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Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Klappe zu, Gatte tot

Kalte Platte

Ein Männlein hängt im Walde

Tatjana Kruse, Jahrgangsgewächs aus süddeutscher Hanglage mit Migrationshintergrund (Vater Schweizer, Mutter Friesin), lebt und arbeitet in Schwäbisch Hall (kein Synonym für eine Bausparkasse, sondern die vermutlich kleinste Metropole der Welt). Seit dem Jahr 2000 schreibt sie Kriminalromane, aber ihre wahre Liebe gilt den Sahnehäubchen des Genres: den Kurzkrimis. Folgerichtig erhielt sie ihren bisher einzigen Literaturpreis, den »Marlowe« der Raymond-Chandler-Gesellschaft, für ihren Kurzkrimi Cool-Man schlägt zu. Bei KBV erschienen von ihr bereits drei Kurzkrimi-Sammlungen. www.tatjanakruse.de

Tatjana Kruse

Tot, aber glücklich!

Kriminell komische Storys

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Originalausgabe

© 2020 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: info@kbv-verlag.de

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp unter Verwendung von © Leone_v; © alswart; © K.-U. Häßler - alle stock.adobe.com

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-95441-515-1

E-Book-ISBN 978-3-95441-527-4

Die Geschichten

Der Nacktschneckensammler

Blaubart ohne Bart

Bruch kommt von brechen …

Leckerschmeckermorde

Es fährt ein Cello nach Nirgendwo

Wo laufen sie denn, wo laufen sie denn hin?

Die Doris macht das Gift

Die vier großen H des Hallensers Till B.

Heute kein Kaffee!

Summsummsesumm

James Bond, die coolste Sau der Welt …

Vereinsmeier

Salzgrotten-Fandango

Willkommen bei Trödel Träuble & Sohn

Meister Maik heizt Ihnen ein!

Dem Frohsinn ein Ende

Dinosaurier – es gibt sie doch!

Die Unsterblichkeitsformel

In Serie

Der Mumienmörder

Frau Möller riecht den Braten

Futtert Nemo

Tot, aber glücklich

Seniorensport ist Mord

»Sänk you for travelling with schwäbische Eisebahn!«

Man zeltet nicht, man wird gezeltet!

Quellennachweise

Ein kurzes Gespräch mit der Autorin

Der Nacktschneckensammler

Hossa«, ruft Jens-Uwe und wirft den bunten Strandball der drallen, jungen Schwedin zu. Und gleich darauf begeistert er sich am Anblick ihrer wippenden Brüste. Ihrer unbekleidet wippenden Brüste. Er seufzt wohlig.

Jeder redet immer nur von den Schönen und Reichen auf Sylt, niemand von den Nackten. Dabei ist Sylt die Wiege der Freikörperkultur in Deutschland, quasi schon seit 1850, als ein ortsansässiger Arzt erklärte, Bekleidung würde die belebende Wirkung des Wellenschlages behindern. Nach dem ersten Weltkrieg kam dann richtig Fahrt auf, und die Anhänger des Naturismus eroberten die Insel. Und auch heute noch ist Sylt eine Hochburg der Nudisten, über die Hälfte der Feriengäste der Insel möchte sich nicht in teurer Designerbadebekleidung am Sandstrand tummeln, sondern so, wie Gott sie schuf. Was ja in Zeiten von Mini-Tangas und Winz-Bikinis auch keinen Unterschied mehr macht. Erst neulich wurde Buhne 16 in Kampen zum zweitschönsten Nacktbadestrand von ganz Europa gekürt, mit dem Ehrentitel »besonders anziehend fürs Ausziehen«.

Doch wo sich noch am Vortag Hunderte im Adams- und Evakostüm in der Sonne geräkelt haben, gibt es jetzt nur Jens-Uwe, die süße Schwedin und ein greises Ehepaar aus Halle an der Saale, bei denen es auch wippt, allerdings nur der Schwerkraft geschuldet, nicht dem Hüpfen. Der Besucherschwund ist zweifellos auf den Wetterumschwung zurückzuführen. Mann muss schon fanatischer FKKler sein, um sich bei einstelligen Temperaturen und eisigem Wind am Strand zu tummeln. Jens-Uwe und die Schwedin und die greisen Hallenser sind so fanatisch.

»Dasss macht Ssspasss«, lispelt die schnuckelige Schwedin und läuft dem Strandball hinterher, der ihren sonnenmilcheingeölten Händen entglitten ist. Jens-Uwes Blick fixiert sich auf ihre festen Hinterbacken. Das Leben ist schön!, denkt er und schwelgt in dieser Überzeugung, bis der verlockende schwedische Po plötzlich nicht mehr zu sehen ist.

»Inga!«, ruft er besorgt und läuft zu ihr.

Inga hockt vor einer Sandskulptur, die ein anonymer Künstler aus Sand und Wasser geformt hat. «Issst dasss nicht ssssön?!«, schwärmt Inga. Bei der Skulptur handelt es sich um die Nachbildung eines ägyptischen Pharao, inklusive über der Brust verschränkter Arme. Statt Edelsteinen ist die Skulptur mit Steinchen und Muscheln verziert. Wirklich sehr schön, findet auch Jens-Uwe, aber er schaut dabei auf den Körper der drallen Inga.

Es ist ein übles Vorurteil, bei der Freikörperkultur gehe es um Erotik. Mitnichten! Angesichts der meisten zur Schau gestellten Körper ist Sex auch das Letzte, woran man denkt. Es geht um Freiheit, wahre Freiheit. Und pure Naturverbundenheit! Aber wie immer gibt es Ausnahmen von der Regel.

Inga entspricht bis ins letzte Detail Jens-Uwes Beuteschema. Er muss sich jetzt nur noch ein Herz fassen.

»Hör mal …«, fängt er an, kommt aber nicht weit.

»Hallo-o!«, ruft plötzlich jemand strandaufwärts.

»Hallo-o!«, ruft Inga.

