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Bisher vom Autor bei KBV erschienen:

Der Tod fährt Rad

Das Wunder von Hiltrup

Christoph Güsken wuchs in Mönchengladbach auf, studierte in Bonn und Münster und war Buchhändler in Köln. Er verfasste Texte im Geist der legendären Monty Pythons, u. a. für die »Springmaus«. Seit 1995 lebt er als freier Autor in Münster, schrieb zahlreiche Krimis, einige wenig ernste Romane und Hörspiele. Das Mordkreuz von Tilbeck ist der dritte Kriminalroman um den schrägen Ex-Hauptkommissar de Jong, der bei seiner Suche nach dem Sinn des Ganzen ständig über die schlimmsten Verbrechen stolpert. www.christoph-güsken.de

Christoph Güsken

Das Mordkreuz
von Tilbeck

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Originalausgabe

© 2018 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: info@kbv-verlag.de

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von © W. Thiemann

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-95441-436-9

E-Book-ISBN 978-3-95441-446-8

Für Zoé, ohne die diese Geschichte in Teilen
ganz anders aussehen würde, obwohl sie nicht
einen Gedanken dazu beigesteuert hat.
Ich halte es aber auch für unwahrscheinlich,
dass sie überhaupt jemals Gedanken
zu irgendetwas beigesteuert hat.
Was ich manchmal beneidenswert finde.

»Man glaubt, ich sei von Sinnen; ich aber bin besessen,
bin die außer sich geratene Besessenheit selber!
Jene Raserei, die nur abflaut, um sich selbst zu begreifen.“

H. Melville, Moby Dick

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

1. Kapitel

Alles begann schon viel früher.

Um genau zu sein, im Jahre 1164. An einem lauschigen, hochmittelalterlichen Sommerabend kehrte die Mersche, eine Tilbecker Bäuerin, in die Dorfschänke Adams Hoek ein, um einen langen, arbeitsreichen Tag mit einem zünftigen Bier ausklingen zu lassen. In der Kneipe herrschte Betrieb, an den meisten Tischen hockten Landsknechte, deren Herren zum Landtag im nahe gelegenen Laerbrock angereist waren, um hochpolitische Gespräche zu führen. Jetzt, nachdem die Prominenz sich zu Bett begeben hatte, konnten auch sie ihren Feierabend genießen.

Es wurde spät in Adams Hoek, die Soldaten tranken, lärmten und johlten, und wie es so geht, hatte auch die Mersche schließlich deutlich mehr Alkohol konsumiert, als sie vertrug. Zum Zahlen kramte sie ihren Beutel hervor, der vor Geld nur so klimperte, was einige aufhorchen ließ, vor allem zwei der Landsknechte, die es nicht beim Horchen beließen. Unauffällig folgten sie der Mersche, und als die auch noch den Rückweg über die Landwehr nahm, die um diese nächtliche Zeit finster und einsam dalag, sahen sie eine dieser Chancen gekommen, die sich ganz plötzlich bieten und die man einfach nicht ungenutzt lässt. Kurz entschlossen überfielen sie die Frau und meuchelten sie, getrieben und übermannt von der Gier auf einen übervollen Geldbeutel. Gleich nach vollbrachter Tat jedoch machten sie eine ernüchternde Entdeckung: Der Klimperbeutel enthielt so gut wie kein Bargeld, sondern fast nur alte Schuhnägel!

Schuhnägel! Die Enttäuschung der beiden Burschen kannte keine Grenzen und wandelte sich in Empörung über etwas, das in ihren Augen nichts anderes als arglistige Täuschung sein konnte: Denn wer zum Henker schleppte so eine Menge Nägel mit sich herum und zu welchem Zweck? Aber zum Bereuen war es leider zu spät, denn die Missetat war begangen und die Frau tot. Und die Strafverfolgung in jenen angeblich so finsteren Zeiten funktionierte besser als man hätte meinen mögen. Schon bald wurden die Mörder gefasst und beteuerten hoch und heilig, dass alles ein tragisches Missverständnis gewesen sei; hätten sie vorher doch nur gewusst, dass sich in dem Beutel Schuhnägel befanden, hätten sie die arme Frau ganz sicher nicht ermordet. Obgleich dies manchem einleuchten mochte, bewahrte sie es nicht vor dem Galgen.

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Über achthundert Jahre später: Der heimtückische Mord wäre längst vergessen, würde nicht ein moosbewachsenes Kreuz aus Sandstein, das damals am Ort der Bluttat errichtet wurde, immer noch daran erinnern. Ein reichlich mitgenommenes Relikt aus einer fernen Vergangenheit, im achtzehnten Jahrhundert aufwendig restauriert, wurde es heute noch von heimatliebenden Menschen wie Jörg Pollenhoff besonders geschätzt. Als Kultur- und Wanderwart des Baumbergevereins, kurz BBV genannt, war es ihm ein Herzensanliegen, seinem Gast aus Wolgograd, dem kauzigen Altertumsforscher Dr. Nikolai Sergejewitsch Bukanin, die Sehenswürdigkeiten seiner westfälischen Heimat nahezubringen. Und da stand das schaurige Mordkreuz natürlich ganz oben auf der Liste.

Leider spielte das Wetter nicht mit. Noch am Vortag hatte die Sonne fett und rund vom Himmel gestrahlt, aber über Nacht hatte sich Regen über den Wipfeln der Baumberge herangeschlichen und die schönen Wanderwege in unschöne Rutschbahnen aus Matsch und großflächigen Pfützen verwandelt. Zum Glück konnte man direkt an der Landstraße parken und musste dann nur noch wenige Meter in den Wald hineinlaufen, um zum Kreuz zu gelangen.

Dr. Nikolai Bukanin holt sein Smartphone aus der Tasche und machte Fotos. Pollenhoff stand etwas abseits und wartete so lange. Er wollte seinen Schuhen nicht mehr Morast als nötig zumuten. Außerdem wusste er ja schon, was es zu sehen gab. Über das Mordkreuz hatte er bereits zahlreiche wissenschaftliche Artikel verfasst.

