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Sabine Gronover, geboren 1969 in Hamm-Heessen, studierte Diplom-Pädagogik und Kunsttherapie an der WW Universität Münster und arbeitet als Therapeutin an der LWL-Klinik Münster sowie auf einer Palliativstation und im Hospiz. Sie lebt mit einigen Tieren und ihrer Familie auf dem Land in Mersch-Drensteinfurt. Sabine Gronover schrieb bereits einige Münsterlandkrimis. Zuletzt erschien ein Dänemarkkrimi unter ihrem Pseudonym Frida Gronover. www.sabinegronover.de

SABINE GRONOVER

WÖLFE IM
MÜNSTERLAND

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Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
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Print-ISBN 978-3-95441-430-7
E-Book-ISBN 978-3-95441-440-6

Für meine Patenkinder
Carla, Justus und Marius.

INHALT

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

1. KAPITEL

Eine Reifenpanne zwang Bernhard Ziegel an diesem späten Abend im Oktober auf dem Weg von der Gaststätte Heiringhoff bis zu seinem Haus in der Ortschaft Sünninghausen zum Anhalten. Wenn er trotz des platten Vorderreifens die zwei Kilometer bis nach Hause gefahren wäre, hätte er einen teuren Felgenschaden riskiert. Also stieg er fluchend aus, öffnete den Kofferraum und die Klappe für das Reserverad und nahm den Wagenheber heraus.

Der Mann machte sich missmutig ans Werk. Auf die Hilfe der ortsansässigen Polizei wollte er lieber verzichten, drei Bier und zwei Korn würden beim Pusten keinen guten Eindruck machen.

Als er sich bückte, um den Wagenheber anzusetzen, nahm er eine Bewegung wahr. Hinter ihm, keine vier Meter entfernt auf dem Feld stand ein Hund, ein Schäferhund. Bernhard Ziegel stand sofort wieder auf, denn seinen Rücken hielt man einem fremden Hund besser nicht entgegen. Das Tier besaß weder ein Halsband, noch sonst eine Markierung und war viel zu weit vom Ort entfernt, um nur alleine Gassi zu gehen. Nach einigen Sekunden, in denen sich die beiden, Mensch und Tier, angestarrt hatten, fuhr Bernhard Ziegel der richtige Gedanke durch den Kopf: die schmalen, hohen Läufe, die hellen Augen und das dreieckige Gesicht mit dem weißen Fell an den Wangen. Unverkennbar. Solche Bilder gingen derzeit zuhauf durchs Netz oder liefen im Fernsehen. Deutschland war wieder Wolfsland. Aber Ziegler mochte kaum glauben, dass er hier in Oelde, einem beschaulichen Städtchen im Kreis Warendorf mitten in Nordrhein-Westfalen, einem echten Wolf gegenüberstand.

Das Tier machte einen Schritt nach vorne, nur einen. Dann blieb es wieder stehen. Wenn Ziegler jetzt schnell ins Auto sprang, würde er dem Wolf etwas beibringen: Menschen haben Angst vor dir, sie sind schwächer. Kurz dachte er an den Waldkindergarten, der sich in Oelde befand. Das würde einen Aufschrei bei den besorgten Eltern geben, den konnte man bestimmt bis Berlin hören. Unverhofft schwang er den Wagenheber über den Kopf, drohte dem Tier und rief laut: »Mach dich vom Acker, lauf, alter Junge.«

Der Wolf zuckte kurz, guckte dann noch mal würdevoll in seine Richtung und lief tatsächlich übers Feld davon.

Der Reifenwechsel dauerte lange, denn Ziegler stand immer wieder auf, blickte um sich und horchte ins Dunkel. Mittlerweile war es nach zwölf Uhr. Er nahm sich vor, am nächsten Morgen früher aufzustehen und das Notwendige zu veranlassen. Die Schafzüchter mussten gewarnt werden, auch die Pferdezüchter mit ihren Fohlen auf den Weiden. Der Kreis Warendorf war die Pferderegion Nordrhein-Westfalens. Bernhard Ziegler war mächtig aufgeregt, als er in sein Auto stieg und zügig nach Hause fuhr.

Doch er war am nächsten Morgen nicht früh genug, um als Erster über die Entdeckung eines Wolfes in der Gegend zu berichten. Als Ziegler bei der Polizei anrief, war es kurz nach halb acht Uhr. Der Beamte am anderen Ende der Leitung beantwortete seinen Bericht mit folgender Gegenrede: »Ja, Sie haben recht. Wir haben einen Wolf mitten in Oelde. Er hat heute Nacht die Ziege von Mirela Schulze Brinkhoff gerissen. Alle sind entsetzt. Der Hof ist ja nicht einmal besonders einsam.«

Den Hof Schulze Brinkhoff kannte fast jeder in Oelde-Sünninghausen. Die Familie besaß einen gut gehenden Hofladen mit viel heimischen Gemüsesorten und Fleischprodukten. Zum Hof gehörten auch Rindervieh, Hühner und Pferde. Die Brinkhoffs könnten froh sein, dass der Wolf nur die alte Ziege gerissen habe, meinte der Beamte. Zumindest wirtschaftlich gesehen hätte es schlimmer kommen können. Allerdings werde das Raubtier bestimmt wiederkommen, nachdem es das üppige Angebot gesichtet habe, meinte der Polizist.

Ziegler konnte ihn förmlich grinsen hören.

Schon im Laufe des Vormittags lief im Warendorfer Radio eine Menge Tamtam zum Thema »ein Wolf in unserer Straße«. Besorgte Mütter, begeisterte Tierfreunde und angespannte Politiker meldeten sich zu Wort und heizten eine lebhafte Diskussion an. Man konnte den Eindruck gewinnen, Oelde und Umgebung würden in Kürze in den Krieg eintreten. Gedanklich taten das sicher ein paar Bürger, denen das Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf gar zu real durch den Kopf geisterte.

Die meisten Eltern verlangten rigorose Sicherheitsmaßnahmen für den Waldkindergarten, der sich am Rande des Bergeler Waldes befand. Andernfalls würden ihre Kinder dort nicht mehr spielen dürfen. Die müssten dann in den städtischen Kindergarten. Wunderbar, dachte Bürgermeister Tillmann. Jeder wusste, dass vor den städtischen Kindergärten hektische Eltern ihre Sprösslinge ablieferten, um anschließend mit siebzig Sachen davonzurasen. Gegen die Gefahren des Stadtverkehrs war der Wolf eine Gans, dachte Tillmann und legte den Telefonhörer nun neben das Gerät. Er war es bereits jetzt am frühen Mittag leid, sich anhören zu müssen, welche Maßnahmen man nun initiieren müsse. Wenn es nach ihm ginge, sollten die Bauern und Schafzüchter sich zeitnah bessere Zäune bauen, die Mehrkosten konnten sie gerne der Kommune einreichen. Aber dann musste das Jammern aufhören.

Oelde hatte es zum ersten Mal in die Schlagzeilen geschafft. Wer kümmerte sich denn sonst um ein solches Örtchen im Warendorfer Kreis? Jetzt hieß es: »Oh, Oelde, das liegt doch ganz bei uns in der Nähe. Wahnsinn, ein Wolf!« Man musste doch auch mal das Gute an der Sache sehen.