Jens-Uwe dreht sich genervt um. Wer stört denn da? Er erkennt eine Gruppe amerikanischer Studenten, die allesamt aussehen wie einem Werbeplakat für Unterwäschemodels, nur ohne Unterwäsche. Straffe, epilierte Haut, Sixpacks, strahlend weißes Lächeln. Die Jungs waren gestern schon da, erinnert sich Jens-Uwe. Alle Frauen von 8 bis 80 hatten angefangen zu hecheln.

«Mist!«, fluchte Jens-Uwe leise, aber emotionsgeladen. Er selbst sieht zwar ganz ordentlich aus, aber gegen diese Supermänner hat er keine Chance. Das Beste, was man über Jens-Uwe sagen kann, ist, dass er noch volles Haar hat, mehrheitlich allerdings auf dem Rücken.

Er ballt die Fäuste und holt tief Luft und will – wahrscheinlich eine Übersprungshandlung, wie man sie aus dem Tierreich kennt – den Strandball aufheben, kommt dabei ins Stolpern und fällt schwer auf die Sandskulptur.

»Oh, jetzt hassst du sssie kaputt gemacht«, sagt Inga traurig und schaut und stutzt …und gleich darauf schreit sie.

Und schreit und schreit und schreit. Der vorderste Ami wird kreidebleich und zeigefingert in Richtung Jens-Uwe, die anderen beiden schreien auch, und Jens-Uwe versteht gar nicht, was die alle haben, es erinnert ihn an den Horrorstreifen Die Körperfresser kommen, was er fast lustig findet, bis er nach unten schaut, in sein weiches Bett aus Sand, nur dass aus dem Sand jetzt eine blutverschmierte Frauenhand ragt.

Woraufhin Jens-Uwe ebenfalls schreit. Ein astreines hohes C.

Die Gläser im Picknickkorb der Amerikaner platzen …

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»Nee, Arno, du nicht!«, kläfft die Nielsen.

Arno Borst hat sich spontan freiwillig gemeldet. Borst ist eben erst mit einer dampfenden Tasse aus der Kaffeeküche ins Besprechungszimmer getreten und hat gar nicht richtig mitbekommen, worum es geht, er hat nur gehört, dass ein Freiwilliger für eine Ermittlung am Nacktbadestrand von Kampen gesucht wird, und schon katapultiert sich seine Rechte in Richtung Decke.

Seit nicht allzu langer Zeit gab es für die Insel ein zentrales Dienstgebäude für alle 42 Beamte und Beamtinnen der Schutz-, Kriminal- und Wasserschutzpolizei. Wobei sie – es war mitten in der Saison – im Rahmen des Bäderdienstes derzeit 65 Kollegen und Kolleginnen sind. Jeden Sommer meldeten sich welche vom Festland nämlich zum Bäderdienst. Wer jedoch auf Sylt Dienst schob, schob eine ruhige Kugel. Einbruchsdiebstähle, kleinere Rauschgiftdelikte, die üblichen Verkehrsverordnungsüberschreitungen – mehr war nicht geboten. Aber jetzt gibt es einen Mord. Einen enorm unschönen Mord.

»Wieso ich nicht?«, insistiert Arno.

»Weil du nur gaffen willst, und auf Nacktbadestränden ist gaffen, starren oder dumme Bemerkungen machen tabu«, erklärt die Chefin.

»Der Arno gafft nicht nur, der grapscht«, lästert Kollege Müllerschön, seit ewigen Zeiten verheiratet und zweifelsohne neidisch auf den zwar nicht sehr großen, aber sehr gut durchtrainierten Frauenflüsterer des Reviers mit einer Erfolgsquote von angeblich 99 Prozent. Findet zumindest Arno.

»Ich habe durchaus sowas wie Selbstbeherrschung«, stellt Arno klar und fügt hinzu: »Wenn ich im Dienst bin.«

Die Nielsen seufzt. Der Borst ist wirklich dran. Große Jobs werden bei ihr gerecht verteilt, damit jeder eine Chance auf Beförderung bekommt. Und der Borst ist jetzt dran, da beißt die Maus keinen Faden ab. «Na schön, aber Sie arbeiten im Team mit Müllerschön.«

Borst schürzt die Lippen, sagt aber nichts.

Müllerschön protestiert. »Also … wegen mir … ich muss nicht … wirklich nicht … Borst kann gern allein …«, plappert er.

»Nur weil Sie an einem Nacktbadestrand ermitteln, heißt das nicht, dass Sie sich ausziehen müssen«, stellt die Nielsen klar.

Müllerschön guckt erleichtert.

»Wie jetzt? Echt nicht?« Borst guckt enttäuscht.

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Borst und Nielsen lassen ihre Blicke über Buhne 16 gleiten. Praia das Adegas in Portugal, Mirtiotissa Beach auf Korfu, die Kollerinsel im Altrhein – es gibt viele Orte, an denen Nacktbader auf ihre Kosten kommen, aber hier ist es doch eindeutig am schönsten. Feiner Sand, raue Wellen, coole Szene – wie es im Werbeflyer hieß. Cool ist an diesem Tag allerdings nur das Wetter, und die beiden Polizisten bekommen fast Mitleid mit den gänsehautigen FKKlern.

»Ich übernehme die Zeugenbefragung«, erklärt Borst, schubst Müllerschön beiseite und marschiert zielstrebig auf die Schwedin zu, die sich zum Schutz vor der Kälte in Embryonalstellung in den Sand kauert.

Müllerschön schüttelt den Kopf, seufzt und geht zum Leiter der Spurensicherung. «Was können Sie mir über die Tote sagen?«, erkundigt er sich.

»Weiblich, 22 Jahre, wohnhaft in Essen, Penicillinallergikerin.«

Müllerschön staunt. «Woher wissen Sie das alles? Hat sie sich das eintätowieren lassen?«

»Nope. Das steht in ihrem Ausweis, den wir in der Geldbörse in ihrer Jeanstasche gefunden haben.«

»Ach … dann war sie gar nicht … äh … nackt?«

»Nein.«

Müllerschön kommt sich blöd vor. Er schaut hilfesuchend zu Borst.

Der macht bedeutend größere Fortschritte. Wenn auch nicht in die Richtung, die er im Sinn hat.

»Wir könnten das alles auch bei einem Glas Champagner besprechen, drüben im Strandbistro«, schlägt er der Schwedin vor. Aber die will nicht flirten, die will eine Aussage machen.

