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Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Kehrblechblues
Umkehrschuss

Martina Kempff ist Autorin und Übersetzerin und hat mehr als die Hälfte ihres Lebens im Ausland verbracht: In San Francisco, Berlin und Helsinki aufgewachsen, zog es sie nach der Zeit als Redakteurin und Reporterin bei der ›Berliner Morgenpost‹, ›Die Welt‹ und ›Bunte‹ nach Griechenland. Nach zwölf Jahren in Amsterdam führte die Sehnsucht nach dem deutschen Sprachraum sie in die Eifel. Hier spielen ihre Krimis um die Hobby-Gastronomin Katja Klein und den belgischen Polizeiinspektor Marcel Langer.

MARTINA KEMPFF

MESSER,
GABEL, KEHR
UND MORD

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Originalausgabe

Für Claudine Lorenz,
die sich als Chronistin von Ouren
mit mir auf sagenhafte Abwege
und in diverse Abgründe begeben hat
.

Inhalt

Über den Autor

KEHRseite für Einsteiger

Erstes

Zweites

Drittes

Viertes

Fünftes

Sechstes

Siebtes

Achtes

Neuntes

Zehntes

Elftes

Letztes

Ich danke …

Über die Eifel:

»In St. Vith erzählte man uns, dass die Wölfe aus den Ardennen herüber fleißig Besuche machten, dass namentlich in der Hohen Eifel kein Apfel reif würde, Korn könne an vielen Orten gar nicht gebaut werden, die Bienenzucht und Viehzucht gedeihe auch nicht recht.
Das Wetter scheint hier sehr unbeständig zu sein; wir können kaum eine kurze Strecke wandern, wo uns nicht ein Regenwetter überfällt.
Wir gehen auf dunklen Pfaden in die Nacht hinein, wissen gar nicht mehr, ob wir uns verirrt haben.«

Hoffmann von Fallersleben (1798-1874)

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KEHRseite für Einsteiger

Die Kehr gibt es tatsächlich.

In diesem verschlafenen Weiler der Schnee-Eifel (siehe Karte) treffen Belgien, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz aufeinander. Die heute noch gebräuchliche Flurbezeichnung Auf der Kehr stammt aus den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts. Entstanden ist die Ortschaft, als die alte Straße von Trier über Prüm, Losheim und Büllingen nach Aachen ausgebaut wurde. Ebenjene Staatsstraße, die seit 1922 die Kehr in einen belgischen und einen deutschen Teil zerschneidet und die auf der Kehr eine Kurve, eine Kehre eben, beschreibt. Einigen Gerüchten zufolge soll der Flecken seinen Namen allerdings von der einstigen Hinrichtungsstätte beziehen, die heute noch Auf dem Gericht heißt: Missetäter seien dort früher vom Galgen »weggekehrt« worden.

Zu einer gewissen historischen Berühmtheit gelangte der Flecken nach dem Zweiten Weltkrieg: Als Losheim 1949 dem belgischen Verwaltungsgebiet zugeschlagen wurde, sparte man den Ortsteil Kehr aus. Neun Jahre lang (dann wurde Losheim wieder deutsch) war Kehr mit seinen damals 48 Einwohnern die kleinste Gemeinde auf deutschem Festland. Nur die nordfriesischen Hallig-Gemeinden waren noch winziger.

Auf der Kehr leben heute sechzig Menschen. In meinen neun Kehr-Krimis stoßen nach und nach dazu:

Katja Klein: Die einstige Berliner Moderedakteurin geriet auf der Suche nach ihren Wurzeln in einen Mordfall und blieb danach auf der Kehr hängen. Wie das Böse auch. Katja wird ständig in Verbrechen verwickelt, dabei möchte sie eigentlich nur abenteuerliche Gerichte für die Einkehr ersinnen. Ihr Restaurant steht auf der deutschen, ihr Wohnhaus hingegen auf der belgischen Seite der Bundesstraße 265.

Marcel Langer: belgischer Polizeiinspektor mit wenig Sinn für geordnete Kleidung und konventionelle Ermittlungsmethoden. Er ist Katja in besonderer Weise verbunden, auch wenn die Beziehung der beiden stetig neuen Prüfungen ausgesetzt wird.

Gudrun Arndt: Katjas Freundin und Mitarbeiterin in der Einkehr, die in ihrer Gutgläubigkeit immer wieder an problematische Männer geraten ist, seit einiger Zeit jedoch in einer festen Beziehung lebt. Vor allem aber liebt sie frisch gewienerte Böden. Sie ist auf der Kehr aufgewachsen und wohnt wieder in ihrem einstigen Elternhaus, dessen böse Geschichte in den vorangegangenen Krimis aufgefächert wird.

