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Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Mords-Eifel (Hg.)

Der letzte Agent

Requiem für einen Henker

Der Bär

Tatort Eifel (Hg.)

Mond über der Eifel

Die Nürburg-Papiere

Die Eifel-Connection

Eifel-Bullen

Eifel-Krieg

Der König der Eifel

Magnetfeld des Bösen

Auf eigene Faust / Bis der Hass euch bindet

Eine Reise nach Genf

Jacques Berndorfist das Pseudonym des 1936 in Duisburg geborenen Journalisten, Sachbuch- und Romanautors Michael Preute. Sein erster Eifel-Krimi, Eifel-Blues, erschien 1989. In den Folgejahren entwickelte sich daraus eine deutschlandweit überaus populäre Romanserie mit Berndorfs Hauptfigur, dem Journalisten Siggi Baumeister. Dessen bislang jüngster Fall, Eifel-Krieg, erschien 2013 als Originalausgabe bei KBV.

Berndorf setzte mit seinen Romanen nicht nur die Eifel auf die bundesweite Krimi-Landkarte, er avancierte auch zum erfolgreichsten deutschen Kriminalschriftsteller mit mehrfacher Millionen-Auflage. Sein Roman Eifel-Schnee wurde im Jahr 2000 für das ZDF verfilmt. Drei Jahre später erhielt er vom »Syndikat«, der Vereinigung deutschsprachiger Krimi-Autoren, den »Ehren-Glauser« für sein Lebenswerk.

Jacques Berndorf

Der Bunker

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Überarbeitete Neuauflage

»Alles, was sie wissen müssen,
wird sich vor ihren Augen abspielen,
und sie werden nicht sehen.«

Christa Wolf, KASSANDRA

Inhalt

Über den Autor

Der erste Bunker

Die zweiten Bunker

Der dritte Bunker

7. Dezember 1983

Der 8. Dezember 1983

Der 9. Dezember 1983

Der 10. Dezember 1983

Der 11. Dezember 1983

Der 12. Dezember 1983

Nachlese

Ein Informant

Der erste Bunker

Ich wurde 1936 geboren. Den Krieg erlebte ich mit meinen Eltern in Osnabrück. Diffuse Erinnerungen. Keine Angst. Der Weg in den Bunker ist heute noch sehr klar. Wir liefen ein Stück die Klöcknerstraße entlang, bogen rechts in eine Straße ein, deren Namen ich vergessen habe. Nach zweihundert Metern vielleicht lag linker Hand auf einem sehr großen, unbebauten Gelände der gewaltige, mehrstöckige Betonklotz des Bunkers. Gegenüber war ein Tor zu den Klöckner-Werken.

Der Bunker bedeutete erregende Betriebsamkeit, hier traf ich meine Spielkameraden. Keine Angst, eher verdichtete der Bunker die wilden Spiele der Kindheit. Da war die Ursula Richthoff, die ich heiß und innig liebte, ein dunkelhaariges, großäugiges Mädchen. Ich erinnere mich genau, dass die mit Strohsäcken belegten Betten im Bunker zweistöckig waren, dass die Ursula hoch oben auf dem Bett in der rechten hinteren Ecke kauerte, dass ich begeistert zu ihr kletterte, dass sie wie eine kleine, sehr perfekte Mami mit mir spielte. Das Spiel hieß ›Mensch-ärgere-dich-nicht‹. Sie ließ es nicht zu, dass ich verlor, ich hätte es wohl auch nicht ertragen. Ich habe sie geliebt, ich weiß nicht, wo sie jetzt ist, und ob sie sich in gleicher Weise erinnert. Möglich, dass etwas von den Schrecken dieser Zeit in ihre Seele gekrochen ist, sie war zwei oder drei Jahre älter als ich. Es ist eine sanfte, gute Erinnerung. Zuweilen besuchte ich Ursula im Nebenhaus. Sie hockte auf einem Sessel im behaglichen Wohnzimmer und spielte Blockflöte. Weihnachtslieder übte sie, und sie war mein Rattenfänger.

Ihr Bruder Egon war einige Jahre älter, in meiner Erinnerung ein sehr großer starker Junge, den ich maßlos bewunderte. Er hatte ein Privileg, das der Himmel für mich war. Er durfte eine dunkle Uniform tragen und nannte sich Hitlerjunge. Sehr energisch, sehr hart, sehr bestimmend. Deutlich ist dieses Bild in mir: ich lauerte im Kinderzimmer hinter der Gardine, bis er in seiner strengen dunklen Kluft auf der Straße erschien, ein Mann, der zweifellos den Geruch von Gefahr an sich hatte. Dann rannte ich hinaus. So konnte die Geschichte mit den Holunderbeeren geschehen, die mich stolz machte.

