vermutung, was das bedeutet, aber Sie können sicher sein, dass Sie keine Ahnung haben, wie schwer so etwas in Wirklichkeit ist. Fatalerweise kann man es ja vorher noch nicht einmal üben. Folglich braucht man bei der Planung eine gehörige Portion Vorstellungskraft.

Setzen wir also mal voraus, Sie haben die Leiche, die Vorstellungskraft, das Geschick und … ja, natürlich auch den Spaten. Selbstredend brauchen Sie einen Spaten! Einen guten Spaten, ein solides Gerät. Nun ja, es geht auch mit einem Baumarkt-Sonderangebot. Aber das müssen Sie selbst wissen.

Nehmen wir vor allen Dingen aber mal an, Sie haben den idealen Platz! Einen perfekten Platz, ja, den haben Sie. Einen besseren als den können Sie gar nicht finden, da sind Sie sich sicher. Sie sollten sich sehr sicher sein, was den Platz angeht!

Sie können sich nicht in diese Situation hineinversetzen? Hm. Ist das denn wirklich so schwierig?

Na gut, versuchen wir, uns jemand anderen vorzustellen. Eine Projektion auf ein anderes menschliches Wesen, das mit allem bestens ausgestattet ist, was für diese Tat benötigt wird. Ja, auch mit dem Spaten.

Es ist schwer, sehr, sehr schwer, den in Folie gewickelten Körper aus dem Kofferraum zu zerren. Diese kleine, metallene Hürde, vielleicht zwei Handbreit hoch, stellt schon ein gigantisches Hindernis dar. So ein toter Körper ist unglaublich träge. Wenn er erst einmal irgendwo liegt, will er da auch liegen bleiben. Aber das geht nicht. Er muss verschwinden. Er wird also gepackt. Die Person hat vielleicht schon wieder verdrängt, wie schwer es war, ihn überhaupt in den Kofferraum hineinzukriegen, hat inzwischen Kräfte gesammelt. Also jetzt ein herzhaftes Zupacken. Aber auch das klingt wieder leichter, als es sich in der Realität darstellt. Die Sommernacht ist ungewöhnlich schwül, die Folie rutscht unter den verschwitzten Händen weg, die Kabelbinder, die straff um den Hals und die Füße der Leiche gespannt sind, bieten zwar etwas Halt, schneiden aber schmerzhaft in die Finger.

Dann kommt schließlich der Moment, in dem der Körper mit dem oberen Ende so weit über die Kante des Kofferraums hinausragt, dass ein letzter, kleiner Ruck genügt, um ihn darüber hinweg in die Tiefe stürzen zu lassen.

Kaltes, lebloses Fleisch, verhüllt von ein wenig Kleidung, eingewickelt in eine Kunststoffplane – das macht fürchterliche Geräusche, wenn es auf dem staubigen Boden einer sommerlich dürren Wiese aufschlägt. Vielleicht bricht einer der Knochen dabei, womöglich springt ein Gelenk auseinander – die Leiche spürt von alldem nichts mehr. Ja, gut, das ist überhaupt kein Trost, das muss man zugeben.

Als das Geräusch verklungen ist, das sich in der Stille der warmen Sommernacht wie eine gewaltige Explosion vernommen hat, werden wieder die flüsternden Grillen hörbar. Der Atem ist noch angehalten, in weiter Ferne ruft leise ein Nachtvogel. Ein Käuzchen womöglich. Ein Fuchs bellt heiser. Man kennt solche Situationen aus dem Fernsehen, aber man hat sich nie vorstellen können, sie einmal selbst zu durchleben. Schaurig ist das, richtig schaurig. Man ist allein in der Nacht – und doch nicht allein. Die Begleitung ist allerdings tot wie ein Zentner Kartoffeln.

Jetzt darf wieder geatmet werden. Niemand hat etwas gehört. Außer den Tieren natürlich. Aber die nehmen keine Notiz davon, und weitererzählen werden sie es erst recht nicht.

Nun wird es erneut laut. Die Folie schleift zischend und schmirgelnd über den Boden. Zum Glück ist das Gelände ein wenig abschüssig. Schön, dass irgendetwas mal leichter geht als erwartet.

Der Schweiß läuft in die Augenwinkel. Er rinnt zwischen den Schulterblättern hinab. Überhaupt ist er überall, am ganzen Körper. Ob es Angstschweiß ist oder ob die ungeheure Anstrengung ihn aus den Poren treibt – wer weiß das schon.

Nach wenigen Metern ist schließlich der ideale Platz erreicht. Der Blick geht, wenn man aufrecht steht, fast endlos über die tiefer liegende Ebene. Weiter hinten sind ein paar Lichter. Das nächste Dorf ist schön weit weg. Wenn man sich nicht kerzengerade aufrichtet, sieht einen niemand. Hier ist ja auch zu dieser Stunde kein Mensch unterwegs. Ein Jäger vielleicht. Aber der nächste Hochsitz steht hinter der nächsten Hügelkuppe, das hat sich bei der Vorbesichtigung herausgestellt. Hauptsache ist, dass man kein Licht macht. Für das, was man tut, braucht man kein Licht. Die Begutachtung des Geländes bei Tag hat alles offenbart, was man wissen muss. Jetzt deutet das Mondlicht die wenigen Fixpunkte an, die man kennen muss: den verwitterten Zaunpfosten, den rostigen Blechkanister, die parallel verlaufenden Fahrspuren, die früher einmal von gewaltigen Traktorrädern in die Wiese gewalzt wurden und sich im mageren Gras verlieren. Man ahnt all das mehr, als dass man es sieht. Es handelt sich um ungepflegtes Brachland. Früher mag hier ein Feld gewesen sein. Nicht zu erkennen, was hier einmal angebaut worden ist.

