image

Bisher von der Autorin bei KBV erschienen:

Novembernebel

Das Fenster zum Zoo

Tot und begraben

Auszeit

Schwarze Schafe

Wildflug

Mord im Eifel-Express

Spiel mir das Lied vom Wind

Tote gehen nicht den Eifelsteig

Die Eifel sehen und sterben

Nirgendwo in der Eifel

Sechs in der Eifel

Atemnot

Eifelmädchen

Seit 1998 schreibt Carola Clasen Kriminalromane, die in der Eifel spielen. Eifelmadonna ist ihr zehnter Roman mit der eigenwilligen Kommissarin Sonja Senger. Auch mit ihren Kurzgeschichten und Lesungen hat Carola Clasen sich einen Namen in der Region gemacht. Die »Queen of Eifel-Crime« lebt und arbeitet in Köln.

Carola Clasen

Eifelmadonna

image

Originalausgabe

Nicht zu wissen, wonach man sucht,
kann die Suche ungemein erschweren
.

Haruki Murakami

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

Prolog

13. Mai 1995

Die Muttergottes der Blühenden Lilien!«, ruft Großmutter und zerrt Anna hinter sich her, über den Mittelgang der kleinen Wallfahrtskirche St. Gertrud von Barweiler zum Altar. Ihre Schritte hallen auf dem Steinfußboden. Ein schwaches Licht fällt durch die Buntglasfenster. Der Duft nach Kerzen und Weihrauch schwebt im Gewölbe.

Großmutter fällt vor dem Altar auf die Knie und zieht Anna zu sich heran. Über Kerzen und frische, weiße Lilien hinweg blicken sie auf zu einem dunklen, goldverzierten Altargewölbe, in dem eine Marienfigur in goldenem Kleid und blauem Umhang steht. Auf dem linken Arm trägt sie das nackte Jesuskind, in der rechten Hand eine Lilie aus Holz oder Stein. Beide tragen goldene Kronen. Der Duft der Lilien ist betörend und das Gold leuchtet.

Anna ist noch nie hier gewesen.

Großmutter zupft an Annas Ärmel. »Im Sommer des Jahres 1726«, flüstert sie, und ihre kleinen, dunklen Augen glühen vor Begeisterung, »also vor fast 300 Jahren, da steckten die Mädchen aus dem Ort der Muttergottes eine frische Lilie in die rechte, freie Hand, ließen sie dort stecken und verdorren. Im September des gleichen Jahres, an Mariä Geburt, begann die Lilie plötzlich wieder zu blühen. 15 Knospen an einem einzigen Stängel.«

Anna glaubt ihrer Großmutter jedes Wort, sie ersetzt ihr Vater und Mutter.

»Es war ein Wunder!«

»Ein Wunder«, wiederholt Anna ergriffen. Und sie wünscht sich, es würde noch einmal geschehen. Jetzt.

Aber Maria blickt nur lächelnd auf sie hinab.

Erst im Traum kommt das Wunder zu Anna. Sie ist in einem Wald unterwegs – ganz allein –, und der Mond scheint durch die Wipfel der Bäume. Sie ist hungrig, müde, voller Angst und hat sich verlaufen. An einer Wegkreuzung, als sie nicht weiß, wohin sie sich wenden soll, taucht SIE plötzlich auf. Eine leibhaftige Maria – in einem hellblauen, langen Gewand über einem weißen Kleid, einem lieblichen Gesicht, umgeben von goldenem Licht. In ihren schmalen Händen hält sie eine weiße Lilie, an der sich 15 Knospen langsam öffnen.

Mit sanfter Stimme spricht sie: »Folge mir, Anna!«

Und Anna folgt ihr, wird aus dem Wald hinaus bis zu einer Kapelle auf einem Hügel geführt. Das Tor steht offen. Eine Stimme singt ein Lied. Maria führt sie über den Mittelgang zum Altar.

»Knie nieder, Anna!« Sie legt ihr eine Hand auf den Scheitel.

Anna senkt den Kopf. Ihr wird schwindelig, und sie hat das Gefühl zu schweben. Dann hört sie die Stimme wieder.

»Anna! Suche nicht mehr, denn du hast schon gefunden.«

Als sie den Kopf hebt, trägt die hellblaue Marienfigur auf dem Altar eine weiße Lilie in ihren Händen. Die Knospen sind voll erblüht, und ein betörender Duft umweht sie. Anna blickt sich um, sie ist allein. Maria, die sie hergeführt hat, ist verschmolzen mit der Maria auf dem Altar – und aufgestiegen.

Lächelnd blickt Maria auf Anna hinab und sagt: »Du bist die Braut des Herrn, Anna.«

Von da ab weiß Anna, was sie werden will. Sie trägt das Geheimnis tief in sich verschlossen, es macht sie froh und zuversichtlich, und dennoch wünscht sie sich nichts sehnlicher, als jemanden zu finden, dem sie sich anvertrauen kann.

Ein Jahr später ist sie 14 Jahre alt und auf einer Jugendfreizeit auf der Insel Ameland – zusammen mit einer weiteren Jugendgruppe aus einer anderen Pfarrgemeinde. Einer der Betreuer heißt Jonas. Er ist Pastoralreferent, hat ein weiches, liebevolles Gesicht und hellblaue Augen, die leuchten, als wären sie durchsichtig.