Egon besaß ein Luftgewehr. Mir schien dieses Ding ein Zauberstab zu sein. Er sagte solche Sätze: »Bald werde ich ein richtiges Gewehr haben und auf unsere Feinde schießen!« Ein wenig breitbeinig stand er auf der Straße, stets umgeben von Bewunderern und nichts war für mich so berauschend wie sein Satz: »Michael, du darfst das Gewehr halten.«

Vor den Klöckner-Werken war ein hoher Bretterzaun. Wir wussten, dass dahinter russische Kriegsgefangene lebten, die ihre kargen Rationen durch Basteleien aufbesserten. Sie sägten aus Sperrholz Flugzeuge aus und bemalten sie, vornehmlich Stukas. Es war schön, diese hölzernen Todesboten zu besitzen.

Egon sagte: »Wer Mut hat, soll sich an den Bretterzaun stellen.«

Niemand hatte Mut. Da sagte er: »Ich wette, der Michael ist ein ganzer Kerl.« Ich bemühte mich, ein ganzer Kerl zu sein und stellte mich an den Zaun. »Mach die Beine breit!«, sagte Egon. Ich machte die Beine breit und fühlte im Rücken die Bretter des Zaunes. »Ich habe keine Kugeln für das Luftgewehr«, sagte Egon. »Ich schieße mit diesen kleinen grünen Holunderbeeren. Genau zwischen deine Beine. Hast du Angst?« O ja, ich hatte sehr viel Angst, aber ich bewunderte ihn und dachte wohl, es sei nicht der Augenblick, Angst zu haben. Eine Männersache. Er lud das Gewehr und zielte auf irgendeinen Punkt zwischen meinen Beinen. Dann schoss er und traf mich sicher in den rechten Oberschenkel. Es schmerzte. Er lud erneut und sagte: »Der Michael ist ein echter deutscher Junge.« Ich blieb also mit gespreizten Beinen stehen und duldete es klaglos, dass er ein zweites Mal schoss. Er traf.

Viele Jahre später habe ich ihn noch einmal wiedergetroffen, und er war von einer seltsamen Sprachlosigkeit, was mich verwunderte. Er wird sich erinnert haben. Die gut sichtbaren Narben auf dem Oberschenkel habe ich ihm nicht in lachender gemeinsamer Erinnerung gezeigt. Ich habe nichts von jenem sehr schmerzhaften Vorfall erwähnt, ich habe gedacht: was für eine Zeit muss gewesen sein, dass ich ihn bewunderte!

Meine Mutter war eine sehr fröhliche Frau. In meiner Erinnerung wieselt sie in heller Aufregung um mich herum und sagt dauernd: »Icki! Du hast jetzt die dritte Mütze verloren! Und draußen ist es sehr kalt.«

Sie nannte mich Icki, und ich liebte sie.

Die Anneliese Preute war eine sehr tüchtige Frau. Nach dem Krieg pflegten die Nachbarinnen in Neid und Bewunderung zu sagen: »Sie war so praktisch und so flink. Niemand war so schnell im Bunker wie sie. Sie hatte alle Taschen gepackt; alles stand neben der Haustür. Dann rannte sie mit den Kindern los, den Claus auf dem Arm, den Michael hinter sich herziehend.«

Meine Mutter – und dies ist mir sehr kostbar – sang immer. An zwei Lieder habe ich eine sehr deutliche Erinnerung. »Schenkt man sich Rosen in Tirol« hieß das eine. Das andere war: »Im Dom zu Kölle, zu Kölle am Rhein …« Es waren sehr schöne Lieder. Sie sang durchaus nicht fein und zart, sondern kräftig und mitunter wohl falsch. Aber sie sang! Viele Jahre später sagte sie einmal nachdenklich: »Es war eine sehr schlimme Zeit; aber ich war glücklich mit Papa. Gott, waren wir glücklich!« Ich kann mich an nichts erinnern, was mir das Gefühl so tiefer Geborgenheit gab, wie diese Frau, die immer gelassen und heiter schien – wohl auch war. Kein Grund, Furcht zu haben.

Es war wunderbar, mit ihr zur Höhensonne zu gehen, jene kleinen dunklen Brillengläser aufzusetzen, nackt ausgezogen zu werden und sich neben die nackte Mami legen zu dürfen. Wundersame Liebe.