Als der Russe sich wieder zu ihm gesellte, hatte er ein seltsames Grinsen im Gesicht. Ein verschmitztes, aber auch zweifelndes. »Sie binden mir Beeren auf, nicht wahr?«, sagte er.

»Sie meinen einen Bären.« Pollenhoff, penibel wie er war, konnte nicht anders, als ihn zu korrigieren. »Bär, verstehen Sie? Man sagt: jemandem einen Bären aufbinden.«

Bukanin schien der Unterschied zwischen Raubtier und Obst relativ egal zu sein. »Wenn die Frau so lange schon tot ist, wie Sie sagen«, meinte er, »wie kommt es dann, dass sie so frech aussieht? Nach so vielen hundert Jahren?«

»Was meinen Sie denn bloß? Niemand weiß, wie sie ausgesehen hat. Da ist doch nur die Inschrift.«

Verschwörerisches Augenzwinkern. »Noch besser als Vladimir Iljitsch in seinem Mausoleum. Viel besser.«

Der Wanderwart schüttelte den Kopf. Was sollte denn das jetzt mit Lenin? Eigentlich schon auf dem Rückweg zum Auto, kehrte er noch mal um und trat näher an das Kreuz heran, wobei seine Schuhe jetzt doch mit einem Schmatzen im lehmigen Boden einsanken. Sah sich das steinerne Ding genau an, obwohl er es genau kannte. In- und auswendig.

»Sie ist einfach zu frech, nicht wahr?«, rief der Russe hinter ihm.

Im selben Moment bemerkte Pollenhoff etwas auf der anderen Seite des mittelalterlichen Relikts, das im Regen glänzte. Haut! Es war ein nackter Unterarm. Ein weiblicher Unterarm. Pollenhoff erstarrte, sein Herz schlug schneller. Er merkte gar nicht, dass der Regen zulegte. Mit der Hand stützte er sich am nassen Sockel ab und beugte sich hinüber, so weit es ging, und versuchte, im Gleichgewicht zu bleiben. Hinter dem Sockel des Mordkreuzes, mit Zweigen und Laub fast zugedeckt, lag eine Frau. Sie war tot. Und sie war eindeutig keine achthundertfünfzig Jahre alt.

Ächzend richtete er sich wieder auf. »Frisch«, sagte er, zog sein Mobiltelefon und wählte die Nummer der Polizei. »Sie meinen, dass sie frisch aussieht.«

2. Kapitel

Niklas de Jong blätterte gern Zeitschriften durch. Gelegenheiten dazu boten sich beim Zahnarzt, beim Frisör oder im Wartebereich der städtischen Behörden. Andere mochten sich die Wartezeit damit vertreiben, mit ihren Daumen über ein Smartphone zu reiben. De Jong bevorzugte die gute alte Illustrierte. Er las so gut wie nichts, sah sich hier und da ein buntes Foto an, aber hauptsächlich blätterte er um – vielleicht auch nur um des angenehm kühlen Luftzugs willen, den man sich dabei ins Gesicht fächeln konnte. Trotzdem musste er wohl hin und wieder zu langsam geblättert und irgendwo eine skurrile Geschichte gelesen haben, die ihm immer mal wieder im Kopf herumspukte: Sie handelte davon, dass jemand Besuch vom Tod bekam. Natürlich wusste der Mann, dass der Tod, wenn er eines Tages klingelte, nicht zum Plaudern kam. Aber er weigerte sich einfach mitzugehen. Weit davon entfernt, sich grundsätzlich zu weigern, verwies er nachdrücklich darauf, dass er dringend noch etliche Dinge zu Ende bringen müsse. Wichtige Dinge. Wenn er das nicht könne, dann sei klar, wer das zu verantworten habe und er werde sich später, beim Jüngsten Gericht, nicht vorwerfen lassen, dass seine Existenz sinnlos gewesen sei; schließlich könne er dann ja nichts dafür, dass er Dinge nur angefangen, nicht aber zu Ende gebracht habe.

Also gut. Der Tod war ja kein Unmensch, und dumm war er schon gar nicht. Sein Image war ihm ganz und gar nicht gleichgültig. Also einigten die beiden sich am Ende auf einen Kompromiss: Von jetzt an würde der Tod jeden Tag auf der Matte stehen, jeden Morgen um die gleiche Zeit. Und jedes Mal würde er verlangen, den Grund zu erfahren, warum der Mann diesen neuen Tag zum Leben brauche. Immer wieder, jeden Morgen. Wenn der Mann nur ein einziges Mal um die Antwort auf diese Frage verlegen sein würde, wäre er des Todes.

De Jong stellte sich seitdem oft zwei Fragen: Wenn das bei mir auch so wäre, würde ich überhaupt noch leben? Und wenn nicht, wie alt wäre ich wohl geworden?

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, den Dienst bei der Kripo zu quittieren. Nicht dass er den Job geliebt hätte. Aber im Hinblick auf den Tod und seine tägliche Frage hätte er seine Vorteile. Klar, du weißt doch, die Arbeit ruft wie immer, könnte er der Gestalt im schwarzen Umhang mit dem Totenkopf zuzischen, wenn sie ihm morgens im Treppenhaus entgegenkam. Und wenn die sich beschwerte, was denn das für eine Antwort sei, würde er mit einem kurzen Blick auf die Uhr sagen: Du, das tut mir leid, aber ich bin wieder mal total spät dran. Lass uns morgen darüber reden – versprochen, ja?

Seit Giulia nicht mehr mit ihm zusammen war, wollte er nicht mehr bei der Kripo sein, so einfach war das. Was das eine mit dem anderen zu tun hatte, konnte er nicht sagen. Hin und wieder telefonierten sie miteinander, und so war er auf dem Laufenden, dass ihr Derzeitiger ein richtiger Mr. Perfect war. Was Aussehen, Alter, Einkommen und Männlichkeit anging. Er war so vollkommen, dass es de Jong in seiner jetzigen Lebensphase unbedingt für klug hielt, jeden Vergleich mit ihm zu scheuen.