Die beiden Wochen sind fast zu Ende. Es ist ein besonderer Moment. Alle sind am Strand. Anna hat eine fiebrige Erkältung und muss zurückbleiben. Jonas bietet an, bei ihr zu bleiben, um sie zu pflegen. Er sitzt auf einem Hocker an ihrer Campingliege. Er kocht Tee für Anna und legt ihr einen kalten Waschlappen auf die Stirn. Er liest ihr etwas vor und singt und betet leise, wenn er denkt, sie schlafe.

»Hast du Sorgen, Anna?«, fragt er sie, als sie die Augen aufschlägt. »Du kannst mir alles sagen. Es bleibt unter uns.« Er steht auf, setzt sich an ihre Bettkante und legt seine Hand auf ihren Arm. »Ich sehe doch, dass dich etwas bedrückt, meine Liebe.«

Ihre Kehle ist wie zugeschnürt. Sie fürchtet, dass er ihr Geheimnis schon entdeckt haben könnte.

Er beugt sich zu ihr herab, kommt ihrem Gesicht so nah, dass sie seinen Atem spürt. »Nun?«

»Ich möchte Nonne werden«, sagt Anna leise – so leise, dass sie hofft, er würde es nicht hören können.

Da geht ein Strahlen über sein Gesicht. Er legt beide Hände um ihre heißen Wangen. »Aber das ist doch wundervoll, Anna. Ich habe gleich gesehen, dass du etwas Besonderes bist.«

Stockend erzählt sie ihm von ihrem Traum.

Als sie geendet hat, nimmt er ihre schweißnassen Hände in seine und faltet sie zum Gebet. »Du musst dieser Stimme folgen, Anna«, sagt er. »Nur wenige sind auserwählt.«

Anna hält den Atem an.

Er weist sie nicht zurück. Er lacht sie nicht aus. Er nennt sie nicht ein dummes, verrücktes Mädchen. Er beugt seinen Kopf und sagt: »Du bist es, Anna.«

Heiß und kalt wird ihr.

»Lass uns beten, Anna!«, fordert er sie auf, und sie beten gemeinsam.

Aber plötzlich zieht sich seine Stirn sorgenvoll zusammen.

»Was ist?«, fragt sie aufgelöst. Was hat sie verkehrt gemacht?

»Es ist so«, beginnt er, als müsste er ihr etwas schonend beibringen. »Du weißt, dass die Kirche prüfen muss, ob du würdig bist.«

Sie nickt aufgeregt, ohne zu wissen, was er meint. Ein Zittern durchläuft ihren Körper.

»Die Kirche muss prüfen, ob du nicht unrein bist.«

Wieder verständnisloses Nicken. Sie wird alles tun, was er will.

»Ich kann verstehen, wenn du Angst davor hast.«

Annas Mund ist wie ausgetrocknet. Sie hat große Angst davor, nicht würdig zu sein. Sie hat keine Angst vor Jonas.

»Möchtest du, dass ich das mache?«

Ihr Nicken ist so heftig, dass ihr ein Schweißtropfen aus den vom Fieber verklebten Haaren rinnt.

»Gut«, sagt er.

1. Kapitel

Genau zwanzig Jahre später, am frühen Nachmittag des 13. Mai, hielt ein Auto vor dem Forsthaus am Ende der Stromleitung in der kleinen Ortschaft Wolfgarten mitten im Nationalpark Eifel. Als ein Mann in einer blauen Weste ausstieg und versuchte, einen Briefumschlag im rostigen Briefkasten am Jägerzaun unterzubringen, winkte Frieda Stein ihm vom Fenster aus zu und lief zu ihm hinaus.

»Besser, Sie geben mir den Brief, die Klappe klemmt nämlich.«

»Verstehe. Sind Sie denn Hauptkommissarin Sonja Senger?«

»Na, wer denn sonst?«, behauptete Frieda mit einem Lächeln und rechnete fest damit, dass ihre Lüge sofort entlarvt würde.

Aber der Briefträger schien entweder neu zu sein, oder er interessierte sich nicht für seine Kundschaft, denn er reichte Frieda anstandslos den Umschlag. »Frohe Pfingsten!«, rief er, ehe er wieder in sein Auto stieg.

»Auch so.« Frieda drückte die Haustüre fest hinter sich zu, während sie den Umschlag in Augenschein nahm: Handschrift, Großbuchstaben, Druckschrift, schwarz, kein Absender. Die Briefmarke erinnerte an das 350-jährige Bestehen der Kieler Universität. Der Stempel war so blass, dass weder das Briefzentrum noch das Datum zu entziffern waren. Es war nicht nur die weibliche Neugier, die Frieda antrieb. Obwohl sie noch nicht lange Kommissarin war, gehörte ein kritisch-aufmerksames Betrachten aller Dinge schon zu ihren Gewohnheiten. Aber dieser Brief war eine Enttäuschung, Frieda warf ihn vor die Pfoten des Katers West, der auf dem Esstisch thronte. »Für dein Frauchen.«

West beroch ihn prüfend, befand ihn für nicht essbar und wandte sich wieder seinem Innenleben zu. Er schloss die Augen und ließ sich weiter von den Sonnenstrahlen wärmen, die durch das Fenster auf den Tisch fielen.

Ratlos blickte Frieda in dem Durcheinander umher, das sich seit zehn Tagen, ihrem Dienstantritt als Haushüterin, wie von selbst in dem kleinen Forsthaus angesiedelt hatte. Sonja Senger fehlte an allen Ecken und Enden, ohne sie war einfach keine Gemütlichkeit zu schaffen.