Ich habe meinen Vater immer geliebt, nur unterbrochen von den Perioden jähen Hasses, die uns unser Bauch unnachsichtig diktiert. Welch ein Mann neben der rheinischen, spezifisch kölschen Frohnatur meiner Mutter. Er war schweigsam, ohne verbissen zu sein, er wusste recht viel von sich und den Menschen. Ein sanfter nachdenklicher Mann, der wie der Zauberer im Märchen eine Geste hatte, die ich in Zärtlichkeit nie vergessen werde: Er legte die Hand auf meinen Kopf und sagte behutsam: »Icki!« Und wo Aufregung gewesen war, kehrte Ruhe ein.

In jenen fieberhaften Perioden zwischen Leben und Tod war mein Vater eine sehr massive Mauer zwischen allen Gefahren und ausgelassener Kindheit. In meiner Erinnerung hatte er keine Furcht. Ich erinnere mich deutlich.

In einer Nacht im Bunker kam er und sagte, er wolle mir etwas zeigen. Es war uns Kindern Pflicht, lästiges Muss, in der Kasematte, die man uns zugeteilt hatte, zu verharren, gleichgültig, was geschah. Diesmal nahm mein Vater mich mit hinaus in die Nacht. »Sieh mal«, sagte er. Die Suchscheinwerfer der Flakgeschütze stachen helle Bahnen in den Himmel. Die Luft war erfüllt vom Dröhnen der Flugzeuge. »Sie suchen den Feind«, sagte mein Vater. Dann schossen die Geschütze, und er legte die Hand auf meinen Kopf. Davon träume ich heute.

Die Ahnung vom Tod konnten meine Mutter und mein Vater nicht fernhalten von mir. Es muss Nacht gewesen sein, sie müssen irgendetwas überhört haben, irgendetwas hat ihre reibungslos funktionierende Fürsorge übertölpelt.

Meine Mutter war angstvoll aufgeregt. Sie kam in das Kinderzimmer gestürzt, hatte alle ihre Anmut verloren, war keine schöne Frau, eher eine Hexe. Sie schrie irgendetwas, nahm meinen Bruder Claus mit großer Aggressivität an sich und lief hinaus. Mein Vater kam, riss mich hoch, erklärte nichts, war hart, nicht behutsam. Er schlang eine Decke um mich und sagte: »Lauf! In den Bunker! Los, lauf!« Mit der Decke konnte ich nicht laufen, ich stolperte. Mein Vater schrie: »Scheiße!«, riss die Decke zurück und brüllte mich an, ich solle hinter der Mama herrennen. Dann schrie er erneut »Scheiße!«, und ich muss verstanden haben, dass es Dinge gab, die mächtiger waren als er. Ich hatte Angst.

Wir hetzten die Straße entlang zum Bunker, und ich erinnere mich deutlich, dass meine Mutter ein paar Schritte vor mir weinerlich rief: »O Gott, o Gott, o Gott!« Es ging an jenem Eckhaus vorbei, das, vier Stockwerke hoch, für mich ein Hort mildtätiger Geschichten war. Unten im Erdgeschoss lag Heiners Gemischtwarenladen. Heiner war ein wunderbarer Mann, denn wenn Mami dort einkaufen ging, schenkte er mir Bonbons. Das Haus brannte und war nur noch der Rest eines Hauses. Es war ein Flammenmeer, aus dem nur noch die Seitenwände ragten. »Der Heiner!«, schrie mein Vater.

Da stand der Heiner wohl drei oder vier Stockwerke hoch auf der schmalen, kahlen Wand des Hauses, in dem er Kindern Bonbons geschenkt hatte, er hatte keine Chance.

Mami schrie: »O nein!«, dann griff sie nach meiner Hand und zog mich vorwärts. Und während Heiner in den Flammen krepierte, erreichten wir den Bunker. Ich habe geweint.

Wir hockten zu allen möglichen Zeiten aller möglichen Tage und Nächte in dem Bunker. Und wenn die Flugzeuge des Feindes Befehl hatten, Osnabrück oder das, was sie unter Osnabrück verstanden, anzugreifen, dann unterhielten sich die Erwachsenen im Flüsterton, als könnten die Piloten sie hören. Uns wurde bedeutet, ganz still zu sein. Und dann war da das helle »Klack-klack«. Jemand sagte: »Das sind die Brandbomben!«, damit war alles gesagt. In einer Nacht war es schlimm, und es ist müßig, das Datum aus irgendwelchen Archiven auszugraben. Es spielt keine Rolle. Wir saßen lange im Bunker und das »Klack-klack« war endlos, dazwischen jedoch dumpfe, tiefe, lange Laute. Irgendjemand sagte: »Luftminen.« Als wir uns – und ich erinnere mich an verbissenes Schweigen – in der Menge zum Ausgang drängten, sagte mein Vater: »Diesmal hat es uns wohl erwischt.«

In der Klöcknerstraße waren nur drei oder vier Häuser, unser Haus stand noch, auch das Haus der geliebten Ursula.