Ein undeutliches Geräusch drängt sich in das Bewusstsein. Eine Art sonores Knurren, das anschwillt und wieder abebbt. Was sich zuerst anhört wie die Drohung eines wilden Tiers, stellt sich als die Ankündigung eines heraufziehenden Gewitters dar. Ein Blick in die Ferne zeigt es. Am Horizont leuchtet es zitternd auf. Das ist nicht unbedingt ein ermutigendes Signal.

Dieser Mensch setzt jetzt also den Spaten an, den er an der ausgewählten Stelle in den Boden gerammt hat, bevor er sich der enormen Mühe mit der Leiche unterzogen hat. Der Boden ist trocken. Das hat Vor- und Nachteile, wie Sie sich denken können. Zwar klebt nicht der feuchte Lehm faustdick unter den Sohlen der Gummistiefel, aber dafür ist das Erdreich fest, kompakt, und es staubt gewaltig. Wenn das Gewitter tatsächlich näher kommt, kann sich die Situation rasch ändern.

Jetzt kommt die Fleißarbeit. Der Schweiß kommt von hier an ganz zweifellos von der ungewohnt anstrengenden Betätigung. Machen Sie es nicht wie die Person, die wir hier bei ihrem Tun beobachten. Nehmen Sie zusätzlich auch noch eine Spitzhacke und eine Schaufel mit. Eine Grabschaufel mit rund geformter Vorderkante. Drei bis vier Kubikmeter schafft ein geübter Arbeiter damit in einer Stunde. Bei festem Boden natürlich weit weniger. Und nur mit einem Spaten ist es ein verdammt hartes Stück Arbeit, das merkt jetzt übrigens auch die Person.

Sie stößt das Metall immer wieder in die Erde und wirft das Erdreich ziellos hinter sich. Das ist nicht klug, denn hinterher soll ja auch wieder alles ordentlich zugeschaufelt werden, und wenn man sich dann erst auf die Suche nach dem verschleuderten Material machen muss …

Wer auch immer hier gräbt, hat wenig Übung. Das merken Sie jetzt auch, oder?

Aber die Verzweiflung treibt die Person an. Sie hat den Kopf gereckt und sich davon überzeugt, dass sich die Blitze langsam, aber stetig nähern. Sie schaufelt jetzt schneller, verbissener. Man könnte das Zähneknirschen hören, wenn es nicht vom rauen, schabenden Geräusch des Spatens übertönt würde. Die vagen Gedanken an die Blasen, die unweigerlich an den Fingern entstehen werden, die Überlegungen, ob es überhaupt das Richtige ist, was hier getan wird, ob man nicht alles hätte ganz anders lösen können, treten jetzt völlig in den Hintergrund. Kurz will sich der Zweifel zu Wort melden, ob es nicht doch besser gewesen wäre, die Leiche so lange im Kofferraum zu belassen, bis das Loch in all seiner famosen Geräumigkeit zur Verfügung steht, wird aber beiseitegeschoben. Jetzt muss gegraben werden!

Mittlerweile ist der Donner lauter geworden. Vielleicht ist es nur ein kurzes Sommergewitter, das rasch weiterziehen wird. Ist es gefährlich, währenddessen hier auf der Anhöhe zu sein? Lädt man den Blitz womöglich ein, genau an dieser Stelle einzuschlagen? Weiter hinten stehen Bäume. Sind das Eichen? Das wäre gut, oder?

Egal. Weitergraben! Die Ausrichtung des Lochs spielt keine Rolle. Erwarten Sie bitte keine akkurat rechteckige Grube, die hier entsteht, mit kerzengeraden, stabilen Wänden. Nein, das hier wird ein flacher Trichter, in den von den Seiten immer wieder das lose Geröll nachrutscht. Die Ästhetik spielt eine stark untergeordnete Rolle. Hier soll eine Leiche verschwinden, sonst nichts.

Wollen Sie etwas Erfreuliches hören? Unter der festen Oberschicht ist das Erdreich jetzt doch deutlich lockerer, als zunächst zu befürchten gewesen war. Trotzdem ist es trocken und staubig. Nach einer gefühlten Ewigkeit ist es Zeit für eine kurze Verschnaufpause und eine Begutachtung des bis jetzt Geschafften. Das sieht schon sehr nach einer Grube aus. Wie tief mag sie sein? Im kränklichen Licht des abnehmenden Mondes ist es nicht so leicht, das zu schätzen. Ist sie schon einen halben Meter tief? Würde die Person jetzt einen Zollstock hervorholen und nachmessen, wäre sie sicherlich enttäuscht. Gerade einmal dreißig Zentimeter an der tiefsten Stelle. Das verspricht eine lange Nacht zu werden.

Die Leiche liegt daneben, als hätte sie mit alldem nichts zu tun.

Jetzt schieben sich unvermittelt Wolken vor den Mond. Das geht ungeheuer rasch vonstatten. Mit einem Mal ist es stockfinster. Und im nächsten Moment zerreißt ein Blitz die Schwärze und verwandelt einen Wimpernschlag lang alles in eine brutal kontrastierende Schwarz-Weiß-Szene. Der Donner folgt in beängstigend kurzem Abstand. Das Gewitter kommt mit hoher Geschwindigkeit näher.

Es wird für Sie von Nutzen sein, zu hören, dass zu all den nötigen Vorkehrungen, die zu treffen sind, auch eine Kenntnis der Großwetterlage zu empfehlen ist. Für den Menschen aber, der hier gerade im Begriff ist, eine Leiche zu vergraben, kommt dieser Hinweis eindeutig zu spät.

Er flucht leise in sich hinein und klammert die Finger grimmig um den Spatenstiel. Untermalt vom sich nähernden Rumoren des Sommergewitters geht es weiter. Jetzt soll nicht mehr so sehr in der Breite gearbeitet werden, sondern es ist ermutigender, wenn man an einem Ende der Grube in die Tiefe geht, um ein schnelles Erfolgserlebnis zu haben. Dann kann man die erreichte Sohle der Länge nach durch die Grube fortführen. Diese Technik scheint sich zu bewähren. Das Blatt des Spatens versinkt zu mehr als der Hälfte in der Erde, die jetzt auch nicht mehr so elend trocken zu sein scheint wie vorhin noch so dicht unter der Oberfläche. Der Aushub, der jetzt zur Seite geworfen wird, staubt nicht mehr so stark, und er hört sich auch anders an. Satter, dumpfer.

