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Bisher vom Autor bei KBV erschienen:

Der Tod fährt Rad

Das Wunder von Hiltrup

Das Mordkreuz von Tilbeck

Christoph Güsken wuchs in Mönchengladbach auf, studierte in Bonn und Münster und war Buchhändler in Köln. Er verfasste Texte im Geist der legendären Monty Pythons, u. a. für die »Springmaus«. Seit 1995 lebt er als freier Autor in Münster, schrieb zahlreiche Krimis, einige wenig ernste Romane und Hörspiele. Der Glöckner von St. Lamberti ist der vierte Kriminalroman um den schrägen Ex-Hauptkommissar de Jong, der bei seiner Suche nach dem Sinn des Ganzen ständig über die schlimmsten Verbrechen stolpert. www.christoph-güsken.de

Christoph Güsken

Der Glöckner
von St. Lamberti

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Inhalt

Über den Autor

Vorbemerkung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Vorbemerkung

Dies muss gesagt werden, damit klar ist, dass es sich nicht um Unachtsamkeit oder ein dummes Versehen handelt: Mir ist bewusst, dass über Münster kein Türmer wacht, sondern eine aufrechte Türmerin. Allerdings geht es in dieser Geschichte um Mord, und das ist keine Kleinigkeit. Und weil ich unserer geschätzten Türmerin ein langes und erfülltes Leben wünsche, handelt dieses Buch von einem männlichen Türmer. Damit Zufälle mit real existierenden Personen nicht nur rein zufällig, sondern völlig ausgeschlossen sind.

Zwölf Beamte der Narrenbrüderschaft
hoben ihn auf ihre Schultern,
und eine Art herber und verachtender Freude
strahlte auf dem mürrischen Gesichte des Zyklopen,
als er unter seinen mißgestalteten Füßen alle diese Köpfe
schöner, gesunder und wohlgestalteter Menschen sah
.

Victor Hugo, Der Glöckner von Notre-Dame

Wäre ich Glöckner, würde ich läuten.
Aber ich bin Türmer.
Da bleibt mir nichts als Tuten und Blasen
.

Ralf Schöpping

1. Kapitel

Als Hiltrud Noll am späten Abend des 23. Juni 2020 durch die Innenstadt radelte, konnte sie nicht ahnen, dass ihr Tod eines der meist diskutierten Ereignisse des Jahres werden würde.

Es war schon nach 23 Uhr, und die kopfsteingepflasterten Straßen waren so gut wie menschenleer; dafür hatten starke Windböen gesorgt, die angriffslustig durch die Gassen und über den Domplatz fegten, und jetzt kamen erste, noch vereinzelte fette Regentropfen hinzu – die Ouvertüre des vom Wetterbericht angekündigten und in diesen Minuten hereinbrechenden Gewitters.

Hiltrud, Studierende der Bioinformatik im sechsten Semester, waren die Regentropfen reichlich egal. Sie hatte sich gerade von ihrem Freund getrennt, deshalb passte das Wetter perfekt zu ihrer aufgewühlten Stimmung. Ken, Langzeitstudent der Orientalistik und hauptberuflich Straßenmusiker, hatte sich strikt geweigert, mit ihr nach Freiburg zu gehen, wo sie ihr Qualifikationsprofil durch ein Studium des Embedded systems Engineering bereichern wollte.

»Ich dachte, unsere Beziehung steht für dich an erster Stelle«, hatte sie enttäuscht gesagt. Und er: »Was erwartest du von mir? Mein Umfeld ist hier, und das will ich nicht einfach so aufgeben.«

Mein Umfeld. Und: einfach so aufgeben. Hiltrud verzog den Mund und schüttelte widerwillig den Kopf. Im Klartext hieß das doch: Mit der Gitarre in der Fußgängerzone zu stehen und Don’t think twice zu näseln, war ihm wichtiger als ihre Zusatzausbildung in Freiburg, die für sie die Chance war weiterzukommen. Und von der er dann ja schließlich später auch profitieren würde. »Wie denkst du dir das überhaupt: dass wir beide von den paar Euromünzen leben, die die Leute in deinen Hut werfen? Werde endlich erwachsen.«

»Und du solltest dir überlegen, was dir wirklich wichtig ist, ob sich in deinem Leben alles nur um Geld und Karriere dreht«, hatte er trotzig erwidert, weil er es nicht ausstehen konnte, wenn man ihn als unerwachsen bezeichnete, und dann hinzugefügt: »Überhaupt bist du doch diejenige, für die die Karriere an erster Stelle steht. Und danach kommt erst mal gar nichts. Hast du dir eigentlich schon mal überlegt, was das mit mir macht?«

Vielleicht hatte er sogar recht. Aber wer hatte eigentlich verfügt, dass eine Beziehung immer an erster Stelle zu stehen habe?

Aber all das müsste eigentlich gar nicht erzählt werden. Nur, dass auffrischende Böen die Plastikstühle der Restaurants umwarfen und die vereinzelten Tropfen sich inzwischen zu einem ergiebigen Platzregen zusammengefunden hatten. Hiltrud Noll hatte nicht einmal Regenzeug dabei, aber auch das war ihr egal. Stur radelte sie geradeaus und hatte keinen Blick für das, was links oder rechts von ihr geschah. Und schon gar nicht für das, was über ihr passierte – aber genau das wurde ihr zum Verhängnis. Natürlich ist es durchaus möglich, dass sie im allerletzten Augenblick doch etwas wahrnahm. Etwas Vages, kaum Merkliches. In dem Moment, als sie direkt am Turm der Lambertikirche vorbeifuhr, mag sie einen Schatten bemerkt haben, der für einen winzigen Augenblick die Scheinwerfer, die die Kirche anstrahlten, verdunkelte. Wie der Flügelschlag eines großen Vogels.

Und dann prallte etwas Schweres mit voller Wucht auf sie und ihr Fahrrad und machte einen Strich durch all ihre Zukunftspläne. Einen endgültigen Strich.

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War dies schon tragisch genug, kam das Verwirrende erst noch: Als die Kripo am Tatort eintraf, fand sie nicht eine, sondern zwei Leichen vor: Hiltrud Noll und Ralf Schöpping, den Türmer von St. Lamberti. Ein später Spaziergänger, der kurz vor Mitternacht, nachdem das Gewitter sich ausgetobt hatte, seinen Hund Gassi führte, hatte die beiden Körper entdeckt, zerschmettert in einer Blutlache auf dem Lambertikirchplatz – dem touristischen Treffpunkt der Stadt. Man konnte von Glück sagen, dass um diese Zeit alle Touristen schliefen und ihre neugierigen Smartphones mit ausgeschalteten Displays ganz nah bei ihnen auf den Nachttischen lagen.