Aber das Haus meiner Fee war platt, ein Trümmerhaufen. Es waren Liebigs. Liebigs hatten eine Tochter, die mir älter erschien, als meine Mutter. Sie war schön, manchmal dachte ich, sie wäre eine jener unvergleichlich schönen Feen, von denen mir meine Mutter erzählt hatte.

»Die liegen drunter«, sagte mein Vater. »Ich muss den Luftschutz holen. Wir müssen buddeln.« – »Sie hatten die Nase voll davon, immer in den Bunker zu rennen«, sagte meine Mutter und sie weinte.

Das Haus der Liebigs war mit dem Dachgeschoss dreistöckig gewesen. Der Riese hatte die Hand daraufgestemmt und es zusammengequetscht. Es war halb so hoch wie das Erdgeschoss, ein Mehlberg aus Steinen und irgendwelchen Dingen, die ihre Form verloren hatten.

Meine Mutter schaffte uns fort. Irgendwann begannen die Männer und Frauen zu buddeln. Als die Liebigs gefunden wurden, waren sie sehr tot und sehr kaputt. Es gab nichts zu beerdigen von ihnen. Um ein gutes und angemessenes Begräbnis zu organisieren, legten die Leute ein paar Backsteine aus den Trümmern des Hauses in die Särge. Das reichte für die Zeit damals, das war schon sehr viel und sehr komplett. Die Fee hieß Annegret.

Meine Lieblingstante hieß Adda und hatte einen Mann, den ich Onkel Konrad nannte. Sie waren Apotheker und wurden, »weil der Osten Leute braucht«, nach Tilsit geschickt, um dort die »Bären-Apotheke« zu betreiben. Am 12.4.44 schrieb meine Mutter diesen Leuten folgenden Brief:

Liebe Adda und lieber Konrad!

Hier geht es seit 14 Tagen reichlich bunt zu, aber wir haben immer noch Glück gehabt, obwohl täglich Bomben fielen. Und nun nennt uns heute auch noch der blödsinnige Wehrmachtsbericht, obwohl es an anderen Tagen viel bunter zuging. Dazu hat Claus Masern, muss hochfiebernd in den Bunker bei Tag und Nacht, wo ich wie eine Aussätzige behandelt werde. Hoffentlich geht es gut mit dem Kinde. Ich bin von schlaflosen Nächten und Tagen halb tot. So weit seid Ihr nun fort. Hoffentlich gefällt es Euch.

Wenn wir noch leben, fahren wir Anfang Juni auf drei Wochen nach Kottenheim in die Eifel. Icki wird übrig bleiben! Geld ist für ihn genug da: zwei Lebensversicherungen beim Gerling-Konzern, Postsparbuch Osnabrück. Bei der Städtischen Sparkasse in Osnabrück, Abt. Schinkel, zwei Sparbücher auf Michael Preute, ein Sparbuch auf Claus Preute, ein Sparbuch auf Willy Preute. Ich hoffe so sehr, dass wir alle noch lebend und vergnügt Frieden feiern.

Anbei eine Aufstellung von den Sachen, die wir nicht im Hause haben: Bei Alice Rose in Ostereiden, Krs. Lippstadt, ein Paket mit echten Silbersachen, ein Paket mit Wäsche. Bei Hilda: ein Koffer mit Wäsche. Bei Frau Richertz: ein Anzug von Willy, ein Samtkleid von mir, ein Mantel von Icki. Im Bunkerzimmer: drei Pakete mit Wäsche und Kleidern, drei Mäntel von mir. Beim Bunkerwart im Maschinenraum: ein Vulcanfiberkoffer, ein Wollkleid, ein Morgenrock, zwei Anzüge von Willy. In Eile viele Küsse

Anneliese

Meine Mutter starb in ihrem 68. Lebensjahr, sie war sehr müde und hat nicht mehr leben wollen. Sie hat einfach aufgegeben und ist – eine Schüssel mit Ravioli in der Hand – gestorben. Einfach so.

Die zweiten Bunker

Ich hocke in diesem Bauernhaus, habe mich abseits gestellt, aus dem Leben mit meiner Familie herausgenommen, will allein sein. Ich bin sechshundert Kilometer weit in die Hocheifel gefahren, um herauszufinden, was den ersten Bunker meines Lebens mit jenem Bunker verbindet, dem ich jetzt auf der Spur bin.