Mehrere Blitze tanzen am Himmel miteinander und illuminieren die Kulisse wie eine Unzahl flackernde Neonröhren. Mit dem nächsten ohrenbetäubenden Donner kommt auf einmal Wind auf. Es sind kraftvolle Böen, die aus dem Nicht zu entstehen scheinen und Staub aufwirbeln, die die Schwüle wegpusten und an den Kleidern unserer Person zerren. Im ersten Moment ist es erfrischend, doch in Verbindung mit dem unabwendbar heranrollenden Gewitter verheißt der Wind nichts Gutes.

Das Graben wird schneller, hektischer. Gleichzeitig lässt die Kraft nach, die Stöße verlieren an Wucht, immer weniger Erde wird mit jedem Spatenschwung beiseite geschleudert. Der verschwitzte Körper krampft sich bei jedem Donnergrollen zusammen und bückt sich instinktiv unter jedem kreischend grellen Blitz.

Und dann fallen die ersten Regentropfen nass und schwer und gefühlt so groß wie Kinderfäuste. Im Licht des nächsten Blitzes sehen die Flecken ihres Aufpralls auf dem Boden kreisrund und schwarz aus, als regnete die Nachtfinsternis wie zähe Tinte vom Himmel.

Die Person keucht vor Angst und Anstrengung. Die Bewegungen mit dem Spaten werden immer fahriger und ungenauer.

Die Tropfen folgen schneller aufeinander, dichter, nasser, fester. In der entstandenen Grube wird es rasch sumpfig. Wie zu erwarten war, saugt sich das klebrige Erdreich auch schon an den Stiefelsohlen fest und erschwert jeden Schritt.

Dann ist da ein Stein, der weißlich leuchtend im dunklen Morast auftaucht. Gerade da, wo es sich bis jetzt noch fast mühelos graben ließ. Die Person stößt einen lauten Fluch aus. Egal, im sich ausbreitenden Tosen am Nachthimmel wird das niemand hören.

Der Spaten kratzt mehr und mehr von der Oberfläche des Steins frei. Die Regentropfen tanzen darum und peitschen die nasse Erde auf. Der Versuch, die Kante des Spatenblatts unter den Rand des Hindernisses zu schieben, um es aus der Tiefe heraufzuhebeln, misslingt, das Metall rutscht immer wieder ab. Der Stein ist groß, viel größer als alle anderen, die hier in der Erde geschlummert haben. Groß und rund, mit vom Lehm verklebten Vertiefungen. Unsere Person stürzt mit lautstarken Verwünschungen auf die Knie, das schlammige Wasser, das sich bereits in der Grube gesammelt hat, spritzt auf. Das ist egal. Alles ist egal! Es muss hier und jetzt zu Ende gebracht werden! Hier ist der ideale Platz, und dies ist die letzte Gelegenheit!

Die Finger wühlen sich durch den Morast, versuchen, die Form des Steins zu umfassen, eine Stelle zu finden, an der man ihn packen und aus der Erde reißen kann.

Und dann offenbart der nächste Blitz in gnadenloser Deutlichkeit am Rand des Steins eine Reihe von Zähnen, die ein obszönes, halbes Grinsen aus der Tiefe zu unserer Person heraufschicken.

Dem nun folgenden schrillen Aufschrei folgt eine Schockstarre, in der im Bruchteil einer Sekunde die ganze Situation in ihre deutlich erkennbaren Einzelteile zersprengt wird. Dort die verpackte Leiche in der Folie, hier das halb ausgehobene Grab und da der menschliche Schädel, um den munter gluckernd das braune Regenwasser herumspringt.

In diesem Augenblick geben sich Blitz und Donner endgültig die Hand und brüllen gemeinsam durch die Nacht. Und tief unter ihnen kauert eine erbarmungswürdig zitternde Menschengestalt in einer finsteren, schlammigen Vertiefung, und das, was ihr jetzt über die Wangen rinnt, ist nicht mehr nur der Schweiß, und es ist auch nicht nur der Regen. Es sind heiße Tränen der Enttäuschung und der abgrundtiefen Mutlosigkeit.

1. Kapitel

Schon das Hinweisschild an der Straße zwischen Tondorf und Engelgau erzählte eine Geschichte. Eine sehr alte Geschichte. Freie Tankstelle – mehr stand nicht darauf. Nichts Ungewöhnliches auf den ersten Blick. Aber sowohl die verblichene Farbe – ein mulmiges, mattes Graublau – und die Schrift – schnörkellose, weiße Blockbuchstaben mit dunkelgrauem Schlagschatten – als auch der rötlich schillernde Rost, der sich seit einer halben Ewigkeit von den Kanten der Metallplatte her beständig ins Zentrum hineinfraß, all das ließ jeden Autofahrer keinen Gedanken daran verschwenden, hier rechts abzubiegen. Die große, moderne Tankstelle in Blankenheim hatte man gerade erst passiert, die nächste in Engelgau war bereits in erreichbarer Nähe. Kein Mensch würde auf den Gedanken kommen, hier den Blinker zu setzen und das Steuer herumzudrehen, um auf dem buckligen Wirtschaftsweg nach einer Tankstelle zu suchen, die es doch eigentlich nicht mehr geben konnte. Das Schild war ein Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit, aus den Tagen, als hier noch nicht die A1 das Land zerschnitt. Hier konnte heute einfach keine Tankstelle mehr stehen. Auch das Sackgassenschild gleich daneben bestätigte das. Diese schmale Straße mit dem zerrütteten Asphalt hatte ehedem einmal nach Nettersheim geführt, vorbei an ein paar verstreut stehenden Häusern, einem Aussiedlerhof und einer Tankstelle. Ein paar der Gebäude waren in den Siebzigern dem Autobahnbau geopfert worden. Daher konnte eigentlich auch diese Tankstelle heute unmöglich noch regulär betrieben werden. Wahrscheinlich war sie längst dem Erdboden gleichgemacht worden. Das hatte Herbie jedenfalls immer geglaubt.