Eugen Küppers, sein Exkollege, hatte ihn jedenfalls aufgefordert, froh zu sein, dass er die Akte Giulia endlich geschlossen habe. Zudem legte er ihm die Online-Partnersuche ans Herz. Ausgerechnet er, der von Online-Geschichten weniger Ahnung hatte als alle Digital-Muffel, die de Jong kannte. Küppers war richtig gut darin, andere zu beneiden und ihnen damit das Gefühl zu geben, das große Los gezogen zu haben. »Das ist genau das Richtige für dich und total einfach«, hatte er geschwärmt. »Du gibst deine Daten ein, stellst ein Bild ins Netz und schon stehst du als Bewerber im Katalog. Brauchst nicht mehr mühsam zu baggern und kannst seelenruhig warten, bis eine anruft.«

De Jong war das nicht geheuer. Und trotzdem hatte er sich eines Tages dann doch breitschlagen lassen. Er hatte ein Nutzerkonto angelegt, Name, Vorname, E-Mail-Adresse und Alter eingegeben. Dann ein Profilbild hochgeladen.

Erzähl etwas über dich, quengelte der Computer. Die Partnerinnen, die mit dir in Kontakt treten möchten, würden gern mehr über dich erfahren. Was machst du gerade? Was sind deine Hobbys, deine Vorlieben? Deine schönsten Erinnerungen? De Jong hatte umgehend geantwortet und auf Enter gedrückt. Seitdem war auf seinem Profil unter dem Stichwort Vorlieben und Hobbys Folgendes zu lesen: Welche Partnerinnen wären denn das? Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir ihre Namen und Adressen zukommen zu lassen? Vielen Dank.

Heute war einer der ersten schönen Abende im Jahr, ein schöner früher Abend, so gegen neun, Anfang April. Am Tag hatte eine vorsichtige Sonne geschienen, zu kaltem Wind und einer Ahnung von Regen, der dann doch nicht niederging, aber das Boot feucht und muffig riechen ließ. Sein Boot, das war de Jongs Zuhause. Früher ein Provisorium, hatte er sich über die Jahre an das Hausboot gewöhnt und es schließlich gekauft, obwohl ihm viele davon abgeraten hatten. Es hieß Altes Mädchen und lag auf dem Dortmund-Ems-Kanal etwa auf der Höhe Warendorfer Straße vor Anker. Als de Jong, in eine dicke Jacke gehüllt, von Bord ging, bürstete eine steile Brise über die Wasseroberfläche und ließ das Boot sanft schaukeln.

Der Exkommissar machte sich auf dem Weg zu Thiemo Ritschek, seinem neuen Agenten. Eigentlich war die Literatur auch so ein Kapitel, das hinter ihm lag, trotzdem wollte er noch nicht ganz von ihr lassen. Vielleicht deshalb, weil man in seinem Alter nicht mehr leichtfertig Kapitel beendete, was wiederum schriftstellerisch gesehen zum Problem wurde. Ritschek, ein junger Spund mit Kontakten zu Verlagen und Filmproduzenten gleichermaßen, hatte ihn darin bestärkt, nicht aufzugeben.

»Klar, kein Wunder, dass Krimis nicht laufen, von denen gibt’s auch viel zu viele. Wenn ich dir einen heißen Tipp geben darf, versuch’s mit Mittelalterkochbüchern.«

»Mittelalterkochbücher?«

»Rezepte, die man zur Zeit der Ritter, Zauberer und Königstöchter zubereitet hat. Drachenblut, Rittergelage und Liebestränke. Die gleichen Zutaten, alles echt. Frauen stehen drauf.«

»Und Männer?«

»Vergiss die Männer. Der Leser ist weiblich«, sagte Thiemo mehr als einmal. »Nenn mich ruhig sexistisch, aber männliche Leser sind als statistische Größe schlichtweg irrelevant.«

De Jong hatte aber keine Lust auf mittelalterliches Kochen. Und dieses Mal hatte Ritschek orakelt, dass es gar nicht um Bücher gehe. Sondern um Fernsehen und ob de Jong vielleicht Interesse habe. Klar hatte er.

De Jong war an Land gegangen, tat ein paar Schritte und blieb noch einmal stehen. Atmete ein und wieder aus. Was die Luft anging, war der Frühling schon da, Regen hin oder her. Daran hatten fraglos auch die Restaurants, die ihre Türen öffneten und Stühle und Tische nach draußen stellten, ihren Anteil.

Er beobachtete einen grellroten Sportwagen, der in eine Parklücke einscherte. Eine Frau, in einem auffälligen und irritierenden Kontrast zu ihrem Auto ganz in haut enges Lila gekleidet, stieg aus und verschwand in der Bar gegenüber. Sekunden später umringten ein paar Jugendliche den Wagen und nahmen ihn neidisch in Augenschein.

»Tach, Herr Kommissar. So spät noch unterwegs?«

De Jong drehte sich um. Hinter ihm stand Herr Reikart, ein Nachbar – in gewisser Weise. Streng genommen war er gar keiner, denn er wohnte schon einige Häuserblocks entfernt. Aber de Jong traf ihn gelegentlich, wenn der Mann seinen Hund Gassi führte. Reikart war Rentner, hatte ein runzliges, zerfurchtes Gesicht, in den ein viel zu breiter Mund gerade noch hineinpasste, was de Jong immer an den späten Udo Lindenberg erinnerte, dasselbe verbrauchte Gesicht, allerdings ohne Schlapphut und coole Sonnenbrille. Normalerweise redeten sie nie, sondern nickten nur eine wortlose Begrüßung.

»Kommissar trifft leider nicht mehr zu«, widersprach de Jong.

Reikart deutete auf seinen Hund, ein sabberndes, schwarz-weiß-braun geschecktes, wurstförmiges Wesen. »Sie kennen ja Kennedy.«

»Kann man eigentlich nicht sagen«, stellte de Jong richtig.