Ich habe den Bunker der deutschen Bundesregierung recherchiert und bin verwirrt. Der Bunker ist wohl kein Bunker, der Bunker ist eine Stadt unter der Erde. Käme jemand über meinen Weg, um zu behaupten, die hätten da unten auch einen Puff geplant, so würde ich es zunächst glauben. Nichts an diesem Regierungsbunker ist undenkbar. Aber einen Puff werden sie nicht geplant haben. Ein Informant sagte mir: »Im Kriegsfall oder im Ernstfall wird kein Puff geplant. Der Krieg und der Ernst machen den Puff. Und Frauen werden die da unten haben und es wird kein Bedarf sein an strengen Moralbegriffen, wie Prostituierte sie haben. Denen da unten unter der Erde wird es mehr frommen und wohl auch mehr Vergnügen machen zu beobachten, wie Frauen zu Nutten werden. Sekretärinnen und Ehefrauen. Nein, die brauchen keinen Puff zu planen.«

Draußen scheint die Sonne, es ist sehr kalt, der Schnee ist blau. Ich habe schon drei Tage lang Holz für den Kamin geschlagen, denn bald werde ich keine Zeit mehr haben, die Vorratshaltung dieses alten Gemäuers zu beachten, der Stoff und das Thema werden mich einfangen und mich nicht mehr loslassen. Meine Frau sei gesegnet, die mir riet, den Stoff dort zu schreiben, woher er kam. Und gesegnet sei Inge, die sagte, sie werde mir ein solch altes Haus in der Einsamkeit vermitteln, auf dass ich mich wütend und verletzt auseinandersetzen kann mit dieser Konservendose aus Stahlbeton, die ein paar Kilometer von der Herrlichkeit dieser Landschaft entfernt in die Erde gebaut wurde. Die Konservendose, das ist ganz sicher, wird diese Landschaft kaputt machen. Aber denen, die drin sind, wird das gleichgültig sein. Sie wollen leben und wahrscheinlich werden sie leben. Ein bisschen.

Seit dem Zweiten Weltkrieg war ich ständig von Bunkern begleitet. Und bis heute haben mich Bunker nicht verlassen.

Im Krieg waren alle Bunker Löcher, in denen man sich versteckte, nach dem Krieg wurden sie Löcher, in denen wir Kinder spielten. Herrliche, grausame Löcher. Jahrelang bin ich als kleiner Junge durch die Ruinen der Musikschule an der Rolandsmauer in Osnabrück getobt, durch den offenliegenden, verrotteten Bunker darunter geschlichen. Nie habe ich die Angst verloren, hinter irgendeiner finsteren Biegung auf ein Skelett zu treffen – jene alten, nicht fassbaren Träume von Gewalt und Tod Wirklichkeit werden zu sehen.

Bunker gab es überall; die massiven, aus Beton gegossenen Giganten in der Stadt und die sehr naiv anmutenden, Unterständen gleichenden Schutzräume der Bauern im münsterschen Land. Sie waren gebaut wie eine Runkelrübenmiete, sie hatten etwas Rührendes. Ein tiefer Graben neben dem Bauernhaus, abgedeckt mit einer Lage oberschenkeldicker Kiefernstämme, darüber eine Lage Erdreich, das sich bald mit Gras und Blumen zusetzte. Und wer reich war, der legte die Baumstämmchen in zwei oder gar drei Schichten übereinander, und er war stolz auf seinen Hausbunker, nicht ahnend, dass jedes vom Himmel fallende Gewicht ihn glatt und einfach durchschlagen würde. Die Illusion war perfekt.

Allmählich wurden wir Kinder aus den Bunkern verdrängt, denn entweder wurden sie geschleift, oder aber man baute sie zu Nothäusern um, in denen jene schlafen und essen durften, die kein Dach über dem Kopf mehr hatten nach ihrer langen. Wanderung aus dem Osten. Dann kam eine Periode ohne Bunker, aber sie war so kurz, dass ich mich frage, ob ich denn je im Leben ohne Bunker gelebt habe. Die alten Bunker gab es noch. Und es gibt sie noch. Und mit dem Aufbau der Bundeswehr und der NATO wurden neue Bunker gebaut. So selbstverständlich, dass niemand auf die Idee kam, Bunker infrage zu stellen. Ich las Remarques IM WESTEN NICHTS NEUES und DIE GRUPPE BOSEMÜLLER und ich begriff, dass schon im Ersten Weltkrieg völlig klar geworden war, dass Bunker nichts nützten, nicht schützten vor Tod, ihn kaum verzögerten. Bunker sind etwas entsetzlich Nutzloses. Ich erinnere mich, über die Landung der Alliierten in der Normandie gelesen zu haben. Sehr süffisant und spottend ist es beschrieben, wie Soldaten der deutschen Wehrmacht sich sicher wähnten hinter meterstarken Mauern aus Stahlbeton, und wie die Stoßtrupps der Engländer, der Franzosen, der Amerikaner, der Kanadier sich einfach angesichts dieser arroganten Klötze in der Erde entschlossen, sie links liegen zu lassen, sie einfach zu umgehen – sofern es ihnen nicht in Wut und Hass gefiel, die deutschen Soldaten darin im Entsetzen einer Handvoll Handgranaten zu zerstückeln.