Er dachte daran, dass dieser Tag einige Stunden zuvor durchaus vielversprechend angefangen hatte. Ein echter Sommertag, nicht zu heiß und nicht zu kühl. Über ihm ein freundlicher, blauer Himmel mit ein paar gemächlich dahinziehenden Wolken. Herbie war unschlüssig gewesen, ob er zum Baden an die Maare oder an den Freilinger See fahren sollte. Julius hatte dazu nur sehr verächtlich etwas von Luxusproblem gemurmelt.

Doch dann hatte sich dieser Tag mit einem Schlag verfinstert. Seit Herbie denken konnte, hatte ein Anruf seiner Tante Hettie noch nie irgendeinen Anlass zur Freude gegeben.

Warum gehst du dann trotzdem immer wieder ran? Julius saß wie immer auf dem Rücksitz und betrachtete gelangweilt seine Fingernägel.

»Weil ich die Hoffnung einfach noch nicht aufgegeben habe. Die Hoffnung darauf, dass ich irgendwann ihre Nummer im Display sehe, mit einem Klick die Verbindung herstelle und am anderen Ende statt des schrillen Gekeifes meiner Tante eine dunkle, sehr gefasst klingende Männerstimme höre. Jemanden, der etwas Ähnliches sagt wie: Bitte verzeihen Sie die Störung, aber Ihre Nummer wurde zuletzt von diesem Gerät aus angerufen. Sind Sie Verwandtschaft von Frau Hellbrecht? Oh, der Neffe? Hm, wir müssen Sie leider davon in Kenntnis setzen, dass Ihre Tante ganz plötzlich von uns gegangen ist.«

Julius schnaubte amüsiert. Optimist.

»Was bleibt mir denn sonst übrig?«

Der schmale Weg wand sich um eine kleine Anhöhe. Links war die riesige Brachfläche am Autobahnende zu erkennen, auf der vor einigen Jahrzehnten die Stürme Vivian, Wiebke und welche zarten Frauennamen sie noch alle gehabt haben mochten, alles brachial abgeholzt hatten. Inzwischen war dort zwar wieder aufgeforstet worden, aber die Bäume waren noch mickrig, die Spuren der Verwüstung immer noch deutlich zu erkennen.

Herbie vermutete, dass sie sich auf ihrem Weg ungefähr in die Richtung der großen Wildbrücke bewegten, die ein paar Jahre zuvor mit enormem Aufwand über die A1 geschlagen worden war.

Wo hatte seine Tante ihn jetzt nur wieder hinzitiert? Was tat sie nur hier in diesem abgelegenen Winkel?

»Irgendwann werde ich mit Inbrunst die Disteln und Brennnesseln auf ihrem Grab gießen. Aber bis dahin beiße ich die Zähne zusammen und tanze nach ihrer Pfeife.«

Du könntest doch so lange ins Ausland gehen. Die Identität ändern, Pigmente spritzen und die Nase operieren lassen.

»Die findet mich überall, egal in wen ich mich verwandle. Und vor allem verwaltet sie mein gesamtes Geld. Ich bin von diesem alten Drachen abhängig, Julius. So wie die Tulpe von der hässlichen Zwiebel.«

Julius schnaubte. Absurder Vergleich.

Herbies Zwiebel kam mit einem Mal in Sichtweite. Die kleine, alte Frau im fliederfarbenen Sommermantel saß im Schatten der großen, flachen Überdachung auf einem Klappstuhl vor dem Tankstellengebäude und hatte die Hände über dem Knauf ihrer orientalischen Krücke gefaltet. Wohin ihr Blick gerichtet war, verbarg eine Sonnenbrille mit grotesk großen Gläsern. Zu ihren Füßen schnüffelte ein extravagant zurechtfrisierter Pudel auf dem ölfleckigen Pflaster bei den Zapfsäulen herum.

»Da sitzt mein Verderben«, knurrte Herbie und lenkte den Wagen rechts vom Weg hinunter auf den etwas tiefer liegenden Schotterplatz, der anscheinend übergangslos in die gepflasterte Fläche bei den Zapfsäulen mündete.

Ich dachte immer, ich sei dein Verderben. Julius schmunzelte amüsiert.

»Sagen wir mal, ihr beide schenkt euch nichts.« Herbie löste den Gurt. »Nur dich sieht wenigstens keiner außer mir.«

Ein Verlust für die Menschheit. Herbies Begleiter zog die Augenbrauen mit der ihm angeborenen Arroganz in die Höhe und spitzte die Lippen.

Bei Julius handelte es sich um einen graubärtigen, groß gewachsenen Mann mittleren Alters von enormen körperlichen Ausmaßen. Er war eine überaus gepflegte Erscheinung im edlen Kammgarn-Dreiteiler. Somit war er stets das genaue Gegenteil von Herbie mit den ungekämmten Haaren und der nachlässigen Kleidung, die sich in Schnitt und Farbe nie so recht irgendeinem Modejahrzehnt zuordnen ließ.

Mit seiner hemdsärmeligen Art war Herbie bei den Leuten in seiner Heimat durchaus beliebt. Er war freundlich und harmlos. In der Eifel kannte man ihn. Allerdings in erster Linie, weil jeder wusste, dass er einen unsichtbaren Begleiter hatte. Dass er einen neben sich gehen hatte.