Tillmann konnte sich nicht vorstellen, dass nun ein Wolf Kinder aus dem Waldkindergarten verschleppen würde. Sein erster Vorschlag, der Kindergarten könne sich doch einen Hütehund anschaffen, der im Fall der Fälle anschlagen würde, rief blankes Entsetzen bei seinen Mitarbeitern hervor. Ein Hütehund? Ein richtig großer, echter Hund? Und wenn der dann aus einer Laune heraus ein Kind anfallen würde? Ja, das hatte er wohl nicht zu Ende gedacht. Also die Kinder einzäunen? Auch keine schlechte Idee, fand der Bürgermeister. So manch Fünfjähriger konnte eine Plage für den Wald sein. Diesen Gedanken hatte Tillman aber nicht laut ausgesprochen. So weit entfernt lagen die nächsten Bürgermeisterwahlen ja nicht.

Frau Schulze Brinkhoff senior war noch immer den Tränen nahe, als der Polizist Dirk Kemper mit einer Zoologin zusammen den Tatort begutachtete. Das zum Teil ausgeweidete Tier würde ins Chemische und Veterinäruntersuchungsamt Münsterland-Emscher-Lippe kommen. Dort würde man genau sagen können, ob es ein Wolf oder ein Hund gewesen war, der die Ziege gerissen hatte. Die Zoologin guckte sich die Spuren an, maß den Abstand zwischen den gut sichtbaren Pfotenabdrücken und war sich schnell sicher: Das war ein Wolf, wahrscheinlich ein jüngerer, ein bis eineinhalb Jahre alt.

Dirk Kemper versuchte mit einer Engelsgeduld, ein informatives Gespräch mit der alten Frau Schulze Brinkhoff zu führen.

Hatte jemand in der Nacht etwas gehört? Wo genau hatte sich die Ziege aufgehalten, und hatte sie nicht gemeckert? Aber die Bäuerin geriet immer wieder ins Stocken, tupfte sich die eine oder andere Träne weg und schwieg schließlich ganz. Am Ende war seine Packung Tempotücher leer, und er wusste nur, dass die Ziege tagtäglich lauten Krawall gemacht hatte. Keiner hatte ihr Geschrei noch ernst genommen.

Und diesem Tier weinte man nun hinterher? Krokodilstränen. Dirk Kemper fand einen echten Wolf toll. Eine Ziege war eine Ziege. Deshalb wurde das Verhör allmählich sehr ermüdend. Die ältere Frau wollte nun einmal nicht mit ihm reden.

Zur Hilfe eilte ihm gerade die Dame des Hauses, die Ehefrau des führenden Hofbauern. Als Bäuerin bezeichnete man sie selten. Sie war groß, schlank und lief meistens in adretten Reithosen herum. Sie war nicht eben schön, aber eine charismatische Frau mit dunklen Haaren und einer wohlgeratenen Nase.

»Mutter, nun ist es aber gut. Unsere Ziege war sechzehn Jahre alt. Ich mache mir mehr Sorgen um das Wohlergehen des Wolfes, wenn er sie gefressen hat.«

Sie wandte sich an den jungen Polizisten. »Wir haben zwei Ziegen, aber die andere ist noch sehr jung, und wir schließen sie abends immer in den Kuhstall ein. Hera, die alte Ziege, ließ sich nicht mehr einschließen, die machte ein Heidentheater, daher durfte sie im Hof herumlaufen. Sie war dann immer mit einer Kette angebunden, damit sie nachts keinen Blödsinn machte. Meine Schwiegermutter hat sie aufgezogen und … hm, auf ihre Art geliebt.«

Die Schwiegermutter sagte nun kein Wort mehr, sondern zupfte an ihrem Tuch herum. So richtig wohl fühlte sie sich in der Gegenwart der jüngeren Frau anscheinend nicht, aber sie saß aufrecht und herrschaftlich auf der Bank im Hof, ein dickes Wolltuch lag um ihre Schultern.

Die Ziege festgebunden, der Hof frei zugänglich – für den Wolf war dieses Abendessen leichte Beute gewesen.

»Sie müssen davon ausgehen, dass der Wolf noch einmal auftaucht«, sagte Dirk Kemper. »Sind die anderen Tiere sicherer untergebracht?«

Frau Schulze Brinkhoff junior lächelte schräg. »Wir sind nicht sehr erfahren im Umgang mit Raubtieren, nicht wahr? Wir alle in Deutschland nicht. Für die Fohlen könnte es gefährlich werden. Ich habe keine Ahnung, wann ein Zaun oder Hof wolfsicher ist. Sie? Wir werden heute Nacht wohl aufpassen müssen. Doch wir stehen morgen immerhin groß in der Zeitung.«

Die Dame machte sich offenbar keine allzu großen Sorgen. Eher schien sie die Geschichte als gute Unterhaltung anzusehen. Die Presse hatte nicht lange auf sich warten lassen. Vor allem die blutigen Reste der Ziege waren für die Journalisten ein begehrtes Fotomotiv.

Dirk Kemper blickte zum wiederholten Male um sich. Das hier war ein stattlicher Hof und der Wolf eine gute Werbekampagne. Frau Schulze Brinkhoff ahnte das Geschäft hinter der gerissenen Ziege. Nun würden bestimmt auch Leute von außerhalb den Hofladen besuchen, sich verstohlen umschauen und daran denken, dass er hier vor kurzer Zeit hergeschlichen war – der Wolf.

»Wir müssen eine neue Ziege kaufen. Eine Ziege darf nicht alleine sein. Du wirst dich noch wundern, Karin, bei einem Todesfall bleibt es meist nicht.«

Die alte Frau Schulze Brinkhoff hatte sich nun erhoben und blickte beide mit blauen, aber rot geränderten Augen an.

»Ich sage Eike, dass er eine neue Ziege kaufen muss. Oder wollt ihr den kleinen Jimmy als Köder benutzen?«

Ihr letzter Blick war beinahe drohend, fand Kemper. Er blickte der Bäuerin hinterher, die ihn mit ihrem schweren Leinenkleid, der Schürze und dem weißen, mit kohlschwarzen Haaren durchzogenem Haardutt tatsächlich an die Großmutter aus dem bekannten Wolfsmärchen erinnerte.

»Meine Schwiegermutter traut mir eine Menge zu. Aber ich kann nun mal nicht um eine alte Ziege trauern, die immer alle Blumen weggefressen hat. Schauen Sie sich um, hier ist nirgends ein Beet oder ein Blumentopf zu finden. Das Mistvieh hat alles zerpflückt.«

Dafür gab es ein paar Skulpturen aus Metall. Frau Schulze Brinkhoff folgte dem Blick des Polizisten und lachte: »An den Dingern konnte sich die Ziege allenfalls selbst verletzen, aber die bekam sie nicht kaputt. Ich habe sie selbst geschweißt.«

»Warum haben Sie auf einem derartig großen Anwesen keinen Hund?«

»Ich wurde als Kind schlimm gebissen und habe seitdem wirklich schreckliche Angst vor Hunden. Hinzu kommt noch, dass ich sie nicht ausstehen kann. Mein Mann hätte sehr gerne einen Hund, und ich muss es ihm hoch anrechnen, dass er mir zuliebe verzichtet. Sollte er in der Zukunft doch mal mit einem solchen Tier auftauchen, weiß ich, dass er mich loswerden will.« Sie lächelte nicht, sondern stand auf und verabschiedete sich.