Wenig später gab es für mich Bunker in anderen Ländern. Ich sah die Bunker anderer Kriege, in Nahost und in Vietnam. Nie habe ich gehört, dass einer dieser Bunker nützlich war, den Tod wirklich verzögerte. (Wessen Tod sollen Bunker verzögern?) Angesichts der immer furchtbarer wirkenden Waffen war es dumm, so etwas zu glauben. Aber es war wohl auch sehr menschlich, immer wieder Bunker zu bauen, als könne man durch deren Existenz so etwas wie Sicherheit gewinnen.

Im Sommer 1983 kam Peter zu mir und sagte, er wolle in seiner »edition Nachtraben« ein Buch machen. Er sagte: »Ein besonderes Buch, eines über den Regierungsbunker. Willst du es versuchen?«

Ich war erstaunt, denn ich dachte, dass über einen Regierungsbunker hierzulande nichts zu schreiben sei, weil alles geschrieben ist. Aber nichts ist darüber geschrieben worden, weil niemand etwas wissen will und weil deshalb niemand etwas weiß. Aber ich denke, dass sie wissen sollten, was da an der Ahr in der Erde liegt. Denn es gibt, nach meinen Recherchen zu urteilen, in diesem Land nur einen Punkt, an dem man einen Atomkrieg mit großer Wahrscheinlichkeit überleben kann. Der Punkt ist der Regierungsbunker an der Ahr vor den Toren der Hauptstadt Bonn.

Die Bevölkerung hat durchaus das Recht zu erfahren, wie diese Stadt unter den Rotweinbergen aussieht, denn sie hat der Regierung diesen Bunker geschenkt, oder vielmehr hat sich die Regierung die Geldmittel geholt, um dieses Ding zu bauen. Aber die Bevölkerung wird dort keinen Schutz finden, denn sie darf nicht hinein. Es ist ein Bunker für die sehr privilegierten Leute dieses Landes.

So kann ich auch für all jene schreiben, die auf höchst geheimen Listen zu den auserwählt Lebenden der langen Atomnacht gehören sollen. Sie wissen noch nicht, was sie erwartet. Aber ich wünsche ihnen viel Vergnügen …

Der dritte Bunker

6. Dezember 1983

Sich erneut in den Dunstkreis eines Bunkers oder der Idee eines Bunkers zu begeben, war ganz einfach. Peter hatte angerufen und gesagt, dass er mit vielen Buchhändlern überall in der Bundesrepublik gesprochen habe. »Die Leute warten auf überzeugende Sachen. Sie warten halt mal wieder auf so einen richtigen Knüller. So etwas fehlt. Und der Bunker der Bundesregierung ist sicherlich ein sehr gutes Thema.«

»Das ist aber verflucht schwer, derartige Erwartungen zu erfüllen. Gute Texte sind selten.«

»Versuch es und gehe an den Bunker ran.«

Ich fuhr um drei Uhr nachmittags in München los, das Wetter war grau, mit gelegentlichem Regen, Bayern 3 versprach Schnee in den Regen. Der EG-Gipfel in Athen tagte, der Sprecher sagte, dass man wenig Hoffnung habe, Europa dort zu retten. Europa werde Weihnachten pleite sein.

Ich erinnerte mich, dass der STERN vor vielen Jahren einmal etwas über diesen Regierungsbunker geschrieben hatte. Der SPIEGEL hatte ihn mehrfach erwähnt. Ich würde mir diese Unterlagen besorgen müssen. Dann gab es noch eine Notiz aus einer Nachrichtensendung des ersten oder zweiten Kanals. Sie hatten von oben gefilmt – einige Bundestagsabgeordnete beim Betreten des Bunkers aufgenommen. Die genaue Nachrichtenlage, die mit diesem Filmchen zusammenhing, fiel mir nicht ein. Aber wenn sie aus so kompliziertem, weil nichtssagendem Winkel gefilmt hatten, dann musste irgendetwas an diesem Bunker höchst geheim sein. Wahrscheinlich war es seine bloße Existenz. Das würde passen zu dem, was man hierzulande als »Staatsgeheimnis« waltet.