Herbie stieg aus und schloss vorsichtig die Tür. Nicht, dass wieder etwas abfiel, so wie kürzlich erst der rechte Seitenspiegel. Der feuerrote Kastenwagen hatte weitere Klebebuchstaben der ursprünglichen Firmenbeschriftung verloren. Von dem Firmennamen Bodo Schönleber fehlten jetzt die Os und das Sch, und bei dem Wort Fliesenleger hatte irgendein Scherzbold die beiden Ls mit Edding durch ein R und ein N ersetzt.

Die TÜV-Prüfung war seit acht Monaten überfällig und würde, wenn sie demnächst stattfand, zu keinem guten Ergebnis führen. Herbie genoss den Hauch von Abenteuer, wenn er mit der alten Gurke unterwegs war.

Er sah sich kurz um, bevor er seine Tante ansteuerte.

Diese Tankstelle ist wie gemacht für dein Auto, sagte Julius grinsend und deutete auf die Anzeigetafel, an der nur ein paar vereinzelt herumhängende Ziffern zu einem munteren Ratespielchen um die Tagespreise von Benzin, Super und Diesel einluden.

Das Gebäude selbst war in einem desolaten Zustand. Die Schaufensterscheiben fast blind, die Zapfsäulen verbeult. An allem nagte der Rost. Rechter Hand war die finstere Öffnung einer Waschanlage zu erahnen, links vom Hauptgebäude stand ein großer Überseecontainer, von dessen ursprünglicher Lackierung gar nichts mehr übrig geblieben war. Dahinter erkannte Herbie ein paar Fahrzeugwracks mit platten Reifen und zersprungenen Scheiben, zwischen denen ein Urwald von Brennnesseln und Brombeeren waberte. An der rechten Seite des Gebäudes luden eine morsche Holzbank und ein verrostetes Klettergerüst jeweils zum Verschnaufen oder zur Körperertüchtigung ein. Oder eher aus.

Auf der Regenrinne des großen Flachdachs saßen ein paar Vögel, die sich mit quietschenden Lauten unterhielten. Ein paar andere kreisten über dem Gebäude. Waren das Geier? Nein, die hier waren grün. Ungewöhnlich grün.

»Das ist keine Tankstelle, Julius, das ist ein Tankstellen-Museum!«, knurrte Herbie aus dem Mundwinkel.

»Mit wem sprichst du da?«, fragte seine Tante schnarrend. Ihr Tonfall klang überaus alarmiert.

»Mit mir selbst!«, beeilte sich Herbie zu sagen. Seinen Begleiter durfte er ihr gegenüber mit keiner Silbe erwähnen. Sie würde nicht zögern, ihn wieder der Psychiatrie zuzuführen, wenn sie erst herausfand, dass er immer noch diese Macke namens Julius hatte. Und dann würde er endgültig entmündigt werden, und das Geld, das ihm seine Mutter vor geraumer Zeit hinterlassen hatte, könnte er ein für alle Mal in den Wind schießen.

Der Pudel kläffte ihn giftig an, als er sich seiner Tante näherte.

»Schon gut, Bärbelchen, ich werde deinem Frauchen schon nichts tun.« Er lächelte säuerlich. »Was sie nur immer mit mir hat?«

»Mein kleiner Liebling besitzt eine vorzügliche Menschenkenntnis. Sie erkennt einen Trottel auf hundert Meter Entfernung. Warum kommst du jetzt erst?«

»Ich habe diese Tankstelle gesucht. Irgendwie habe ich …«

»Habe ich dir nicht haargenau beschrieben, wo sie zu finden ist?«

»Das schon, aber ich konnte einfach nicht glauben, dass du hier …«

»Fasel kein dummes Zeug!« Sie erhob sich und strich die Falten ihres Lodenkostüms glatt. »Ich habe lange genug gewartet.«

Julius kicherte. Noch ein paar Stündchen länger, und der allgegenwärtige Rost hätte angefangen, an ihr zu knabbern. Der ekelt sich vor nichts.

»Wo ist denn dein Auto?«, fragte Herbie und schickte den Blick suchend hin und her. Hinter dem Areal stieg das Gelände sanft an. In der Ferne war der Waldrand jenseits der Autobahn erkennbar. Mit großer Deutlichkeit drang das Geräusch des Verkehrs zu ihnen herüber. Der Mercedes aber war nirgends zu sehen.

»Da drin«, sagte Henriette Hellbrecht düster und wies mit der Spitze ihrer Krücke auf die Waschhalle. »Und wenn du wissen willst, wo Schlösser ist, dann sage ich ebenfalls da drin. Und wenn es dich interessiert, was er da drin macht, dann sage ich, er wartet auf dich.«

»In der Waschanlage?«

»Im Auto. Erspar mir deine blöde Fragerei und sieh nach! Ich hoffe, er atmet noch. Vorhin dachte ich, er kriegt einen Infarkt.«

Der alte Fritz Schlösser war in seiner aktiven Zeit Postbeamter in Bad Münstereifel gewesen. Was ihn nach einem langen, bequemen Berufsleben und nach dreizehn Jahren müßigen Rentnerdaseins dazu getrieben hatte, ausgerechnet einen Job als Chauffeur bei Tante Hettie anzunehmen, war eins der großen Geheimnisse des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Herbie bewegte sich langsam in die Richtung, in die seine Tante gezeigt hatte. Der garstig kläffende Köter, dem vor lauter Hass die Augen schier aus den Höhlen traten, folgte ihm genau so weit, wie Tante Hettie es ihm mit der Ausziehleine erlaubte. Herbie spürte den heißen Atem des Hundes ganz nah an seinen Knöcheln.

Als er um die Ecke ins Innere der Halle spähte, begriff er nicht auf Anhieb, was geschehen war. Ein Teil des Kühlergrills von Tante Hetties schwarzem Mercedes war zwischen den großen, tropfnassen, senkrechten Bürsten zu sehen. Etwas weiter zurückliegend sah er die Frontscheibe des Wagens, die halb mit Schaum bedeckt war. Schlössers Gesicht mit der klobigen Brille konnte Herbie dahinter nur erahnen. Das, was er aber erkennen konnte, war schiere Verzweiflung. Der alte Mann fuchtelte mit den Händen im Wageninneren herum.