»Sssie haben mich alle gewarnt, mach nicht FKK, da sssind ssso viele Frauen tot gegangen«, erzählt Inga mit furchtsam aufgerissenen Augen. »Aber ich dachte, auf Sssylt, da bin ich sssicher. Aber jetzt issst da diessse tote Frau. Ich will nur noch nach Haussse.« Sie nickt heftig.

»Sie sind bei uns sicher«, verspricht Borst. »Wir könnten auch etwas essen gehen. Ich kenne da ein vorzügliches Restaurant …«

»Die Toten sssind immer blonde Frauen wie ich … junge Frauen, die an Nacktbadessstrände gelockt und dort ermordet werden … der Mörder hat sssie immer erdrosssselt mit einem Gürtel … ich bin hier nicht sssicher … ich will nach Haussse!«, wiederholt Inga mit etwas mehr Nachdruck.

»Immer mit der Ruhe, wir brauchen erst Ihre Aussage«, beharrt Borst, allerdings mit samtweicher Stimme. Er legt ihr sanft tröstend eine Hand auf den Unterarm. »Alles wird gut, das verspreche ich.«

»Ich habe nichtsss gesssehen. Ich bin ersst ssseit gessstern ssspät Abend auf Sylt. Ich wohne in der Dikjen Deel Jugendherberge, wie Joe und Bob und Dan, und heute Morgen bin ich gleich hierhergekommen. Und hier habe ich Jensss-Uwe getroffen.« Sie zeigt auf den Mann mit dem Strandball. »Und die Leiche gefunden.« Sie schluchzt. »Wie bei den anderen Frauen in Portugal und Korfu. Bessstimmt kann man den Täter über ein Reisssebüro oder ssso finden. Esss mussss ein Mann mit einem Gürtel sssein!« Ihr Blick fällt auf seine Jeans – und seinen Gürtel. Sie springt auf die Beine.

»Immer mit der Ruhe, ich bin Polizist, hier bitte.« Borst zeigt ihr noch einmal seine Dienstmarke. »Ich beschütze Sie. Sie können mir vertrauen!« Ihr strömen mittlerweile Tränen über die Wangen.

Ein Blick hinüber zur Leiche macht Borst klar, warum die Frau so entsetzt ist. Die Tote hat ein blau angelaufenes, verquollenes Gesicht. Das Blut an ihren Händen scheint aber nicht von ihr zu stammen. Vielleicht hat sie sich heftig gewehrt. Ganz bestimmt hat sie sich heftig gewehrt, denn in ihren blicklosen Augen sieht man, dass sie gewusst hat, was auf sie zukommt.

Borst räuspert sich und wendet sich wieder der Schwedin zu. »Ich bringe Sie jetzt zu Ihrer Unterkunft. Sie können völlig beruhigt sein.« Er hebt beide Hände an den Mund und brüllt in Richtung Müllerschön: »Ich bringe die Zeugin nach Hause! Befrag du den da drüben!« Er zeigt auf Jens-Uwe.

War ja klar, denkt Müllerschön, während er zusieht, wie Borst mit dem bildhübschen schwedischen Nackedei hinter einer Düne verschwindet.

Ihm bleiben die amerikanischen Studenten, die – wie er gleich darauf feststellt – nicht nur phantastisch aussehen, sondern auch perfekt deutsch sprechen. Auf manche ergießt sich das Füllhorn des Schicksals eben wie ein Tsunami, während er, Müllerschön, sich mit den Brotkrumen zufriedengeben muss. Ach ja, da war ja noch dieser Jens-Uwe Thiel. Der mit dem Strandball.

Müllerschön schlendert auf ihn zu. Jens-Uwes Adamsapfel hüpft. Seit er auf der Leiche zu liegen kam, wischt er sich mit Desinfektionstüchern, die ihm ein Spurensicherer überlassen hat, geradezu zwanghaft über die Hautstellen, die in Kontakt mit der Toten gekommen waren. Wie Lady Macbeth, nur nicht so damenhaft. Wenn jemand schuldig wirkt, dann Jens-Uwe mit dem hüpfenden Adamsapfel, der sich zwanghaft desinfiziert.

Für die Amerikaner, die Spurensicherer, das greise Ehepaar aus Halle und Müllerschön ist die Sache klar und der Fall gewissermaßen schon gelöst. Es fehlt nur noch das Geständnis.

Jens-Uwe schluckt schwer.

Und wischt schneller.

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Borst braust in seinem metallic blauen Cabrio über die Insel, wobei er sich an der Brust kratzt, sicheres Zeichen, dass die Wunden heilen. Es ist zu kalt, um offen zu fahren, aber dennoch überkommt ihn jedes Mal ein Gefühl der Freiheit, wenn er am Steuer seines getunten Spaßmobils sitzt.

Wobei das Auto nie so viel Spaß gesehen hatte, wie er seine Kollegen glauben ließ. Ehrlich gesagt, hatte er überhaupt noch nie Sex in seinem Auto gehabt. Und außerhalb seines Autos auch schon lange nicht mehr. Seit seinem ersten Urlaub auf Korfu. Seit am dortigen Nacktbadestrand ein paar Frauen auf seinen kleinen Arno gezeigt und hämisch gelacht hatten. Weil sein kleiner Arno wirklich verdammt klein war.

Seitdem ging bei ihm nichts mehr. Sein kleiner Arno wollte einfach nicht mehr groß werden. Den beiden blonden Österreicherinnen hatte er es natürlich noch am selben Abend kräftig besorgt, war ja klar. Ebenso wie der bezopften Blondine auf dieser Rheininsel, die zwar nicht gelacht, aber spöttisch gegrinst hatte, als er sein Badetuch neben ihr auf dem Nacktstrand ausbreitete. Und der blonden Tusse mit den spitzen Nägeln von gestern Abend. Er hatte schließlich einen Ruf zu verlieren. Er war Arno Borst, der Frauenversteher mit einer Erfolgsquote von nahezu 100 Prozent und mehr Eroberungen als Julio Iglesias und Casanova zusammen!