Ich hatte über die Bunker der amerikanischen Regierung gelesen. Da blieb kaum etwas offen, vielleicht noch die Frage, ob der US-Präsident auf einem Pferd in den Bunker reiten kann.

Ich dachte an Bunker in Israel, irgendwo sonst im Nahen Osten, in Vietnam. Sie alle wirkten sehr bedrohlich auf mich, weil sie die Realität des Lebens außerhalb nicht anzuerkennen brauchen – nach dem Gemüt ihrer Erbauer wohl auch nicht anerkennen sollen.

Was wollen die Regierenden in Bonn mit einem Bunker? Sind sie so arrogant anzunehmen, dass die Existenz eines Bunkers irgendetwas an der Weiterexistenz dieses Landes oder dieser Welt ändern kann? Ich musste versuchen, objektiv an diesen Bunker heranzugehen, Tatsachen zu sammeln und zu entscheiden, wenn es Tatsachen gab. Ich wusste: Ich hatte gewisse Einsichten in das Wesen von Bunkern und sollte nicht versuchen, objektiv zu sein – nur ehrlich.

In Höhe Günzburg war plötzlich Schnee im Regen und sehr bald kamen mir auf den Gegenfahrbahnen die ersten Streufahrzeuge entgegen. Ich war dankbar, dass die Fahrt durch Schneeglätte oder Glatteis möglicherweise langwierig werden könnte. Langsamkeit war etwas, was mir bei einem Regierungsbunker von Vorteil sein konnte. Die Landschaft war weiß, der Schnee blieb zunächst liegen. Dann war die Fahrbahn glatt und ich bremste herunter auf eine vertretbare Geschwindigkeit. Bei Merklingen/Münsingen kam Nebel hoch. Ich kroch und pfiff den Basin-Street-Blues und fragte mich, wen die Regierung nach erfolgreichem Überleben denn regieren wolle.

Es war ein sehr plastisches Bild: der außerordentlich stattliche Bundeskanzler Kohl lässt sich von einem Bundeswehrsoldaten eine Panzertür beiseiteschieben, blinzelt in die Atomnacht, hebt an zu sprechen, spricht: »Die Würde des deutschen Volkes ist in jedem Fall gewahrt geblieben …« Will weitersprechen, stutzt und sagt dann erstaunt in bleiche Gesichter hinter sich: »Ei, da ist ja niemand …«

Punkt 16.38 Uhr fuhr ich, gewarnt von einem freundlichen Rundfunkmenschen, in einen Stau vor Stuttgart. Der Mann, der rechts neben mir anhielt, zog die Achseln sehr hoch und blinzelte mich lächelnd an. Deutsche in Dosen.

Der Rundfunk meldete an erster Position, dass der Athener Gipfel geplatzt sei, dass unser Bundeskanzler aber die Hoffnung nicht aufgegeben habe.

21 Uhr war ich in Bad Breisig. Zu diesem Ort habe ich eine Beziehung. Mein Großvater, der Josef Preute, starb da, nachdem er seine letzten Lebensjahre vornehmlich lachend beim Weintrinken mit den katholischen Pfarrern aus der Umgebung verbracht hatte. Jetzt lebt mein Vater dort. Ich mag sie beide sehr. Von hier aus zu Peter in die Eifel war es nicht weit, von hier aus war es auch nicht weit an die Ahr, wo sich dieser gottverdammte Regierungsbunker befindet, der eine Klammer in meinem Bauch war, obwohl ich noch nicht das Geringste über ihn wusste. Aber natürlich war ich voreingenommen.

Ich hatte ein Zimmer in einem Hotel bestellt. Das Hotel wirkte so tot wie eine Ruine. Auf dem Parkplatz stand kein Auto, die Schwingtür war zu, in den Fenstern kein Licht. Ich schellte und die alte Dame öffnete mir mit verkniffenem Mund. »Nichts los«, sagte sie, »absolut nichts los vor Weihnachten. Das ist jedes Jahr so, und jedes Jahr hoffe ich, dass es nicht so sein wird. Wo kommen Sie her? Honolulu?«

»Nein, aus München.«

»Das ist dasselbe«, sagte sie missmutig. »Hier, nehmen Sie Ihren Schlüssel, der Hausschlüssel hängt dran. Wie geht es dem Vater?«

»Gut, soweit ich weiß.«

»Ja, ja, wir alten Leute. Aber Ihr Vater kriegt wenigstens noch Besuch.« Dann sauste sie davon, möglicherweise spielte sie Bridge mit irgendwem, und wahrscheinlich verlor sie seit Stunden, weil sie einen schlechten Partner hatte. Ich mag Bridge nicht.