Kriminalhauptkommissarin a. D. Sonja Senger war Friedas Vorgängerin in der Mordkommission der Polizeibehörde in Euskirchen, und im Laufe der letzten beiden Jahre waren die beiden Frauen so etwas wie Freundinnen geworden. Ein nur auf den ersten Blick ungleiches Paar. Sonja Senger war unfreiwillig pensioniert, Frieda stand als ihre Nachfolgerin am Anfang ihrer Polizeikarriere. Sonja war mit den Jahren kleiner und runder, grauhaarig und müder geworden, Frieda überragte sie, war schlank, trug ihre schwarzen Haare kurzgeschnitten, war taff und lebte für ihre Arbeit. Dennoch hatten sie einander viel zu geben. Frieda stellte Sonjas letzte Verbindung zur Mordkommission dar, und Frieda profitierte ihrerseits von Sonjas langjähriger Erfahrung als Kriminalkommissarin. Mehrere Fälle hatte Frieda mit Sonjas Hilfe bereits lösen können. Außerdem warf Frieda handwerkliches Geschick in die Waagschale, das im Forsthaus dringend benötigt wurde. Sonja hätte Friedas Mutter sein können, war aber alles andere als mütterlich. Und das war gut so.

Plötzlich und unerwartet hatte Sonja Senger sich entschlossen zu verreisen. Und Frieda hütete nun das Forsthaus und den Kater.

Es lag nicht an der Unordnung und nicht daran, dass Frieda noch keine Struktur in ihr vorübergehendes Domizil hatte bringen können. Sonja Sengers Schränke waren voll, übervoll, sodass Frieda nichts anderes übrig blieb, als ihre Habseligkeiten offen zu lagern. Sie vermied es, für jede Kleinigkeit ins Dachgeschoss zu klettern, sondern begab sich dorthin nur zum Schlafen. Ihr Koffer blieb unten, aufgeklappt neben dem Ohrensessel. Er war vollständig durchwühlt.

Das Cello, ein Leihinstrument der Musikschule Euskirchen, lehnte auf seinem Stachel in einer Zimmerecke. Das dunkle Holz schimmerte glänzend. Die gefütterte Hülle für den Transport, der Bogen und ein Notenheft Cellospielen leicht gemacht, Band 1 lagen auf der Fensterbank. Der Notenständer musste stets zusammengeklappt sein, weil der Kater ihn sonst als Turngerät benutzte. Seit einem halben Jahr nahm Frieda Unterricht. Cellospielen war ein lang gehegter Wunsch, den sie sich endlich erfüllte – entgegen allen Ratschlägen, denn ihr linkes Ohr war nach einem Sportunfall während ihrer Ausbildung fast ohne Funktion. Es hieß, sie sei unmusikalisch. Aber Frieda liebte es, das lange Griffbrett in der Hand zu halten und über den bauchigen Körper zu streichen. Und wenn es ihr gelang, dem Instrument einen warmen, vollen und richtigen Ton zu entlocken, hatte sie das Gefühl, ein Wunder vollbracht zu haben.

Offiziell wusste niemand von diesem künstlerischen Experiment. Außer Sonja Senger. Kommentare jeder Art wollte Frieda sich gern ersparen. Natürlich konnte es auch ihren Nachbarn in Euskirchen nicht entgangen sein. Der selbst ernannte Hausmeister für den kurzen Abschnitt der Reinaldstraße, der jenseits der Theodor-Nießen-Straße lag, hatte sie bereits mehrfach auf die Einhaltung der Ruhezeiten aufmerksam gemacht.

Über den Essstühlen hingen ihre abgelegten Kleidungsstücke, schwarz das eine wie das andere. In einem Plastiksack verbarg sich Schmutzwäsche, und auf dem Esstisch stapelten sich Papiere, Stifte, zwei Aktenordner, Notebook, Stick, CDs und Ladegerät. Ein weißes Stromkabel schlängelte sich nach irgendwo, zumeist hockte West mittendrin. Und nun lag auch der Brief für Sonja Senger dort.

Frieda setzte sich zu West, klappte ihr Notebook auf, klickte auf ihren Browser, obwohl sie wusste, was geschehen würde. Das WLAN konnte keine Verbindung zum Internet herstellen. Das Smartphone war ebenso wenig dazu in der Lage. Die Sendemasten waren einfach zu schwach. Keine Anrufe, keine Mails. Frieda seufzte. Das schnelle Internet auf dem Lande war und blieb ein Traum, den die Telekom aus unerfindlichen Gründen nicht erfüllen konnte – oder wollte sie es nicht?

Frieda trat an die Spüle, wo sich das schmutzige Geschirr der letzten Tage türmte. Sie ließ heißes Wasser ins Becken, gab einen Spritzer Spülmittel hinzu und tauchte zwei Kaffeebecher unter, während sie über das einfache Landleben philosophierte. Ein Leben, das nichts für sie war. Noch nicht. Vielleicht später einmal, wenn sie müde und satt von der Hast und dem Lärm der Stadt geworden war. Wenn das Alleinsein ihr mehr zu bieten hatte als Einsamkeit, wenn Stille sie erfüllte, anstatt sie zu bedrohen.

Das leise, aber beständige Gegacker der Hühner, die ein Tierfreund nebenan in einem blauen Bauwagen mit kleiner Auslauffläche hielt, die wenigen Worte mit dem Briefträger – man wurde genügsam auf dem Land. Ab und an erspähte Frieda jenseits der Löwenzahn- und Butterblumenwiese einen Spaziergänger, Förster, Waldarbeiter oder Bauern, einmal glaubte sie sogar, die berühmte »Weiße Frau« am Waldrand vorüberhuschen zu sehen. Man wurde zum Landneurotiker. Frieda räumte das Geschirr weg, hängte das nasse Handtuch auf, ließ sich wieder am Tisch nieder und zog einen der beiden Aktenordner zu sich heran.