Arno schaute zu Inga. Ein verdammt gut aussehendes Frauenzimmer, selbst mit dem festgezurrten Gürtel um den Hals, der schlumpfblauen Gesichtsfarbe und der heraushängenden Zunge.

Jetzt musste er sich nur noch überlegen, wo er sie am besten entsorgte und wie er sich ein Alibi zimmern konnte …

Blaubart ohne Bart

Er und sie sitzen am Frühstückstisch. Sie liest Zeitung.

Er:

Haben wir noch Quittengelee?

Sie:

Im Kühlschrank.

Er wartet. Sie blättert geräuschvoll um.

Er:

Ist das auch das gute Gekaufte oder dieser pappsüße verkappte Fruchtsaft, den deine Mutter als Gelee ausgibt und uns immer als Gastgeschenk mitbringt?

Sie ignoriert ihn und blättert um.

Er:

Ich will nicht für umsonst aufstehen.

Sie rollt genervt mit den Augen.

Er steht auf, geht zum Kühlschrank, öffnet die Tür, guckt, stutzt, sucht, nimmt ein Glas heraus, schließt die Tür, setzt sich wieder auf seinen Platz.

Sie:

Und? Zufrieden?

Er:

Wie man’s nimmt. Das ist nicht Quitte. Das ist Johannisbeere.

Sie:

(geistesabwesend) Wie schön.

Pause. Er fängt an, sich ein Geleebrot zu streichen.

Er:

Du?

Sie:

Hm?

Er:

Was ist denn das für ein Kopf im Kühlschrank?

Sie:

Ein Kopf?

Er:

Ja. So ein Männerkopf. Bärtig. Zwischen der Sojasoße und den Tofubrätlingen.

Sie:

Ach der.

Er:

Wir sind Vegetarier!

Sie:

Mein Gott, ja. Der Kopf wird die Tofubrätlinge schon nicht fleischig machen. Dass du immer alles so hochspielen musst.

Er:

Früher hast du nicht in diesem Tonfall mit mir gesprochen.

Sie blättert um.

Er:

Allmählich verstehe ich, warum sich dein erster Mann sang- und klanglos aus dem Staub gemacht hat.

Sie:

Ach ja? Und ich habe gelernt, dass Märchen lügen: In der Ehe werden Prinzen zu Fröschen.

Sie schweigen sich an. Er streicht sein Brot.

Er:

Und der Rest?

Sie:

Was für ein Rest?

Er:

Der Rumpf. Die Gliedmaßen. Liegen die in der Tiefkühltruhe?

Sie:

Wenn du nur einen Funken mehr Interesse für den Haushalt hättest, dann wüsstest du, dass wir keine Tiefkühltruhe besitzen!

Er:

Mein Gott, wir hatten doch ausgemacht, dass du für das Haus zuständig bist und ich das Geld verdiene. Die bewährte, klassische Methode.

Sie blättert um.

Sie:

Könnte ruhig mehr Geld sein.

Er:

Wie?

Sie:

Nichts.

Sie blättert um. Man merkt dem Umblättern ihre Genervtheit an.

Sie:

Zu meinem runden Geburtstag hätte ich mir schon etwas Edleres gewünscht als ein Badetuch-Set von Tchibo.

Er:

Ich sage das nur ungern, aber es ist der Gedanke, der bei einem Geschenk zählt.

Sie:

Ja, aber das war ein erbärmlicher, popeliger Geizkragengedanke.

Er schmollt. Sie blättert wieder um.

Er:

Und wo sind jetzt die Reste?

Sie:

Was für Reste?

Er:

Von dem Kopf im Kühlschrank. Ich meine, von dem Mann dazu.

Sie:

Filetiert. Entbeint. Das Fleisch und die Innereien habe ich gegrillt und an den blöden Köter von der alten Müller aus dem zweiten Stock verfüttert. Die Knochen liegen im Keller, in dem Karton mit deiner Märklin-Bahn. Zufrieden?

Pause.

Er:

Und wer ist der Kerl?

Sie:

Unser Paketbostbote.

Er:

Aha. (schweigt) Er will ein Päckchen zustellen, kriegt einen Herzinfarkt, sinkt tot zu Boden, du bekommst Panik und filetierst ihn. Ja?

Sie:

Nein.

Sie blättert um. Er schürzt die Lippen und streicht sein Brot zu Ende.

Er:

Wie war es dann?

Sie:

Er kam her und hat genervt.

Er:

Wie? Genervt?

Sie:

Er wollte seinen Sohn öfter sehen.

Er:

Was geht uns das an?

Er beißt in sein Brot und kaut.

Sie:

Ist ja irgendwie auch dein Sohn.

Er:

Wie jetzt? Yannick? Unser Yannick?

Sie:

Du spuckst Krümel.

Er:

(schluckt) Habe ich das jetzt richtig verstanden?

 

Yannick ist nicht von mir?

Sie:

Mein Gott, du hast doch Abitur, dann sollte dir die Mendelsche Vererbungslehre kein Fremdwort sein. Wir sind beide blond und blauäugig. Wie soll denn da ein glutäugiger schwarzer Lockenkopf zustande kommen? Setzen: sechs!

Er:

(defensiv) In Biologie hatten wir viel Ausfall. Fräulein Baumfelder war ständig krank.

Sie blättert augenrollend um. Er beißt ab und kaut.

Er:

Also gut. Okay. Ich bin zwar konservativ, aber auch ein moderner Mann. Yannick ist biologisch nicht von mir. Na schön. Das Psychologische zählt ohnehin viel mehr. Ich bin sein Vater durch Gewohnheitsrecht. Sein biologischer Vater wurde zum Problembär, und du hast das geregelt. Damit komme ich klar. Wir fackeln den Schädel im Kamin ab, und die Sache ist vergessen.

Pause.

Er:

(mit Grandezza) Ich verzeihe dir.

Sie:

Ganz toll. Was denn genau? Dass ich ein neues Rezept für Grillpaketbote erfunden habe?

Er:

Den Seitensprung mit Folgen. Ist ja nun schon eine Weile her.

Sie schweigt.

Er:

Schwamm drüber.

Sie:

Ich werde übrigens wieder heiraten.

Er:

Du willst dich von mir scheiden lassen?