Der Tatort wurde abgeriegelt, und die Spurensicherung nahm ihre Arbeit auf. Aber, Moment mal: Konnte man überhaupt von einem Tatort sprechen? Natürlich war es noch viel zu früh, belastbare Aussagen zu machen, aber so viel schien doch festzustehen: Jenes Schwere, das mit voller Wucht die Radfahrerin erschlagen hatte, war der Türmer selbst gewesen, der aus mehr als siebzig Metern vom Kirchturm herabgestürzt war. Weder er noch die Radfahrerin konnten das überleben. Bedeutete das, dass Herr Schöpping Hiltrud Noll erschlagen hatte? War demnach Frau Noll das Opfer und er der Täter, wenngleich genauso tot? Oder sollte man ihn eher als die Mordwaffe bezeichnen? Um das zu beantworten, musste geklärt werden, ob der Türmer noch am Leben gewesen war, als er hinunterstürzte. Und wenn ja, ob der Sturz vorsätzlich oder aus Versehen erfolgt war. Nur im ersten Fall wäre es Mord, im zweiten jedoch ein tragischer Unfall. Eine weitere Möglichkeit: Der Verstorbene war zwar vorsätzlich gestürzt, nur der Aufprall auf die Radfahrerin war ein Versehen – ein fahrlässiger Suizid mit Todesfolge sozusagen, der vermeidbar gewesen wäre, hätte Hiltrud Noll nur ein wenig mehr auf ihre Umgebung geachtet. Stellte sich jedoch heraus, dass der Türmer schon tot gewesen war, bevor sein Körper herabstürzte, wäre eine völlig neue Situation entstanden: Denn dann musste man davon ausgehen, dass er die Mordwaffe war und es galt, denjenigen zu finden, der den Mord begangen hatte – und warum. Alles in allem waren es genug rätselhafte Fragen, über die die Presse schon bald so ausgiebig spekulieren sollte, dass sogar hochrangige Sportereignisse wie die Champions League zurückstehen mussten.

Ein Nebeneffekt der ›Blutnacht von St. Lamberti‹, wie die Presse sie vollmundig nannte, war, dass viele zum ersten Mal überhaupt davon erfuhren, dass der Kirchturm bewohnt war.

Der Korrektheit halber müsste man sagen: dass er bis jetzt bewohnt gewesen war.

2. Kapitel

Wenn er es einrichten konnte, begab sich Exkommissar Niklas de Jong montags gern in die Innenstadt, hauptsächlich, um mit Kurt Schmedebach ein Schwätzchen zu halten. Schmedebach war der Inhaber von Schmedebach Tabakwaren, einem winzigen Ladengeschäft in der Fußgängerzone. Es führte aber nicht nur Tabakwaren, sondern auch diverse Süßigkeiten, Fernseh- und Tageszeitungen und neuerdings Münster-Souvenirs. Das stickige, düstere Innere roch nach Pfeifentabak und bedrucktem Papier. Wettfreudige konnten hier in aller Ruhe ihre Lottoscheine ausfüllen und dabei über die miserable Weltlage diskutieren.

Der Besuch lief immer gleich ab, wie nach einem ungeschriebenen Drehbuch, das allen Beteiligten seit Langem in Fleisch und Blut übergegangen war: Kurz bevor de Jong die schwere Ladentür aufdrückte, trat ihm ein Mann in den Weg, um die fünfzig Jahre alt, kahlköpfig und mit einem ausladenden Doppelkinn. Meistens trug er einen abgewetzten Pulli über einem verschwitzten Hemd, in der kalten Jahreszeit zwängte er sich in einen etwas zu kurzen, speckigen, graugrünen Parka.

Der Mann stellte sich als Rambo vor, grinste dann und sagte: »aber nicht der Rambo. Die Betonung ist auf der zweiten Silbe, Rambeaux, also keine Verwandtschaft.«

Dieser Hinweis erfolgte jedes Mal aufs Neue, obwohl de Jong – so wie jeder andere, den der Kahlköpfige anquatschte – seinen Namen längst kannte. Das galt auch für die Geschichte, die stets folgte: Rambeaux war gerade erst aus der Haft entlassen, seinen Haftentlassungsschein hatte er dabei und sicherheitshalber laminieren lassen, damit er durch den intensiven Gebrauch nicht unleserlich wurde. Aber jetzt kam das Problem: Da er obdachlos war und ehemaliger Strafgefangener, wollte keiner ihm einen Job geben. Und wie sollte er eine Wohnung bekommen, wenn er keinen Job hatte? Ein tragischer Kreislauf.

»Der Hauptmann von Köpenick lässt grüßen«, sagte de Jong jedes Mal.

Dann ließ der Exkommissar zwei Euro springen – als Spende und Starthilfe für den Obdachlosen, was dieser mit einem schiefen Lächeln quittierte, als könnte er sich gerade noch die Bemerkung verkneifen, dass zwei Euro nicht eben weit reichen würden, es sei denn, man wollte damit nur sein schlechtes Gewissen beruhigen.

»Überleg dir eine neue Geschichte, dann wird auch das Honorar üppiger«, sagte de Jong und betrat den Laden.

So verlief es meistens. Nur heute nicht. De Jong stand an der Ladentheke und hatte weder die alte Geschichte von der Haftentlassung gehört, noch war er zwei Euro losgeworden.

»Hat Rambo seinen freien Tag?«, erkundigte er sich bei Schmedebach.

Kurt Schmedebach, Ende vierzig, war klein und hatte die Figur eines Menschen, der wenig von Sport hält, lieber viel sitzt und seine Zeit damit verbringt, dem schnellen Hunger nachzugeben. Er war auffällig korrekt gekleidet – Jackett über einem weißen, gebügelten Hemd, dazu eine passende Krawatte. Was seine Sicht auf die Welt als Ganzes anging, musste man ihn als glühenden Pessimisten bezeichnen. De Jong hielt ihn sogar für einen der führenden Pessimisten seiner Zeit.

»Der war schon länger nicht mehr da«, sagte Schmedebach mit einem sauren Grinsen. »Tja, nicht nur die Kunden bleiben einem weg, was? Sondern sogar die Schnorrer.«

»Der kommt schon wieder.«

»Darauf wette ich.« Schmedebach ließ ein schnaufendes Lachen hören. »Selbst wenn sich kaum Kundschaft blicken lässt, einer muss schließlich da sein, der sie mir vertreibt.«

»Wie laufen denn die Geschäfte so?«, versuchte de Jong ein anderes Thema, ohne viel Hoffnung auf gute Nachrichten.

»Fragen Sie besser nicht«, meinte der Ladenbesitzer, aber weil der Rat ja offenkundig zu spät kam, fügte er hinzu: »Wenn das so weitergeht, kann ich zumachen. Glauben Sie nicht, was? Aber was beklage ich mich. Das kommt ja wohl kaum überraschend.«

»Für mich schon«, meinte de Jong, obwohl das kein bisschen stimmte. Wenn es nach Schmedebach ging, war er immer kurz vorm Zumachen.