Der Hund wedelte mit dem Schwanz und schnüffelte an de Jongs Hosenbein.

»Jemand will ihn ermorden. Abmurksen – jawohl, Sie hören ganz richtig. Und weil Sie ja Polizist sind …«

»Waren.«

»… dachte ich, Sie können mir da vielleicht helfen.«

Die Frau hatte die Bar wieder verlassen und näherte sich ihrem Luxusgefährt. De Jong nahm zur Kenntnis, dass sie sehr attraktiv war.

»… eindeutig ein Mordversuch«, erzählte Reikart indessen.

»Nein!«, staunte de Jong und konnte am vorwurfsvollen Blick des Alten ablesen, dass dieses Nein viel zu amüsiert klang.

»Das ist nicht komisch. Jemand wollte ihn überfahren. Er ist mir auf dem Spaziergang die ganze Zeit gefolgt. Dann wollte ich die Straße überqueren, und er hat Gas gegeben. Ich konnte den Hund gerade noch an der Leine zurückziehen.«

»Aber warum sollte denn jemand den Hund überfahren wollen?«

»Was weiß denn ich? Das herauszufinden wäre ja Ihre Sache.«

Die gescheckte Wurst umklammerte jetzt mit den kurzen Vorderpfoten de Jongs Bein und versuchte, sich daran zu reiben.

»Aus!«, befahl Reikart, aber die Wurst gehorchte nicht.

De Jong schüttelte sie ab.

»Was halten Sie davon?«, fragte Reikart. »So von Nachbar zu Nachbar.«

Hunde waren nicht de Jongs Fall. Giulias damals schon eher, sie hatte sich zeitweise sogar einen gewünscht, ein oder zwei Mal hatten sie deswegen gestritten, besonders in der Phase, in der man regelmäßig stritt und aus jeder Mücke einen Elefanten machte. Also sagte er: »Erstens bin ich nicht der Richtige für so was. Sie brauchen jemanden, der auf Hunde spezialisiert ist. Und zweitens sprechen wir da gar nicht von Mord.«

»Nicht? Von was sprechen wir denn dann, bitteschön?«

»Also ich, eh …« Für einen Moment war de Jong ratlos. »Rechtlich gesehen gibt es lediglich den Straftatbestand der Tierquälerei. Aber davon kann bei Überfahren ja nicht die Rede sein. Und bei dem Versuch schon gar nicht.«

»Wovon denn?«, beharrte der alte Mann.

»Sachbeschädigung würde ich sagen. Also versuchte Sachbeschädigung, genau genommen.«

»Das meinen Sie doch nicht ernst.«

»Leider doch.«

Reikarts Mund stand offen, während er de Jong fassungslos anstarrte. Dann schüttelte er den Kopf, zerrte an der Leine und setzte, immer noch kopfschüttelnd, seinen Weg fort.

Er sah dem Alten nach. Was, dachte de Jong, erwartete er von ihm? Dass er die Hunde in der Nachbarschaft befragte, ob sie was Ungewöhnliches beobachtet hatten?

Sein Blick kehrte zum Sportwagen zurück. Die drei Jungs waren auch noch da und unterhielten sich mit der Frau in Lila. Nein, vielleicht war Unterhaltung der falsche Ausdruck. Je länger de Jong hinsah, desto mehr bekam er den Eindruck, dass die Frau null Interesse an einer Unterhaltung mit ihnen hatte. Und dass die drei sie belästigten. Also überquerte er die Straße und schlenderte hinüber.

»Sie lassen mich jetzt sofort einsteigen«, verlangte die Frau in Lila.

»Klar, aber nicht so schnell.« Der Kerl, der ihr den Weg zur Fahrertür verstellte, war höchstens zwanzig, Typ mit Steroiden vollgepumpter Bodybuilder à la Schwarzenegger. Sie reichte ihm gerade bis zum Kinn.

»Ich möchte jetzt gern losfahren.«

»Hast du dir mal überlegt, was du mit deiner Luxuskutsche so anrichtest?«, fragte Schwarzeneggers Kumpel, ein übergewichtiger Zwerg mit Glatze. »Für die Umwelt, meine ich.«

»Und die Welt überhaupt. Und das Klima.« Der Dritte, schmächtig mit einer spiegelnden Sonnenbrille auf der Nase, trotz der Dunkelheit. »Das geht alles vor die Hunde.«

»Bitte, lassen Sie mich in mein Auto!«

»Das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Lassen Sie mich in mein Auto? Du verpestest unsere Luft, Lady.«

»Das können wir nicht zulassen.«

»Auf keinen Fall. So gern wir bei Ihnen auch eine Ausnahme machen würden.«

»Wir sind die AKP«, erklärte der Typ mit der Sonnenbrille. »Antikraftfahrerpartei.«

»Schon mal von gehört?«

»Nein.«

»Bestimmt hast du. Du fährst so einen Klimakiller und willst uns weismachen …«

De Jong machte sich keine Illusion, was seine Chancen anging, körperlich mit den Jungs mitzuhalten. Trotzdem entschloss er sich einzugreifen und warf sich dazu in eine möglichst Autorität gebietende Haltung. »Fahrradpolizei Münster«, sagte er und hielt seinen Schlüsselanhänger in die Höhe – die Nachbildung einer US-amerikanischen Polizeimarke, ein uraltes Wichtelgeschenk aus seiner aktiven Kripozeit. »Darf ich erfahren, was hier passiert?«

Der Bodybuilder winkte ab. »Wir machen das schon. AKP Münster. Also zisch ab, Opa.«

»Und tschüss!«, bekräftigte der Dicke.

Aber de Jong zischte nicht ab. Er blieb und nickte anerkennend in die Runde der Halbstarken. »Ihr solltet nicht denken, dass wir euer Engagement für die gute Sache nicht zu schätzen wüssten«, lobte er. »Das ist eine Fahrradstadt, und die hat einen Ruf zu verteidigen.«

»Und wie«, sagte Schwarzenegger. Seine Kumpels nickten beifällig.