In dem Moment klingelte sein Diensthandy.

Der Tag stehe im Zeichen des Wolfes, hieß es aus der Leitstelle, er solle sofort und schnellstens zum Waldkindergarten fahren. Ein Kind behaupte, es hätte gerade einen Wolf gesehen. Die Kleine veranstalte einen wahren Budenzauber auf dem Gelände des Kindergartens.

Die sollten im Kindergarten das Radio auslassen. War doch klar, dass die Kleinen die Berichte aufschnappten, dachte Dirk Kemper und machte sich zügig auf den Weg.

»Das war’s dann wohl mit Wolfsvorkommen in Oelde«, fügte er laut seinen Gedanken hinzu, als er den Tumult, der von dem sonst harmlosen Waldkindergarten ausging, schon von Weitem hörte. Jedes Tier wechselte wahrscheinlich gerade das Revier.

Kinder liefen durcheinander und riefen laut: »Wer hat Angst vorm bösen Wolf?«

Eine Kindergärtnerin telefonierte hinter einer Holzhütte, die andere beruhigte eine zänkische Mutter.

»Es war ein Schäferhund, Sie können Jutta getrost hierlassen. Nein, wir machen keine Außenaktivität mehr, sondern bleiben hier in der Nähe der Hütten. Ich verspreche es Ihnen.«

Sichtlich genervt drehte sich die Erzieherin um, nachdem sie gewartet hatte, dass die besorgte Mutter auch tatsächlich zu ihrem Auto lief.

Dirk Kemper stellte sich vor und fragte gleich, ob er das Gespräch richtig eingeschätzt habe. »Es war also ein Schäferhund, den das Kind gesehen hat?«

Die blonde Frau nickte und rückte ihr Halstuch zurecht.

»Ja, definitiv, kurze Zeit später tauchte ein Mann hier auf und fragte nach seinem Hund. Er habe kurz nicht aufgepasst, und das Tier habe sich wohl auf die Fährte eines Kaninchens begeben.«

»Hm, also meiner Meinung nach kann so ein wildernder Hund je nach Rasse gefährlicher für ein Kind sein als ein Wolf. Haben Sie öfter Probleme mit freilaufenden Hunden?«

Sie zögerte. »Geht so, hier im Wald gilt eine Leinenpflicht, da vorne beginnt ja das Naturschutzgebiet. Die meisten halten sich daran. Aber wenn hier nun tatsächlich Wölfe umherstromern, werden die Eltern unruhig werden. Entschuldigung, dass wir Sie unnötig bemüht haben.«

Der Polizist blickte auf die bunten Hütten, die Schutz an Regentagen boten. Er sagte: »Da ich schon mal hier bin, können wir ja mal Prophylaxe betreiben und über Zäune nachdenken.«

Statt das Angebot dankbar anzunehmen, runzelte die Kindergärtnerin nun die Stirn und fragte: »Sie wollen die Kinder einzäunen? Wir sind ein Waldkindergarten, damit die Kinder sich frei entfalten können.«

»Also lassen Sie mal die Kirche im Dorf. Es gibt doch hier sicher auch Regeln, oder marschieren die Kinder alleine in den Wald, wann immer ihnen danach ist, ein Eichhörnchen zu verfolgen oder einen Fuchs auf Tollwut zu untersuchen? Man kann durchaus Türchen in die Zäune machen und bei Bedarf diese offen stehen lassen. Ihre Waldspaziergänge können Sie ruhig weiter machen. Da wird sich schon kein Wolf anschleichen und ein Geißlein, Entschuldigung, ein Kind klauen. Aber durch einen Zaun erreichen Sie grundsätzlich mehr Sicherheit.«

An ihrem Gesichtsausdruck merkte er, dass er die Dame eher gereizt hatte, als sie zur Kooperation zu bewegen. An sich kam er bei Frauen gut an. Er war nicht klein, besaß eine muskulöse, sportliche Figur und trug seine blonden Haare gerne etwas jugendlich länger. Seine Nase war ein bisschen zu groß, aber das machte der schön geschwungene Mund wieder wett.

Die Erzieherin schien das alles nicht zu sehen, eventuell war ihre Wahrnehmung auf Drei- bis Fünfjährige getrimmt. Sie antwortete knapp: »Warten wir ab, was die Eltern für ihre Kinder möchten. Tim, jetzt ist es genug mit diesem Lied. Ihr verschreckt ja alle süßen Tierbabys.«

Sie drehte sich um und ließ Dirk Kemper einfach stehen. Kein Problem, er rief seine Dienststelle an und durfte zur Wache zurückfahren. Nicht ahnend, dass die Vertreter des Kindergartens schon sehr bald den sichersten Zaun in ganz NRW haben wollten.

»Wir sprechen nun mit dem Schafzüchter Peter Heiden, der seine kleine Herde in der Nähe von Sünninghausen weiden lässt. Ein Wolf ist in der Nähe, eine Ziege ist ihm bereits zum Opfer gefallen. Ist das nur der Anfang? Wie geht es nun weiter, und wie schützen Sie persönlich Ihre Tiere?« Man hörte dem Radiomoderator an, was für eine Freude er an dem Thema hatte.

Zwischen deutlichen Hintergrundgeräuschen war jetzt eine andere Stimme zu hören. »Aus den Bundesländern, in denen der Wolf schon länger beheimatet ist, wissen wir, dass ein wirksamer Schutz für die Schafe schwer zu erreichen ist. Immer wieder werden Schafe und Lämmer gerissen. Elektrozäune oder sehr hohe, feste Zäune zu bauen, das bedeutet für uns einen enormen Zeitaufwand zusätzlich. Ich lasse meine Schafe ja auf unterschiedlichen Wiesen grasen. Ich kann doch nicht jedes Mal loslegen, als gelte es einen Hochsicherheitstrakt zu errichten.«

»Wie sieht es mit speziell ausgebildeten Hütehunden aus?«, fragte der Moderator weiter.

»Wissen Sie, was so ein guter Hund kostet? Sie bekommen vielleicht ein bisschen Zuschuss, aber so ein Tier kostet auch im Unterhalt eine ganze Menge. Wenn NABU und all die anderen verblendeten Tierschützer, ja und sogar die Regierung Wölfe im Land haben wollen, wird es eben bald keine Schafe mehr geben. Und apropos Hütehunde. Ein Kanadier hat es selbst erlebt. Ein Wolf freundete sich erst mit den zwei Hütehunden an, die eine Schafherde bewachten, und dann kam er jede Nacht und nutzte diese joviale Bekanntschaft schamlos aus. Die Hunde schauten sehr entspannt zu, wie der Wolf ein Schaf nach dem anderen riss. Blut ist eben doch dicker als Wasser.«

»Es ist aber Fakt, dass gerissene Schafe, die eingezäunt waren, finanziell ersetzt werden, oder? Könnte Ihre Berufsgruppe da nicht entspannter sein?«

Der Schafhirte lachte kalt auf. »Sie meinen, wir züchten nun unsere Tiere als Leckerbissen für die Wölfe? Keine schlechte Idee. Mal sehen, wie viele Horden an getöteten Schafen der Staat bezahlt, bis er genug vom Wolf hat.«

»Herr Heiden, wir danken Ihnen für das Gespräch. Als Nächstes haben wir einen Mann am Apparat, der behauptet, seinen Neffen durch einen Wolfsangriff verloren zu haben. Und zwar in Deutschland! Bleiben Sie dran, werte Hörer.«

Dirk Kemper hörte aufmerksam zu, während er die Strecke zum Revier zurücklegte. Es folgte Musik von Coldplay, und beinahe hätte er das Thema vergessen, so entspannt hatte er mitgesummt.