Sie:

Du hörst mir nie zu. Ich sagte, ich werde wieder heiraten!

Er:

Ohne Scheidung? Bigamie? Und wen, bitteschön?

Sie:

Deinen Chef. Yannick findet das auch gut. Dein Chef hat nämlich eine Villa mit Swimmingpool.

Er hustet, schaut das fast verspeiste Marmeladenbrot in seiner Hand misstrauisch an, hustet noch mehr.

Sie:

Ja, brennt jetzt ein wenig im Hals, nicht? Tut mir echt leid. Ein Zyankali-Strychnin-Gemisch im Gelee. (zuckt entschuldigend mit den Schultern) Ich werde aussagen, dass du heute ganz normal mit dem Wagen losgefahren bist. Im Auto liegen die Reste von Hans-Günther. Hast du wirklich geglaubt, man kann eine komplette Männerleiche an einen Zwergpudel verfüttern? Gott, bist du dämlich.

Er röchelt und fasst sich an den Hals.

Sie:

Es wird so aussehen, als hättest du deinen Nebenbuhler geköpft und dann mit dem Auto Selbstmord begangen. Ich tippe natürlich noch einen entsprechenden Abschiedsbrief in deinen Laptop. Den Wagen habe ich präpariert, er wird in Flammen aufgehen. Bei einer verkokelten Leiche obduzieren die nicht groß den Mageninhalt. Clever von mir, nicht?

Er sackt tot über dem Rest des Marmeladenbrotes zusammen. Sie blättert um, entdeckt einen Artikel, strahlt auf und fältelt die Zeitung.

Sie:

Ach, schau her, ein In-memoriam-Artikel über Liz Taylor. Neun Ehemänner. Phänomenal. Aber das schaff ich auch noch!

Bruch kommt von brechen …

Dies ist eine wahre Geschichte – nur die Namen wurden geändert, um Unschuldige zu schützen.

Die Zeiten werden härter. Für uns alle. Da muss man jetzt nicht groß drumrum reden. Es ist einfach so.

Das trifft auch auf uns zu, den Damenkegelclub »Die fidelen Abräumerinnen«. Im Herbst 1985 kamen die Keglerinnen zum ersten Mal auf der Bahn des Traditionsgasthauses Jehööschnis in Krekel zusammen – und so war es bis heute jeden zweiten Dienstag geblieben. Acht Frauen gingen damals auf die Bahn, und in der heutigen Stammformation aus sechs Keglerinnen waren noch fünf Gründerinnen mit dabei.

Die Kegelbahn hatten wir immer für uns. Mitten auf dem Stammtisch stand seit Jahr und Tag die Kegelkasse. Sie bildete den Grundstock für unsere gemeinsamen Aktivitäten. Seit ich vor fünf Jahren dazugestoßen war, hatten wir schon zweimal Ausflüge ins Hochsauerland unternommen. Und was im Hochsauerland passierte, blieb im Hochsauerland. Aber die Kegelkasse stand nun schon geraume Zeit leer. Unsere Renten reichten vorn und hinten nicht. Und schon gar nicht für die Kegelkasse.

Bei unserem letzten Treffen war die Stimmung auf dem Tiefpunkt. Mascha – gelernte Akkordeonistin, vierzig Jahre im Ensemble des Philharmonischen Orchesters der Stadt Trier und auch heute noch für Hochzeiten und Jubiläen zu haben – spielte auf ihrer Reiseziehharmonika, die sie immer dabei hatte, ein paar Takte aus dem Totenmarsch von Chopin.

»Die Zeiten werden härter«, fasste ich zusammen, weil das Zusammenfassen des Offensichtlichen meine Kernkompetenz war.

»Du kannst dich doch echt nicht beschweren«, meinte Carmen und sah mich über ihr Weinglas hinweg niedergeschlagen an. »Du hast wenigstens keine Familie, um die du dir Sorgen machen musst.«

»Ich habe eine Yuccapalme und zwei Katzen, die wollen auch leben«, brüllte ich, weil Anspielungen auf mein Dasein als alte Jungfer stets meine Bisshemmung aufhoben.

»Wir müssen uns was einfallen lassen«, meinte Karla, trank ihr Bier auf ex und stellte die Flasche wuchtig auf die Tischplatte. Karla war Polizistin und ließ gern mal die taffe Ordnungshüterin raushängen. »Verdammt, wenn ich nur wüsste, was?!«

»Renate, jetzt sag du doch auch mal was«, verlangte Petra und fuhr sich durch ihre Lockenpracht. Wir waren alle ein bisschen neidisch, dass sie in ihrem Alter noch so volles Haar hatte. Wobei ich persönlich ja auf Perücke tippte.

Renate, der Kopf unserer Bande, wenn wir denn eine Bande gewesen wären, gurgelte mit einem indonesischen Schnaps aus Wildkräutern und Orang-Utan-Urin. Also, nicht wirklich, nehme ich mal an. Aber Renate hatte immer einen Flachmann dabei, aus dem sie uns nie probieren ließ, und das war dann natürlich bester Nährboden für wilde Spekulationen. Renate, hauptberufliche Ehefrau eines feisten Landtagsabgeordneten, streichelte zärtlich ihren Horst.

Karl-Rüdiger, ihr Ehemann, war bei unseren Damenkegelabenden selbstverständlich nicht dabei. Horst war Renates Hahn. Sie züchtete Haubenhühner in ihrem Garten, und ihre leidenschaftliche Neigung zu Federvieh war mir durch und durch suspekt. Das zwischen ihr und Horst … also, da sag ich jetzt weiter nichts zu.

