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Markus Niebios
Wer zuletzt stirbt, lebt am längsten

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Kopflos im Kofferraum

Markus Niebios wurde 1968 in Dortmund geboren und belegt in seiner Geburtsstadt trotz einer Studiendauer von 20 Semestern lediglich den zweiten Platz in der Bestenliste ewiger Studenten der FH Sozialpädagogik. Bekannter wurde er als Sänger der Dortmunder Formation »Van Winkle«, die es in den 90ern immerhin zu einem Plattenvertrag bei DD-Records brachte. Zu alt, um als Rockstar jung zu sterben, beschloss er, sich mit seiner Frau und zwei Katzen ins Nirgendwo des Sauerlands zurückzuziehen, um Bücher zu schreiben. Sein Debütroman Kopflos im Kofferraum oder der Argwohn des Krustentiers im ansteigenden Wasserbad (KBV 2014) wurde für den Amazon Autorenpreis nominiert.

Markus Niebios

Wer zuletzt
stirbt, lebt
am längsten

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Für Dorothee Niebios.
In Dankbarkeit und Liebe.
Beim zweiten Versuch gelingt vieles besser.

»It seems,
to me,
you’ve become a part of the machinery.«

In shreds, The Chameleons

Inhalt

1. KAPITEL BUBI

2. KAPITEL EIN TAUSENDER FÜR DEN KOPF VON RAMBO

3. KAPITEL HOTZE SPIELT DEN NORDSTADTBLUES.

4. KAPITEL EIN FREILOS FÜR DAS HETZTHEATER

5. KAPITEL AASKRÄHEN UND ANDERE TATORTREINIGER

6. KAPITEL DIE GEMISCHTEN GEFÜHLE DER ZWEITEN MAUS BEIM BETRACHTEN DES FALLENKÄSES

7. KAPITEL NEGERKRAL

8. KAPITEL DIE ZWEITHÄUFIGSTE VERWENDUNG VON GEMÜSE

9. KAPITEL MIT ANDEREN AUGEN BRATWURST ESSEN

10. KAPITEL MANUS ANUM LAVAMAT

11. KAPITEL ABSCHIEDE UND AUFERSTEHUNGEN

12. KAPITEL DER TOD FÄHRT IMMER KOMBI

13. KAPITEL WO BIST DU, WO SIND EURE WAGEN?

EPILOG

1. KAPITEL

BUBI

Es sagt eine Menge über dein Leben aus, wer dich vom Flughafen abholt. Familie. Kollegen. Die Polizei.

Beim Anblick unseres Chauffeurs kam ich jedenfalls ins Grübeln. Nichts gegen Schamanen, sie wollen auch nur Geld verdienen, aber wir hätten ein Taxi rufen sollen. Die Mitleidsmienen der aus dem Ankunftsterminal strömenden Reisenden sprachen Bände. Selbst das Großmütterchen, dessen Koffer ich aus Behilflichkeit über die Bordsteinkante wuchten wollte, sah mich an wie einen Gepäckdieb.

Hinsichtlich des Geldverdienens schien Nana Mobango nicht weit gekommen zu sein. Der Zustand seines VW-Bullis warf die Frage auf, ob wir es ohne den ADAC rechtzeitig zum Termin in die Detektei schaffen würden. Die Schiebetür klemmte, und durch die Bodenkarosserie fraßen sich Roststellen. Außerdem mussten Romanov und ich auf der Rückbank Platz nehmen, weil ein Monstrum von Wasserpfeife den Gurt des Beifahrersitzes in Anspruch nahm.

Auch an die Zeremonienkluft unseres Fahrers musste ich mich erst gewöhnen. Nana Mobango trug einen Umhang aus Maulwurfsfell, und auf der Lederkappe thronte ein ausgestopftes Exemplar des Gärtnerschrecks. Noch eindrucksvoller präsentierte sich seine Gesichtsbemalung. Die Kalkbalken prangten wie Signalstreifen von Verkehrswesten auf dem endgültigen Samtschwarz der Wangen.