»Ein siebenjähriger Junge stirbt mitten in Deutschland durch einen Wolfsangriff. Hören Sie die unglaubliche Geschichte eines Angehörigen.«

Weiterschaltung, eine andere Stimme aus dem Hintergrund: »Es war im August 1977, als ein Polizist beobachtete, wie ein Mann mitten in Bremens Innenstadt mit einem Silberwolf an der Leine daherspazierte. Er forderte ihn auf, den Wolf wegzubringen. Wenige Tage später wurde der Wolf zusammen mit einem Pyrenäenwolf in Transportkisten zu einem Tierpark in Osterholz-Schambeck gebracht. Auf dem Weg dorthin konnte der Pyrenäenwolf jedoch entwischen und tötete kurze Zeit später einen siebenjährigen Jungen mit sieben Bissen. Der Junge spielte gerade mit seinem Freund am Waldrand, als der Wolf sich auf ihn stürzte. Zu Tode gebissen! Wissen Sie, was das für ein Schock für die Eltern war? Ich will es klar sagen: Weg mit den Wölfen aus unserer Stadt und aus unserem Land. Unsere Kinder sollten uns mehr wert sein als ein bisschen Abenteuerromantik.«

Kemper war beim Revier in der Stadt angekommen und schaltete den Wagen aus.

Nele Brabender stand vor dem Wolfsgehege im Tierpark Hamm. Diese Tiere würden zunehmend mehr Aufmerksamkeit bekommen, da war sich die Zoologin sicher. Je mehr Wolfssichtungen es in NRW gab, desto größer wurde das Interesse der Besucher für dieses Tier. Man stand vor dem Gehege, beobachtete die Größe und Anmut des Tieres und stellte sich vor, wie ein Zusammentreffen in freier Wildbahn wohl verlaufen würde. Auf jeden Fall kurz, da war sich die Kuratorin des Zoos sicher. Der Wolf ging dem Menschen normalerweise aus dem Weg. Ins Beuteschema passte ein Mensch sicher nicht.

Nele Brabender freute sich, dass sich Isegrim neuen Raum erschloss. Aber sie hatte auch Sorge um ihn. Hoffentlich enttäuschten die Menschen ihn nicht wieder. Es gab kaum ein Wildtier, das so diffamiert worden war wie der Wolf. Nun war er also in Oelde aufgetaucht und hatte gleich einen Raubzug gestartet. Eine Hausziege war von ihm gerissen worden.

Sie sah das graue Weibchen an, das vor ihr stand und ins Gebüsch starrte, als erwartete sie jemanden. Flüchtig betrachtet, konnte man sie für einen Schäferhund halten, doch Wölfe waren hochbeiniger und ihre Schnauze war etwas länger. Die Wölfin blickte sich noch einmal zu der Zoologin um, bevor sie tiefer ins Gehege verschwand.

Eike Schulze Brinkhoff reckte seine steifen Glieder. Er hatte nachts immer wieder nach dem Rechten gesehen und war entsprechend gerädert. Seine Frau Karin hatte dies ab fünf Uhr morgens für ihn übernommen, damit er noch zwei Stunden ruhen konnte. Sie war bereits aufgestanden, wie er feststellte. Sie hatten getrennte Schlafzimmer. Der insgesamt unruhige Schlaf von Eike hatten seiner Frau auf Dauer zugesetzt. Während er zwar oft aufwachte, aber genauso schnell wieder einschlief, lag Karin dann ewig wach. Nun musste er wenigstens nicht mehr Rücksicht nehmen und konnte spät abends noch ein Buch lesen. Eike Schulze Brinkhoff verzichtete für einen guten Agententhriller gerne auf mehr Schlaf.

Heute Nacht war der Hof unbehelligt geblieben, anscheinend hatte auch Karin in den frühen Morgenstunden nichts bemerkt, was auf die Anwesenheit eines Wolfes hindeutete. Sie wäre sonst beim ersten Anzeichen, dass ihr Mann wach war, zu ihm gelaufen. Karin musste immer alles sofort erzählen. Ob ein Fohlen geboren worden war oder ein Pferd lahmte oder seine Mutter sie geärgert hatte. Sie stürzte dann sogar ins Bad und erzählte davon, während er unter der Dusche stand oder noch unpässlicher unterwegs war.

Heute Morgen fand er seine Frau nirgends. Nicht in den Ställen, nicht im Keller oder beim Frühstückmachen. Ihr dunkelblauer Audi stand in der Scheune. Er rief sie draußen auf dem Hof, er rief sie in den Ställen und stieg sogar die Kellertreppe hinab. Keine Spur von Karin.

Seine Mutter stand immer spät auf, da brauchte er gar nicht erst zu fragen, Sohnemann Max war bereits unterwegs zur Schule. Also nahm er sich einen Becher Kaffee und ging noch mal nach draußen. Weit konnte seine Frau nicht sein. Auf den Weiden war alles in Ordnung, einige Fohlen lagen noch auf der Wiese und dösten bei den ersten Sonnenstrahlen beruhigt neben ihren Müttern, die grasten. Das Wetter war recht mild. Doch ein Fohlen lag abseits. Konnte das wahr sein? Schnell zählte er seinen kostbaren Nachwuchs durch und kam auf vier Fohlen. Das bedeutete, das Bündel da auf der Wiese konnte kein Fohlen sein.

Die Ziege. Vielleicht war sie aus dem Stall ausgebrochen und hatte sich zu den Pferden gesellt. Ziegen konnten gut mit Pferden. Sie waren optimale Gesellschafter für Pferde, die allein gehalten wurden.

Doch je weiter er mit langen Schritten die Weide überquerte und dabei mehr als ein neugieriges Fohlen wegscheuchen musste, desto klarer erkannte er das dunkle Haar seiner Frau. Sie lag etwas verrenkt dort, und er bekam eine schreckliche Angst, dass sie von einem Pferdetritt ernsthaft verletzt worden war. Wenn die Stuten Fohlen hatten, konnte sie schon mal überraschend aggressiv reagieren. Doch seine Frau war erfahren und arbeitete seit zig Jahren mit den großen Tieren.

Die letzten Meter rannte der Landwirt, den Becher mit dem Kaffee hatte er bereits achtlos fallen gelassen.

Alles Weitere war entsetzlich. Sie lag in einer Blutlache, ihr weißes Poloshirt war beinahe komplett damit eingefärbt. Einige Grashalme leuchteten rot in der Sonne, und ihre rechte Hand steckte tief im Boden, als hätte sie sich an ihrer Heimaterde festhalten wollen.