»Kein Wunder. Sehen Sie sich die City an: Nur noch die großen Ketten mit ihren Filialen, die sich hier breitmachen. Gegen die hast du null Chancen. Und was kommt dabei heraus: gähnende Langeweile.«

»Das wird schon wieder.«

»Und das Internet macht alles noch schlimmer. Die Smartphone-Generation. Sie denken doch nicht, dass die noch einen Fuß vor die Tür setzt, um einzukaufen.«

»Wenn einer mal reichen würde«, gab de Jong zu.

»Fragen Sie die mal, ob es regnet oder die Sonne scheint. Dann gucken die nicht nach oben, sondern googeln die Wetterlage.«

»Naja«, meinte de Jong. »Sicher sind nicht alle so.« Er nahm eine Tageszeitung aus dem Ständer. Die Blutnacht von Sankt Lamberti lautete die Titelschlagzeile. Der Exkommissar legte sie auf den Tresen und kramte Kleingeld hervor, als sein Handy klingelte.

»Hier ist Eugen«, meldete sich eine männliche Stimme. »Kann ich dich kurz sprechen?«

Eugen Küppers und de Jong waren lange Zeit Kollegen gewesen. Seit Jahren trafen sie sich regelmäßig zum Bier und erörterten wichtige Dinge, die Weltlage und was früher alles besser gewesen war. Meistens waren die Dinge aber nicht so eilig, dass sie nicht warten konnten. »Klar«, sagte de Jong.

»Was macht die Schriftstellerei?«

»Keine Ahnung. Rufst du etwa deswegen an?«

»Natürlich nicht. Was ist mit übermorgen? Bleibt’s bei neunzehn Uhr im Knipperdolling

»Ja, so wie immer. Wie lange machen wir das jetzt schon?«

»Was ist denn los? Hab ich dich bei irgendwas gestört?«

»Wieso denn?«

»Na, weil du so grantig bist.«

»Bin ich doch gar nicht. Vielleicht sagst du endlich mal, was ich für dich tun kann.«

Küppers ließ einen langen Moment verstreichen, bis de Jong sich schon fragte, ob er tatsächlich den Anlass seines Anrufs vergessen haben könnte. »Erinnerst du dich vielleicht noch an den Oktober 2005?«

»Dunkel«, sagte de Jong vage, dann präzisierte er: »Ehrlich gesagt, nein.«

»Ich hab dir damals den Arsch gerettet.«

Das half de Jong allerdings auf die Sprünge. Obwohl es nicht ganz zutraf, weil es genau genommen nicht sein Arsch gewesen war: Damals waren er und Giulia noch zusammen gewesen. Nach einer späten Party war sie auf dem Nachhauseweg mit dem Rad in eine Polizeikontrolle geraten, aufgrund ihrer alkoholisierten Hochstimmung spontan durchgestartet und hatte die Beamten abgehängt, dabei auch noch eine rote Ampel überfahren. Küppers, der jede Gelegenheit nutzte, um zu betonen, was für eine beeindruckende Frau Giulia sei – etwas zu oft, fand de Jong –, hatte damals versprochen zu sehen, was er für de Jong tun könne. Und so war die Angelegenheit schon bald recht glimpflich ausgegangen, regelrecht im Sande verlaufen. Wie Küppers das damals gedreht hatte, wollte de Jong auch heute noch nicht wissen.

»Stimmt, ja«, sagte de Jong. »Du meinst diese Sache.«

»Genau. Und jetzt wäre die Gelegenheit da, dass du dich revanchieren kannst.«

Nicht, dass de Jong einen Gefallen einfach so annehmen und sich nicht dafür revanchieren wollte. Aber wenn er ehrlich war, dann passte es ihm gar nicht so gut, dass sich ausgerechnet jetzt die Gelegenheit dazu bot. Er plante nämlich, an einem der nächsten Tage Giulia zu besuchen, seine Ehemalige – in Giulias Sprachgebrauch, der von de Jong bis heute nicht akzeptiert wurde –, die irgendwo in Frankreich an einem Workshop mit dem Thema »kreatives Schweigen« teilnahm. Der Besuch war nicht so ganz ohne, weil sie in keiner Weise mit ihm rechnete, sodass es aus ihrer Sicht möglicherweise wie ein Überfall aussah. De Jong dagegen sah es lieber als eine gelungene Überraschung.

»Du kennst doch Achim, meinen Neffen«, sagte Küppers. »Achim Bühlow.«

De Jong kannte ihn nicht, erinnerte sich aber, dass Küppers, selbst kinderlos, in seinen Neffen immer regelrecht vernarrt gewesen war. Da war schlichtweg nichts gewesen, was er dem Jungen hätte abschlagen können. Und jetzt war so viel Zeit vergangen, dass der Kleine längst erwachsen sein musste.

»Achim hatte es eigentlich auf die Steuerbranche abgesehen«, fuhr Küppers fort. »Kostennutzenrechnungen, Freibeträge, Gewinn- und Verlustrechnungen – so was hat ihn immer fasziniert, schon als Kind. Seinen Mathelehrer hat er damit schier in den Burn-out getrieben. Aber dann, eines Tages, geschah etwas, das er als eine Art Damaskuserlebnis beschreibt.«

»Das tut mir leid«, sagte de Jong, nicht ganz passend.

»Jedenfalls kam er von einem auf den anderen Tag damit, dass er zur Kripo wollte. Unbedingt und ohne Diskussion. Tja, was soll ich dir sagen: Genauso ist es gekommen. Und jetzt hat der Junge seinen ersten Mordfall. Na ja«, klang es fast enttäuscht, »wie es aussieht, ist es gar kein Mordfall, sondern Suizid.«

»Immerhin«, meinte de Jong anerkennend.

»Aber jetzt kommt das kleine Problem: Achim ist noch jung, unerfahren und grün hinter den Ohren. Erschwerend kommt hinzu, dass er dazu neigt, Entscheidungen zu treffen, die sich nachher als Fehlentscheidungen erweisen. Verstehst du, was ich meine?«

»Nicht so ganz.«

»Egal, das wäre jedenfalls der Gefallen, um den ich dich bitte: Kannst du ihm zur Seite stehen?«

Offenbar hatte Eugen Küppers die Sache wieder einmal nicht zu Ende gedacht. Das war schon immer seine Schwäche gewesen.

»Sonst gern«, antwortete de Jong. »Aber die Sache ist die: Wie du doch weißt, bin ich kein Bulle mehr.«

»Ach ja«, erinnerte sich der Mann am Telefon. »Du bist jetzt Schriftsteller.« So wie Küppers das sagte, hörte sich das an, als wäre das mit dem Schriftsteller nur eine Ausrede, um nicht mehr Bulle sein zu müssen. Womit er übrigens nicht so ganz unrecht hatte: Lange Zeit hatte der Exkommissar sich mit Kriminalromanen abgemüht, war es aber eines Tages leid gewesen, sein einziger Leser zu sein. Also hatte er, dem skurrilen Rat eines Freundes folgend, sich ein weibliches Pseudonym zugelegt und einen erotischen Frauenroman geschrieben, auf den er nicht stolz sein konnte, der sich absurderweise aber recht gut verkaufte. Diese äußerst fragwürdige Schriftstellerkarriere als Frau, zusammen mit gelegentlichen Vorträgen auf Kripo-Fortbildungen zum Thema »Entschleunigung in der polizeilichen Ermittlungsarbeit« ergaben zwar kein fürstliches, aber immerhin ein erträgliches Auskommen.