Den Weg vom Flughafen zur Detektei legten wir in Schleichfahrt zurück, da der Ritus dem Schamanen vorschrieb, sich rechtzeitig auf die Trance einzustimmen. Romanov musste Nana mehrfach antippen, damit er überhaupt weiterfuhr. Als der Bulli endlich in die Parklücke vor der Detektei kroch, erblickte ich das nächste Hindernis.

Im Vorgarten unseres Acht-Parteien-Hauses ächzte ein Campingstuhl unter Frau Zenker. Das Gewicht ihres Körpers drückte seine Stahlbeine zentimetertief in den Rasen. Sie zupfte sich den Blümchenkittel mit einer Genugtuung zurecht, die Ärger versprach. Nachdem auch der Dutt zu ihrer Zufriedenheit saß, fächerte sie sich mit einem Brief Luft zu.

Romanov band sich die Silbermähne mit einem Haargummi zum Zopf, während er die Bedrohung im Vorgarten durch die Häkelgardinen des Bullis taxierte. »Es muss ja nichts mit dir zu tun haben«, sagte er.

Über den Dachschindeln der Häuserzeile prahlte ein stahlblauer Himmel mit Schäfchenwolken. Ab und zu schwebten Altweiberfäden vorbei. Kein Schauer in Sicht, der die Zenker zurück ins Haus hätte treiben können.

»Wir bekommen Nana nie im Leben an ihr vorbei«, sagte ich. »Schon gar nicht in dieser Aufmachung.«

»Wie viel Zeit bleibt uns, bis der Klient in der Detektei auftaucht?«, fragte Romanov.

»Keine halbe Stunde«, sagte ich.

Doktor Limpers Anruf hatte mich in Rom erreicht, als wir gerade für den Rückflug nach Dortmund eincheckten. Er wollte unsere Detektei engagieren, weil angeblich ein Fluch auf ihm lastete. Bei Aberglauben half nur ein Gegenzauber, da bot es sich an, Nana Mobango zu engagieren. Seine Performance galt in Fachkreisen als legendär, außerdem war er Romanovs Nachbar und machte uns einen Spezialpreis.

Die Haustür entließ Herrn Zenker in den Vorgarten. Während unser Nachbar auf seine Frau zuschlurfte, stopfte er einen Hemdzipfel zurück in die braune Bundfaltenhose, den sein Bauch durch das Schaukeln beim Gehen alle paar Minuten wieder herauszog. Man sah Herrn Zenker an, dass er sich damit abgefunden hatte, als einzige Auszeichnung im Leben eine Sterbeurkunde zu erhalten. Passend zur Lebenseinstellung trug er Sandalen, eine Buchhalterbrille und das Resthaar so über den Scheitel gelegt, dass es im Schwimmbad einen halben Meter neben ihm trieb.

In seinem Schlepptau trippelte Bubi, der Schoßpudel der Zenkers. Als der Hund sein Frauchen entdeckte, stürmte er an Herrn Zenker vorbei und raste winselnd vor Glück um den Campingstuhl herum.

»Könntest du das Fenster runterkurbeln?«, bat ich Nana.

Die Zenker kramte ein Leckerli aus ihrer Kitteltasche. Neben einem unerschöpflichen Vorrat an Hundenaschwerk hielt sie dort ein Notizbüchlein bereit, um die Verfehlungen der Nachbarn zeitnah dokumentieren zu können. Der Legende nach ruhte in den Tiefen der Tasche auch ein uraltes Amulett, mit dem Frau Zenker das Tor zur Hölle öffnete, wenn es Zeit zum Schlafen war.

Bubi machte Männchen, erhielt seine Belohnung und schlang sie hinunter.

»Wann willst du denn mal wieder rein?«, fragte Herr Zenker seine Gebieterin.

Sie schlug den Brief auf ihre Handfläche. »Heute kommt Borg zurück! Ich weiß es von der Schmittke. Die hat’s von Hetti Kapischke, weil ihre Tante die Mutter vom Nachbarsjungen kennt, der so lange die Blumen macht.«

Romanov seufzte. »Kannst du den Klienten zu einem anderen Treffpunkt bestellen?«, fragte er mich.