Hein Mertes: Ein ehemaliger Kölner Eventmanager, der zwar nicht mit Geld, dafür aber sehr gut mit Worten und dem Internet umgehen kann. Er hilft Katja als Kellner und Webdesigner. Die Einkehr war früher sein Elternhaus. Er fährt mit der »Roten Zora« einen teuren Sportwagen, hat ein Faible für extravagantes Schuhwerk, sarkastische Bemerkungen und wechselt gern mal die Haarfarbe.

Jupp Esch: Heins Ehemann, der mit ihm und dem Pferd Jumbo im nahe gelegenen Losheim wohnt. Ein sanftmütiger Riese, der als genialer Handwerker alles reparieren kann, als Waldarbeiter oft unterwegs ist, nebenbei Zeit für feine Handarbeiten findet und für alles und jeden Verständnis aufbringen kann.

David Quirk: Er ist Texaner, doch seine Mutter, Mathilde Quirk, stammte von der Kehr, weshalb es ihn vor Jahren dorthin verschlagen hat. Der wenig entschlussfreudige Koch der Einkehr führt eine wechselhafte Beziehung zu Gudrun, seit einiger Zeit ist trotz allem sogar von Hochzeit die Rede.

Zum Jubiläum soll als Erstes ein Geschenk
den Saftladen aufmischen, doch nachdem es
zweimal blitzschnell gequietscht hat,
kommen in der Hitze des Abends unversehens
Kleopatra und der preußische Kaiser ins Spiel.

Fünfbeerensaft & Company:

Frische rote und schwarze Johannisbeeren, Himbeeren, Erdbeeren und Brombeeren durch die Saftpresse jagen, mit Kirschsaft anreichern und einen Schuss Limettensaft und Cranberry-Sirup dazugeben. Die Gläser mit Sprudel oder Sekt auffüllen.

Herzlichen Glückwunsch, Katja!« Jupps Stimme überdröhnt das Kreischen der Saftpresse.

Ich schalte das Gerät ab und blicke aus dem offenen Küchenfenster in ein vor Freude gerötetes Gesicht. »Glückwunsch wozu?«, frage ich.

»Zehn Jahre!«

Jupp äußert nie mehr als nötig, doch dieses Jubiläum sagt mir nichts. Ratlos hebe ich die Arme.

Von der Straße aus brüllt Hein herüber: »Komm endlich raus und sieh dir dein Geschenk an, Katja!«

Ich beuge mich weit aus dem Fenster. Zu weit. Grad noch rechtzeitig kann ich mich am Sims festkrallen. Jupp ist mit ausgebreiteten Armen nähergetreten, doch seinen Optimismus, mein beachtliches Lebendgewicht aufzufangen, kann ich nicht teilen. Ich ruckele mich mühsam zurück, reiße mir dabei einen Fingernagel ein und verlasse mein Restaurant durch die Öffnung, die dafür vorgesehen ist.

Jupp und Hein stehen am Straßenrand neben einem weißen Kasten. Von den Stufen der Einkehr aus ähnelt der einer riesigen Tiefkühltruhe, beim Näherkommen eher einem Auto-Anhänger. Oben drauf welkt eine große Sonnenblume in der Mittagshitze vor sich hin. Immerhin haben wir heute die 30 Grad geknackt, was sogar bei uns in der Schnee-Eifel Fragen nach dem Klimawandel aufkommen lässt.

Jupp ergreift den schlaffen Stängel und hält ihn mir am ausgestreckten Arm hin. »Herzlichen Glückwunsch, Katja. Muss schnell ins Wasser. Stirbt sonst.«

»Ist da etwa jemand drin?« Ich nicke zu dem weißen Kasten hin, der offensichtlich aus Spanholzplatten zusammengezimmert ist und dessen Zweck sich mir nicht erschließt.

»Nein, nein, die Blume«, stottert Jupp und schaut seinen Ehemann Hilfe suchend an.

»Gute Idee«, juchzt Hein. »Ein weißer Schneewittchen-Sarg! Der würde unserem Etablissement doch erst die richtige Note geben.«

Jupps Gesichtsfarbe changiert zu Purpur. »Das ist jetzt gar nicht komisch!«

»Da hast du recht, mein Schatz. Wir wollen doch feiern! Dich ordentlich hochleben lassen, Katja!«

»Wieso?«

»Weil du es so lange mit uns ausgehalten hast, Frau Chefin. Heute vor exakt zehn Jahren, stell dir das mal vor, da bist du zu uns auf die Kehr gekommen!«

Ich schüttele den Kopf. »Woher willst du das auf den Tag genau wissen, Hein?«

»Ich geb der Blume mal Wasser«, ächzt Jupp so verloren, als erwäge er, selbst ins Wasser zu gehen, und eilt davon.