»Sehr schön.« De Jong schlenderte zu den Fahrrädern, die die Aktivisten am Straßenrand abgestellt hatten. »Das sind euere?«

»Klar«, bestätigte der mit der Sonnenbrille. »Denken Sie, wir wären mit dem Auto unterwegs oder was?«

»Sehen Sie mal hier«, sagte de Jong. »Die Bremse ist defekt. Und dieses Rad«, er berührte das nächste, »besitzt überhaupt keine Lichtanlage. Wenn Sie damit fahren, ist das eine Ordnungswidrigkeit und kostet Sie …«

»Schon gut!« Schwarzenegger hob beschwichtigend die Hände. »Wir hauen ja ab, okay. Machen Sie hier weiter.« Die drei begaben sich zu ihren Fahrrädern.

»Moment«, sagte de Jong. »Da wäre noch die Frage, wie Sie abhauen. Und ob Sie Alkohol getrunken haben. Mein Vorschlag: Sie schieben nach Hause und ich betrachte die Angelegenheit als erledigt.«

Der Anabolika-Kleiderschrank drehte sich zu ihm um und reckte drohend seine monströsen Schultern nach vorn. »Wir sprechen uns noch.«

»Gern«, versprach de Jong. »Schicken Sie mir eine SMS.«

Sobald die drei Kerle den Rückzug angetreten hatten, sah er die Frau an. Sie stand da mit dem Autoschlüssel in der Hand und musterte ihn mit einem Blick, den er nicht zu deuten vermochte.

»Jetzt sagen Sie bloß, das waren Freunde von Ihnen«, sagte er.

Endlich lächelte sie. »Danke für den geistesgegenwärtigen Auftritt. Sind Sie wirklich von der Polizei?«

»Nein. Aber ich war es mal. Niklas de Jong.«

»Ellie Uhlenbrock. Ich würde Sie gern zu etwas einladen. Was halten Sie davon?«

3. Kapitel

Etwa zwanzig Minuten später saßen sie im Kreuz des Südens, einer für de Jongs Verhältnisse etwas zu neuen und zu gediegenen Kneipe mit handverlesenen Spezialitäten aus aller Welt. Immerhin gab es kein Gedrängel, und man musste sich auch nicht die Stimme ruinieren, wenn man ein bisschen plaudern wollte. Per SMS sagte er das Treffen mit Thiemo wegen eines Notfalls kurzerhand ab und bestellte ein Bier. Frau Uhlenbrock nahm einen nichtalkoholischen Cocktail.

»Uhlenbrock«, meinte de Jong, »den Namen habe ich, glaube ich, schon mal gehört.«

Sie nickte. »Sehr wahrscheinlich. Die Uhlenbrocks sind sozusagen alter Handorfer Adel. Schwerreich und alteingesessen. Walther Richard Uhlenbrock, mein Vater, regierte ein regelrechtes Firmenimperium.«

»Er regierte? Also wurde er abgesetzt?«

»Abberufen würde ich sagen. Er ist vor zwei Jahren verstorben.« Frau Uhlenbrock stocherte mit einer grün schimmernden Plastikgabel in ihrem Cocktail, spießte eine Kirsche auf und betrachtete sie.

»Das tut mir leid«, sagte de Jong.

»Danke.« Sie lächelte, was de Jong so sympathisch fand, dass er sich vornahm, ihr möglichst oft Anlass dazu zu geben.

»Da hat sich die Radfahrergang ja die Richtige ausgeguckt.«

Ellie fixierte ihn neugierig. »Sie waren also tatsächlich bei der Polizei?«

»Kripo«, sagte er. »Mordkommission. Aber das ist vorbei.« Er grinste. »Nur, wie Sie sehen: einmal Bulle, immer Bulle.«

Sie redeten eine Weile, während Ellie Uhlenbrock immer wieder an ihrem Cocktail nippte. Und de Jong fühlte in sich die Hoffnung aufkeimen, mit dieser zufälligen Echtzeit-Bekanntschaft vielleicht um die Online-Partnersuche herumzukommen. Es doch noch mal offline zu schaffen, auf die gute, alte Art und Weise, im Hier und Jetzt. Sie erzählte indessen von ihrer Familie, dass sie mehrere Firmen ihr Eigen nenne, darunter ein Online-Büro für Eventreisen und eine Dating-Agentur. Und vom Sorgenkind der Familie.

»Ein Sorgenkind?«, hakte de Jong, ebenso verwundert wie neugierig, nach.

»Hagen, mein jüngerer Bruder«, sagte sie und Sorgenfalten kräuselten ihre Stirn. »Seit seinem Unfall hat er sich sehr verändert. Eine tragische Sache.«

»Was ist denn passiert?«

»Er ist mit dem Golfwagen verunglückt. Auf dem Golfplatz. Der Hügel war zu steil, er hat sich verschätzt. Und dann ist es passiert: Er ist herausgefallen und der Wagen hat ihn überrollt.«

De Jong wartete, dass sie fortfuhr, und legte vorsichtshalber auch seine Stirn in Falten.

»Zunächst war es nur eine besonders schwere Gehirnerschütterung. Wir alle atmeten auf. Hagen erholte sich schnell. Erst nach zwei Wochen wurde uns allmählich klar, dass von Erholung keine Rede sein konnte. Er erzählte allen, dass ihm ein Licht erschienen sei.«

»Ein Licht?«

»Außerdem fing er an, die Heilige Schrift zu zitieren, dass ein Kamel niemals durch ein Nadelöhr käme. Und dass er beabsichtige, allen weltlichen Gütern zu entsagen.«

»Nein!«, staunte de Jong, und es klang wohl ähnlich amüsiert wie bei Reikart. Nur dass sie es nicht bemerkte.