»Drachen besänftigt man nicht durch Rückzug oder Kapitulation«, sagte ich. »Man muss gegen sie kämpfen.

»Welche Blumen jetzt?«, fragte Herr Zenker.

»Wie viel Bier hast du dir wieder in den Kopf geschüttet?«, fuhr seine Frau ihn an.

Der Pudel nahm Abführhaltung ein.

»Gib ’ne Tüte!«, forderte die Zenker ihren Mann auf. »Der Hund muss mal!«

Bubi stierte angestrengt in die Ligusterhecke, dann jaulte er auf und begann sich im Kreis zu drehen, als wollte er sein Stummelschwänzchen fangen.

Herr Zenker durchwühlte beide Hosentaschen, fand aber nichts.

»Hol eine von oben!«, schrie ihn seine Herrin an. Sie stand auf, um das Problem des Pudels in Augenschein zu nehmen. Der Campingstuhl blieb dabei an ihrem Hinterteil klemmen. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du die Leberwurst nach dem Abendbrot in den Kühlschrank räumen sollst!«, brüllte sie Richtung Tür, aber das Ziel ihrer Wut eilte bereits das Treppenhaus hinauf.

Frau Zenker steckte den Brief in ihre Kitteltasche, packte Bubi im Genick und drückte sein Gesicht in den Rasen. Dann zog sie eine Plastikpelle aus dem Rektum des Hundes, die das Verrichten des Geschäfts verhinderte.

»Sollst du Leberwurst mit Verpackung fressen?«, belehrte die Zenker ihr Haustier. Sie schwenkte die Kunststoffhaut mit spitzen Fingern vor seiner Schnauze. »Das ist pfui!«

Bubi winselte in ihrem Würgegriff.

Fräulein Rabenhorst hatte sich einen ungünstigen Zeitpunkt für ihre Heimkehr ausgesucht. Als sie die Zenker mit der Wurstpelle in der Hand über dem Pudel stehen sah, erstarrte sie auf den Gehwegplatten zur Skulptur einer Ertappten. Der abrupte Halt ließ die Gläser in ihren Einkaufstaschen gegeneinanderschlagen. Es klirrte.

Frau Zenker drehte sich um wie die Bösewichte im Western, wenn der Sheriff mit klingelnden Sporen in den Staub der menschenleeren Straße tritt, um die Angelegenheit auszuschießen. Sie zog den Stuhl von ihrem Hintern und stellte ihn auf den Rasen. »Beim Türken eingekauft?« Ihr Zeigefinger deutete auf die Plastiktüten in Fräulein Rabenhorsts Händen. »Das Zeug stinkt jedes Mal das Treppenhaus voll!«

»Sie haben mir gar nichts zu sagen«, sagte Fräulein Rabenhorst. Es klang, als könnte sie es selbst nicht glauben.

»Frauen von Ihrem Schlag kochen nur, wenn Männerbesuch ins Haus steht«, giftete die Zenker. »Die Nachbarn tuscheln schon. Warum stellen Sie sich nicht gleich ’ne Laterne ins Fenster? Oder kommt das Rotlicht nicht durch die Dreckschicht auf Ihren Scheiben?«

Statt der Laterne glühte Fräulein Rabenhorsts Gesicht auf.