Eine blau gefärbte Strähne fällt Hein in die Stirn, als er überraschend verlegen seine grünen Schuhe mustert. »Nun ja, Katja … Gudrun hat uns gestern gesagt, dass der Gerd heute schon zehn Jahre tot ist.«

Bilder steigen in mir auf. Von meinem Halbbruder, den ich nach meiner Ankunft in der Eifel in seinem Blut liegend aufgefunden habe. Am friedlichsten Ort der Welt, vor der Wiege des Christuskindes in der Losheimer Krippana. Ist das erst zehn Jahre her? Mir kommt es vor, als lebte ich schon seit Ewigkeiten hier im hintersten Winkel der Eifel. Eine sehr endliche Ewigkeit, denke ich betroffen, als ich meinen ererbten Hund auf uns zutrotten sehe. Der einstmals pechschwarze Labrador-Staffordshireterrier ist inzwischen ein ganzes Stück grauer geworden als ich.

»Geh weg, Linus«, schimpft Hein, als der Hund am unidentifizierbaren Objekt ein Bein hebt. »Das ist kein Klo!«

»Was ist es dann?«, erkundige ich mich und gehe ächzend in die Knie, um mein Riesenviech ordentlich zu knuddeln.

»Ein Fake-Blitzer.«

»Ein was?«

»Eine Radar-Attrappe. Hat Jupp gebaut. Um den Umsatz anzukurbeln. Damit die Leute nicht an unserem Restaurant vorbeirasen …«

»… sondern anhalten, um sich auf den Schreck ein Schlückchen zu gönnen?«, frage ich spitz.

»Und was essen, weil ihnen flau im Magen geworden ist«, setzt Hein der Schnapsidee noch einen drauf. »Schau her.« Er zeigt mir das schmale Fenster, das Jupp auf der Straßenseite des Kastens herausgeschnitten hat und in dem eine mit roter Folie abgedeckte CD den Blitzer simulieren soll. »In Oberöfflingen funktioniert das prima.«

»Und was sagt die Polizei dazu?«

Die sei dankbar für jede Maßnahme zum Einhalten der vorgeschriebenen Geschwindigkeit, erläutert mein engagierter Mitarbeiter, und beanstande daher keine Blitzattrappen auf Privatgrundstücken. Das habe ihm Polizeioberkommissar Roland Kölln bestätigt, unser Freund aus Schleiden.

Ich beanstande die Optik meines fragwürdigen Geschenks und schlage vor, das Monstrum durch einen hochbeinigen, eleganten Starenkasten zu ersetzen. Mit dem umweltfreundlichen Vorteil, Vögeln einen richtigen Nistplatz bieten zu können.

»Wird erstens schnell geklaut werden und ist zweitens nicht auffällig genug«, sagt Hein. »Da könnten wir ja gleich Gudrun mit dem Föhn an die Straße stellen.«

»Gudrun, Föhn, Straße?« Von seiner Sonnenblumenrettungsmission zurückgekehrt, sieht Jupp seinen Mann rätselnd an.

Der streicht ihm über die Wange. »Na ja, Gudrun könnte ja mit dem Föhn als Radarpistole auf Autos zielen, mein Liebster. Das gäbe auch ein hübsches Bild ab.«

Jupp verzieht den Mund. »Und wer bedient dann?«

»Wen denn?«, spricht Hein unser derzeitiges Hauptproblem an: Die tropischen Temperaturen haben unsere Kundschaft verjagt. Unbarmherzig heizt die Sonne die westliche Fensterfront so stark auf, dass sich allem Lüften zum Trotz das Saunaklima bis in die späten Abendstunden im Gastraum hält.

Diverse Stammkunden rieten schon dazu, unseren Parkplatz in einen Biergarten zu verwandeln, dann würden sie mit Hunger und Freuden wiederkommen.

Als auch an diesem Abend alle Tische leer bleiben, räumt meine gesamte Belegschaft kurz entschlossen ein paar Möbel ins Freie und setzt sich dort hin. Wir genießen die laue Brise, die mit meinem hinzugekommenen Polizistenfreund Marcel aus Belgien herüberweht, essen selbst die Speisen, an denen wir Geld hatten verdienen wollen, trinken frisch gepressten Beerensaft mit Sekt und testen die Wirksamkeit des Fake-Blitzers. Tatsächlich drosseln einige Fahrer ihre Geschwindigkeit, jedoch leider nicht bis zum völligen Stillstand vor der Einkehr.

»Aber jetzt haben sie wenigstens mitgekriegt, dass hier ein Restaurant ist«, sagt Gudrun.