»Das ist ja der Gefallen«, sagte Küppers. »Sonst wäre es nur eine Bitte.«

»Verstehe«, sagte de Jong.

»Ich meine doch nicht, dass du ihm den Bullen vorspielen sollst. Ich sehe dich eher als eine Art Ratgeber. Väterlichen Freund, wenn du so willst.«

»Und wenn nicht?«, fragte de Jong, aber Eugen Küppers hatte sein Ja schon fest eingeplant. »Ich sag ihm Bescheid, dass er dich anrufen soll. Die Kollegen wissen schon Bescheid. Ehrlich, das rechne ich dir hoch an.«

»Tu doch so was nicht«, sagte de Jong und wollte eigentlich noch auf das Finanzielle zu sprechen kommen, aber der andere hatte schon aufgelegt.

3. Kapitel

Joachim Bühlow erinnerte de Jong an eine heimische Vogelart, deren Name ihm nicht einfallen wollte. Jedenfalls auf den ersten Blick. Grüngraues Federkleid, der Kopf, der sich ruckartig auf dem dünnen Hals mal hier, mal dorthin reckte, die staksigen Bewegungen, mit denen das Tier durch das Gras stolzierte. Das gesamte Äußere des Kommissars war vogelhaft: der leicht rundliche, aber keineswegs füllige Körperbau, die Vorliebe für Grautöne, was sowohl seine federkleidartige Strickjacke, als auch das asketisch kurz geschnittene Haar anging. Seine wie ein Krummschnabel geformte Nase. Und zu all dem kam eine hektische Angewohnheit: Nachdem er de Jong bemerkt und bevor sie einander begrüßt hatten, hatte er sich mindestens dreimal ruckartig umgesehen, als befürchtete er eine Attacke aus dem Hinterhalt.

De Jong hatte gerade den Tabakladen verlassen, als Bühlow sich bei ihm meldete. Als Erstes hatte er sich für die Hilfe bedankt, noch bevor de Jong dazu kam, sie anzubieten. Dann hatten sie sich vor dem Turm von St. Lamberti verabredet, wo de Jong gegen vierzehn Uhr eintraf.

Ein blauer Himmel spannte sich über die Stadt, und mittendrin stand eine Sonne, die ihr Möglichstes tat, um alle, die hinaufschauten, für das Unwetter der vergangenen Nacht zu entschädigen. Es gelang ihr nicht hundertprozentig, was man jedoch nicht ihr ankreiden konnte, sondern den polizeilichen Absperrungen, die den Touristen immer noch den Zugang zu Kirche und Kirchplatz verwehrten, sodass sie sich neugierig gaffend hinter ihnen versammelten.

De Jong begrüßte einige der alten Kollegen. Sie schienen es ganz normal zu finden, dass er hier aufkreuzte und plötzlich wieder einen auf Ermittler machte. Wie immer Küppers das gedreht hatte, wollte de Jong auch dieses Mal nicht wissen – und das galt möglicherweise auch für die Tatsache, dass sein Neffe diesen Fall überhaupt bekommen hatte.

»Genau. Dann wollen wir mal.« Bühlow machte den Kollegen von der Spusi, die ihn gar nicht zur Kenntnis zu nehmen schienen, ein Zeichen und bedeutete dann de Jong mit einer fahrigen Geste, ihm zu folgen.

De Jong war sich immer noch nicht sicher, ob der Junge wirklich seine Hilfe wollte oder nur zu höflich war, sich die Einmischung seitens seines Onkels zu verbitten.

Bühlow zückte einen Schlüssel und öffnete eine unscheinbare Holztür auf der dem Kirchplatz abgewandten Rückseite von St. Lamberti. Stufe für Stufe stiegen sie eine enge, steinerne Wendeltreppe hinauf, die kein Ende nehmen wollte. Das Licht war spärlich, und es roch muffig. De Jong zog den Kopf ein, um nicht anzustoßen, und bemühte sich, mit dem jungen Kollegen Schritt zu halten. Unterwegs überlegte er sich flapsige Bemerkungen, um das Eis zu brechen. Dass es ihm als kein Wunder erscheine, wenn jemand nach einem derart beschwerlichen Hinaufweg den denkbar schnellsten Hinabweg wählte, so was in der Art. Aber abgesehen davon, dass ihm das nicht flapsig genug erschien, machte ihm, je höher sie stiegen, das Reden immer mehr Mühe – und er hielt den Mund, um Atemluft zu sparen.

Endlich standen sie in der Turmstube. Es war ein seltsam unspektakulärer Anblick: Nach all der Kraxelei den mittelalterlichen Turm hinauf befanden sie sich in einem bieder eingerichteten, immerhin achteckigen Wohnraum. An der Wand stand ein Schreibtisch mit einem Laptop. Vor dem Schreibtisch ein Stuhl, gegenüber ein Sofa, das mit grünem Stoff bezogen war und ein wenig durchgesessen wirkte. Über dem Sofa prangte ein Bild, eine recht kitschige Stadtansicht von Münster in Öl. Ein piefiges, trautes Heim, weit oben auf einem Kirchturm.

»Das ist ja seltsam«, sagte de Jong verwundert. »Ich wusste gar nicht, dass die Kirche auch an Studenten vermietet.«

»Das ist ein Arbeitsplatz«, erläuterte Bühlow ernst, scheinbar immun gegen de Jongs Flachserei. »Der Arbeitsplatz des toten Herrn Schöpping.«

»Woran hat er denn gearbeitet?«

»Der Türmer ist so eine Art Wachposten. Vom Turm aus hält er Ausschau nach Bränden oder feindlichen Heeren, die im Anmarsch sind. Genau.«

»Ach«, sagte de Jong, der sich wegen der feindlichen Heere für eine Sekunde fragte, ob der andere seinerseits gescherzt hatte.

Hauptkommissar Bühlow deutete auf ein Kupferrohr, das an der Wand lehnte. »In dieses Horn muss er jede halbe Stunde blasen.«

Das Instrument war etwa siebzig Zentimeter lang und erinnerte mit seinem am Ende nach oben gebogenen Schalltrichter entfernt an ein Alphorn. Natürlich hätte es für die Alm mindestens fünfmal so groß sein müssen; so reichte es vielleicht gerade für das Fußballstadion.