»Ihre Schrottkarre sieht auch aus wie Sau«, setzte die Zenker nach. »Schon mal was von Waschen gehört? Sie bringen das ganze Haus in Verruf!« Das Organ der Zenker dröhnte in einer Lautstärke durch den Vorgarten, dass die Schmittke aus dem zweiten Stock das Fenster öffnete, um nach unten zu spähen. »Warum rennen Sie eigentlich immer mit Stöckelschuhen in der Wohnung rum?«, wollte die Zenker wissen. »Das hört man bis unters Dach. Steckt bestimmt so ein Sexkram dahinter!«

Fräulein Rabenhorsts Stimmchen zitterte vor Empörung. »Wenigstens durchwühle ich nicht den Müll von anderen Leuten!«

Die Meuterei brachte das Drachenblut der Zenker in Wallung. »Bei meinen Kontrollen musste ich feststellen, dass Sie ihn nicht vorschriftsgemäß trennen«, schnaubte sie. »Die Vermieterin schickt Ihnen deswegen noch einen Brief. In diesem Haus duldet man nämlich keine Schlampen!«

Fräulein Rabenhorts Schultern sackten nach unten, als hätte die Zenker den letzten Rest ihrer Widerstandskraft zermalmt und die Lebensmittel in den Tüten zu Blei verwandelt. Sie flüchtete mit gesenktem Kopf zur Eingangstür.

»Niemand latscht hier mit Schmutzschuhen ins Haus«, schrie Frau Zenker ihr hinterher. »Und unterstehen Sie sich, die Galoschen an der Fußmatte abzutreten. Den Dreck müssen hinterher wieder andere für Sie wegmachen.«

Fräulein Rabenhorst schlüpfte auf Ringelsocken durch die Eingangstür. Der Hausdrachen walzte hinterher, um ihr im Treppenhaus den Rest zu geben, während die Schmittke zur Wohnungstür eilte, weil sie nichts verpassen wollte.

»Böser Dämon reiten Weib«, sagte Nana Mobango. Er befummelte das um seinen Hals hängende Knochenamulett.

»Kannst du die Stimme der Zenker imitieren?«, fragte ich Romanov.

Mein Partner begutachtete den Krümel auf dem Ärmel seines Gehrocks, bevor er das Andenken ans Flugzeugsandwich verköstigte. »Soll ich dich erschrecken, weil du an Schluckauf leidest?«, fragte er.

Ich musste Gewalt anwenden, um die Schiebetür des Bullis zu öffnen. »Ruf das Hundchen. Aber so, dass man es im Haus nicht hört.«

Romanov verneigte sich in meine Richtung. »Bubi!«, lockte er den Pudel. »Männlein, komm fein bei Mutti. Die Mama hat Leckerchen!« Romanovs Glanzzeit als Stimmenimitator, Showhypnotiseur und Illusionist lag eine Weile zurück, aber er könnte aus dem Stand wieder ins Showgeschäft einsteigen.

Der Hund unterbrach das Herumschnüffeln am Campingstuhl, stellte sich auf die Hinterpfoten und klappte ein Ohr nach oben. Er sah erst zur Tür, dann Richtung Bulli.

»Bubi, komm wacka«, rief Romanov.

Der Pudel kläffte vor Entzücken, während er Richtung Heckendurchgang raste. Auf dem Bürgersteig sah er sich suchend um.

»Wacka Leckerchen«, tönte die Zenkerstimme aus Nana Mobangos Schamanengefährt.

Bubi trippelte näher, zögerte einen Augenblick, sprang dann aber in den Bulli. Als der Pudel Romanov entdeckte, begann er zu knurren. Der Hund schien nicht vergessen zu haben, dass ihr letztes Aufeinandertreffen mit Sambal Oelek in seiner Nase geendet hatte.

Romanov drohte ihm mit dem Gehstock. »Was jetzt?«, fragte er mich.

Bubi nutzte die kurze Unaufmerksamkeit meines Partners, um ihm in die Wade zu beißen.

Romanov schrie vor Schmerz, dann hämmerte er den Gehstockknauf auf den Kopf des Pudels. Der Hundekörper erschlaffte, blieb aber an Romanovs Bein hängen, weil er sich verbissen hatte. Romanov zog Bubis Kiefer auseinander und betrachtete die rot verfärbten Spitzen der Fangzähne. Dann legte er das Tier auf den Fahrzeugboden. »Er wirkt erschöpft«, sagte mein Partner, während er nach dem Puls des Hundes tastete. Obwohl er sich Mühe gab, die Contenance zu wahren, merkte man ihm die Bestürzung über den Ausgang ihrer Auseinandersetzung an.