Sie vermisste Sonja.

Die gemeinsamen Gespräche – im letzten Winter am grünen Kachelofen, bei gutem Wetter draußen auf der alten Ofenbank, die Streifzüge bis hinunter nach Gemünd, um dort im Brauhaus ein Bier zu trinken, ein Eis zu essen oder die Auslagen in den Geschäften zu betrachten und sich über den Retro-Chic zu amüsieren. Frieda vermisste es, Sonja neben sich zu wissen, wenn sie Cello übte, und aus den Augenwinkeln ihr zustimmendes Lächeln wahrzunehmen, wenn sie sich verspielte, und den kleinen Applaus, wenn sie eine Etüde ohne Patzer zu Ende brachte.

Frieda begann, die letzten Vermerke im Aktenordner noch einmal zu lesen und nach Eingang und Bearbeitung in ihrer Dienststelle zu sortieren. Es handelte sich um die Berichte und Protokolle zu einem Todesfall, der nicht eindeutig zu klären war. Frieda war auf der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen, dem entscheidenden Widerspruch zwischen der Aussage des Sohnes der alten Dame, die in ihrem Bett gestorben war, den Befunden des Rechtsmediziners und der Spurensicherung. Der Sohn hatte sich im Verhör seltsam unberührt vom Tod seiner Mutter gezeigt. Ein möglicher Hinweis auf eine Verstrickung, wie es Frieda schien. Obwohl sie selbst kein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter hatte – zu ihrem Vater freilich auch nicht – würde deren Tod ihr Leben aus den Angeln heben.

Des Katers Schnurren, ab und an das Knacken eines Dachbalkens oder einer Holzdiele, das Rascheln der Papiere und das Kratzen des Stiftes waren die einzigen Geräusche im Forsthaus. Frieda bemerkte nicht, wie die Zeit verging. Erst als es zu dunkel wurde, um die kleingedruckten und vielfach kopierten Berichte lesen und sich Notizen machen zu können und die Wohnküche nur vom bläulichen Licht des Bildschirms erleuchtet wurde, blickte sie auf und aus dem Fenster.

Der Abend eines ungewöhnlich warmen Maitages war über Wolfgarten hereingebrochen. Die Blumenwiese wurde ganz allmählich in ein blau-graues Licht getaucht, dünne Nebelschwaden hingen über den dunklen Waldrändern. Ein Mond war nicht auszumachen. Weder als Sichel noch als Ball. Weder abnehmend noch zunehmend. In keiner Form.

Es war kurz nach 22 Uhr, und Frieda hatte noch keinen neuen Hinweis entdeckt, der es ihr erlaubte, den Sohn der Toten noch einmal zu befragen. Enttäuscht klappte sie den Aktenordner zu und merkte, dass sie fror.

Sie machte sich einen grünen Tee und zog ihre schwarze Strickjacke über. Und dann funktionierte das WLAN plötzlich wieder. Reine Willkür der Telekom? Erleichtert rief Frieda ihr Mailprogramm auf. Das gurgelnde Geräusch des Rechners war vielversprechend. Das Ergebnis waren vier neue Mails. Keine von Sonja Senger, leider. Auch wenn das so abgemacht war, hatte Frieda heimlich gehofft, dass Sonja sich nicht daran halten würde. Eine Mail stammte von Friedas Mutter, die hatte Zeit. Zwei kamen von ihrer Dienststelle.

In der Sekunde, in der Frieda die erste Dienst-Mail öffnen wollte, sprang West wie von einem Pfeil getroffen auf und stob mit einem Hechtsprung und einem Aufschrei davon. Frieda blickte ihm verdutzt nach, als plötzlich ein ohrenbetäubender Knall die Stille zerriss. Mit ihm flogen ihr Glassplitter wie spitze Geschosse um die Ohren, sie fuhr zurück, ihr Kopf schlug in den Nacken, sie verlor das Gleichgewicht und kippte hinterrücks vom Stuhl.

Ein zweiter Donnerschlag.

Als dessen Echo verhallt war und kein weiterer folgte, rollte Frieda mit angezogenen Knien zur Seite, rappelte sich auf und linste vorsichtig über die Tischplatte, die von winzigen Glassplittern übersät war. Die mittlere Scheibe eines der Sprossenfenster gegenüber ihrem Sitzplatz war zersprungen. Am Fensterrahmen ragten spitze Scherbenreste einem kreisrunden Loch entgegen. Die Nacht hatte das Fester in einen dunklen Spiegel verwandelt, in dem Frieda sich sah.

Schüsse! Das konnten nur Schüsse gewesen sein. So zielgerichtet und punktgenau auf ein kleines Fenster, das konnte kein anderes Geschoss leisten. Mit der Sensibilität eines Seismographen hatte der Kater die Gefahr rechtzeitig wahrgenommen und sich in Sicherheit gebracht. Wo steckte er jetzt? War er verletzt?

Friedas nächste Sorge galt ihrem geliebten Cello. Aber das stand unversehrt in der Zimmerecke. Es hatte keinen Ton von sich gegeben. Erleichtert schob Frieda ihr Smartphone in die Jackentasche, kroch auf Knien durch die Glassplitter zu ihrem Koffer, in dessen Seitentasche sie ihre Pistole verwahrte. Sie steckte sie in den Hosenbund und robbte in den Flur.