Er war kein Narr, so sehr er seine Frau auch liebte. Karin war tot, und sie zu bewegen, was sein erster Impuls war, würde nur wichtige Spuren vernichten. Er ließ sich neben sie ins Gras fallen, streckte eine Hand aus, um ihr Gesicht zu berühren, aber da war so viel Blut, und so strich er nur zärtlich über den Rücken der rechten Hand. Sie war kalt. Ein Schrei entfuhr ihm, und dann kamen die Tränen, tropften auf seine Hände und auf ihre. Die Kehle war zerfetzt, Fleisch hing heraus, und ihr Anblick erinnerte zumindest an dieser Stelle an die gerissene Ziege. Der Wolf war also zurückgekehrt, dachte Eike Schulze Brinkhoff, und ein ungeheurer Hass machte sich in ihm breit.

Es waren drei Leute, die sich eine Stunde später auf den Weg über die Weide machten: Dirk Kemper, der Polizist, Nele Brabender, die Zoologin, die bereits die Ziege untersucht hatte, und Kommissar Schmitt vom Morddezernat.

Im Hintergrund warteten zwei Männer eines Bestattungsunternehmens darauf, dass sie den Leichnam mitnehmen konnten. Zwischendurch sah man sie tuscheln. Eine Leiche, die eventuell von einem Raubtier tödlich verletzt und übel zugerichtet worden war, das war ein recht außergewöhnlicher Einsatz. Da hatte man etwas beim Stammtisch zu berichten.

Kommissar Schmitt hielt sich dicht an Dirk Kemper, dennoch kam ihm eine große Stute sehr nahe. Das Tier war neugierig, schnupperte an seinen Hosentaschen, ob er etwas Leckeres dabeihatte. Schmitt drehte sich mehrfach um die eigene Achse und fürchtete sich. Pferde hatten schon sehr oft Menschen zu Tode getrampelt oder sie abgeworfen, und im schlimmsten Fall brach man sich dabei das Genick. Schmitt hatte Angst vor jedem Tier, das größer als ein Beagle war. Er war auch nicht der richtige Mann, um sich das Opfer eines gefräßigen Wolfs anzusehen oder gar nach diesem Tier zu fahnden, fand er.

»Alles in Ordnung, Herr Schmitt?« Kemper blickte den Kommissar an und machte sich sichtlich Sorgen wegen dessen blassem Gesicht. »Die Pferde tun Ihnen schon nichts, einfach weitergehen, stur an ihnen vorbeigucken. Schauen Sie nur, die haben mehr Angst vor uns als umgekehrt.« Kemper klatschte laut in die Hände, die er in Richtung der neugierigen Stute gestreckt hatte.

Erschrocken drehte sich das kräftige Tier um und trat nach hinten aus. Nur um Haaresbreite verfehlte es dabei seinen Brustkorb. Dann lief es ein paar Meter davon, blieb stehen und schnaubte.

Jetzt war auch der junge Polizist etwas blass geworden. »Dumme Ziege«, murmelte er und schritt schneller aus.

»Ich fühle mich nicht so, als hätten Sie mir gerade geholfen oder hätten besonders viel Ahnung von den Tieren.« Kommissar Schmitt rief hinter ihm her und beeilte sich, den Jüngeren einzuholen. Frau Brabender hatte sich schon zu Beginn viel langsamer über die Wiese bewegt und streichelte das eine oder andere kecke Fohlen. Jetzt lachte sie herzhaft.

Beim Anblick der toten Karin Schulze Brinkhoff verging allen dreien das Lachen.

Die Zoologin kniete sich neben die Tote, fotografierte die Wunde und untersuchte das umliegende Gras. Tiefe Abdrücke gab es hier nicht, das Wetter war zu trocken gewesen. »Wir müssen Speichelproben aus der Wunde nehmen. Ich kann mir ein solches Verhalten nicht erklären. Ein Wolf handelt nicht so.« Sie runzelte die Stirn und blickte um sich.

»Ich glaube auch nicht, dass ein Wolf versucht hat, durch diesen elektrischen Weidezaun zu kommen.«

»Vielleicht ist sie angefallen worden und hat sich schwer verletzt auf die Weide retten können, bevor der Wolf sie auffressen konnte.« Das war eine sehr unglückliche Formulierung, und Schmitt machte ein verlegenes Gesicht. Aber letztendlich taten Wölfe genau das. Fressen.

Nele Brabender schüttelte energisch den Kopf. »Der Wolf müsste sich schon extrem bedroht gefühlt haben, um so etwas zu tun. Es ging hier doch nicht um einen schmackhaften Bissen. Lassen Sie Rotkäppchen mal ruhen. Ich glaube, wir haben es hier mit einem Mord zu tun. Da will jemand dem Wolf etwas anhängen.«

Kemper nickte zustimmend, Schmitt zeigte nur demonstrativ auf die zerfetzte Kehle des Opfers und hob die Augenbrauen selbstgefällig an. Immerhin hatten sie da ja wohl ein Opfer mit Bissspuren vor sich liegen, dachte er, das konnte auch die klügste Zoologin nicht wegdiskutieren.

Nachdem Frau Brabender Gewebeproben an verschiedenen Stellen des verletzten Halses genommen hatte, durften die Bestatter die Leiche in die Gerichtsmedizin bringen. Kemper schloss sich ihnen an, es war eine offizielle Untersuchung, und man dufte keine zivilen Personen mit der Leiche alleine lassen. Der Polizist würde mitfahren.

Im Hof saß der Bauer Eike Schulze Brinkhoff auf einem Stuhl und hielt ein schweres Jagdgewehr in den Händen. Sein Gesicht war hassverzerrt, und er rief der kleinen Personengruppe wild zu: »Dem werde ich es zeigen, diesem Isegrim. Meine Frau anzufallen und sich hier zu bedienen, als wäre es sein Wildgatter. Ich mache ihn kalt, und wenn ich drei Tage hier sitzen muss.« Er wischte sich seine tropfende Nase am Hemdsärmel ab und stierte provokant vor sich hin. Seine blonden, kurzen Haare standen in alle Richtungen ab, und sein Gesicht wies hektische, rote Flecken auf. Schulze Brinkhoff war plötzlich ein anderer Mensch geworden.

»In diesem Zustand sollte der Mann besser kein Gewehr in der Hand haben. Ich nehme an, es ist geladen«, äußerte Nele Brabender und folgte dem Lauf der Flinte, der eindeutig in ihre Richtung zielte. Bestimmt unbeabsichtigt, aber es zeigte die Unzurechnungsfähigkeit des Mannes, der soeben auf brutalste Weise Witwer geworden war.

So viel Angst Schmitt vor Tieren hatte, so unerschrocken war er im Umgang mit schwierigen Menschen. Er ging ohne viel Aufhebens auf den Bauern zu und nahm die Waffe einfach an sich, bevor Eike Schulze Brinkhoff darüber nachdenken konnte, wie ihm geschah.

Schmitt sprach beruhigend auf den Mann ein: »Wir helfen Ihnen doch, keine Sorge, wir helfen Ihnen, aber in Ihrer Verfassung könnten Sie einen anderen lieben Menschen verletzen. Das will niemand, nicht wahr. Ihr Sohn braucht Sie doch jetzt.«

Der Mann blickte erschrocken auf. »Oh, mein Gott, Max. Er weiß es ja noch gar nicht. Er ist in der Schule. Ich muss ihn holen.«

Die Zoologin guckte skeptisch herüber und wollte etwas sagen, aber Schmitt hob energisch den Arm und hielt sie davon ab.