Ein Wischer meines Zeigefingers ließ die Kontakte im Telefonbuch des iPhones rotieren.

»Suchst du in den Weiten des Internets nach einem Pudelnotdienst«, fragte Romanov, »oder willst du eine Defibrillator-App herunterladen?«

Ich legte den Zeigefinger an die Lippen.

Herr Zenker nahm ab.

»Ihr Hund befindet sich in unserer Gewalt«, sagte ich mit verstellter Stimme. »Wir verlangen fünfhundert Euro. Fahren Sie zum Nordmarkt. Warten Sie auf einer der Spielplatzbänke, bis wir Ihnen weitere Anweisungen geben. Bleiben Sie unter allen Umständen dort sitzen, egal wie lange es dauert. Keine Polizei, sonst stirbt er!« Ich beendete den Anruf, ohne eine Antwort abzuwarten.

Romanov drehte Bubi auf den Rücken. Er bewegte die Vorderbeine des Hundes auf und ab wie Pumpenschwengel. »Kannst du in deinem Telefon sehen, ob sie im Tierheim einen schwarzen Pudel vermitteln?«, fragte er mich.

Keine drei Minuten später stürzten die Zenkers in den Vorgarten. Als sie Bubi nicht fanden, trieb Frau Zenker den Gatten Richtung Garagen. Zum ersten Mal entdeckte ich so etwas wie Besorgnis in der Miene des Hausdrachens. Die beiden entwickelten trotz ihrer Abneigung gegen Sport und gesundes Essen eine erstaunliche Geschwindigkeit.

»Wir können dann rein«, sagte ich.

»Meine Anerkennung«, sagte Romanov, »aber was machen wir mit dem Hund?«

Nichts gegen Schamanen, sie wollen auch nur Geld verdienen, aber vielleicht hätten wir einen Tierarzt rufen sollen. Am meisten störte mich, dass ich nichts sehen konnte. Brokatvorhänge verdunkelten die Detektei, sodass man die Vitrinen mit den Voodoopüppchen neben unserer Bibliothek der Absonderlichkeiten bloß noch erahnen konnte. Als letzte Erinnerung an das Kronleuchterlicht glimmte ein Phosphorschimmer in den Augen der unter der Decke hängenden Krähen. Ich behielt die Fernbedienung für den Lichtschalter in der Hand, weil der Klient jeden Moment auftauchen musste.

Nana Mobangos Fußsohlen patschten über das Parkett, während er der Schamanentrommel einen Trance-Rhythmus entlockte. Monotoner Sprechgesang unterlegte den Tanz. Alle paar Minuten hielt er ein brennendes Streichholz an einen der Kegel, die im Kreis um Bubi standen. Als ihre Spitzen Feuer fingen, zog Weihrauchgeruch durch den Raum. Das Glühen der Kegel schälte die Silhouette des Hundes aus der Dunkelheit.

Neben mir knurrte Romanovs Magen.

»Was tut Nana da?«, fragte ich ihn.

»Er versucht, Bubis Seele zurückzuholen«, flüsterte mein Partner zurück.

»Muss dabei zwingend Finsternis herrschen?«

»Alle Schamanen arbeiten mit einem Krafttier, das ihnen hilft, Kontakt zur Geisterwelt aufzunehmen. Meist Adler, Bären oder Wölfe, je nachdem, welches Tier ihnen bei der ersten Schamanenreise begegnet. Bei Nana war es eben ein Maulwurf.«

Jemand klopfte an die Tür der Detektei. Obwohl ich auf den Knopf der Fernbedienung drückte, wollte die Dunkelheit nicht weichen.

Als der Klient eintrat, schossen Stichflammen aus den Kegeln. Beim Anblick des im Dämmerlicht tanzenden Schamanen stieß er einen Schreckensschrei aus, dann polterte seine Krücke auf das Parkett. Bevor der Mann umkippte, fasste er sich ans Herz.