Undeutlich waren seine Rufe zu hören, und das auch nur, weil es ansonsten fast still war, weil die Maschinerie der Waschanlage offenbar mitten in ihrer Bewegung erstarrt war. Nur ein vielstimmiges Tropfen untermalte die Szenerie und die schrillen Laute der seltsamen, grünen Vögel. Die Bürsten der Anlage drehten sich nicht mehr, aus den Düsen floss kein Wasser mehr, es troff und tröpfelte nur von überallher auf den nassen Boden.

Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm das will. Julius deklamierte Arbeiterlyrik. Das war ja mal ganz was Neues.

»Aber warum läuft denn hier nichts mehr?«, raunte Herbie ihm so zu, dass Tante Hettie nichts davon mitbekam.

Dachte er jedenfalls.

»Der alte Trottel ist in diesem Schrotthaufen von einer Waschanlage gefangen wie eine Maus in der Falle.« Sie stand mitten in der Toröffnung.

»Aber wieso … was … wann …?«

»Du faselst schon wieder! Überleg dir lieber schleunigst, wie du ihn da wieder rausholst!«

Herbie betrachtete konzentriert das vor ihm liegende Bild. Irrte er sich, oder stand eine der Bürsten schief?

Irre ich mich, oder steht eine der Bürsten schief? Julius schien großes Vergnügen an der Situation zu entwickeln.

Herbie bedachte ihn nur mit einem kurzen, schnellen Seitenblick. »Eine der Bürsten steht schief«, konstatierte er. »Wie ist das passiert?«

»Weiß der Himmel. Schlösser ist um das Gebäude herumgefahren und von hinten in die Waschhalle rein, so wie immer.«

»So wie immer? Heißt das, ihr wart schon öfter hier?«

»Das tut nichts zur Sache. Jedenfalls hat das Ding angefangen zu schrubben und zu schäumen, und mit einem Mal gab es einen schrecklichen Krach. Es hat gescheppert und gerumst, und dann roch es irgendwie verschmort.«

Bärbelchen hatte jetzt einen Zipfel von Herbies Hosenbeinen zu packen gekriegt und zerrte daran.

»Hör auf, mit dem Hund zu spielen, und tu was!«, herrschte ihn seine Tante an. »Ich will nach Hause, es wird Zeit für meine Tabletten, und wenn Schlösser da drin kollabiert, kann ich mich schon wieder nach einem neuen Fahrer umsehen.«

Sie ist ein gütiger Engel.

»Wo ist der Tankwart?«

»Im Krankenhaus.«

»Aber wer … wenn er … was …?«

»Sprich deine Sätze zu Ende!«, keifte seine Tante. »Der Tankwart nützt uns jetzt nichts! Da drinnen hinter der Kasse sitzt ein pickliger Praktikant, der zu nichts nütze ist und dem ich verboten habe, irgendetwas zu tun. Nachher macht er noch Kratzer oder Beulen in mein Auto!«

»Aber ich bin doch kein Mechaniker, Tantchen. Wie soll ich denn den Wagen da rauskriegen? Was ist denn, wenn Schlösser einfach wieder zurücksetzt?«

»Ja, glaubst du vielleicht, wir sind völlig meschugge? Natürlich haben wir alles probiert!« Sie stieß wütend den Stock auf den Boden. »Ich habe Schlösser die Kommandos gegeben, und er hat alles versucht! Hinten hängt eine weitere Bürste quer, die da eigentlich nicht sein sollte. Der Wagen ist verkeilt! Eingeklemmt! Verbarrikadiert! Tu jetzt was!« Verärgert kratzte sie mit der Stockspitze in den Rillen des Pflasterplatzes herum.

Die Ungeduld der alten Nebelkrähe wächst. Wird Zeit, dass du langsam ein bisschen Engagement zeigst.

Herbie kratzte sich am Kopf und zwang sich, etwas zu tun, ganz gleich, wie nutzlos es sein würde. Er ruckelte an den senkrechten Metallstreben und versuchte, an den nassen Fransen der Reinigungselemente zu zerren. In der Höhe waren die Bürsten in einer querlaufenden Führungsschiene verankert. Eigentlich sollten sie beide symmetrisch auf die Mitte zugerollt sein, doch die eine, so war aus der Nähe jetzt deutlich erkennbar, stand etwa eine Handbreit zur Seite versetzt. Herbie kriegte die glitschigen Lappen einfach nicht zu fassen, und schon bald war er selbst klatschnass.

Möchtest du vielleicht auch noch ein bisschen Aktivschaum, eine Unterbodenreinigung und eine feine Glanzwachsbehandlung?

»Es nützt nichts, Tante Hettie«, rief Herbie nach draußen. »Alles total verklemmt. Ich versuche es mal hinten!«

Doch auch da wurden seine Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt. Die quer in der Luft hängende Bürste ließ sich keinen Millimeter nach oben oder unten bewegen. Wieso war die überhaupt da, wenn die senkrechten Bürsten in Aktion gewesen waren? Hier schien einiges in Unordnung geraten zu sein. Auch im Inneren der Anlage drehten die grünen Vögel unter der fleckigen Betondecke ihre Runden.

»So, ich steige jetzt ins Auto!«, gab er durch.

Klingt wie »Alles klar zum Entern«.

»Versau mir bloß nicht die Sitze, hörst du!«

Immerhin konnte man die hinteren Türen öffnen. Ein junger, wendiger Mensch hätte sich auch mehr oder weniger mühelos auf diesem Weg befreien können, aber der greise Schlösser hätte es niemals in einem Stück nach hinten geschafft.

»Die Zeiten sind vorbei, dass ich auf dem Rücksitz rumturne. Egal, aus welchem Grund«, röchelte der Alte. »Ich muss hier raus, Jungchen, und zwar dringend.« Sein Keuchen klang alarmierend.