»Gute Idee, sprechen Sie in Ruhe mit Ihrem Sohn. Soll ich Ihnen jemanden mitschicken, einen Seelsorger? Es hilft ein wenig, gemeinsam finden Sie die richtigen Worte.«

»Ja, ja, ich fahre gleich los«, nickte Schulze Brinkhoff und stand auf, um die Autoschlüssel zu holen.

»Wollen Sie ihn etwa Auto fahren lassen?«, fragte die Zoologin. »Da hätten Sie ihm ja gleich besser das Gewehr lassen können.«

Schmitt erklärte: »Der Mann braucht eine Aufgabe, das ist ein Macher, das sieht man doch. Der dreht uns durch, wenn wir ihn aufs Sofa schicken. Er wird langsam fahren, um sich vorzubereiten. Der rast schon nicht einfach so zur Schule. Und auf dem Rückweg wird der Seelsorger dabei sein.« Er zückte sein Handy und gab eine entsprechende Botschaft an seine Sekretärin weiter.

»Aber …«

»Sie sind hier, um die tierischen Fragen zu klären, richtig? Da werde ich Ihnen auch nicht reinreden, versprochen.«

Die Zoologin war ein bisschen eingeschnappt, das zeigte ihr Gesichtsausdruck, doch als plötzlich die ältere Frau Schulze Brinkhoff in einer Kleidung aus dem letzten Jahrhundert herbeikam, mit langem Rock und bunter Schürze darüber, schluckte sie den Zorn hinunter und grüßte freundlich.

Frau Schulze Brinkhoff senior nickte kurz und sagte: »Gestern noch habe ich alle gewarnt. Ein Wolf gibt sich nicht mit einer toten Ziege zufrieden, und er kommt nicht alleine. Die wirklich gefährlichen Wölfe folgen erst noch.«

»Wir wissen noch nicht genau, ob der Wolf Ihre Schwiegertochter getötet hat, wir müssen erst …«

Sie wurde schon wieder unterbrochen. Die Bäuerin schlug ihren Stock, den sie als Gehhilfe in der rechten Hand trug, feste auf den Boden und sagte barsch: »Wölfe gibt es in allen möglichen Verkleidungen. Ich konnte meine Schwiegertochter nur mäßig leiden, ich hatte zwei, drei andere Kandidatinnen für meinen Jungen im Auge. Aber das hat sie nicht verdient, das weiß ich.«

»Was wissen Sie über Wölfe, Frau Schulze Brinkhoff?«, fragte Herr Schmitt und machte einen Schritt in ihre Richtung. »Es leben doch schon seit fast hundertfünfzig Jahren keine Wölfe mehr hier.«

Die Frau blickte ihm in die Augen, stahlblau waren diese und hellwach. »Ich komme gebürtig aus Rumänien, aus Siebenbürgen, wenn Ihnen das noch was sagt. Und dort in den südlichen Karpaten leben Bären, Luchse und Wölfe. In den harten Wintermonaten haben alle Hunger. Die Tiere wie die Menschen. Alle kämpfen um Fleisch und vor allem um die Schafe. Haben Sie mal einen Wolf erlebt, der sich in ein Schaf verbissen hat und seinen Nachwuchs dringend ernähren muss? Der ist todesmutig und verzweifelt genug, sich jedem Hütehund und jedem Bauern entgegenzustellen. Man kann es ihm nicht verdenken.«

»Aber so einen Wolf meinen Sie gar nicht, habe ich recht?«

Sie widmete sich nun ihrem Stock und bohrte ihn in den Schotter. »Wölfe locken andere Wölfe an. Sie werden schon sehen.«

»Haben Sie eine Ahnung, ob Ihre Schwiegertochter Feinde hatte?«, fragte der Kommissar weiter.

»Kennen Sie einen Menschen, der schön und erfolgreich ist und keine Feinde hat?«

Schmitt erwiderte diplomatisch: »Eventuell müsste man den Begriff Feind definieren. Neider gibt es wegen allem Möglichen. Sollte die jüngere Frau Schulze Brinkhoff ermordet worden sein, würden Ihnen dann Namen einfallen?«

»Nein.« Mehr sagte die Alte nicht. Sie hob ihren Stock an und sagte im Weitergehen: »Ich werde mir jetzt die Karin noch einmal anschauen.«

»Das sollten Sie besser nicht …« Auch dieser Satz der Zoologin blieb heute unbeendet. Sie unterbrach sich selbst und sah der Bäuerin nur hilflos nach. Dann sagte sie: »In einem hat sie recht. Dieser Wolf in Oelde zieht die Henkerswölfe an. Viele Bürger werden jetzt ausrasten und mit Stöcken nachts auf die Straße gehen. Habe ich alles schon erlebt. Denken Sie nur an den Fall Kurti aus Niedersachsen.«

»Ich kenne keinen Fall Kurti.« Schmitt putzte sich geräuschvoll die Nase und äugte zu einer Ziege, die frei im Hof herumlief.

Nele Brabender klärte ihn auf: »Kurti war ein Problemwolf, weil er keine Angst mehr vor Menschen hatte und sich bis auf wenige Meter einigen Spaziergängern genähert hat. Als er dann auch noch einen Hund gebissen hat, war sein Todesurteil gesprochen. Das lassen Sie sich mal auf der Zunge zergehen. Wie viele Hunde in Deutschland beißen sich gegenseitig? Hä? Aber einen Wolf, der nur einen Eindringling warnen wollte, verurteilt man zum Tode. Keine Angst vor den Menschen heißt doch nicht, dass man sie gleich fressen will. Das, was hier in Deutschland gerade stattfindet, nennt man das Rotkäppchen-Syndrom.«

»Die Gebrüder Grimm wären begeistert von ihrem Einfluss, aber ich bin der falsche Gesprächspartner, ich habe vor fast allen Tieren Angst.«

»Warum?«

»Ich bin als Kind mal in einem Zoo verloren gegangen. Bis man mich wiedergefunden hatte, war es schon dunkel geworden. Ich irrte umher und traf immer nur auf Tiere. Und die ganze Zeit über hatte ich das Märchen vom Rotkäppchen vor Augen und was passieren konnte, wenn man vom Weg abkam. Ich dachte damals, die lassen nachts immer die Tiere frei. Können Sie sich meine Angst vorstellen?«

Frau Brabender wusste nicht, ob er sie verulken wollte, und schwieg.

Schmitt hatte sich ein paar Notizen gemacht und schloss nun sein Notizbuch. »Ich kümmere mich jetzt um die Proben. Sobald ich etwas weiß, melde ich mich bei Ihnen.«

Dann stieg die Zoologin mit dem blonden Pferdeschwanz in ihren knallgrünen Smart und fuhr davon. Ob sie sich über die anfangs so interessante Ablenkung in ihrem Job noch freuen konnte?

»Tim, hör sofort auf, du kannst doch Susi nicht mit Sand bewerfen.