De Jong folgte Bühlow hinaus ins Freie auf die schmale, gerade mal einen Fuß breite Balustrade, die den kleinen Raum umgab. Massive steinerne Rosetten bildeten die Grenze zwischen dem Betrachter und der bodenlosen Tiefe gleich dahinter. Ein kleiner Seitenblick hinunter auf die Dächer der Häuser und die winzigen Menschlein tief unter ihnen genügte de Jong, um weiche Knie zu bekommen. Er atmete schwer, tastete sich an der Turmwand entlang und kehrte rückwärts wieder in die Stube zurück.

»Schöpping ist hier hinabgestürzt«, sagte Bühlow, dem die Höhe nichts auszumachen schien. »Die Frage ist, ob es ein Unfall war oder Selbstmord. Oder sogar Mord.«

»Mord?«, wunderte sich de Jong. »Deutet denn irgendetwas darauf hin?«

»Nicht direkt. Bis jetzt jedenfalls nicht.«

De Jong hatte sich wieder gefangen und nahm den Raum ein wenig in Augenschein, während der Hauptkommissar ihm weiter Bericht erstattete. »In den Taschen des Toten haben wir den Schlüssel zu seiner Wohnung gefunden, einen Fahrradschlüssel und ein bisschen Geld.«

Über dem Schreibtisch war mit Stecknadeln ein Schwarzweißfoto an der Wand befestigt, auf dem eine Gruppe Grundschüler, teils in kurzen Hosen, mal schief, mal herausfordernd in die Kamera grinste. Ostern 1969 stand auf einem Pappschild, das einer von ihnen in der Hand hielt.

»Ja, und dann noch ein Rezept«, sagte Bühlow. »Genau.« Dieses »genau« schien eine Angewohnheit zu sein.

»Ein Kochrezept?«, fragte de Jong, mäßig interessiert.

»Nein. Ein Augenarztrezept. Könnte doch vielleicht wichtig sein.«

»Wichtig wofür?« De Jong hörte dem Kommissar nicht so richtig zu. Er hatte ein Fernrohr entdeckt, das auf ein Stativ montiert war. »Das ist ja ein richtig teures Gerät«, sagte er anerkennend.

»Naja, vielleicht ist es ein Hinweis. Das Rezept, meine ich.«

De Jong beugte sich hinunter, kniff ein Auge zusammen und führte das andere zum Okular des Fernrohres. Er blickte in ein Zimmer. Es war ein Schlafzimmer und befand sich so nahe vor ihm, dass er das Gefühl hatte, hineingreifen zu können. Im nächsten Moment trat eine Frau in den Sichtbereich des Fernrohrs, ebenso zum Greifen nahe. Genauer gesagt war es nur ihr Oberkörper. Sie kehrte ihm den Rücken zu, er sah ihren Hals, die Spitzen ihres kurzen, blonden Haars, die bloßen Schultern und den schwarzen Streifen eines BHs, dessen Verschluss ihre Finger auf routinierte Weise öffneten. Der BH fiel zu Boden und sie wandte sich dem Fenster zu.

»Das Teleskop gehört zur Ausstattung«, erklärte Bühlow. »Um Brände zu entdecken. Genau.«

De Jong war so davon in Anspruch genommen, die Brüste der unbekannten Frau durch das Fernrohr zu betrachten, dass Bühlows Bemerkung wie aus weiter Ferne zu ihm drang. »Brände«, murmelte er. »Klar.«

Der junge Kommissar trat neben ihn, und de Jong, als könnte Bühlow sehen, was er sah, riss sich wie ein beim Spannen ertappter Pennäler vom Fernrohr los.

»Das ist der Abschiedsbrief«, sagte Bühlow. Er reichte de Jong ein Blatt Papier. Es war ein liniertes DIN-A4-Blatt, herausgerissen aus einem Schreibheft. Es enthielt nur wenige Wörter, säuberlich mit Kugelschreiber geschrieben:

Ihr denkt, daß das hier oben ein ruhiger Job ist. Aber ihr habt ja keine Ahnung. Hic Rhodus, hic salta.

R.S.

»Rhodus?«, wunderte sich Bühlow. »Was meint er denn damit?«

»Eine Redensart. Es ist Latein und bedeutet: Hier ist Rhodos, hier springe.«

»Ist hier denn etwa Rhodos?«

»Nein. In diesem Fall wird er den Turm gemeint haben.«

»Springe«, wiederholte Bühlow. »Genau.«

»Damit spräche also eine Menge für Selbstmord«, sagte de Jong und klang richtig erleichtert. Es würde also doch noch was mit dem Trip nach Frankreich.

Bühlow dagegen sah skeptisch aus. Für einen Moment schien er wieder in sich zu gehen und innere Zwiesprache zu halten. »Meinen Sie?«, fragte er.

»Wer schreibt so was schon hin, bevor er von einem Turm stürzt, wenn er nicht dazu entschlossen ist?«, meinte de Jong.

»Trotzdem«, sagte Bühlow. »Finden Sie nicht, dass das für einen Abschiedsbrief recht kurz ist? Wenn es um den eigenen Tod geht, bringt man normalerweise etwas mehr zustande als zwei Zeilen.«

»Ja, schon«, gab de Jong zu. »Aber Redseligkeit ist nicht jedem gegeben. Gerade wenn es um so ein sensibles Thema geht.«

Der junge Hauptkommissar nickte, obwohl ihn das offenkundig nicht überzeugte. »Aber ein Abschiedsbrief, auch wenn er lang und ausführlich wäre, ist noch kein Beweis für einen Selbstmord.«

»Nein«, gestand ihm de Jong zu. »Doch in der Regel geht man schon davon aus, dass …«

»Zum Beispiel könnte er den Brief geschrieben haben und fest entschlossen gewesen sein, sich umzubringen. Und dann kam etwas dazwischen. Genau.«

»Woran denken Sie dabei?«

»Er wurde ermordet.«

»Aber Sie haben selbst gesagt, dass darauf nichts hindeutet.«

Bühlows hektische Armbewegung ließ de Jong zurückzucken. »Mein Onkel«, erklärte Bühlow, »hat mir erzählt, dass Sie ein Spezialist auf diesem Gebiet seien.«

»Auf welchem Gebiet?«

»Todesfälle, die Unfälle zu sein scheinen. Oder Suizide. Und die sich dann als echte Mordfälle entpuppen. Weil Sie die Sache durchschauen.«

Endlich begriff de Jong, was hier gespielt wurde: Küppers hatte de Jong überhaupt nicht als väterlichen Freund engagiert. Deshalb die Enttäuschung in seiner Stimme, als er den Mordfall erwähnt hatte, der leider gar kein richtiger war: Küppers gönnte seinem geliebten Neffen unbedingt, dass er einen Mordfall bekam und keinen lausigen Selbstmord. Deshalb hatte er den sogenannten Spezialisten ins Spiel gebracht. De Jong sollte alles geben, aus dieser Sache, die leider ziemlich eindeutig Selbstmord war, einen Mord zu stricken.