»Das Schiebedach!«

»Das Schiebedach?«

»Ja, nach oben kommen Sie vielleicht raus.«

Der kahle Kopf wurde in den Nacken gelegt. »Hm, ja, könnte klappen.«

Wenige Augenblicke später schob sich fast geräuschlos ein Teil des Wagendachs nach hinten.

Huch, höre ich da was? Geht die Waschanlage etwa wieder an?

Herbie schrak zusammen, aber es handelte sich nur um die grellen Rufe der Vögel. »Blödsinn«, zischte Herbie. »Da bewegt sich nichts mehr.«

»Aber ich tue doch, was ich kann!« Fritz Schlösser schaffte es jetzt tatsächlich, sich aus dem Sitz hochzustemmen, sodass sein Oberkörper schon bald aus der Öffnung ragte. Herbie griff ihm dabei nach Kräften unter die Achseln, um die Oberschenkel und überall sonst noch hin, wo es helfen konnte, dass er ins Freie gelangte. Bald schwang der Alte das erste Bein hinaus auf die Windschutzscheibe.

»Die Schuhe!«, keifte Tante Hettie. »Die Schuhe aus, bevor ihr auch nur einen Fuß auf die Kühlerhaube setzt!«

Sie taten, wie ihnen geheißen, und in den folgenden, endlos erscheinenden Minuten schafften sie es, in einem ganz und gar unwürdigen Balanceakt über die Front des Mercedes, zwischen den Bürsten hindurch auf den zwar nassen, aber immerhin festen Betonboden zu gelangen.

Julius klatschte begeistert Beifall. Der chinesische Nationalzirkus nimmt euch mit Kusshand, Jungs!

Henriette Hellbrecht hatte jedoch kein Lob für ihre Darbietung übrig. »Wurde aber auch Zeit. Los, deinen Schlüssel.«

»Meinen?«, fragte Herbie ungläubig. »Wieso meinen Schlüssel?«

»Wir werden das Risiko auf uns nehmen und mit deinem Schrottgefährt nach Hause fahren. Und sobald du den Mercedes wieder flott hast, bringst du ihn nach Bad Münstereifel, haben wir uns verstanden? Also her mit dem Schlüssel!«

»Aber Tante Hettie, das geht doch nicht.«

Sie zielte mit der Stockspitze auf seine Nase. »Und wie das geht. Lass dir was einfallen! Und wenn ich einen einzigen Kratzer an meinem Auto finde, dann …«

Dann was?

Herbie ließ die Schultern sinken. Ja, womit konnte sie ihm überhaupt drohen? Sie hatte ihn ohnehin in der Hand und brauchte nur zuzudrücken, um ihn endgültig zu zerquetschen.

Der alte Schlösser zog sich derweil jammernd die Schuhe über seine nassen Socken. Herbie suchte die seinen und stellte entsetzt fest, dass Bärbelchen bereits mit Hingabe an dem linken herumkaute.

Wenig später sah er seinem roten Auto hinterher, das mit einem ungesunden Geräusch davonrollte, eine große, bläuliche Abgaswolke hinter sich herziehend.

Kraftlos trottete er mit den Schuhen in der Hand zurück zur Waschhalle. Einer der Vögel saß auf dem Autodach und interessierte sich für das Wageninnere. Herbie machte eine schwache Bewegung mit dem angekauten Schuh, um ihn zu verscheuchen.

»Sie hat einen Praktikanten erwähnt«, sagte er.

Das ist diese Spezies, die nichts kann und immer nur im Weg herumsteht, nicht wahr?

»Irgendwo muss der ja sein.« Herbie steuerte den Shop an.

Als er den klebrigen Metallgriff packte und die Glastür aufschob, quietschte es entsetzlich, und bevor Herbie eintreten konnte, kam ihm jemand mit hängender Hose und schlurfenden Schritten entgegen. Der Knabe mochte dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein und würdigte Herbie keines Blickes. Dazu war er viel zu sehr mit der Betrachtung seines Handy-Displays beschäftigt. Er hatte strähniges, braunes Haar und unreine Haut. Auf der Oberlippe spross ein kaum wahrnehmbarer Flaum.

»Guten Tag, sind Sie der … also, bist du der Praktikant, ich meine …?«

Der Junge nuschelte unglaublich müde etwas unglaublich Unverständliches, das in einem fast erkennbaren Wort endete, das sich wie »Halsband-Sittiche« anhörte.

»Wie? Ach so, die grünen Vögel. Toll. Aber ich wollte eigentlich etwas wegen der Waschanlage fragen.«

Wieder wuchs ein gerade noch verstehbares Satzende aus einem Mundvoll undeutlichen Gemurmels heraus: »Mblmbldochgesagt, Halsband-Sittiche sin das.«

»Und was hat das mit der Waschanlage zu tun?«

»Mblmblundiescheißnester blockierendiemaschine. Mblmbläuft nix mehr. Verkeilt. Isso.«

Herbie seufzte mutlos. »Okay, hast du irgendwo denn einen Schraubenzieher?«

»Mblmblüberhauptgarnichtwohierwasis.«

Julius lehnte sich mit beiden Ellenbogen auf die Motorhaube des Mercedes und legte den Kopf auf die Hände. Früher gab es doch diese Reparaturanleitungen: Jetzt helfe ich mir selbst.

»Ich schreibe eine eigene«, murmelte Herbie grimmig und guckte dem davonschlappenden Praktikanten hinterher. »Mir ist nicht mehr zu helfen.«

2. Kapitel

Jenny Viebahn schob den Buggy über den unbefestigten Boden des Bauernhofs. Es rappelte und klapperte, und es würde ein ewiges Mysterium bleiben, warum Kinder am besten einschliefen, wenn sie ordentlich durchgerüttelt wurden. Warum verlernte man das bloß als Erwachsener? Ihr käme das in manchen Situationen sehr gelegen.