Die Haustür stand halb offen. Diese verdammte Tür! Deren Schloss klemmte und die man von außen nur öffnen konnte, wenn man sich dreimal dagegen warf. Wie oft hatte sie Sonja bedrängt, das Schloss zu reparieren – so lange, bis Sonja einige Wochen zuvor endlich ein Zugeständnis gemacht hatte. Ein Pyrrhus-Sieg. Frieda durfte innen einen Riegel anbringen.

Innen, fluchte Frieda jetzt, was nichts nutzte, wenn man das Haus verließ oder vergaß ihn vorzuschieben, nachdem man es betreten hatte. So wie es vorhin geschehen sein musste, als sie mit dem Brief an Sonja beschäftigt war.

War der Täter jetzt im Haus? Frieda stellte das Atmen ein und horchte. Nichts! Nichts? War es nur das alte Forsthaus, das seine üblichen asthmatischen Geräusche von sich gab? Oder war es ein menschliches Wesen, das den Atem nicht anhalten konnte?

Wohnküche, Abstellraum, Schlafzimmer und Bad. Mehr Verstecke gab es nicht im Erdgeschoss. Die Wohnküche entfiel. Der Abstellraum auch, er war bis auf den letzten Kubikzentimeter voller Gerümpel. Niemand konnte ihn geräuschlos betreten.

Frieda blieb auf Knien, während sie den Kopf vorsichtig aus der Haustür hinausstreckte. Drüben im Dorf leuchteten die Straßenlaternen wie Glühwürmchen. Nebenan im Hühnerwagen herrschte ängstliche Ruhe. In der Luft hingen Dunkelheit, feuchte Kälte und eine völlige Stille wie auf der Rückseite des Mondes. Nichts und niemand war zu sehen. Das Gartentor war verschlossen. Als wäre alles nur ein Ausschnitt aus einem Film in ihrem Kopf gewesen. Cut. Die Szene war im Kasten.

Und dennoch hatte sie das Gefühl, dass sie jemand aus der Ferne beobachtete. Eine Zielscheibe in der offenen Haustür zu sein, war keine gute Idee. Frieda zog sich zurück, drückte die Tür zu, schob den Eisenriegel vor und lehnte sich mit dem Rücken an das Türblatt. Sie stieß die Luft aus, die sie viel zu lange angehalten hatte, und merkte, wie ihr schwarz vor Augen wurde. Ihr Herz klopfte unregelmäßig. Ihre Knie zitterten. Ihre Hände waren eiskalt. Der Tinnitus in ihrem linken Ohr, der lange geschwiegen hatte, machte sich mit einem eindringlichen Ton bemerkbar.

Friedas Blicke wanderten jede einzelne der zwölf Stufen der Treppe hinauf und wieder hinab. Durch das Dachfenster fiel ein schwaches Licht auf die oberen Stufen.

Sie zog die Pistole aus dem Hosenbund, entsicherte sie, nahm sie in die rechte Hand und erhob sich langsam. Auf Zehenspitzen kletterte sie die Stiege hinauf, schob sich an der Wand entlang, wollte es nur bis zur ersten Tür schaffen. Es schienen ihr hundert Stufen zu sein, bis sie sich endlich im fensterlosen Bad einschließen konnte. Sie machte Licht und legte die Pistole auf die Ablage.

Jetzt entdeckte sie Blutspuren an beiden Innenflächen ihrer Hände, zwischen den Fingern, auf den Knien ihrer schwarzen Jeans. Im Spiegel blickte ihr ein hochrotes, aufgelöstes Gesicht entgegen, blutige Schrammen zogen sich über Stirn und Nase. Glassplitter funkelten in ihrem schwarzen Haar und zwischen den Fäden ihrer Strickjacke.

Sah so eine taffe Kommissarin aus? Eine Kommissarin, der eine glorreiche Karriere bevorstand, ausgezeichnet für ihren Mut und ihre Unerschrockenheit? Eine, die Leib und Leben riskierte, um den Täter zu fangen?

Nein, so sah eine komplette Versagerin aus. Eine, die vor Angst schlotterte, eine, die nicht mehr aus noch ein wusste, die alle Regeln der Polizeiarbeit vergessen hatte und zu einem Häufchen Elend geworden war. Nur wegen zweier Schüsse in der Nacht.

Vorsichtig wusch sie sich die Hände und trocknete sie ab. Sie setzte sich auf den WC-Deckel, fingerte ihr Smartphone aus der schwarzen Jacke und wählte die gespeicherte Nummer ihres Kollegen Brummer.

Kein Netz.

2. Kapitel

In Zülpich hatte Hauptkommissar Klaus Brummer das Pfingstwochenende eingeläutet und es sich an seinem Spieltisch, den er auf einem Flohmarkt erstanden hatte, gemütlich gemacht. Die Einladung zu einer Geburtstagsfeier eines Kollegen hatte er mit einer fadenscheinigen Begründung abgelehnt. Er hatte sich ein Glas Rotwein eingeschenkt und damit begonnen, die Reihen einer Bismarck-Patience zu legen. Im Hintergrund lief China Girl von David Bowie, dessen Tod im Januar Brummer tief getroffen hatte und dessen Songs er seitdem rauf und runter hörte. 2016 schien sich zum Sterbejahr der Altstars zu entwickeln. Auf Bowie folgten bis heute Glenn Fey von den Eagles, Paul Kantner von Jefferson Airplane, Keith Emerson, Roger Cicero und Prince. Brummer wollte sich nicht vorstellen, wer sonst noch in diesem Jahr das Zeitliche segnen würde.