»Es handelt sich um eine besonders seltene Form der religiösen Schizophrenie, die therapeutisch gesehen noch wenig erschlossen ist.«

De Jong nutzte den Augenblick betretenen Schweigens, um sich noch ein Bier zu bestellen.

»Ich habe ihm zugeredet. Ihn beschworen, er solle sich klarmachen, was es für die Familie, für uns alle bedeutet, wenn er unsere Reichtümer an die Armen verschenkt. Wir reden von 52 Prozent Anteilen am Reisebüro und 61 Prozent bei der Dating-Agentur. Die will er verkaufen und den Erlös für gemeinnützige Projekte spenden.«

»Das kann er so einfach?«, wunderte sich de Jong erneut.

»Papa hat das damals so entschieden. Er glaubte, dass von uns beiden Geschwistern Hagen eher der Mann fürs Geschäftemachen sei. Und das war er auch, jedenfalls bis zu seinem Unfall.«

»Aber jetzt hat er sein christliches Gewissen entdeckt.«

»Na ja, christliches Gewissen.« Frau Uhlenbrock schien den Begriff für unangebracht zu halten. »Wenn er die Firmen verscherbelt, ist meine Alterssicherung in Gefahr, verstehen Sie? Nicht nur das, der gesamte Lebensstandard. Und nicht nur meiner, sondern der meiner Mutter und meiner Schwester und ihrer Familie.«

Wieder schwiegen sie eine Weile. De Jong erwog, das Thema zu wechseln, zum Beispiel davon zu erzählen, dass man gerade heute versucht hatte, ihn als Ermittler in einem Fall von versuchtem Mord an einem Hund zu gewinnen, aber das erschien ihm irgendwie unpassend, zu trivial, und er fürchtete, dass sie das herzlos und unsensibel finden könnte. Und dass er damit seine Chancen bei ihr, falls überhaupt welche bestanden, ziemlich leichtfertig verspielen könnte. Ziemlich sicher würden die Pluspunkte, die er durch sein mutiges Eingreifen gesammelt hatte, dahin sein. Ehe er sich’s versah, hatte sich die heitere, kleine Plauderei in eine traurige Sackgasse verirrt, und die Frau aus der High Society saß ihm mir nichts dir nichts als ein von wirtschaftlicher Not bedrohtes Wesen gegenüber. Beide runzelten die Stirn um die Wette.

»Tja«, versuchte de Jong ihr Mut zu machen, »sicher haben Sie sich an einen Arzt gewandt, der sich auf solche Fälle versteht?«

»Dr. Melchior.« Sie nickte. »Ein sehr kompetenter Mann. Er sagt, das Franziskus-Syndrom greife in den letzten Jahren immer weiter um sich. Es sei ein regelrechter Trend.«

»Franziskus – wie der Papst?«

Sie nickte. »Es liegt an der Schere zwischen Arm und Reich, verstehen Sie? Die geht immer weiter auf. Auch bei den Reichen gibt es Leute, die mit diesem Druck nicht klarkommen. Und dann …«

De Jong nickte. Er verstand: »Das Franziskus-Syndrom.«

»Besonders gefährdet sind Menschen, auf denen tonnenschwer Verantwortung lastet.«

»Oder millionenschwer ein Vermögen.«

»Genau das. Nur dass bisher noch keine wirksame Therapie bekannt ist.«

»Immerhin«, versuchte de Jong sie jetzt doch aufzumuntern, »kann man doch kaum von jemandem ohne Einschränkung sagen, dass er ein guter Mensch ist, nicht wahr? Von ihm schon.«

Ellie Uhlenbrock nickte, sah aber skeptisch drein. So als wollte sie sagen: Du hast leicht reden, musst ja nicht mit einem guten Menschen zusammenleben. »Was halten Sie davon, wenn wir zahlen?«

Sie standen auf, gingen zum Tresen und beglichen ihre Rechnung. »Also, wenn ich irgendwie helfen kann«, sagte der Exkommissar vage, als sie sich verabschiedeten, ohne eine Ahnung zu haben, wie seine Hilfe aussehen könnte. Er überreichte ihr eine von den Visitenkarten, die ihm sein Freund Eugen Küppers zum Geburtstag geschenkt hatte. »Rufen Sie mich an.«

Ellie schenkte ihm ein dankbares Lächeln und ließ die Karte in ihre Handtasche gleiten. Sie sah nicht sehr interessiert aus. Dann stieg sie in ihren Sportwagen, winkte noch einmal und fuhr davon.

4. Kapitel

Es war so gegen halb zehn am nächsten Morgen, als jemand an Bord kam. De Jong befand sich noch im Badezimmer. In der Küche lief der Kaffee durch.

»Jemand zu Hause?«, tönte es. »Ich hab Brötchen mitgebracht.«

Immerhin war es nicht der Tod, sondern Eugen Küppers. Früher, als de Jong noch bei der Kripo gewesen war, hatten die beiden eng zusammengearbeitet. Und nachdem de Jong den Dienst quittiert hatte, hatte es sein Freund auch nicht mehr lange bei der Mordkommission ausgehalten.

Küppers war nur wenig jünger als de Jong, allerdings sportlicher, so dass er insgesamt viel jünger wirkte. Fitter. Er aß für sein Leben gern, und seine sportlichen Aktivitäten waren hauptsächlich Maßnahmen gegen sein Übergewicht, das sich, wenn schon nicht verhindern, so doch immerhin aufhalten ließ. Küppers rundes Gesicht wirkte künstlich gebräunt. Er tönte sein Haar und hatte sich Tattoos stechen lassen, behauptete, seine Partnerin stehe darauf. Dabei wollte er sich nur Optionen offenhalten, wie de Jong vermutete.

Er trat auf das Achterdeck hinaus, da stand sein Exkollege im morgendlichen Sonnenlicht, mit einer Papiertüte in der Hand. »Es gibt Neuigkeiten!«, verkündete er.