»Hören Sie«, sagte er. »Wir werden das alles genau untersuchen. Ob der Abschiedsbrief überhaupt einer ist oder vielleicht nur der Anfang eines Schreibens, das von den Schattenseiten des Türmerberufs handelt. Ob er überhaupt von Schöpping stammt. Wir werden mit seinen Angehörigen sprechen. Das ist alles Routine. Dabei stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.« De Jong machte ein zerknirschtes Gesicht, wie ein Arzt, der einem Patienten traurige Nachrichten überbringt. »Aber wenn es nun mal Selbstmord war, können wir so lange recherchieren, wie wir wollen. Es wird kein Mord daraus.«

»Genau«, sagte Bühlow.

4. Kapitel

Als Achim Bühlow vorschlug, sich nach Feierabend noch irgendwo zu treffen, um sich als neue Kollegen ein wenig zu beschnuppern, wollte de Jong, der sich aus Prinzip nicht viel aus Beschnuppern machte, schon absagen. Auch weil er den Abend eigentlich dazu nutzen wollte, seine Frankreichreise zu planen und auf geschickte Art und Weise auszutesten, wie Giulia zu einem Überraschungsbesuch stand, ohne zu verraten, was er vorhatte. Nur um sicherzugehen, dass es am Ende nicht zu viel zerschlagenes Porzellan gab und er sich dann wünschte, es lieber gelassen zu haben. Aber natürlich war ihm klar, dass das nur vorgeschoben war und er für eine kurze SMS keinen ganzen Abend brauchte.

So ging de Jong gegen acht an Bord der Nostromo II, eines monströsen, ausgedienten Schleppkahns, der seit Ewigkeiten im Hafenbecken vor Anker lag und neuerdings ein Restaurant war. Es war geradezu ein Bild von einem Sommerabend, und das Gedrängel war entsprechend groß. Hinzu kam, dass die Nostromo II sich nicht als schlichtes Restaurantschiff verstand, sondern als kultureller Treffpunkt der Indi-Szene. Flyern, die zwischen den Speisekarten steckten, war zu entnehmen, dass für diesen Abend ein Liedermacher namens Knut sein Repertoire vorstellen wollte.

Bühlow hatte in dem Gedrängel Gott sei Dank schon einen Tisch erobert, noch dazu einen auf dem Sonnendeck mit Blick auf das Hafenbecken und das rege Treiben auf dem Kreativkai gegenüber. »Schön, dass das geklappt hat«, begrüßte er de Jong, indem er sich von seinem Platz erhob und ihm artig die Hand schüttelte.

»Sollen wir nicht Du sagen?«, schlug de Jong vor. »Ich bin Niklas.«

»Achim«, sagte Bühlow und nahm wieder Platz.

Das Bier kam, der junge Kommissar hob sein Glas. »Also dann, auf Ihr Wohl.« So viel zum Du sagen.

De Jong war vor allem neugierig auf das Damaskus-Erlebnis, das Küppers erwähnt hatte.

Achim schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Ärmel Bierschaum vom Mund. »Sie dürfen nicht alles glauben, was mein Onkel erzählt.«

»Keine Sorge«, sagte de Jong, »da besteht keine Gefahr.«

»Onkel Eugen hat diese Legende vom Damaskus-Erlebnis erfunden: das junge, aufstrebende Steuerberater-Talent, eines Tages unterwegs mit seinem schicken, weißen Audi auf der Autobahn, als ihn ein Licht blendet, heller als die Morgensonne, und eine Stimme fragt: Warum willst du dein Leben mit Steuererklärungen vergeuden? Warum gehst du nicht dorthin, wo das Leben pulsiert, nämlich zur Kripo?« Bühlow grinste säuerlich, und de Jong grinste zurück, aber nicht weil er die Legende besonders komisch fand. Hier in der Kneipe schien der junge Kommissar seine Hektik abzulegen und ein bisschen aufzutauen. So sehr, dass er sogar zur Ironie fähig war.

De Jong wollte das lobend erwähnen, doch just in dem Moment schnitt ihm Knut, der Liedermacher das Wort ab, indem er sich als Knut, der Liedermacher vorstellte und seinen ersten Song ankündigte. Und der wurde ausreichend verstärkt, sodass alle übrige akustische Kommunikation unterbunden wurde; Bühlow und de Jong blieb nichts anderes, als die Aussicht zu genießen und Bier zu trinken.

Der Song endete, Applaus folgte. Knut verlor keine Zeit und hatte dank seines Mikros auch keine Mühe, sich gegen das allgemeine Kneipengemurmel durchzusetzen. Seine Ansagetexte waren lange, raumgreifende Monologe, die ein Vielfaches der Zeit beanspruchten, die die Songs einnahmen: Wie er auf die Idee zu dem Song gekommen sei, in welcher Lebensphase er damals gewesen sei und welcher Frau er gerade nachgetrauert habe, welche schlimmen Dinge er habe mit ansehen müssen und was das mit ihm gemacht habe. De Jong erinnerte sich an die Siebzigerjahre. Auch damals war es für Liedermacher geradezu obligatorisch, Frauen nachzutrauern.

Knut sang ein aufwühlendes Lied über Facebook und die NSA, schrummelte auf seiner Gitarre und warnte in einem aufwühlenden Refrain, der ihn stimmlich an seine Grenzen brachte, vor der totalen Kontrolle. De Jong konnte kein bisschen von dem verstehen, was sein Gegenüber zu sagen hatte, was Bühlow aber nicht davon abhielt, weiterzureden. Seine Lippen formten etwas, de Jong ließ ihn reden und tippte stattdessen die geplante SMS an Giulia in sein Smartphone. Wie schweigt man auf Französisch?, tippte er. Würde dir gern ein wenig dabei zuschauen. Niklas.

»Das Ganze ist nur wegen Birthe passiert«, schallte es von Bühlow herüber. Es war etwa zwanzig Minuten später, und sie waren beim dritten Bier. Der Künstler hatte soeben sein Instrument weggelegt und eine viertelstündige Pause verhängt.

»Birthe?«, fragte de Jong neugierig.

»Eine tolle Frau.« Bühlow kramte mit dem Daumen auf seinem Smartphone nach einem Foto, fand aber offenbar keins, also gab er es wieder auf. »Das Blöde war, dass sie auf jemand anderen stand. Genau. Jens Hosselmann, einen Kerl, der auf die Polizeiakademie in Hiltrup ging.«

»Pech gehabt«, sagte de Jong mitfühlend.