Renate sah nachdenklich auf Carmens nunmehr leeres Weinglas. »Mich hat neulich bei einem Empfang in Köln ein älterer Herr angesprochen. Rudi Mehling hieß der.«

»Den kenn ich!«, freute sich Carmen. »Der Mehling ist berühmt! Der wohnt im Ahrtal und hat die seltensten Spitzenweine in seinem Keller. Ahrweine, versteht sich. Aber auch exklusive Tropfen aus aller Welt. Er ist Weinsammler von Weltrang.« Carmen, Gourmetkritikerin für ein Lifestyle-Magazin, war selbst eine Weinkennerin von Rang und Namen. Jetzt klang sie nachgerade begeistert. »Die Mehling-Sammlung gehört zu den berühmtesten der Welt. Er hat drei Flaschen Château Lafite von 1787 für 132.000 Euro die Flasche. Und angeblich sogar eine Kiste von dem legendären Heidsieck & Co Monopole Champagner Diamant Bleu. Die Kiste stammt aus der Ladung eines Schiffes, das im ersten Weltkrieg gesunken ist und 1998 gehoben wurde – dieser Champagner geht pro Flasche für fast eine Viertelmillion weg.«

»Das ist ein Scherz, oder?« Petra konnte es kaum glauben. »Hundert Jahre alter Schampus und dann noch die ganze Zeit im Meer gelegen – der schmeckt doch scheiße. Scheiße und salzig, mit ’nem Hauch von Fisch.«

Carmen strafte dieses Banausentum mit der Nichtbeachtung, die es verdiente.

Ich sah zu Renate.

Die lächelte nachgerade diabolisch und kraulte Horsts Nacken. Sie sah in ihrem strengen Kostüm mit dem schütteren Greisenhaar ein bisschen aus wie Blofeld, das kriminelle Superhirn aus den James Bond Filmen. Nur dass Blofeld auf der Leinwand immer einen Perserkater massierte, keinen Haushahn.

Sie sah uns der Reihe nach an. »Ich habe da eine Idee. Was wäre, wenn wir in den Weinkeller von diesem Rudi Mehling einsteigen und ein, zwei, drei, viele Flaschen von den teuersten Tropfen mopsen und dann unter der Hand an die meistbietenden Weinsammler verscherbeln? Auch wenn wir den Gewinn durch sechs teilen müssen, bliebe für jede von uns ein erkleckliches Sümmchen übrig.«

Horst krähte.

»Du hast sie doch nicht mehr alle. Das ist völlig unmöglich«, empörte sich Carmen und verschränkte die Arme. »Absolut. Nicht. Zu. Machen.«

»Und es ist illegal«, warf Karla ein.

Carmen entschränkte ihre Arme und wischte Karlas Einwand mit einer Handbewegung beiseite. »Illegal, schnurzegal. Aber ich wiederhole nochmal: es ist absolut unmöglich! Hört mal, ich kenne seine Sicherheitsvorkehrungen. Es gibt keinen Weinkeller, der besser geschützt wäre als der von Rudi Mehling. Sein Weinkeller ist kein Keller, sondern ein Tresor. Es gibt Security Personal, eine Alarmanlage, Bewegungsmelder, eine Tresortür, die sich nur per Stimmkontrolle öffnen lässt – und zwar durch die Stimme von Mehling selbst. Und im Tresorraum mit den Flaschen befindet sich ein Sumatra-Tiger …«

»Das ist doch Quatsch!«, unterbrach Petra. »Ein Tiger im Tresor?«

»Das ist …«, fing Karla an.

»Illegal, jaja … deine Platte hat einen Sprung.« Carmen guckte trotzig. Es nervte sie, wenn man ihr Expertisentum anzweifelte. Und noch viel mehr nervte es, wenn diese Zweifel nicht von alten, weißen Männern, sondern von Mitfrauen – noch dazu Kegelschwestern – kamen. »Glaubt mir, das ist keine urbane Legende. Mehling setzt auf technische und biologische Überwachung. Da ist wirklich ein Tiger im Tresor, der so gut wie nie gefüttert wird und wenn doch, dann nur mit veganem Brotaufstrich. Das Tier wird regelmäßig mit einem elektronischen Tentakelstab unter Strom gesetzt, damit es nicht nur ständig hungrig, sondern auch sauer ist. Nein, ich sage euch, das ist einfach nicht zu machen.«

»Raubtiere sind legal, allerdings meldepflichtig«, stellte Karla mit amtlicher Ruhe und Kompetenz erstmal klar, um dann hinzuzufügen: »Aber Einbrüche sind illegal, definitiv illegal.« Das musste gesagt werden.

Renate hob – fast priesterlich segnend – beide Hände. »Hört mich doch erstmal an. Natürlich ist es schwierig, aber der Mensch wächst mit seinen Aufgaben. Und wir sind nicht nur Menschen, wir sind Frauen!«

Das war ein schlagendes Argument.

»Schaffen wir das denn zu sechst?« Petra blieb skeptisch. »Das muss man doch aufwändig ausbaldowern. Und ganz oft üben. Und da braucht man Kenntnisse. Wir haben doch keine Ahnung, wie man so einen Bruch durchführt. Keine von uns hat jemals ein Verbrechen begangen.«

»Sprich du nur für dich«, warf ich ein, um auch mal was gesagt zu haben.

Renate schnalzte mit der Zunge. »Klar, schaffen wir das. Üb-er-haupt kein Thema. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Ich sehe schon alles in Eastman-Color vor mir: Tamara lenkt mit ihrem Sex-Appeal die Security-Männer ab, ich besorge die Stimme von Mehling und öffne mit der Sprachaufzeichnung die Tresortür, Petra hat einen Hund und weiß folglich, wie man Felltiere – also auch Tiger – friedlich stimmt, und du, Carmen, kannst mit Kennerblick in Sekundenschnelle entscheiden, welche Flaschen wir einpacken sollten, um das größtmögliche Gewinnpotenzial zu gewährleisten.«

Horst krähte.

»Und was mache ich?«, fragte Karla. Klang sie ein bisschen beleidigt, weil man sie ausschließen wollte?

»Also, was denn nun?«, nölte Petra. »Du mit deinem Beamtengewissen hast doch wie bei einer Abwehrzauber-Teufelsbeschwörung drei Mal ausgerufen, dass es illegal ist!«

»Ist es ja auch. Das heißt aber doch noch lange nicht, dass ich nicht mit von der Partie sein werde. Mit mir kann man Pferde stehlen!«

»Wir wollen Wein klauen, keine Pferde«, korrigierte Carmen.