»Aber sie ist blöd. Wirklich.«

Susanne Mertens stöhnte. Fünf Kinder befanden sich noch in ihrer Obhut. Alle anderen fünfzehn waren abgeholt worden, seit man die tote Karin Schulze Brinkhoff gefunden hatte. Morgen würde der Waldkindergarten bestimmt gar nicht erst aufmachen, nahm Susanne an. Es wurde noch diskutiert, ob es einen hohen Zaun geben sollte, der Kindergarten geschlossen werden würde oder ob man für einige Zeit in ein Gemeindehaus umzog. Eigentlich hing das weitere Vorgehen von einer Autopsie der Spuren an der Leiche ab, aber für viele Bürger stand bereits fest, dass ein Wolf eine Bürgerin zerfleischt hatte. Sie ließen sich die brutalsten Begriffe regelrecht auf der Zunge zergehen: Zerfleischt, zerfetzt, gerissen, gefressen, die Kehle herausgebissen. Kein Vokabular für die Kleinen, fand Susanne und hatte energisch das Radio ausgestellt. Sie starrte heute mit einem anderen Gefühl in den Wald. Da schlich ein Raubtier herum. Sie fand das spannend, und sie hoffte inständig, dass man keinen Wolfsspeichel in den Wunden der armen Großgrundbesitzerin finden würde. Susanne selbst glaubte an einen frei laufenden Kampfhund, der Karin Schulze Brinkhoff erwischt hatte, nicht an einen Wolf. Es gab in Oelde solche Hunde, genau konnte sie die jeweiligen Rassen nicht unterscheiden, aber unwohl fühlte sie sich immer, wenn sie an einem Riesenköter vorbeiging. Gut erzogen mochten das alles tolle Hunde sein, aber wusste sie, ob der jeweilige Hund gut erzogen war? Ein schlecht erzogener Chiwawa war höchstens eine Lachnummer, aber ein durchgeknallter Dobermann?

Jedenfalls passte ein so kräftiger, tödlicher Biss in die Kehle doch wohl mehr zu einem gestörten Hund als zu einem scheuen Wolf. Sie hoffte darauf, dass man sich für einen sicheren Zaun entschied und der Waldkindergarten normal weitermachen durfte. Für viele Eltern reichte der Gedanke an Wölfe in der Umgebung, um bei ihren Kindern die Gummistiefel durch einen Joystick zu ersetzen. Freie Entfaltung und Naturverbundenheit ja, aber bitte nur mit der Sicherheit einer Gummizelle. Sie war alleine hier, die Kollegin hatte sie nach Hause geschickt, denn auf fünf Kinder konnte sie sehr gut alleine aufpassen.

»Susie, Susie, da hinten ist etwas im Gebüsch und beobachtet uns.«

Moritz rannte zu ihr hin und schmiss seinen zarten Körper an ihre Beine, umklammerte sie so, dass es ihr unangenehm wurde.

»Moritz, wir sind im Wald, jedes Kaninchen und jedes Reh hier hat dich schon einmal gesehen.«

»Und wenn es der Wolf ist?«

»Na, ist doch super, wenn der auf unseren Kindergarten aufpasst und die gefräßigen Riesenkaninchen vertreibt.« Und damit kitzelte sie ihn am Bauch, dass er wieder lachte.

Kurz darauf hörte auch sie ein Rascheln. Es war nicht das hektische Geräusch, das Vögel von sich gaben, wenn sie im Unterholz umhersprangen. Dieses Rascheln war ruhig und langsam. Jemand oder etwas bewegte sich keine fünfzehn Meter von ihrer kleinen Gruppe entfernt im Gebüsch.

Der Waldkindergarten war nur wenige Schritte von einem ausgebauten Feldweg entfernt. Man musste ja mit Autos hier herankommen können. Sie befanden sich hier am Rande des Waldes und besaßen vier einfache Hütten. Darin waren zwei Gruppenräume untergebracht, sanitäre Anlagen und eine kleine Küche. In einer noch kleineren Hütte waren Spiel- und Sportgeräte gelagert.

Susanne stand ein wenig starr und blickte in Richtung Wald. Wolf hin oder her, dort konnte auch ein verwirrter, verängstigter und aggressiver Hund stecken. Immerhin hatte etwas Tierisches eine Frau übel zugerichtet.

Sie bewegte sich langsam in Richtung der Hütten und rief die Kinder leise zu sich. Molly befand sich am weitesten weg und bewegte einen Stock hin und her, wobei sie eine Gruppe von Käfern untersuchte. Das kleine Mädchen war total vertieft in die Erforschung kleiner Krabbeltiere und hockte am Boden.

»Ich habe Angst«, sagte Moritz und hielt ihre Hand noch fester.

»Dann geh schon mal mit den anderen Kindern in die Hütte, wir machen uns einen leckeren Kakao und singen gleich ganz laut, okay? Geht schon, ich gucke mal, was Molly da gefunden hat.«

Mühsam machte sie sich von der Hand des Jungen los und schob ihn in die richtige Richtung. Dann drehte Susanne sich um und ging zu Molly, ohne das Gebüsch am Waldrand aus den Augen zu lassen. »Molly, kommst du auch mit uns rein?«

»Der eine Käfer rennt immer überall gegen. Ob der wohl schlechte Augen hat. Guck doch mal, Susie.«

Und dann trat ein Tier aus dem Dickicht und starrte auf das Kind.

Bürgermeister Tillmann hatte heute zum ersten Mal seine Sekretärin angeschrien. Das hatte er noch nie gemacht, und sie hatte es auch heute nicht verdient. Das wusste sie, das wusste er. Doch zig Anrufe von Presse und Co. machten aus ihm allmählich ein Nervenbündel. Seine Bürger fühlten sich nicht mehr sicher, und die Presse tat alles dafür, diese Angst noch zu schüren. Na klar, bluttriefende Opfer und wilde Tiere gaben tolle Geschichten her. Als ihm Frau Hering dann mitgeteilt hatte, dass draußen eine Delegation von Jägern stehe, bewaffnet, wie sie spöttisch hinzugefügt hatte, stieg sein Puls spürbar.

»Die wollen noch heute eine Sondergenehmigung, damit sie den Wolf erschießen können, Herr Tillmann.«

Und dann hatte er sie angefahren, sie kenne doch wohl die Gesetzgebung und müsse in ihrem Job auch mal mit einer Horde wild gewordener Jäger fertigwerden. Bewaffnet oder nicht.

Frau Hering war vielleicht zu sehr in ihren Namen hineingewachsen. Sie war etwa 1,60 Meter groß und so dünn wie ein Schulmädchen vor der Pubertät. Im Grunde genommen brauchte einer der Jäger nur laut niesen, dann müsste sie sich festhalten.

Er hörte sie dennoch mit fester Stimme zu den Jägern sagen: »Das wird heute und hier nicht entschieden. Sie gehen jetzt alle nach Hause und warten, dass die Dinge den richtigen Weg gehen. Sollte einer von Ihnen auf eigene Faust mit seinem Gewehr oder anderen Waffen losziehen, ist er seinen Jagdschein bis zum jüngsten Gericht los! Fritz, grüß deine Frau von mir und sag ihr, sie soll deine Waffe oder noch besser dich einschließen.«

1,60 Meter Mut und Durchsetzungskraft, Tillmann würde ihr heute noch einen Strauß Blumen kaufen und sich entschuldigen.