Parallel zu China Girl brachte der Fernseher eine Sendung über die aktuelle Flüchtlingssituation in Deutschland. Die Eifel-Ausgabe des Kölner Stadt-Anzeiger lag griffbereit auf dem Fußboden. Ein kleiner Snack aus Fleischsalat, Mini-Frikadellen und einer Handvoll Cherry-Tomaten stand in Reichweite auf einem herangezogenen Küchenstuhl. Nicht wieder aufstehen zu müssen, das war das Ziel. Höchstens um ins Bett zu gehen. Brummer liebte diese multimediale Art der Rundumversorgung am Feierabend. So fühlte er sich aufgehoben.

Er hatte erst zweimal am Wein genippt und legte gerade eine Kreuz-Dame auf den König, da klingelte sein Telefon. Ein Blick aufs Display. 23.15 Uhr! Frieda Stein! Die hatte ihm noch gefehlt. Er ließ es klingeln, stellte sich taub, griff aber im letzten Moment doch zum Hörer.

»Feierabend«, brummte er.

»Komm her, Neugebauer auch. Sofort!«, zischte eine Stimme.

»Frieda?«

»Schnell!«

»Was redest du so komisch?«

»Kommt ins Forsthaus!«

»Ins Forsthaus?«, fragte er mit einem Blick auf das komplizierte Tableau der Karten, das vor ihm lag. »Und Sonja Senger?«

»Die ist nicht da.«

»Wieso nicht?«

»Bitte kommt! Schnell. Ganz schnell! Jemand von da draußen hat versucht mich zu erschießen.«

Brummer erstarrte. »Bist du verletzt?«

»Zwei Mal hat er geschossen.«

»Soll ich nicht besser den Krankenwagen schicken?«

»Ich bin in Ordnung. Aber du und Neugebauer, bitte …«

»Ganz ruhig. Reg dich nicht auf. Ich rufe die Kollegen in Schleiden an, die sind schneller bei dir als ich und dann …«

»Nein!«, zischte Frieda. »Du und Neugebauer, schnell!«

»OK«, seufzte Brummer. Wenn Frieda sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war nichts mehr zu machen. Darin glich sie ihrer Vorgängerin aufs Haar. Oder war das ein Frauenproblem? »Wir kommen.«

Da hatte Frieda das Gespräch längst beendet.

Kollege Achim Neugebauer gelang es in seinem kleinen Reihenhaus in Mechernich besser, das Telefonklingeln zu ignorieren und sich seinen ruhigen Abend nicht verderben zu lassen. Brummer hinterließ ihm eine Nachricht auf dem AB, die ihm zu denken geben würde.

Daraufhin rief Brummer die Polizei Schleiden zu Hilfe. Nicht nur, weil der Ort Wolfgarten in deren Zuständigkeitsbereich fiel und die beiden Behörden recht gut zusammenarbeiteten, sondern vor allem, weil es dort Matteo Grassi gab, einen Kollegen, dessen private Handynummer Brummer eingespeichert hatte. Grassi war der Typ Polizist, der immer Bereitschaft zu haben schien.

Grassi zögerte keinen Augenblick. Gehört hatte er vom Forsthaus am Ende der Stromleitung und seiner in Polizeikreisen berühmt-berüchtigten Bewohnerin schon viel, gesehen hatte er beide noch nicht. Jetzt war der Moment gekommen.

»Gib in dein Navi Ziegenbendgesweg ein«, riet Brummer, »und fahre ihn bis zum Ende durch. Es ist das letzte Haus. Da ist sonst weiter nichts.«

»Bin schon unterwegs«, sagte Grassi.

Brummers nächster Anruf galt den Kollegen der KTU in der Mordkommission Bonn. Dort machten sich sofort zwei Kollegen auf den Weg.

Mit wehmütigem Blick legte er den Talon verdeckt auf den Tisch, ließ seine Rundumversorgung im Stich und zwängte sich in seine Lederjacke, obwohl es ein lauer Abend war. Aber ohne diese Jacke kam er sich nicht angezogen vor. Wenn er gleich zurückkam, würde er genau dort weitermachen, wo er aufgehört hatte. Länger als zwei Stunden konnte das Ganze wohl kaum dauern. Vermutlich war Frieda das Opfer eines Irrläufers geworden, den ein Jäger ins Universum abgesetzt hatte.

Erst ein halbes Jahr zuvor war am Ortsrand von Wielspütz ein Paar in aller Frühe aus den Federn gerissen worden, weil ein Schuss die Stille und Behaglichkeit des Schlafzimmers zerrissen hatte. Das war besonders brisant gewesen, weil das Kind des Paares, noch ein Säugling, im gleichen Zimmer geschlafen hatte, am Fußende des Elternbettes, und das Projektil in das Gitterbett eingeschlagen war. Alle, auch das Kind, kamen mit einem Schrecken davon. Auch hier kam am Ende aller Ermittlungen keine andere Lösung infrage als ein Irrläufer. Die Ballistiker kamen zu dem Schluss, dass das Geschoss, ein Teilmantelgeschoss wie es für Jagdgewehre benutzt wurde, aus großer Entfernung abgegeben worden sein musste und es sich damit um keine gezielte Aktion gehandelt haben konnte. So war er auch heute vermutlich wegen eines unfähigen Jägers aus seinem Feierabend gerissen worden.