Die kleine, gebückte Gestalt von Ketchen Kaltwasser erschien auf der Treppe des Wohnhauses. Mit ihrer Kittelschürze und den zerschlissenen Pantoffeln war sie das perfekte Abbild der rustikalen Landfrau. Und doch wirkte sie dort, vor dem Hintergrund der protzigen, schmiedeeisernen Haustür mit den modernen, geschwungenen Formen und auf den edlen Marmorstufen irgendwie unpassend.

Das Haus war vor vielen Jahren nach allen Regeln der Kunst renoviert und mit allem ausgestattet worden, was nach Geld aussah. Was nicht automatisch bedeutete, dass guter Geschmack dabei eine große Rolle gespielt hatte. Zwei toskanische Säulen trugen einen terracottafarbenen Portikus, die Regenrinnen und Fallrohre waren aus Kupfer, die Fassade mit hellen, schmalen Riemchen verklinkert, die Dachziegel schimmerten türkis, und eine Reihe von exakt gruppierten Zypressen fasste das Grundstück ein.

In ihren Händen trug die alte Frau eine schwarze Plastiktonne, was ihr beim Heruntersteigen der drei Stufen sichtlich Mühe bereitete.

»Warte, Ketchen, ich helfe dir!«, rief Jenny und wedelte mit der Hand. Hoffentlich war Jonte jetzt nicht wachgeworden. Aber aus dem Buggy kam kein Mucks, während sie ihn auf die Treppe zuschob.

Ketchen strahlte, als sie sie erreicht hatte. »Das ist aber lieb, Jenny-Kind.«

Jenny nahm ihr den Eimer ab, der keinen Deckel hatte. Er war randvoll mit Kartoffelschalen, verwelkten Blüten und anderem Küchenabfall. »Das muss auf den Kompost. Ich hätte das schon geschafft, aber …« Sie rieb sich die Hände an der schmucklosen Kittelschürze ab und beugte sich über das schlafende Kind. »So ein süßer, kleiner Bengel«, flüsterte sie. »Jetzt wird er schon zweieinhalb Jahre alt, stimmt’s?«

»Übernächsten Monat schon drei.«

»Guck dir nur die speckigen Beinchen an«, sagte die alte Frau verzückt. Sie musste sich sichtlich beherrschen, nicht ihre schrumpeligen Finger auszustrecken, um dem schlafenden Kind über die Wangen zu streicheln.

Jenny griff in das Transportnetz des Buggys und holte das Papiertütchen der Apotheke hervor. »Guck mal, hier sind deine Sachen. Als ich heute Morgen in Tondorf die Zinksalbe geholt habe, sagten die mir, dass du was bestellt hattest.«

»Och, wie lieb von dir. Ganz furchtbar lieb. Warte, ich hole schnell mein Portemonnaie.« Sie wandte sich um und griff schon nach dem klobigen Metallgeländer, um die Stufen wieder hinaufzusteigen.

Jenny winkte ab. »Guck du für einen Moment nach Jonte, und ich bringe schnell den Kompost weg. Das mit dem Geld können wir später machen.«

Als sie hinter der Hausecke verschwand, blieb Ketchen neben dem Buggy stehen und betrachtete das im Schlaf zusammengesackte Kind. Es atmete lautlos. Der kleine Brustkorb hob und senkte sich. Sie würde es nicht berühren. Es würde sich am Ende nur erschrecken.

Als Jenny mit dem leeren Eimer zurückkehrte, löste sich Ketchen aus ihrer Starre und lächelte sie liebevoll an. »Ach Jenny-Kind, du weißt ja gar nicht, wie froh ich bin, dass ihr hierhin zu uns gezogen seid. Weißt du, seit die Kinder aus dem Haus sind und das ganze Vieh weg ist, da ist es doch sehr einsam hier auf dem Hof geworden.«

»Aber dein Bruder …«

Ketchen winkte mit einem leisen Lachen ab. »Ach, der Hepp. Du weißt doch, dass der nur seine Spinnereien im Kopf hat.«

»Er ist mir vorhin begegnet, mit dem Trecker.«

»Warum der noch damit fährt, weiß der liebe Himmel.« Jenny löste die Bremse des Buggys. »Wir sind auch froh, hier zu sein. Jogi und ich können uns keinen schöneren Platz denken. Und Jonte wird in der Natur aufwachsen. Etwas Besseres gibt es nicht.«

»Jonte …«, murmelte Ketchen, legte den Kopf schief und guckte den schlafenden Jungen an. »Schon ein … eigenartiger Name.«

»Ein schwedischer. Es sollte auf jeden Fall was mit J sein. Jogi, Jenny und Jonte …«

Verlegen lächelte Ketchen. »Ach, das muss ja auch jeder selber wissen.«

»Kommst du nachher auf einen Kaffee rüber?«

»Gerne, Kindchen. Und ich bringe dir auch noch was mit.« Sie zwinkerte Jenny verschwörerisch zu.

»Oh, wirklich? Hast du etwa für mich …«

»Ja, hab ich. Ich bin mir zwar nicht ganz sicher … Ist ja eine verkürzte Handelswoche, wegen dem Feiertag.«

»Verkürzte Handelswoche …« Jenny lächelte unsicher. »Das klingt alles immer so … ich weiß auch nicht wie.«

»Musst du dir ja auch nicht merken. Wichtig ist, was rauskommt. Der Dow Jones ist immerhin wieder über die 25.000er-Marke geklettert. Zwar sehr knapp, aber immerhin.«

»Hm, ja.« Jenny nickte. »Ich nehme an, das ist was Gutes.«

»Oh, ja. Das Wochentief lag jedenfalls schon mal leicht oberhalb vom Tief von letzter Woche, aber vor dem Feiertag traut der sich noch nicht so richtig raus. Ich habe da aber was Kleines, was wirklich Feines. Dabei habe ich gleich an dich gedacht.«

»Weißt du, ich habe aber nicht viel zur Verfügung. Es sind gerade mal hundert Euro, die ich … vielleicht hundertfünfzig.«