Morgen früh würde es eine Sondersitzung im Rat geben. Am dringlichsten musste nun eine Entscheidung für den Waldkindergarten gefällt werden.

Der Bürgermeister fürchtete eine Panik seitens der Eltern. Diese glaubten schnell, dass ihre Kinder nun, wie im Märchen, von einem Wolf verschleppt würden. Tillmann hatte wenig Lust, dass ihm diese Wolfsgeschichte um die Ohren flog. Er musste sich als Bürgermeister natürlich an das Gesetz halten und das sah vor, dass der Wolf einen ganz besonderen Schutz in Deutschland genoss. Und zwar durch verschiedene Gesetze.

Das Washingtoner Artenschutzabkommen so wie die Berner Konventionen schützten den Wolf international und Deutschland hatte beide Abkommen bestätigt.

Die sogenannte Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie schützte den Wolf ebenfalls ganz besonders und verpflichtete Deutschland, dafür Sorge zu tragen, dass Wölfe langfristig einen lebensfähigen Bestand aufbauen konnten.

Und schließlich waren die Wölfe im gesamten Bundesgebiet durch den Paragraphen 44 des Bundesnaturschutzes streng behütet. Alle Gesetze zusammen bescherten dem Wolf den höchsten denkbaren Schutzstatus. Darüber hatte er Frau Hering noch einmal ausführlich informiert. Und an diese Gesetze hatten sich auch seine Bürger zu halten. Wo stand denn geschrieben, dass das Leben in der Natur immer einem betreuten Spaziergang durch einen Kurpark ähneln musste? Jogger wurden schon mal von einem Bussard angegriffen, Spaziergänger stolperten im Wald über Schlingpflanzen oder rannten gegen Bäume, und auch eine harmlose Schnecke konnte einem zum Verhängnis werden, wenn man darauf ausrutschte.

Willkommen im Leben.

Frau Schulze Brinkhoff senior kochte bereits das dritte Gericht an diesem frühen Abend, um ihren Enkel zum Essen zu bewegen. Spaghetti, Apfelpfannkuchen und nun hatte sie sogar Tiefkühlpommes in den Ofen geschoben. Eine Speise, die sie zutiefst verabscheute. Eine Kartoffel häckselte man nicht klein und frittierte sie in schlechtem Öl, damit ihre wertvollen Vitamine verloren gingen, fand sie. Was für ein sinnloser Aufwand, wenn die Knolle doch so, wie sie aus der Erde kam, perfekt war.

Die Schale mit Pommes und einer roten Masse an Ketchup reichte sie Max, der vor dem Fernseher saß und geistesabwesend durch das Programm zappte. Immer wieder kamen ihm die Tränen wegen des grausamen Verlustes seiner Mutter. Er tat der alten Frau zutiefst leid, Mütter sollten unantastbar bleiben. Was man den Kindern damit antat, war herzzerreißend.

»Heute Morgen, ganz früh, hat ein Hund gebellt. Oder bellen Wölfe auch?«, fragte Moritz und biss ein kleines Stück einer kleinen Pommes ab.

»Ich glaube schon, dass sie es können, aber sie tun es nur höchst selten. Du wirst einen Hund gehört haben. Wie nah war das Bellen?«

»Total nahe. Ich habe gedacht, ein Jogger oder Spaziergänger mit seinem Hund läuft hier vorbei.«

»Aber einen Menschen hast du nicht gesehen, Moritz?«

Seine Oma setzte sich schwerfällig neben ihn und griff geistesabwesend nach einer von ihr so verpönten Pommes.

»Oma, ich lag im Bett, ich bin nicht aufgestanden. Ich habe nicht einmal an den Wolf gedacht.« Er steckte ein weiteres kleines Stück Pommes in den Mund. »Oma, habe ich den Mörder von Ma gehört?«

Sie strich ihm über den zerzausten Kopf. »Ich weiß es nicht, mein Junge. Nun iss etwas.«

Moritz wühlte wieder in der Schale. An den Fingern hatte er Ketchup. Sie schimpfte heute nicht. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, je wieder mit diesem gequälten Kind zu schimpfen. Ein Hundebellen im Morgengrauen nahm sie ernst. Viele Personen hatten gewusst, dass Karin große Angst vor Hunden hatte. Auch wenn sie immer so cool tat, sie wurde beim Anblick eines großen Hundes sehr schnell sehr hilflos. Und Raubtiere konnten große Angst riechen. Es signalisierte ihnen, dass sie ein Beutetier vor sich hatten.

Ihre Ziege hatte ein Wolf gerissen, da war sich die alte Bäuerin zu hundert Prozent sicher. Da brauchte die neunmalkluge Zoologin gar nicht viel untersuchen. Aber Karin? Wenn ein Mensch dahintersteckte, musste man sich fragen, wer von dem Tod ihrer Schwiegertochter profitierte. Oder wer sie so sehr gehasst hatte. Ihr Sohn sicher nicht. Ohne Karin müsste er jemanden zusätzlich einstellen. Außerdem hatte der Trottel sie geliebt. Wie konnte man ein eiskaltes Händchen in Reithosen lieben? Diese Dinger hatte sie ja ständig getragen. Kochen konnte sie nicht, aber sie konnte einen lupenreinen Springparcours absolvieren. Karin hatte tatsächlich im Reiterdress im Hofladen gestanden und Bioprodukte verkauft. Stillos, aber praktisch, wie sie selbst immer lächelnd zugegeben hatte. Natürlich hatte Karin gewusst, dass ihr Reiterhosen verdammt gut standen.

Als die junge Bäuerin Mirela aus Rumänien nach Deutschland gekommen war, da war auch sie noch eine sehr schöne Frau gewesen. Rabenschwarze Haare und blaue Augen, ein Schneewittchentyp aus Siebenbürgen. Das hatte viele Männer fasziniert, aber der Großgrundbesitzer mit dem merkwürdigen Doppelnamen hatte das Rennen gemacht. Wegen der vielen Tiere? Oder wegen des großen Besitzes? Diese Fragen hatte Mirela sich als junge Ehefrau häufiger gestellt. Später nicht mehr, da hatte sie gewusst, dass sie ihren Mann liebte.

Doch Wölfe, Luchse, Bären und die von Wald umgebenen Berge vermisste sie heute mehr denn je. Zum Sterben wollte sie immer dorthin zurückkehren. Aber das ging jetzt nicht mehr. Weder das Sterben noch die Rückkehr nach Rumänien, genauer nach Transsylvanien. Sie wurde hier gebraucht.

Zurück zur Frage: Wer profitierte von Karins Tod? Vielleicht war es zu früh, diese Frage zu stellen. Weil ein durchgeknallter Hund sie getötet hatte. Zufall. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Und idiotisch. In Transsylvanien hielt kein Mensch Wache, ohne eine adäquate Waffe bei sich zu tragen.

Sobald ihr Sohn morgen unterwegs war und Max in der Schule lernte, würde sie die Sachen ihrer Schwiegertochter unter die Lupe nehmen. Es machte ihr keinen Spaß, im Privatleben anderer herumzuwühlen, aber so ein brutaler Todesfall musste geklärt werden. Sonst vergiftete er die übrig gebliebenen Familienmitglieder. Nein, erst würde sie die Ergebnisse abwarten.