Ich hielt das andere Ende der Fernbedienung Richtung Funkschalter. Diesmal flammte der Kronleuchter auf. Nana Mobango schlug die Hände vors Gesicht, als würde ihm die Helligkeit Schmerzen zufügen.

Romanov und ich eilten zu dem am Boden liegenden Klienten. Sein rechtes Bein steckte in einem Gips und der linke Arm in einer Fixierschlaufe. Alle nicht von seinem Trainingsanzug bedeckten Körperteile waren bandagiert oder verpflastert, selbst der Kopf.

»Eine Mumie«, raunte Romanov mir zu. »Wir hätten einen Schamanen aus Ägypten engagieren sollen.«

Der Mann kam erst wieder zu Bewusstsein, als wir ihn auf den Holzthron verfrachtet hatten, der unseren Kunden als Sitzplatz diente. Er brauchte eine Weile, um sich zu orientieren.

»Herzlich willkommen in der Detektei Mystica!«, begrüßte ich ihn, während Romanov ihm eine Plastiktüte mit Eiswürfeln auf den Kopfverband legte.

»Ich dachte, jetzt holt mich der Leibhaftige«, sagte der Klient. »Solche Geschichten macht mein Herz nicht mehr mit!«

Romanov öffnete die Fenster, um Frischluft hereinzulassen.

»Wir bitten, die Umstände zu entschuldigen«, sagte ich.

Der Mann schnupperte dem abziehenden Weihrauchgeruch hinterher. »Ich habe mich für diese Detektei entschieden, weil Ihr Ermittlungsansatz zu meinem Problem passt. Wer ahnt denn, dass Sie mit schwarzer Magie arbeiten?« Ein Hauch von Lispeln umwehte seine S-Laute.

»Spielen Sie auf die Hautfarbe unseres Mitarbeiters an?«, bemerkte Romanov, ohne dem Mann ein Lächeln zu entlocken.

»Was kann die Detektei Mystica für Sie tun, Doktor Limper?«, fragte ich ihn.

Der Arzt versuchte, sich unter dem Gips zu kratzen. Kein einfaches Unterfangen für eine Mumie. »Ich praktiziere in der Nordstadt«, erzählte er. »Meine Mitarbeiter sind Kummer gewohnt und wissen mit Patienten aus fremden Kulturen umzugehen, aber seitdem so viele Roma ins Viertel kommen, stoßen wir an unsere Grenzen.« Er schob sich den Eisbeutel an die richtige Stelle. »Die Zustände in ihren Häusern sind katastrophal. Um das Schlimmste zu verhindern, schicke ich Impfteams da rein, obwohl man die Einsätze nicht mit der Krankenkasse abrechnen kann. Diese Leute zahlen nämlich keine Versicherungsbeiträge.«

Es bereitete mir Mühe, den Arzt zu lesen, weil sein Gesichtsverband nur die Augen und den Mund freiließ. Die vor Schlafmangel geschwollenen Lider erschwerten das Unterfangen zusätzlich.

»Vor zwei Wochen kam dann diese schwarzgelockte Furie in meine Praxis. So ein Vollblutweib mit Glut in den Augen. Sie platzte ins Behandlungszimmer und drohte mich zu verfluchen, wenn ich nicht aufhöre, ihre Leute krankzumachen.«

»Verständlich«, sagte Romanov. »Die Heiler der Roma arbeiten ausschließlich mit Naturheilmethoden. Blut abzunehmen oder Injektionen zu verabreichen, gilt bei ihnen als baledschido, als unrein. Bei diesem Volk herrschen noch die Sitten der Altvorderen. Wer sich nicht an die Tradition hält, wird ausgestoßen.«