»Setz dich doch«, sagte de Jong. »Ich ziehe mich eben zu Ende an. Dann gibt’s Kaffee. Kannst ja schon mal den Tisch decken.«

Als er etwa zehn Minuten später ins Freie trat, erwartete ihn Küppers an einem Frühstückstisch mit allem Drum und Dran.

»Hey, du weißt gar nicht, wie gut du es hast«, sagte Küppers neidisch. »Dieses Boot hier, das ist die reinste Idylle.«

»Nur wenn die Sonne scheint«, dämpfte de Jong seine Begeisterung. »Sobald es regnet, tropft es durch das Dach. Und die Heizung blubbert nur, anstatt zu wärmen.«

»Okay, mach mir ein Angebot. Ich nehm das Boot.«

»Kannst du vergessen«, sagte de Jong.

Küppers war nicht der Typ, der gut zuhören konnte. Das war nicht seine Stärke, er redete lieber. Aber weil de Jong, wie er selbst vermutete, ein guter Zuhörer war, ergaben sie beide eben ein so gutes Team. Wie und wem sollte man denn zuhören, wenn keiner redete?

»Ich bin wieder dabei«, erzählte Küppers mit einem gewissen Stolz in der Stimme.

»Wobei?«

»Na, wo wohl: bei der Firma.« Er grinste.

»Das sind allerdings Neuigkeiten: du bei der Mafia.«

»Quatsch, ich spreche von unserem alten Laden. Der Chef braucht dringend Leute. Sie haben ohne Ende Fälle zu lösen, aber kein Personal. Und da bin ich. Teilzeitmäßig.«

»Gratuliere.«

»Abteilung Cold Cases. Und du bekommst es nicht nur mit Fahrraddiebstählen oder Falschparken zu tun. Das auch, ja. Aber Mordfälle sind auch dabei, wirklich interessante. Momentan habe ich sogar eine Serie, meint jedenfalls der Doktor.«

»Welcher Doktor?«

»Unser neuer Chef. Armin Selters. Alle nennen ihn Dr. Seltsam.«

»Dr. Seltsam, wie in dem Film?« De Jong konzentrierte sich auf seine Brötchenhälfte, für die er noch die passende Marmelade suchte.

Küppers war kein Cineast. »Welcher Film?«

»Ist ja auch egal.«

»Aber wäre das nicht auch was für dich?«, fragte Küppers mit vollem Mund.

»Was denn?«

»Wieder einzusteigen. Zu den Guten zu gehören. Auf der Seite von Recht und Ordnung stehen. Klingt das nicht verlockend?«

»Vielleicht«, gab de Jong zu. »Aber momentan habe ich keine Zeit.«

»Du und keine Zeit.« Küppers schien das für einen platten Witz zu halten, was de Jong ein bisschen ärgerte.

»Vielleicht gehe ich zum Fernsehen.«

»Nein!«

»Doch. Eine Literatursendung. Mein Agent hat das aufgetan.«

»Dein Agent?« Das klang jetzt nicht mal mehr neidisch, sondern eher unverhohlen spöttisch.

»Allerdings. Glaubst du mir etwa nicht? Ich treffe ihn übrigens heute«, behauptete de Jong, weil Küppers immer noch grinste, als nähme er ihm das nicht ab.

Nachdem sein Exkollege wieder weg war, versuchte er Ritschek zu erreichen, aber das war gar nicht so leicht. De Jong schaffte es schließlich doch, ließ eine kurze Gardinenpredigt über sich ergehen, dass der Agent schließlich einen eng getakteten Zeitplan habe und man deshalb nicht einfach so aus einem fadenscheinigen und angeblichen Notfall heraus einen Termin absagen und dann erwarten könne, dass sofort ein zweiter zur Hand sei.

»Angeblicher Notfall – das hast du gesagt«, erhob de Jong vage Einspruch.

»Also gut. Wie wär’s um eins, im KFR

»Wo?«

»Kentucky Fried Chicken. Da ess ich zu Mittag. Und kurz vorher bin ich in der Nähe verabredet.«

»Klingt gut«, sagte de Jong, obwohl er kein Fan von gebratenen Hähnchen war.

»Und sei bloß pünktlich.«

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»Also, dann erzähl mal«, sagte de Jong um zwanzig nach eins. Er war pünktlich gewesen, obwohl das Fastfood-Restaurant nicht gerade zentral gelegen war. Aber um die Mittagszeit herrschte reger Betrieb. Touristen, Schulklassen, Studierende – Junkfood-Abhängige jeden Alters drängelten sich an den Kassen. Und Thiemo Ritschek hatte für seine Pommes lange anstehen müssen.

De Jong hatte ihn etwa ein Jahr zuvor auf einer Lesung kennengelernt, die außer wenigen anderen auch Ritschek besucht und der anschließend nach etlichen Bier behauptet hatte, er könne de Jong ganz groß rausbringen. Dass dies bis heute nicht geschehen war, mochte damit zu tun haben, dass Thiemo in der Literaturszene nicht wirklich zu Hause war. Bis vor einem halben Jahr hatte er noch in der Schadensabteilung einer Kfz-Versicherung sachbearbeitet. Ritschek war achtunddreißig, sein Teint glich dem Bräunungsgrad von Küppers, nur hatte der Literaturagent darüber hinaus silberne Ohrringe, die hin und wieder aufblitzten, was ihn irgendwie kreativ aussehen ließ. Er bezeichnete sich selbst gern als lebens- und abenteuerhungrig, lebte in einer kinderlosen Beziehung und liebte Urlaube der besonderen Art. Vor zwei Jahren hatte er das Schlachtfeld von Stalingrad besichtigt, Hiroshima hatte er schon lange abgehakt und dieses Jahr war Tschernobyl dran.

»Ist dir Super Nova TV ein Begriff?«, erkundigte er sich und quetschte das dritte Tütchen Mayo über seinen Pommes aus.

»Hat was mit Astronomie zu tun«, vermutete de Jong.