»Das hilft«, versichert David, ihr Dauerverlobter. »So wie früher bei uns in USA. Da wurde in Filme Reklame reingesetzt. Nur für eine Millisekunde. Die Leute haben das gar nicht richtig gesehen, aber in der Pause viel mehr Cola und Popcorn gekauft.«

»Versteckte Werbung«, sagt Hein, »auch dieser Fake-Blitzer sendet so ein unterschwelliges Signal aus. Unsere potenziellen Gäste werden jetzt also das nächste Restaurant mit Außengastronomie ansteuern.« Er kramt ein paar Papiere aus seiner Tasche. »Wir müssen uns ranhalten. Ganz schnell eine Terrasse mit Pergola bauen. Hier sind die Anträge fürs Ordnungs- und Bauaufsichtsamt. Alles schon ausgefüllt. Musst nur noch unterschreiben, Katja.«

Unglaublich, wie kreativ meine Freunde werden, wenn es im Restaurant nichts zu tun gibt.

»Aber wo sollen die Leute hier dann parken?«, frage ich. Nach zehn Jahren in dieser Gegend weiß ich, dass der Eifeler nur dann einen Schritt vor den anderen setzt, wenn es absolut unumgänglich ist. Kann sein Auto nicht direkt vor dem Gasthof stehen, fährt er gar nicht erst hin.

Marcel deutet mit seinem Zigarillo auf die andere Straßenseite.

»Vor meinem Haus?«, frage ich ungläubig. »Dürfen die Gäste denn in Belgien parken, um in Deutschland essen zu gehen?«

»Kein Problem. Du darfst auf deinem Eigentum einen Privatparkplatz mit öffentlichem Charakter anlegen«, versichert Marcel.

»Keine Auflagen?«

»Nur die üblichen. Wegen dem Regenwasser eben den Hof nicht teeren oder Verbundsteine legen.«

»Können wir uns eh nicht leisten«, sagt Hein. »Das bisschen Roden und Bodenglätten kriegt Jupp flott hin.«

Ich gebe zu bedenken, dass auch trinkfreudige Besucher eine Bundesstraße überqueren müssten, was vor allem nach Verlassen der Gaststätte böse Folgen zeitigen könnte.

»Dafür haben wir ja jetzt den falschen Blitzer«, triumphiert Jupp. »Der wird Menschenleben retten. Und nicht nur die.« Er streicht Linus übers Fell und eliminiert damit meine Bedenken gegen die trügerische Radarfalle. Nichts kann zu hässlich sein, wenn es meinen impulsiven, alten Hund bei unvermittelten Grenzübertritten schützt.

Marcel verspricht, sich um die Parkplatzgenehmigung zu kümmern. Es hat schon etwas für sich, einen belgischen Polizisten als Freund zu haben.

Und dann geschieht das Wunder. Ein riesiger, fremder Wagen kommt vor der Einkehr zum Stehen. Wie elektrisiert springen wir gemeinsam auf.

Ein Mann kurbelt sein Fenster runter. »Is this Belgium?«

Marcel zeigt abermals auf die andere Straßenseite. »After the street.«

»Behind?«, schlägt Gudrun vor, während Hein mit »next to« kommt.

Für David natürlich die Gelegenheit zu glänzen. Er nähert sich dem Wagen und erklärt für uns alle hörbar in seiner Vatersprache, die B 265 stelle die Trennungslinie between Belgien und Deutschland dar. Und wenn die Herrschaften Lust hätten, könnten sie sich an unseren Tisch setzen, hervorragend speisen und trinken und dabei bis zum Einbruch der Dunkelheit die schöne belgische Landschaft on the other side of the street auf sich einwirken lassen.

Das Gemurmel im Inneren des Wagens ist nicht zu verstehen. David beugt sein Haupt zum Fahrerfenster hinunter, nickt freundlich und tritt einen Schritt zurück.

Der Fahrer salutiert. »Thanks a lot, chap. See you.« Und damit düst der Wagen wieder ab.

»See you?«, echot Hein hoffnungsvoll, als David zurückschlendert.

»Das sagt man nur so«, gebe ich zurück.

»Nein«, sagt David und reckt sich siegesgewiss. »Die haben diesen Tisch bestellt. Hier draußen. Für morgen 19 Uhr. Sechs Personen.«

»Amerikaner!«, flötet Gudrun. Sie ist immer beglückt, wenn David auf der Kehr ein Stückchen Heimat geboten werden kann.

»No. Scots.«

»Schotten, also. Die essen dich arm und trinken dich reich«, versetzt Hein.

Marcels eindringlichen Blick kann wohl nur ich interpretieren: Ich soll morgen Abend unseren kostbaren Islay-Whisky aus meinem Privathaus gefälligst über die Straße schaffen.

»Wird gleich dunkel. Ich bring mal was Licht.« Gudrun steht auf, fällt aber sogleich wieder erschrocken auf ihren Sitz zurück.

Quietschende Reifen haben uns alle zusammenfahren lassen. Ein SUV schlingert an uns vorbei. Noch mal ein heftiges Gequietsche, dann herrscht Stille.