Während Karla und Carmen und Petra daraufhin eine Rangelei anfingen, in deren Verlauf die Tischfahne unseres Clubs zu Boden ging und der Sockel zerbrach, was uns als Omen hätte dienen sollen, rief Renate: »Mascha, bist du dabei?«

Mascha grinste und spielte ein paar Takte aus dem Refrain von Peter Alexanders Hit Steck dir deine Sorgen an den Hut.

Renate interpretierte das als Zustimmung. »Wunderbar. Das wird fein. Und wenn es klappt, muss keine von uns zu Aldi an die Kasse. Dann können wir alle fleißig weiter kegeln. Und vor allem endlich wieder Kegelausflüge machen.«

Die rangelnden Mädels ließen voneinander ab. Petra schüttelte ihren Lockenkopf und rief: »Hurra, wir machen einen Bruch!«

Mascha spielte ein paar Takte aus Ich hätt getanzt heut Nacht, es gab Gruppenumärmelungen und Gruppenknutschen.

Ja, bei unserem letzten Kegelclubabend war die Welt noch in Ordnung …

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Rudi Mehling residierte in einer Prachtvilla mit Ahrblick. Momentan residierte Mehling jedoch nicht, sondern befand sich – laut Recherche von Carmen – auf einer Weinauktion in Doha, der Hauptstadt von Katar.

»Und wenn es nicht klappt?«, fragte ich, weil ich eine Angsthäsin bin.

Renate erklärte mit unmissverständlicher Finalität: »Scheitern ist keine Option.«

Was sollte aber auch schiefgehen?

Wir hatten uns perfekt vorbereitet.

Petra hatte eine Tupperdose Schweinehack, eine Rinderhälfte und zwei Wienerwürstchen in ihrem Rucksack, um den Sumatra-Tiger im Tresorraum mit einem Drei-Gänge-Menü milde zu stimmen.

Karla führte ihren Werkzeugkasten mit sich, um Alarmanlage und Bewegungsmelder auszuschalten.

Carmen lockerte ihre Schultern und legte den Kopf erst auf die linke, dann auf die rechte Seite. Auf ihr lastete der größte Druck. Sie musste nach dem Öffnen der Tresortür punktgenau die sechs teuersten Flaschen finden. Und zwar flott, denn sobald die Tresortür geöffnet war, blieben uns fünf Minuten, um eine Ziffernfolge in eine Tastatur einzugeben, sonst wurde Alarm ausgelöst. Und natürlich hatten wir diesen Zifferncode nicht. Wir mussten also unter fünf Minuten wieder weg sein.

Ich war die Jüngste und sollte die Sicherheitsmänner ablenken. Im Idealfall tranken sie mit mir das mitgebrachte Bier, in das wir K.O.-Tropfen gegeben hatten. Ich hatte mich in ein Stützmieder gezwängt und trug ein auf Körper geschnittenes Slinkykleid und High Heels und einen kompletten Flakon Chanel No. 5 – ein Parfüm, in das ja angeblich ein Männerlockstoffpheromon eingearbeitet war. Die Securitymänner hatten keine Chance.

Renate gurgelte zur Nervenberuhigung aus ihrem Flachmann mit bulgarischem Magenbitter aus dem Schweiß gedopter Hammerwerfer. Sie hatte sich mit Mehling auf einen Kaffee getroffen – unter dem Vorwand, sie wolle ihren Ehemann zu seinem Siebzigsten mit einem ganz besonderen Tropfen überraschen. Wie alle Sammler sprach Mehling gern über seine Passion, und als Politikergattin war Renate ja auch nicht irgendwer. Im Laufe des Kaffeegesprächs – das Renate mit einem Diktaphon aufzeichnete – war es ihr gelungen, Mehling die Worte »Sesambrötchen, Flaschenöffner und Dichtungsring zu entlocken. Daraus hatte sie im Tonstudio ihres Sohnes den magischen Satz, Sesam öffne dich gebastelt, der uns Zugang zum Tresor geben würde. Renate hielt also das Diktaphon in der linken Hand …

… und unter der rechten Achselhöhle Horst, den Hahn.

Der krähte.

»Ich verstehe nicht, warum das Huhn mitmusste«, flüsterte Karla.

»Das ist ein Hahn«, korrigierte Renate.

»Ich frage mich echt auch, warum du den Hahn mitbringen musstest?«, wunderte sich Petra.

»Nennt ihn nicht Hahn. Er hat einen Namen!«, fauchte Renate. »Er heißt Horst.«

»Und warum ist Horst dabei?«, wollte auch Carmen wissen.

»Unser Huhn-Sitte hat abgesagt, und ich kann Horst nicht im Garten allein lassen. Die Hennen mobben ihn, weil er mein Favorit ist. Ich versichere euch, er wird den Schnabel halten.«

Wir zweifelten.

Auch deswegen, weil Horst in diesem Augenblick krähte.

Aber nun waren wir schon vor Ort, da konnten wir auch Nägel mit Köpfen machen. Die Ausbeute lockte.

Wir winkten Mascha zu. Sie war bei diesem Bruch unser Schumacher. Also, sie schusterte nicht, sie sollte nur so schnell wie Schumacher – Vater oder Sohn, egal, Hauptsache schnell – die Biege machen, sobald wir nach dem Bruch mit der Beute angerannt kamen.

Mascha winkte fröhlich zurück. Sie ging ganz in ihrer Rolle auf, trug ein Netzhemd über ihrem Top und hatte sich extra für diesen Bruch den linken Arm tätowieren lassen. Als Einzige von uns war sie gut drauf. Ich meinte, aus dem Wagen die Klänge vom Eifellied auf ihrem Reiseakkordeon zu hören …

Wir standen vor der Villa mit Blick ins Ahrtal und auf zahlreiche Weinhänge. Schon 1602 hatte ein Ahrweiler Stadtschreiber notiert, dass der Wein hiesiger Gegend fürnehmste Nahrung sei. Für uns symbolisierte diese idyllische Aussicht eine finanziell abgesicherte Zukunft.

So denn alles klappte.

»Also gut, ich geh jetzt rein«, sagte ich, ruckelte mein Kleid zurecht, aus dem meine Rundungen nachgerade obszön herausquollen, und stöckelte zum Eingang.