»Ein Newcomer in der Branche, will mit einem neuen Format ins Geschäft kommen. Eigentlich ist es gar nicht neu, in den USA wurde es schon ausprobiert. Eine Show rund um das Buch.«

»Interessant.«

»Der Große Wurf. Sie suchen händeringend Mitglieder für die Jury. Da hab ich sofort an dich gedacht.«

»Weil ich noch auf meinen großen Wurf warte, was?«, scherzte de Jong. »Okay, und wofür brauchen sie die Jury?«

»Na ja, es geht um Bücherweitwurf, weißt du? Wer am weitesten wirft und so.«

Der ehemalige Kommissar kicherte amüsiert. »Das ist jetzt nicht dein Ernst.«

Ritschek zog eine Grimasse, sein Kinn glänzte fettig, und er schwenkte eine Pommes, die sich unter der Mayonnaiselast bedenklich zur Seite neigte, wie eine Fackel. »Sehe ich etwa aus, als würde ich scherzen?« Noch bevor de Jong bejahen konnte, fuhr der Agent fort: »Es ist inzwischen klar erwiesen, dass sich die Bücher, die beim großen Wurf die ersten Plätze einnehmen, am besten verkaufen. Manche sagen, der Contest beeinflusst die Bestsellerlisten sogar noch stärker als literarische Quartette oder Sendungen, in denen Promis auf stereotype Weise von Büchern behaupten, sie nicht mehr aus der Hand legen zu können.«

»Vielleicht verkaufen sie sich besser, aber sie lesen sich doch nicht«, widersprach de Jong patzig.

»Lesen.« Ritschek saugte geräuschvoll am bunten Strohhalm seiner monströsen Cola und schenkte de Jong einen langen, mitleidigen Blick. »Wer was liest, das interessiert doch keinen. Bücher wollen gekauft werden. Lesen kann man schließlich auch ein geliehenes Buch. Sogar ein geklautes.«

»Und wo ist dann der kulturelle Effekt?«

»Wenn Bücher verkauft werden, entsteht ein Gewinn. Das ist der Effekt. Und der fließt manchmal auch in kulturelle Einrichtungen – Schulen, Krankenhäuser oder Museen. In caritative Projekte. Na ja, jedenfalls kommt er ihnen irgendwie zugute.«

»Verstehe«, sagte de Jong. »Ich werd’s mir überlegen.«

»Das würde ich aber schnell machen«, drängte Ritschek. »Die Jury soll übermorgen stehen. Dienstag um elf ist der Casting-Termin, und eine Woche später wird gedreht. Der Platz ist sehr begehrt. Und ich weiß nicht, wie lange ich ihn für dich freihalten kann.«

»Also gut, dann machen wir’s eben.«

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Nach der Besprechung mit dem Agenten gönnte sich der Exkommissar einen Trip nach Handorf. Aus reiner Neugier, nur um einmal einen Blick zu riskieren, wie die Uhlenbrocks so wohnten. Die Adresse hatte er sich vorher schon herausgesucht. Vielleicht ergab es sich ja auch, kurz vorbeizuschauen und auf einen Kaffee hereingebeten zu werden. Sich zu erkundigen, ob sich etwas getan hatte in Sachen Sorgenkind der Familie.

Vom Brathähnchen aus Kentucky bis Handorf war es ganz schön weit zu radeln, zunächst über den Ring um die halbe Innenstadt herum zurück zum Alten Mädchen und dann die Warendorfer Straße immer weiter stadtauswärts. Anfangs radelte er gemütlich durch den Frühling. Unterwegs änderte sich das Wetter: Es zog sich zu, dann begann es zu nieseln. Es war Regen der filigransten Sorte, so fein, dass man ihn nur mit einiger Verzögerung bemerkte; als leichten Belag, der sich nahezu unbemerkt auf der Brille ablagerte, nach einigen Fahrradkilometern aber als genauso nass erwies wie ein normaler Platzregen. Mit nur noch wenig Trockenem am Leib bremste de Jong schließlich vor dem Uhlenbrock’schen Anwesen.

Da war aber kein Haus weit und breit, wo er vorbeischneien und sich nach dem Sorgenkind erkundigen konnte. Nur ein riesiger, umzäunter Park, der allerdings nicht öffentlich zugänglich war. Es hörte auf zu regnen, die Sonne setzte sich wieder durch, und der Park sah aus wie ein kleines, behütetes Privatparadies.

De Jong nannte sich selbst einen Idioten, stieg wieder auf sein Rad und kehrte um.

Als etwa eine halbe Stunde später sein Hausboot in Sicht kam, hatte sich die Sonne am Himmel zwar wieder durchgesetzt, es aber nicht geschafft, seine Kleidung unterwegs zu trocknen. De Jong hievte sein Fahrrad an Bord und bemerkte eine Gestalt, die auf dem Stuhl unter dem Regendach auf dem Achterdeck saß und eine Zigarette rauchte. Sie schien auf jemanden zu warten.

Der Exkommissar lehnte das Rad an die Kajütenwand und trat näher. Er erkannte den Mann und spürte ein leicht mulmiges Gefühl im Bauch. Es war Joey.

Er hatte de Jong jetzt auch bemerkt, beugte sich über die Reling und warf die Kippe ins Wasser. »Herr Kommissar«, begrüßte er de Jong.

Man konnte Joey durchaus als Riesen bezeichnen, auch wenn es die eigentlich nur im Märchen gab. Der Stuhl, auf dem er saß, wirkte unter seinem gewaltigen Hintern wie ein zerbrechlicher und zum unweigerlichen Crash verurteilter Fußschemel. Joeys viereckiges, leicht verrutschtes Gesicht ließ filmkundige Betrachter spontan eine Familienähnlichkeit mit Boris Karloff vermuten.

»Hey, Joey«, sagte de Jong, immer noch mit dem mulmigen Gefühl. »Lange nicht gesehen.«

Joey war nicht nur ein Riese, sondern auch das, was man eine verkrachte Existenz nannte: Lange Zeit hatte er als Türsteher für eine Bar namens Spelunke