Mit einem Satz ist David auf der Straße. »Der hält an! Hundert Meter zu weit.«

»Hoffentlich setzt er nicht zurück«, sagt Hein, »schaut mal, da kommt ja noch einer angedüst.«

Jetzt stehen wir alle an der Straße.

Wir können das SUV gerade noch sehen. Es hat auf der B 265 mitten in der Kurve angehalten. Die rechte hintere Seitentür springt auf. Ein großes, längliches Bündel wird herausgeschubst, dann heult der Motor wieder auf, und das Auto verschwindet hinter der Kehre. Das lange Ding ist in den Graben gerollt.

David rennt sofort los.

»Pass auf, ein Auto!«, ruft ihm Gudrun hinterher.

Der zweite Wagen umkurvt unseren Amerikaner und bremst bei der herausgeworfenen Fracht. Zwei Gestalten springen heraus, schnappen sich ruckzuck das Bündel, legen es ins Auto und geben genau in dem Moment Gas, als David mit wedelnden Armen in der Kurve angekommen ist.

»Stop! Stop! Stop!«, brüllt er dem davonrasenden Auto hinterher.

Entsetzt sehen wir einander an. Wir denken offensichtlich alle das Gleiche.

Gudrun spricht es aus: »Das war ein Mensch! Ganz bestimmt.«

»Bleib da stehen, David«, ruft Marcel. »Ich komm direkt bis bei dich.« Rasch entzieht er der Rose im großen Topf neben dem Tisch den Bambusstock, »für die Stelle zu markieren, ist ja vielleicht ein Tatort«, und setzt zu einem Sprint an.

Meine Knie schlottern, und meine Kehle ist wie ausgedörrt. Ich wanke an den Tisch zurück und fülle mein Glas mit einer ordentlichen Ladung Sekt auf. Stumm halten mir die anderen ihre Gläser hin.

Gudruns Hand zittert. »Hoffentlich keine Leiche.«

»So wie es aussah eine entführte Leiche«, sage ich und lasse mich wieder auf meinen Stuhl fallen.

»Organhandel?«, schlussfolgert Hein finster.

Keine Leiche, beruhigt uns Marcel, als er zurückkehrt. Nicht nur mit David, sondern auch mit unseren Nachbarn Sabine und Frank. Das Ehepaar ist vor Kurzem in den Hof an der Kurve gezogen und ebenfalls vom Quietschen der Reifen aufgeschreckt worden.

»Als wir von der Terrasse runterliefen, war der ganze Spuk allerdings schon vorbei«, sagt Frank. »Gesehen haben wir rein gar nichts.«

David ist nah genug dran gewesen, um das schmale Bündel als eine Frau mit langen, dunklen Haaren zu identifizieren. Als die beiden Männer sie aufhoben, habe sie irgendein Geräusch gemacht und versucht zu strampeln. Was ihr schwergefallen sei, weil sie fest in eine Decke eingewickelt gewesen ist.

»Bei der Hitze«, keucht Gudrun. Jupp ist mit Frank ins Haus gegangen, um weitere Stühle und Gläser zu holen.

Marcel telefoniert.

Ich schlage mir an die Stirn. »Warum sind wir nicht gleich hinterhergefahren?«

»Ja, wenn meine Rote Zora nicht in der Werkstatt wäre …«, sagt Hein. Er blickt missmutig auf Jupps gemütliches Waldauto an der Hauswand und nickt zu den Fahrzeugen auf der anderen Straßenseite hin. Jedes davon wäre zwar schnell genug gewesen, aber der Schlüssel von meinem Allradmonster liegt in der Küche, und Marcel hätte seinen belgischen Polizeijeep umständlich wenden müssen.

»Moment«, spricht Marcel mit seiner Polizeiinspektorenstimme ins Smartphone und fragt laut: »Hat einer von euch die Plaquen erkannt?«

Bei der Quietscherei hat keiner darauf geachtet, nur David glaubt, ein belgisches Kennzeichen am hinteren Wagen gesehen zu haben. Da das in dieser Ecke an jedem dritten Wagen hängt, bringt es uns allerdings nicht weiter.

»Ein SUV, ein Mittelklassewagen«, spricht Marcel in sein Handy. »Beide schwarz.«

»Nein«, jault Gudrun, »der hintere war grün. Dunkelgrün.«

»So ein Quatsch«, empört sich Hein, »der war blau.«

»Bei dem Licht war er für mich auch schwarz«, sage ich. »David, du warst doch näher dran?«

»Dunkel-metallic, grau, blau oder schwarz.«

»Wie du hörst, Roland, sind wir uns uneinig«, sagt er zum Polizeioberkommissar aus Schleiden und setzt nach einer Pause hinzu: »Das kann ich noch nicht sagen. War nur höchst verdächtig.«

»Und?«, erkundige ich mich, als er das Gespräch beendet hat.