Wütend trat Brummer aufs Gaspedal. Um diese Uhrzeit war wenig Verkehr, und er konnte schnell fahren, viel zu schnell. Er war erstaunt, als er schon das Ortsschild Vlatten und kurz darauf den Hinweis Heimbach hinter sich ließ. Auf dem langen, geraden Straßenverlauf zwischen Düttling und dem Abzweig nach Wolfgarten fragte er sich mit wachsendem Unmut, was Frieda Stein wohl ganz allein in Sonja Sengers Forsthaus zu schaffen habe, anstatt in ihrer Wohnung in Euskirchen zu sein. Was war da nur wieder los? Er hatte keinen Zweifel daran, dass Sonja wieder irgendetwas angezettelt hatte, vermutlich aus reiner Langeweile, weil sie mit ihrem Pensionärsleben nicht zurechtkam. Immer hatte man Probleme mit dieser Frau. Er war nicht eben traurig gewesen, als sie endlich in Pension gegangen war, und er hatte gehofft, nun nie wieder ins Forsthaus am Ende der Stromleitung fahren zu müssen.

»Denkste«, murmelte er in die Dunkelheit hinein.

Am Ortseingang von Wolfgarten blinkte die Tankleuchte auf.

»Auch das noch«, fluchte Brummer. Tankstellen waren in der Eifel so selten wie wilde Orchideen. Und wenn es doch eine gab, so hatte sie um diese Uhrzeit mit Sicherheit längst dicht gemacht. Eines nach dem anderen, sagte er sich. Mann musste Prioritäten setzen. Erst Frieda, dann das Benzin.

Um 0.05 Uhr rollte sein Wagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern die letzten Meter über den Ziegenbendgesweg, rumpelte an einem Bauwagen vorbei, in dem sich Hühner mit Geflatter und Geschrei beschwerten, und kam hinter dem Auto des Schleidener Kollegen zum Stehen, der aus spurentechnischen Gründen einen sorgsamen Abstand zum Forsthaus hielt. Kollege Grassi saß noch hinter dem Steuer. Sein dunkler Lockenkopf war unverkennbar.

Brummer gab ihm durch die Windschutzscheibe ein Zeichen, woraufhin sich beide Fahrertüren mit leisem Klacken öffneten. Die Kommissare streiften Plastiküberzieher über ihre Schuhe und Einmalhandschuhe über die Hände, stiegen aus und ließen das Licht ihrer Taschenlampen über den vermeintlichen Tatort wandern. Friedas Auto stand vor dem Jägerzaun. Sonjas Auto fehlte. Das Forsthaus sah unbewohnt aus, nur oben hinter eine Dachluke brannte Licht.

Stille lag über dem Gelände. Hatte sich die Situation seit Friedas Anruf geändert? Der lag fast eine Stunde zurück. Seitdem hatte Brummer nichts mehr von ihr gehört.

Er wählte erneut ihre Telefonnummer. Die Verbindung baute sich zögerlich auf, als er ein Motorengeräusch wahrnahm. Scheinwerfer tauchten die Szene in ein weißes Licht. Es war der helle Transporter der Spurensicherung aus Bonn. Er kam neben Brummer zum Stehen, als er eine Stimme im Telefon hörte. Eine Mischung aus Schreien und Weinen.

»Frieda?«

»Wo bleibst du denn?«

»Wir sind hier. Die KTU kommt auch gerade.«

Stille, dann: »Danke.«

»Wo bist du?«

»Oben. Im Badezimmer.«

»Bleib dort, bis wir grünes Licht geben.«

»Ich muss euch die Tür aufmachen.«

»Wieso? Bisher reichte es, sich dreimal …«

»Ich habe innen einen Riegel angebracht. Oder ihr müsst durchs Fenster, aber …«

Er drückte das Gespräch weg.

Die beiden Kollegen von der Spurensicherung hatten währenddessen die weißen Papieroveralls angezogen.

»Es ist dunkel«, meinte Brummer leise und trat zu ihnen. Er begrüßte sie. Sie kannten ihn, er kannte sie nicht. Sie nannten ihm ihre Namen, aber er vergaß sie sofort wieder. »Und es sieht nicht nach Regen aus.«

Die Kollegen machten sich ungerührt mit ihren Koffern auf den Weg.

»Ich schlage deshalb vor, dass wir heute nur das Gelände absperren«, rief Brummer ihnen nach. »Wir frieren den Tatort ein und nehmen erst morgen bei Tageslicht alles genau unter die Lupe.«

»Morgen ist Pfingsten«, erinnerte ihn der eine, ohne sich umzusehen.

»Und übermorgen auch noch«, ergänzte der andere.

»Umso besser. Den Heiligen Geist können wir gut gebrauchen. Ich hole jetzt zuerst unsere Kollegin sicher aus dem Haus.«

»Sonja Senger?«, fragte der Techniker.

»Nein, Frieda Stein«, antwortete Brummer.

Die Techniker taten, als hätten sie nichts gehört, und marschierten weiter, aber neben Friedas Auto blieben sie abrupt stehen, starrten auf den Boden und zückten ihre Lampen.

»Was ist?«, rief Brummer.

»Wette verloren!«

»Wieso?«

Als er auf die gleiche Stelle blickte, die die Kollegen mit grellem Licht überfluteten, verstand er. Unter Friedas Auto ragte eine Hand hervor, eine linke Hand, der Handrücken zeigte nach oben, der Ärmel über dem Handgelenk war hochgerutscht und legte eine Uhr am Lederband frei.