»Ja, aber ein Gutes hatte die Sache: Hosselmann hatte eine andere und war insofern nicht im Geringsten interessiert. Also hab ich mir dann doch die berühmte Frage gestellt.« Mit feierlichem Gesicht erwartete Bühlow de Jongs Einwurf: Welche berühmte Frage denn? Aber der Einwurf blieb aus, also sprach er weiter: »Was hat er, das ich nicht habe? Das ist die Frage. Und ich kam zu dem Schluss, dass ich lieber nach dem fragen sollte, was er nicht hat. Und ich schon.«

De Jong war neugierig. »Nämlich?«

»Es war mein Berufsziel. Steuerberater.«

»Was ist daran falsch?«

»Auf den ersten Blick nichts. Aber auf den zweiten umgab mich meine berufliche Zukunft wie eine Aura der Langeweile, wie der lähmende Mundgeruch eines abgesicherten Lebens mit Urlaubsanspruch, dreizehntem Monatsgehalt und komfortabler Absicherung im Alter.«

Der Hintergrundlärm schwoll wieder ein wenig an, also beugte sich Achim Bühlow vor, und tatsächlich vermeinte de Jong den Hauch eines solchen Geruchs wahrzunehmen.

»Das Bullendasein dagegen verspricht Lebensgefahr und Nervenkitzel, Abenteuer, dem Tod ins Auge sehen. Kugelsichere Westen. Blut, Schweiß und Todesverachtung, kurz gesagt: Männlichkeit pur.« Bühlows Stimme geriet ins Schwärmerische. »Also alles, worauf Frauen stehen, und ganz besonders emanzipierte Frauen wie Birthe. Genau. Erotisch gesehen eine ganz neue Liga.«

»Naja.« Jetzt nickte de Jong. »Schätze, Sie haben sich dann auch in Hiltrup beworben.«

»Das war das Damaskus-Erlebnis, genau: Ich hab die Karriere als Steuerberater geschmissen.« Das zerknirschte Grinsen bereitete de Jong darauf vor, dass die Geschichte aber trotzdem kein Happy End hatte. »Erst nach einer ganzen Weile ergab sich eine Gelegenheit, Birthe die neue Lage zur Kenntnis zu bringen. Und dann haben wir uns mal an einem Sonntag zum Münster-Tatortgucken verabredet – ich fand das passend. Aber noch vor dem Ende rückt sie damit heraus, dass sie sich in einen Typen verliebt habe, der in der Schadensabteilung einer Kfz-Versicherung arbeitete.«

»Also wollen Sie mir jetzt gestehen«, scherzte de Jong, »dass Sie gar kein Kommissar sind, sondern in Wirklichkeit für den ADAC arbeiten?«

»Genau«, meinte Bühlow und grinste gequält. »Aber im Ernst: Ich bin dabei geblieben. Und jetzt meint mein Onkel, der Supercop, dass ich so eine Art Kurt Wallander werden müsse. Mordfälle aufklären, die alle Normalsterblichen für Unfälle oder Selbstmorde halten. Ein Aufklärergenie.«

»Und dazu ist der Fall Schöpping wohl wie geschaffen.«

»Denkt er.« Bühlow nickte resignierend.

De Jong wollte ihm noch zu bedenken geben, dass auch die Aufklärung von Selbstmordfällen durchaus eine sinnvolle Aufgabe sein könne. Aber ein knackendes, mikrofoniertes Husten ließ ihn zusammenzucken. Der Liedermacher hatte wieder auf seinem Auftrittsstuhl Platz genommen, die Pause war zu Ende.

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Es war noch recht früh am Abend, so gegen elf, als de Jong nach Hause radelte. Eigentlich hatte er mit Bühlow ganz gemütlich auf der Nostromo II gesessen, aber im Laufe des Abends schien sich die Hoffnung, Knut könne irgendwann zum Ende kommen, zunehmend als trügerisch zu erweisen. Stattdessen drehte der Liedermacher immer mehr auf, packte alte Schinken gegen Atomkraft, Volkszählung und Mittelstreckenraketen aus der Mottenkiste und sang von mindestens drei weiteren Beziehungen, denen er nachtrauerte. De Jong bereiteten vor allen Dingen die ausgedehnten Zugaben Kopfzerbrechen, die ja erst noch bevorstanden und von denen niemand letztlich ermessen konnte, wie lange die dauern würden. Also zahlte er seine Biere und verabschiedete sich.

Er strampelte den Kanalseitenweg entlang in nordöstlicher Richtung. Der Gesang ließ ihn nicht so leicht entkommen, er verfolgte ihn über die Wasseroberfläche des Kanals – fast hämisch klangen die Uralt-Akkorde von This land is your land in einer von Knut eigenhändig eingedeutschten und im Jahre 1972 frisch aktualisierten Fassung an sein Ohr. Erst nach etlichen Kilometern wurde es stiller und die Geräusche der Sommernacht gewannen wieder die Oberhand. De Jong hielt kurz an, um sie zu genießen. Und genau in diesem Augenblick segelte urplötzlich und völlig geräuschlos von oben ein Gegenstand heran, verfehlte de Jongs Kopf um Millimeter, um schließlich mit einem zischenden Laut auf dem Kiesweg aufzuschlagen.

Der Exkommissar fuhr herum und nahm eine Silhouette auf der Kanalbrücke wahr, die er gerade unterquert hatte. Vor ihm auf dem Weg lag eine Bierdose, die noch halbvoll war. Das Getränk schäumte und kroch wie ein wütender Wurm auf den Gehweg in Richtung Böschung.

Ohne zu zögern ließ de Jong sein Rad fallen und hastete die Steinstufen hinauf, die auf die Brücke führten. Der Werfer der Büchse stand immer noch da und machte keinerlei Anstalten zu fliehen. Er war schlank, fast schmächtig und schwankte leicht.

»Hey, was soll der Scheiß?«, beschwerte sich de Jong. »Willst du mich umbringen oder was?«

»Ja … das heißt nein!«, wimmerte der Mann. Er war offenkundig betrunken, trug einen teuren Anzug und polierte, schwarze Schuhe, die mit irgendetwas besudelt waren. »Nein, bitte, das wollte ich nicht. Entschuldigen Sie vielmals. Mir ist die Hand ausgerutscht, und dann … ich weiß auch nicht, ehrlich …«

»Sie sollten nach Hause gehen«, sagte de Jong. »Schlafen Sie Ihren Rausch aus.«

Das Kopfschütteln war so inbrünstig, dass auch Schultern und Oberkörper mitmachen mussten. »… haben vielleicht gut reden. Wo soll ich denn hin, verdammt noch mal, können Sie mir das mal freundlicherweise erklären?«

»Sagen Sie mir, wo Sie wohnen, dann begleite ich Sie«, bot de Jong an, obwohl er natürlich lieber nach Hause wollte.

»Hallo? Was rede ich denn die ganze Zeit: Ich kann nicht mehr zurück!« Ein Sabberfaden hing vom rechten Mundwinkel des Mannes herab. »Das ist vorbei. Deswegen will ich ja Schluss machen!«

»Schluss machen?«

»Springen!« Ungeduldig wedelten die Arme des Mannes, als führten sie ein Eigenleben. Dass er das jetzt auch noch erklären musste! »Was denken Sie denn, warum ich um diese Zeit hier auf der Brücke stehe. Schluss und aus!«

»Aber das ist doch Unsinn«, meinte de Jong. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Sie tot sind, wenn Sie von dieser Brücke springen. Sie werden nur nass.«

Erneutes, dieses Mal eindeutig resigniertes Kopfschütteln. Als hätte de Jong dem Besoffenen mit diesem Einwand die letzten Illusionen genommen.