»Roland muss seine Wiese mähen. Bevor es zu dunkel ist. Er fragt, was für eine Straftat wir eigentlich melden wollen.«

»Hätte jemand einen alten Kühlschrank in den Graben geworfen, wäre er direkt gekommen!«, empört sich Hein.

»Nicht, wenn ein anderer Wagen den gleich wieder mitgeholt hätte«, erwidert Marcel.

»Das sah aber sehr stark nach einer Entführung aus«, murmelt Hein. »Sogar einer zweifachen, wenn ich es mir recht überlege.«

Marcel wiegt zweifelnd das Haupt.

»Ich stimme zu«, melde ich mich, »welcher lebende Mensch würde sich denn bei diesen Temperaturen freiwillig in eine Decke einwickeln lassen?«

»In Ägypten ist es noch heißer«, verkündet plötzlich Sabine.

Wir sehen sie ratlos an.

»Kleopatra«, setzt sie zaghaft hinzu. »Die hat sich doch in einen Teppich eingerollt zu Caesar bringen lassen. Vielleicht war es nur ein harmloses Rollenspiel.«

»Genau«, bemerkt Hein. »Bei solchem Kaiserwetter wie heute pflegen Eifeler Jungfrauen als Geschenk verpackt dem alten preußischen Herrscher zu huldigen.«

»Den gibt es doch nicht mehr«, widerspricht Jupp, dem Ironie wohl immer fremd bleiben wird, »und wir mochten ihn nicht.«

Aus gutem Grund. Schließlich hat Wilhelm Zwo die Eifel zwar einst als »wundervolles Jagdrevier« bezeichnet, aber es schade gefunden, »dass hier Menschen leben.«

Marcel springt auf. »Komm, Katja, wir holen jetzt flott deinen Wagen. Ist nicht wahrscheinlich, aber vielleicht finden wir die Kerle noch.«

»Nur, wenn du den Strafzettel zahlst.«

»Ridicule«, sagt er und meint damit, dass in dieser dünn besiedelten Gegend Geschwindigkeitskontrollen ungefähr so oft vorkommen wie Frauen, die in Decken eingewickelt aus Autos geworfen werden.

Gudrun ist schon in die Küche gerast und wirft mir meinen Schlüssel aus dem Fenster zu. Wir sausen also die Prümer Straße Richtung Losheim hinunter. Soll ich an der Kreuzung links nach Belgien einbiegen, rechts nach Rheinland-Pfalz oder einfach geradeaus weiter nach Hellenthal fahren? Die Entscheidung nimmt mir Marcel ab.

»Halt!«, brüllt er, noch ehe wir am Sägewerk angelangt sind. »Da ist was!«

Ich trete auf die Bremse, setze ein Stück zurück und parke so dicht an der Leitplanke wie möglich. Näher geht nicht. Sonst könnte meinem Allradmonster nämlich das gleiche Schicksal blühen wie dem dunklen Mittelklassewagen, der von der Straße abgekommen ist und auf dem Dach im Graben liegt.

Als Zweites liegen nicht nur
Messer und Gabel über Kreuz,
wonach Köstliches ausgespuckt wird,
die Polizei gleich zweimal schneller ist, als man glaubt,
und letztendlich neben dem Buchdrucker
auch das Mantra den Nerv trifft.

Pfifferlings-Cappuccino:

Gewürfelte Schalotten in erhitzter Butter anschwitzen lassen, Pfifferlinge dazugeben, kurz dünsten, mit Geflügel- oder Gemüsebrühe sowie mit Milch und etwas Sherry aufkochen und mit ein paar Spritzern Worcestersauce verfeinern. Zehn Minuten köcheln lassen.

Dann mit Salz, Thymian, Petersilie und Muskatnuss würzen. Die Suppe mit dem Zauberstab mixen und heiß in große Cappuccinogläser füllen, dabei genug Platz für schwach erhitzte, geschlagene Milch oder Sahne lassen. Die Schaumkrone kann mit gehackten, gerösteten Haselnüssen oder mit gehobelten Trüffeln verziert werden. Sofort servieren.

Marcel schnappt sich meine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und springt aus dem Wagen. »Bleib da stehen, wo du bist, Katja!«

Eine völlig überflüssige Aufforderung. Ich kann mich zwar grad noch aus dem Fahrersitz schälen, aber meine bebenden Knie lassen mich keinen Schritt vor den anderen setzen, geschweige denn, eine steile Böschung hinunterkrabbeln. An den Wagen gelehnt, fummele ich mit Mühe mein Handy aus der von Jupp geschneiderten Innentasche meiner Leinenweste und wähle mit zitternden Fingern den Notruf.