»Ich habe mich von dem Gerede jedenfalls nicht einschüchtern lassen«, fuhr Doktor Limper fort. »Die Woche drauf kam die Frau wieder, murmelte Zaubersprüche und spuckte auf meinen Schuh. Damit bei jedem Schritt das Pech an meinen Füßen klebt, sagte sie. Zum Abschied drohte sie mir damit, dass mich der Teufel holt, wenn ich nicht aufhöre, ihre Leute zu behandeln. Sie können sich nicht vorstellen, was mir seitdem alles an Missgeschicken widerfahren ist.« Er deutete auf seine Verbände. »Alles Brüche oder Verletzungen durch Unfälle. Zu allem Überfluss gibt in der Praxis ein Apparat nach dem anderen den Geist auf. Zwei meiner Mitarbeiterinnen wollen schon kündigen.« Die Verzweiflung raubte ihm für einen Moment die Stimme. »Sie müssen mir helfen, diesen Fluch zu brechen!«, flehte er.

»Unser Mitarbeiter aus Ghana gilt als Koryphäe auf diesem Gebiet«, tastete ich mich vor. »Sollen wir ihn zurückrufen?«

Doktor Limper winkte ab. »Den Schamanen können Sie nach Hause schicken. Ich weiß, welches Ritual man durchführen muss, um den Fluch zu beenden. Wenn Sie mir ein paar Zutaten besorgen, erledige ich den Rest selber.«

Mein Nicken gab ihm zu verstehen, dass wir dafür Verständnis aufbrachten. Die Detektei Mystica holte jeden Klienten dort ab, wo er stand, schließlich bezahlten sie uns, damit wir ihre Sorgen ernst nahmen.

»Für den Gegenzauber benötigt man die Feder eines Uhus, den Namen der Hexe und eines ihrer Haare«, zählte Doktor Limper auf. »Freiwillig wird sie keins hergeben, so viel verrate ich Ihnen schon mal. Eine Ampulle mit dem Blut einer Jungfrau lagert bereits im Kühlschrank meiner Praxis. In der Beziehung sitze ich an der Quelle.« Unter der Oberfläche seines Kicherns brodelte Hysterie.

»Der Uhu gilt als Hexenvogel«, sagte Romanov, »das erklärt sich von selbst, aber wozu brauchen Sie das Haar und den Namen?« Als Ex-Illusionist stand mein Partner dem Phänomen Magie aufgeschlossener gegenüber als ich.

Immerhin entspannte sich der Doktor, weil er merkte, dass Romanov ihm glaubte. »Um die Verwünschung aufzuheben, muss man den Federkiel in das Blut tauchen, den Namen der Verursacherin auf ein Pergament schreiben, das Schriftstück zusammenrollen und mit dem Haar zuknoten. Dann kommt es in eine Tiefkühltruhe, damit der Fluch einfriert.«

»Vielleicht gibt es eine zweite Erklärung für Ihre Pechsträhne«, sagte ich. »Als Arzt kennen Sie sicherlich den Nocebo-Effekt. Bei diesem Phänomen stellen sich beim Patienten die auf dem Beipackzettel gelesenen Nebenwirkungen ein, obwohl er ein wirkstoffloses Medikament einnimmt.«

Romanov versuchte den Klienten auf seine Weise an das Thema heranzuführen. »Mein Partner meint, dass Sie durch die Erwartungshaltung, jeden Moment zu verunglücken, das Pech anziehen. Sie beeinflussen mit Ihren Gedanken die Kraft des Universums und rufen so selbsterfüllende Prophezeiungen auf den Plan.« Seitdem Romanov seine Nullraum-Theorie mit Kraft des Universums umschrieb, erntete er nicht mehr so viel Stirnrunzeln bei der Kundschaft.

»Sie glauben nicht an die Wirkung von Flüchen?«, sagte Doktor Limper. »Dann kommen Sie mal mit auf die Straße.«

Draußen machte sich der Altweiberabend bettfertig. Durch die Häuserschluchten jagten die letzten Mauersegler, und aus den Hinterhöfen drang das Klimpern von Bierflaschen. Vorbeiziehender Grillfleischgeruch animierte Romanovs Magen zu Begeisterungsbekundungen.