»Ach, du Scheiße«, entfuhr es Brummer.

»Mist«, steuerte Grassi bei, als er neben Brummer stand.

Blutige Schleifspuren am Boden führten von einem dunklen, feuchten Fleck auf dem Sandboden zum Auto. Der Täter hatte offenbar nicht versucht, die Spuren zu verwischen. Brummer zog seine Pistole aus dem Holster, das er verdeckt um die Achseln trug, bückte sich und berührte die Hand des Mannes. Sie war kalt und steif.

»Wem gehört das Auto?«, fragte der KTU-Kollege.

»Unserer Kollegin Frieda Stein«, antwortete Brummer.

Zunächst wurden mehrere Fotos von der Auffindesituation gemacht.

Danach versuchte der Mann von der KTU, die Fahrertür des Autos zu öffnen, sie war nicht verschlossen. Er beugte sich über den Sitz, löste mit einem Knarzen die Handbremse, nahm mit einem Ruck den Gang raus, kurbelte am Lenkrad und begann, gemeinsam mit seinem Kollegen, den Wagen rückwärts zu schieben, bis der Tote vollständig freilag.

Ein Mann von etwa 1,80 Meter kam zum Vorschein, eine unförmige, dicke Gestalt. Er lag auf dem Bauch, das Gesicht zur Seite, Arme und Beine waren verdreht. Etwa in Höhe seines Nackens klaffte ein Loch im völlig haarlosen Kopf, groß wie eine Euro-Münze. Blut war über den Nacken und seinen Pulli gelaufen.

Wieder flammten Fotoblitze auf. Nachdem das Einschussloch mit Schutzfolie überklebt war, um die Spuren zu bewahren, drehte der KTU-Kollege den Toten um. Das Gesicht des Mannes war blut- und dreckverschmiert, die weit geöffneten Augen waren starr und hell. Zwischen seinen Lippen steckte eine geschwollene Zunge. Blut war auch über sein Kinn gelaufen und dort angetrocknet. Die Kopfhaut schien zum Zerreißen gespannt. Der Mann hatte eine auffallend krumme Nase. Um seine Beine wickelte sich eine durchgescheuerte, dreckige, blaue Jeans. Seine Füße steckten in hellbraunen Sneakers. Ein hellblaues Stück Stoff ragte aus seiner Hosentasche heraus. Eine Kappe.

»So etwas habe ich noch nicht gesehen. Der Schuss eines Meisterschützen – und dann das absolut stümperhafte Verstecken des Toten unter dem Auto«, sagte Brummer und schüttelte den Kopf.

Brummer fingerte sein Handy aus seiner Gesäßtasche, trat beiseite, um allein zu telefonieren und kam erst zu den Kollegen zurück, nachdem er das Gespräch beendet hatte.

Gespannt blickten sie ihn an.

»Der Staatsanwalt und der Rechtsmediziner sind auf dem Weg«, erklärte er.

Die Kollegen nickten betreten, langsam schien ihnen klar zu werden, dass ihnen eine lange Nacht bevorstand. Pfingsten hin oder her. Einziger Vorteil war, dass es in dieser Einöde keine Schaulustigen geben würde, die sie abzuwimmeln hätten, und keine Presse, die normalerweise wie von selbst auftauchte, unangebrachte Fragen stellte und unerlaubte Fotos schoss.

»Wer von den Herren gibt sich denn die Ehre?«, fragte Grassi und trat ungeduldig von einem Bein auf das andere, schlug die Hände aneinander, als wäre es tiefer Winter.

»Oberstaatsanwalt Wesseling kommt wahrscheinlich höchstpersönlich.«

»Aha. Und wer ist der Rechtsmediziner?«

»Ist das nicht egal?«, fragte Brummer zurück.

Grassi schüttelte seine Locken. »Ganz und gar nicht.«

»Eine Frau«, sagte Brummer knapp.

»Eine Frau?« Grassi schien sich zu wundern. »Wie heißt sie denn?«

»Du hast Sorgen.« Brummer hatte ihren Namen schon wieder vergessen, er wandte sich der Spurensicherung zu und kommandierte: »Ruft schon mal den Leichenwagen und überseht mir bloß keine Spur hier!«

»Wie heißt das Zauberwort?«, fragte einer der beiden Weißgekleideten.

Brummer zögerte, zog die Augenbrauen zusammen und sagte dann: »Danke.«

»Geht doch.«

Zusammen mit Grassi checkte er kurz das Außengelände. Sie stapften um das Forsthaus herum, durch Brombeerhecken, Wiesengras, konnten aber keine Fußspuren entdecken. Auch in dem kleinen Wäldchen, einer Ansammlung hoher Fichten, gab es keine frisch geknackten Äste, und niemand hielt sich versteckt. Brummer machte sich schließlich an der zerbrochenen Scheibe des Sprossenfensters zu schaffen, langte an den Fenstergriff, legte den Hebel um und drückte beide Flügel auf. Glassplitter knirschten und fielen klirrend zu Boden. Er kletterte vorsichtig über die niedrige Brüstung hindurch. Grassi folgte ihm. Mit leisem Klacken entsicherten die Polizisten ihre Pistolen. Brummer kannte sich aus. Wie oft war er hier gewesen, um Sonja Senger zu sprechen oder sie abzuholen! Er musste kein Licht machen. Grassi folgte ihm dicht auf den Fersen. Sie verließen den Raum, inspizierten den Flur und den Abstellraum, entriegelten die Haustür und kletterten die Stiege empor.