»Schwerer Verkehrsunfall auf der B 265 hinter der Kehr kurz vorm Sägewerk«, stottere ich. »Wagen auf dem Dach in der Böschung.« Ich höre Marcel fluchen: »Dat jett et doch nett … tot, mausetot!«

Vor meinen Augen flimmert es, mein Herz setzt einen Schlag aus. »Tot …«, kann ich grad noch ins Telefon krächzen, unterbreche dann die Verbindung und lasse mich auf den Fahrersitz plumpsen. Hat es die eingewickelte Frau erwischt oder einen der Männer? Sind etwa alle drei bei dem Unfall umgekommen? Oder ist irgendjemand verletzt? Das alles kann Marcel doch so schnell gar nicht feststellen.

Kann er doch. »War nur der Fahrer im Auto«, keucht er, als er wieder nach oben kommt. »Wie es aussieht Genickbruch. Wohl weil er nicht angeschnallt war. Nichts mehr zu machen. Armer Teufel.«

»Oh Gott!«, schicke ich ein kurzes Gebet zu dem, an den ich zwar nicht glaube, dessen Name sich mir in Krisenzeiten aber immer zwangsläufig aufdrängt. »Aber wieso war da denn nur einer drin?«

»Ist wohl ein anderes Auto, Katja. Hast du in Schleiden angerufen?«

Ich schüttele den Kopf. »Notruf«, flüstere ich kleinlaut. Den Vortrag über die Umständlichkeit eines Notrufs in diesem Dreiländereck erspart mir mein belgischer Polizistenfreund und telefoniert selbst wieder mit Roland Kölln.

»Ach nee!«, höre ich meinen Freund verblüfft sagen. Er legt das Handy weg und streichelt mir die Schulter. »Roland ist schon unterwegs …«

»Wiese fertig gemäht?«

Unser letzter Anruf habe seinem deutschen Kollegen keine Ruhe gelassen, sagt Marcel, da sei er eben doch gleich losgefahren. »Ist in zwei Minuten hier.«

Er steigt aus und stellt mein Warndreieck auf. Gut, dass er daran denkt. Hier gibt es keinen Seitenstreifen, nicht mal ein bisschen Straßenrand.

Mitternacht

Bis auf Marcel haben wir uns alle wieder am Außentisch unseres Restaurants versammelt. In der endlich erfrischenden Nachtluft haben wir die Fragen unseres Schleidener Freundes, seines Kollegen vom Dienst und des aus Aachen unglaublich schnell herbeigeeilten Schadensachverständigen beantwortet. Am Unfallort ist die konsequente Spurensicherung, wie Roland das nennt, immer noch im Gange. Der Tote ist bereits der Gerichtsmedizin übergeben und das Unglücksauto mit einem Spezialfahrzeug zur Vertragswerkstatt nach Krekel abtransportiert worden. Ein umzäuntes Gelände sorgt dort dafür, dass sich niemand außer den Fachleuten an der Karre zu schaffen machen kann. An der Böschung hat die Feuerwehr alles taghell ausgeleuchtet und das Unfallaufnahmeteam relevante Stellen mit Farbspray markiert. Morgen sollen dann mithilfe eines Teleskopstabs Aufnahmen von oben gemacht werden. Auf Heins Frage, warum man dafür keine Drohne einsetze, antwortete Roland, dass diese Geräte der Polizei erst in etwa zwei Jahren zur Verfügung stehen würden.

Vor dem Auftritt der Staatsmacht, als wir noch am Straßenrand auf Roland warteten, hatte Marcel seine Dienststelle in St. Vith angerufen und herausgefunden, dass der Tote Halter des Wagens ist und im belgischen Ouren wohnt.

»Djü, da muss ich jetzt in noch so ein verdammtes Dreiländereck fahren!« Eine sehr befremdliche Reaktion, fand ich und fragte ihn, ob mir etwa entgangen sei, dass er was getrunken habe.

»Kaffee!«, blaffte er mich an. »Hast du mir doch selbst gebracht. Ouren ist weit weg, Katja, liegt in Belgien genau an der deutsch-luxemburgischen Grenze. Verdammt, da muss ich jetzt hin. Quer durch die ganze belgische Eifel!«

Um der Familie des Opfers die traurige Nachricht zu überbringen. Ich verstand. Angesichts dieser bitteren Dienstfahrt hat er eine Umleitung für sein Unbehagen gesucht. Da kam ihm so ein Gedanke wie ein anderes verdammtes Dreiländereck grad recht.

Nachdem uns Roland ein paar Minuten später am Unfallort abgelöst hatte, fuhr ich Marcel zu seinem Jeep vor meinem Haus. Ich bot an, ihn in dieses Ouren zu begleiten. Er lehnte ab und versprach, später zurückzukehren. Er brauchte mir nicht zu sagen, dass es sehr viel später werden könnte. Es dauert, bis Hinterbliebene begriffen haben, dass sie solche sind. Weshalb der diensthabende Polizist so lange »Erste-Hilfe-Trost« leisten muss, bis der Hausarzt, ein Polizeipsychologe, andere Angehörige oder Nachbarn übernehmen.