Der Exkommissar streckte die Hand aus. »Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause.«

»Geht nicht, hab kein Zuhause mehr.«

De Jong versuchte es anders: »Wie heißen Sie?«

»Spohn, Konrad Spohn.«

»Ich heiße de Jong. Sagen Sie mir jetzt Ihre Adresse, Herr Spohn.«

Der Mann stampfte mit dem Fuß auf. »Keine Adresse! Hören Sie schlecht. Haben Sie vielleicht eine?«

»Ich habe ein Hausboot hier in der Nähe«, sagte de Jong.

»Also gut.«

»Also gut was?«

»Dann gehen wir dahin.«

»Nein«, sagte de Jong.

»Wieso denn nicht?«

»Weil ich nicht auf Besuch eingerichtet bin und es ziemlich spät ist. Deshalb.«

»Nur für eine Nacht!«, quengelte Spohn, dessen Lebenswille plötzlich neu erwacht zu sein schien. »Was ist denn schon dabei? Ich mache auch überhaupt keine Umstände, versprochen.«

De Jong schwante, dass er sich gerade selbst in eine Klemme manövriert hatte. »Herr Spohn, haben Sie eine Frau oder Freundin, die ich anrufen kann?«

»Nein. Ein für alle Mal: das schon gar nicht! Null, nada! Kommen Sie mir nicht mit der, ja?«

»Mit der? Also haben Sie eine?«

Spohn schnaufte nur und geriet noch mehr ins Schwanken.

»Also dann«, sagte de Jong und machte sich auf den Rückweg zu seinem Fahrrad. »Passen Sie auf sich auf und machen Sie keine Dummheiten.« Er lief die Treppe hinunter, stieg auf und radelte los.

Der Mann rief etwas hinter ihm her. De Jong stoppte, drehte sich um. Spohn kam die Steinstufen heruntergestolpert, verhaspelte sich auf den letzten beiden und landete im Gras. Immerhin versuchte er nicht, von der Brücke zu springen.

De Jong trat in die Pedale.

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Wenige Minuten später hievte er sein Rad an Bord des Alten Mädchens. Eigentlich stammte das alte Hausboot aus den Niederlanden und der korrekte Name lautete Het Oude Meisje. Ein Ping meldete den Eingang einer SMS. De Jong warf einen Blick zum Himmel, der übersät war von Sternen. Dann holte er das Handy aus der Tasche und öffnete die Nachricht.

Wir verstehen hier Schweigen nicht nur akustisch. Es schließt auch das Schreiben von Textnachrichten ein. Gruß Giulia.

PS: Übrigens, falls du wieder planen solltest, unangemeldet hier aufzukreuzen, fände ich das keine gute Idee :-( Also spar dir die Mühe.

De Jong warf einen weiteren Blick in den Nachthimmel. Myriaden von Welten, die niemals ein Mensch betreten würde. Von denen viele schon seit Tausenden von Jahren gar nicht mehr existierten. Der Anblick war so großartig, dass er ihn am liebsten mit jemandem wie Giulia geteilt hätte.

Aber sie wollte ja lieber schweigen und das ohne seine Gesellschaft.

Na gut, dann sollte sie eben schweigen. Selber schuld.

»Ahoi, Käpt’n!«, ertönte es direkt neben ihm, vom Ufer aus. Vor Schreck fiel de Jong das Handy aus der Hand und schlitterte über das Achterdeck. »Hab ich Sie ja doch noch gefunden.«

Spohn versuchte, in einer versöhnenden Geste die Arme auszubreiten und kam dabei bedenklich ins Schlingern.

»Ich hab doch eben gesagt, ich …«, setzte de Jong hilflos an.

»Nur für eine Nacht, Käpt’n. Sie werden meine Anwesenheit gar nicht bemerken.«

5. Kapitel

Auch für den jungen Hauptkommissar verlief der Rest des Abends anders als geplant. Nach de Jongs Flucht vor dem Liedermacher hatte Bühlow zunächst vorgehabt, noch eine Weile zu bleiben. Nicht dass ihn Knuts Gesang besonders fasziniert hätte, aber er hatte die Uhrzeit im Blick und kalkulierte kühl: Das Konzert hatte schon anderthalb Stunden gedauert, die Pause nicht eingerechnet. Also war davon auszugehen, dass Knut sich innerhalb der nächsten vielleicht zehn Minuten von seinem Stuhl erheben und verbeugen, Ovationen entgegennehmen und dann die obligatorischen Zugaben angehen würde. Bühlow schätzte grob gerechnet eine halbe Stunde, bis der aktivere Teil des Abends beginnen konnte.

Schon vor einiger Zeit war ihm nämlich an einem der Nachbartische ein Mädchen aufgefallen. Und jetzt, da de Jong seinen Stuhl geräumt hatte, bot sich ihm ein freier Blick auf ihr langes, nur leicht gewelltes, dunkelbraunes Haar, das sympathische Gesicht und den versonnenen, in die Ferne gerichteten Blick. Sie war nicht in Begleitung hier. Und Achim Bühlow, der frischgebackene Kripomann und Leiter der Mordkommission, hatte nicht vor, nach der Pleite mit Birthe ewig Single zu bleiben.

Knut hatte seine Version von This land is your land zum Vortrag gebracht. Er stand auf, verbeugte und bedankte sich, das Mädchen klatschte höflich. Man sah ihr an, dass auch sie nicht besonders angetan war von dem Konzert. Viele zahlten jetzt und gingen, aber klar war, dass erst nach den Zugaben wieder Kommunikation möglich sein würde: Also ließ Bühlow ungeduldig einen Protestsong gegen das Waldsterben über sich ergehen, ein Liebeslied über eine weitere Beziehung, der Knut nachtrauerte, und dann noch einen eindringlichen Appell, denen da oben nicht zu trauen. Bühlow suchte fieberhaft nach einem Vorwand, sich zu der Frau an den Tisch zu setzen, aber er wollte auch nicht aufdringlich wirken und von vorneherein alles verderben.

Endlich hatte er eine Idee, wie er es anstellen konnte, und fasste sich ein Herz. Aber sein Hintern hatte sich noch nicht einmal einen halben Zentimeter von der Sitzfläche entfernt, da stand wie aus dem Nichts ein Kerl neben dem Mädchen, jünger als er, sportlicher und doppelt so schön wie er, und entschuldigte sich wort- und gestenreich für sein Zuspätkommen. Zum Zeichen, dass sie ihm vergab, schenkte sie ihm ein besonders versonnenes Lächeln, worauf er an ihrem Tisch Platz nahm.

Knut winkte noch einmal mit seiner Gitarre, dann machte er Schluss; nur, Bühlow hatte jetzt nichts mehr davon.

Er zahlte und ging von Bord.

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