Es war niemand im Hotel, ich war der einzige Gast. Ich schleppte die Koffer und die Schreibmaschine hinein und richtete das Zimmer her. Das ist wichtig für mich, eine Übung, die ich seit vielen Jahren mache. Ich richte jedes Hotelzimmer für mich ein. Ich verrücke die Möbel, stecke den Akku für mein kleines Batterie-Diktiergerät in eine Steckdose, ich stelle die Schreibmaschine auf den Tisch, ich nehme 100-Watt-Birnen aus meinem Reisezubehör und schraube sie in die Fassungen, um dadurch den Spartrieb des Hoteliers zu unterlaufen. Ich lege einen Stoß weißen Papiers neben die Maschine, als wolle ich augenblicklich loslegen. Das Zimmer muss etwas von mir haben.

Ich duschte und zog mich um. In diesem Hotel wollte ich nichts essen und fuhr zu Peter in den alten Eifel-Bauernhof. Es ist ein düsteres Gebäude in einer schmalen Straße, ein hohes lichtgrünes Tor am Eingang wirkt unfreundlich. Da war plötzlich die Assoziation Bunker.

Ich lernte Peters Frau kennen, die Gudrun. Sie sollte Mitte Januar ihr Kind kriegen. Ich wusste nichts von ihr, ich hatte sie nie gesehen. Nur einmal hatte er gesagt: »Eine starke Frau.« Sie war sehr hübsch und wirkte mütterlich mit ihrem dicken Bauch. »Hallo«, sagte sie.

»Irgendetwas Neues vom Bunker?«, fragte er.

»Ich weiß nichts. Ich will mich auch vorher nicht großartig informieren. Wir werden alles herausfinden, wenn es irgendetwas gibt.«

»Wir dachten, du packst deine Sachen aus und schläfst hier. Du kannst oben in meinem Arbeitszimmer schlafen und schreiben.«

»Das ist nicht so gut«, sagte ich. »Ich habe ein Zimmer in einem Hotel in Bad Breisig. Zuweilen will ich nachts nachdenken und schreiben. Und beides macht Lärm.«

»Ja, das kann ich verstehen«, sagte Gudrun.

Sie machte mir etwas zu essen und ich rief zu Hause an, um zu sagen, ich sei gut angekommen. Später gab es Kaffee und wir sprachen über den Bunker, von dem wir noch nichts wussten.

»Wie willst du vorgehen?«, fragte Peter.

»Das ist ziemlich einfach. Ich fahre hin und sehe mir an, was davon zu sehen ist.«

»Gleich kommt mein Partner, der Georgie«, sagte Peter. »Können wir mit, oder stört dich das?«

»Es stört mich nicht im geringsten. Du solltest wissen, woran du bist. Es ist auch dein Buch.«

»Ich habe mir den STERN geben lassen. Hier ist die Sache über den Bunker. Viel steht wahrhaftig nicht drin. Es sieht aber so aus, als habe der Autor viel mehr gewusst, als er geschrieben hat.«

»Das sind mir Autoren«, sagte ich. »Ich werde es lesen, wenn ich im Bett liege.« Später kam Georgie, ein junger Mann, der einen sehr aufmerksamen Eindruck machte. »Wir sind schon im vorigen Jahr um den Bunker gegangen, der macht sich sehr geheimnisvoll.«

Wir plauderten harmlos dahin, bis ich um zwei Uhr in der Nacht zurückfuhr nach Bad Breisig. Bevor ich schlafen ging, zog ich die Badehose an und schwamm im Untergeschoss ein paar Runden. Ich las die Bunkergeschichte im STERN nicht mehr. Wenn irgendetwas von Bedeutung dringestanden hätte, wäre ich von Peter informiert worden.

In dieser Nacht konnte ich schlafen, wenngleich ich einer alten Gewohnheit folgend um sieben Uhr aufwachte. Ich sagte am Telefon, ich hätte einen Mordshunger auf ein Frühstück mit allem Drum und Dran. Dann rief ich meinen Vater an und sagte, dass ich im Lande sei, und ich sagte ihm auch, weshalb. Er schwieg lange und meinte: »Das kann eine gefährliche Geschichte werden, pass bloß auf dich auf. Aber es wird wahrscheinlich auch eine gute Geschichte.«

Die Frau, die er nach dem Tod meiner Mutter geheiratet hatte, die Elisabeth heißt, die eine Malerin ist, die zu wenig malt, die ich meine Freundin nenne, sagte besorgt: »Und was mache ich, wenn sie dich einsperren?«

»Dann schickst du mir das Essen in den Knast.«

»Ja, wenn man das darf, dann tue ich das.« Sie lachte und war erheitert.