Früher wäre Marcel nach dieser traurigen Pflicht zu seiner Dienststelle gefahren, hätte den Bericht eingetippt und dann in seiner eigenen Wohnung in St. Vith übernachtet. Das geht nun nicht mehr, denn er hat seine streng möblierten Zimmer über dem Friseurladen in der schmalen Straße untervermietet. Er wohnt jetzt in meinem Bruchsteinhaus in unserem verdammten Dreiländereck. Diese Bemerkung war nicht gerade ein Bekenntnis zur Kehr. Dabei erproben wir das Abenteuer des ständigen Zusammenlebens seit drei Wochen. Mit wechselndem Erfolg. Unsere Freunde reagierten auf die neue Wohnsituation unterschiedlich.

»Das Unverbindliche liegt euch nicht«, meinte Hein, der sich vor einem Jahr mit Jupp ehelich verbunden hat. »Da trennt es sich viel zu leicht. Heiratet doch lieber gleich.«

»Ach, damit ihr nicht die einzigen Spießer in unserer Runde seid?«, fragte ich.

Jupp, dem wie üblich, die Spitze entging, machte einen wunden Punkt gegen unsere Verehelichung geltend: »Nee, nee. Besser ihr wartet noch was. Bis Gudrun und David endlich verheiratet sind.«

Deren Gang zum Traualtar war schon beschlossene Sache, lange bevor Männer wie Jupp und Hein einander heiraten durften. Doch die Launen des Schicksals wollten es anders und rückten den beiden immer wieder dicke Brocken in den Weg. Zuletzt wurde das endgültige Datum für diesen Juli festgesetzt. Aber dann starb Davids Mutter Mathilde am Tag nach ihrem 101. Geburtstag. Gudrun sagte den Termin ab. Man müsse ein Trauerjahr verstreichen lassen, erklärte sie, sonst stehe die Ehe unter einem unguten Stern. David hat da für meinen Geschmack etwas zu schnell zugestimmt.

»Ein tragischer Unfall mit Todesfolge. Womöglich durch überhöhte Geschwindigkeit oder Wildwechsel.« Rolands Kollege schüttelt fassungslos den Kopf. »Ausgerechnet an der gleichen Stelle, wo letzte Woche der Lastwagen in den Graben gebrettert ist. Welch ein furchtbarer Zufall. Morgen wissen wir mehr.« Er wendet sich an Roland: »Du bleibst noch hier?«

Der Polizeioberkommissar hebt sein Beerensaftgetränk und wünscht seinem Kollegen eine gute Nacht.

Als dieser in seinen Wagen gestiegen ist, füllt Gudrun das Glas unseres deutschen Lieblingspolizisten mit Sekt auf und verschüttet dabei die Hälfte. »Ich bring flott ’nen Lappen«, stottert sie und eilt ins Haus, als wäre der Teufel hinter ihr her. Sie ist verstört wie wir alle, aber jetzt flüchtet sie wohl vor David.

Der bietet ihr in dieser gruseligen Lage wenig Halt, da er völlig außer sich ist, seitdem er mit den anderen die Unfallstelle aufgesucht hat. Wie ein Mantra wiederholt er immer wieder die gleichen Worte: »The same car. Dasselbe Auto! Ich weiß es!«

Wir sind uns da nicht ganz so sicher, auch wenn wir uns nicht erinnern können, einen ähnlichen Wagen auf der Straße gesehen zu haben. Wegen des Fake-Blitzers hatten wir bis zu dem schrägen Vorfall in der Kehre ja auf alle vorbeifahrenden Autos geachtet. Marcel hat uns vorhin allerdings darauf hingewiesen, dass wir den Wagen nicht zwangsläufig hätten sehen müssen. Er hätte ja auch hinter der Kehr aus einem der unbefestigten belgischen Feldwege auf die Bundesstraße gebogen sein können.

Davon will David nichts wissen. Er werde vor jedem Gericht beschwören, dass dies genau der Wagen gewesen sei, in den die eingewickelte Frau reingehoben worden sei. »The same car. Dasselbe Auto! Ich weiß es!«

Marcels Einwand, dass er die Plaquennummer doch gar nicht richtig erkannt habe, wischt er beiseite: »Man weiß, es stimmt, wenn man es wiedersieht.« Das sei, wie einen Menschen nicht beschreiben zu können, ihn aber doch wiederzuerkennen, wenn er plötzlich vor einem stehe. »The same car. Dasselbe Auto. Ganz sicher.« Fabrikat, Farbe, Nummernschild, alles sei identisch.