Das erste Problem ergab sich, als ich nach dem Klingeln an der Haustür feststellen musste, dass die beiden kompakten Securitymänner keine Männer, sondern Frauen waren. Keine Panik, redete ich mir gut zu, das sind bestimmt Kampflesben. Noch ist Hopfen und Malz – und vor allem Wein – nicht verloren.

»Hallo-o«, flötete ich. »Mein Wagen hat den Geist aufgegeben, und ich brauche Hilfe.« Ich klimperte mit den falschen Wimpern. Eine fiel ab.

»Wir rufen gern den ADAC für Sie«, bot die Stämmigere der beiden an.

Ich wollte Zeit schinden und flirtete auf Teufel komm raus. Wie sich herausstellte, waren die beiden Wuchtbrummen jedoch keine Lesben. Oder ich war nicht ihr Typ. Jedenfalls wollten sie kein Bier mit mir trinken, und als ich mich hartnäckig weigerte, das Grundstück zu verlassen, nahm mich die eine in den Schwitzkasten, und die andere wollte gerade die Polizei rufen, da stürmte Karla mit dem Schlachtruf »Gironimo!« herbei.

Dank ihrer polizeilichen Nahkampfausbildung lagen die beiden Wachfrauen kurz darauf bewusstlos am Boden. Petra verschnürte sie mit Kabelbindern. In Makramé-Technik, weil unser Lockenmädel immer auf Ästhetik achtete.

Wir stiegen die Treppe hinunter zum Weinkeller.

Karla deaktivierte mit schnellen Griffen die Alarmanlage und die Bewegungsmelder. Sie hatte was von Angelina Jolie in Tomb Raider. Von einer fünfundsechzigjährigen Angelina.

Kurz darauf standen wir vor der riesigen Tresortür aus Titanstahl. Jetzt kam’s drauf an. Renate hielt das Diktaphon hoch und ….

… der Hahn krähte.

Zutritt verweigert, erklärte prompt eine Computerstimme vom Band.

»Mann, Renate, kannst du dein Huhn nicht besser unter Kontrolle halten?«, schimpfte Carmen.

»Horst«, maulte Renate. »Er heißt Horst.«

Nächster Versuch.

Petra hatte die Tupperdose mit dem Schweinehack geöffnet und hielt sie vor sich, um damit den Sumatra-Tiger zu besänftigen, sobald die Tresortür aufging.

»Wieso riecht das so komisch?«, fragte Karla und schnupperte.

»Das ist die Kräutermischung, die ich unter das Hack gerührt habe. Das rundet den Geschmack ab.« Petra strahlte. In der Küche machte ihr niemand was vor.

»Du tickst doch nicht richtig. Tiger sind Fleischfresser, keine Gourmets.« Karla schüttelte den Kopf.

»Die Details machen den Unterschied!«, beharrte Petra.

Renate, Carmen und ich traten zur Seite. Falls das mit dem Haute Cuisine Hack nicht klappte, sollte das Augenmerk – und Fressmerk – des Tigers auf Petra gerichtet sein, nicht auf uns.

Renate presste Horst an ihren Busen, sagte »Pst, mein Liebling« und hob erneut das Diktaphon an das Spracherkennungsmodul des Tresors. Sesam öffne dich, knarzte die Stimme von Mehling.

Und da ertönte ein Pling-Ton, und die Tresortür glitt auf.

Wir hielten alle den Atem an. Bis auf den Hahn. Der krähte. Ich sprach es natürlich nicht laut aus, aber wenn es hart auf hart kam, würde ich Renate den Hahn entreißen und ihn dem Tiger zum Fraß vorwerfen …

Doch so weit kam es nicht. Man glaubt es kaum, aber es gab tatsächlich einen Tiger. Weil der aber zu selten gefüttert wurde, lag er völlig entkräftet am Boden und sah uns nur waidwund an.

»Das arme Tier«, rief Petra, eilte zu dem Tiger und fütterte ihn mit dem Hack. Das dem Sumatra-Tiger sichtlich schmeckte. Wobei nicht klar war, ob das an den Kräutern lag.

Plötzlich ein gellender Schrei.

»AUA!« Es war Carmen. Ein Tentakelarm war aus der Wand geglitten und hatte ihn gestupst. Nicht nur gestupst, sondern ihm auch einen Stromschlag versetzt. »Das tat weh!«

»Meine Güte, hab dich nicht so«, brummte Karla. »Sag uns lieber, welche Flaschen wir einsacken sollen.«

Renate setzte das Huhn ab und stellte die Wecker-Funktion ihrer Apple Watch. Ab jetzt blieben uns noch vier Minuten und 59 Sekunden.

Carmen rieb sich die frisch unter Strom gesetzten, verlängerte Rückseite und sah sich um.

Der Sumatra-Tiger hatte mittlerweile auch die Rinderhälfte verspeist. Die Wienerwürstchen verschmähte er. Stattdessen sah er zu Horst.

Der Hahn krähte. Sein Kamm schwoll.

»Wir nehmen auf jeden Fall die hier. Und – oh mein Gott! – die hier.« Carmen wählte zügig und reichte die Flaschen vorsichtig an uns andere weiter.

»Noch drei Minuten fünfzig Sekunden«, rief Renate.

Und dann: »Noch drei Minuten!«

»Fertig!«, jodelte Carmen eine Minute später. Jede von uns hielt jetzt zwei Flaschen im Arm, vorsichtig, als ob es Babys wären.

»Summa summarum bekommen wir dafür eine Million«, freute sich Carmen.

Wir wandten uns zum Ausgang.

»Moment mal, wir können doch den Tiger nicht zurücklassen«, sagte Petra. »Das ist doch kein Leben, was er hier führt.«

»Haha, sehr lustig. Du kannst ja anonym Anzeige wegen Tierquälerei erstatten. Mitnehmen können wir ihn jedenfalls nicht«, sagte Renate, und sie klang ein bisschen eifersüchtig, weil ihr Horst ein immenses Interesse an dem Tiger zeigte, der wiederum keine Anstalten machte, Horst zu fressen, sondern ihn verliebt anschnurrte.

»Leute, es wird Zeit!«, mahnte Karla nervös.

»Ich gehe nicht ohne den Tiger«, bockte Petra.