»Sie halten besser Sicherheitsabstand«, sagte Doktor Limper. Er humpelte auf seine Krücke gestützt über die Gehwegplatten Richtung Bürgersteig. Jenseits des Ligusterheckendurchgangs blieb er stehen.

Lange Zeit passierte nichts, dann näherte sich das Brummen eines Flugzeugs im Landeanflug. Während das Geräusch zu Maximallautstärke anschwoll, ratterte Oma Bolte mit ihrem Einkaufswagen über den Bürgersteig. Sie umkurvte das Mumienhindernis, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Nach einiger Zeit gingen sowohl das Rattern als auch das Brummen wieder in Stille über.

Während ich mir den Kopf darüber zerbrach, wie wir den Klienten zurück ins Büro komplementierten, ohne den Auftrag zu verlieren, rollte auf der Straße ein Skateboardfahrer heran. Der Junge trug einen Hoodie zu Dreiviertel-Bermudas und machte Tempo, bevor er zum Sprung ansetzte. Das Brett hob mit ihm ab, rotierte unter seinen Füßen um die eigene Achse, dann fing die Erdanziehungskraft den Skater wieder ein. Sein rechter Sneaker landete so weit hinten auf dem Board, dass er es wegkickte. Während der Junge mit rudernden Armen auf den Asphalt knallte, zischte sein Fahruntersatz Richtung Doktor Limper. Sekundenbruchteile bevor das Brett seinen Kopf traf, schmiss sich der Arzt zu Boden.

Romanov und ich rannten gleichzeitig los.

»Tut Ihnen was weh?«, fragte mein Partner, während er dem Klienten auf die Beine half.

»Ja, alles«, antwortete der Arzt, »aber das war vorher auch schon so.«

Der Skateboardfahrer sammelte sein Brett ein. Er entschuldigte sich per Handzeichen, dann rollte er weiter die Straße hinunter.

»Alle Achtung«, sagte ich. »Diesem Geschoss auszuweichen erfordert Stuntman-Qualitäten.«

»Ausweichen?«, sagte Doktor Limper. »Mich hat etwas k. o. geschlagen.«

Er befummelte seinen Kopfverband.

»Au«, sagte er. »Da!«

Ich hob einen der blauen Brocken auf, die über den Bürgersteig verstreut lagen. Er fühlte sich kalt an und roch nach Klo. Die Bruchstücke mussten vor dem Zerspringen ein Objekt von der Größe einer Faust gebildet haben.

»Eine Urinbombe«, sagte ich. »Manchmal entweicht den Toilettentanks von Flugzeugen Flüssigkeit durch undichte Ventile. Sie friert an der Oberfläche des Flugzeugs fest, löst sich beim Landeanflug und stürzt zu Boden. Das im Toilettenwasser enthaltene Desinfektionsmittel färbt den Klumpen blau. Außerdem wirkt es wie ein Frostschutzmittel. Dadurch weichen die Fäkalgranaten auf, sonst hätte dieses Exemplar Sie erschlagen.«

»Beeindruckend«, sagte Romanov.

Die unter der Decke der Detektei hängenden Krähen sahen interessiert dabei zu, wie Doktor Limper drei Fünfhundert-Euro-Scheine auf den Tisch blätterte.

»Den gleichen Betrag erhalten Sie für den Namen der Zigeunerin. Kommen Sie einfach zur Sprechzeit in meine Praxis.«

»Sie praktizieren noch?«, fragte ich ihn.

»Ich bin Arzt!«, sagte er.

Romanov schlenderte vom Fenster zu uns herüber. »Ihr Taxi steht vor der Tür«, sagte er.

»Beeilen Sie sich«, bat Doktor Limper mich. »Lange halte ich diesen Horror-Trip nicht mehr durch!«

Während er am Arm meines Partners nach draußen humpelte, verstaute ich die blauen Brocken im Tiefkühlfach des Kühlschranks, falls sich unser Klient entschloss, den Vorfall zu einer Versicherungssache zu machen.

Als Romanov die Detektei wieder betrat, wirkte er nachdenklich.

»Was hältst du von der Geschichte?«, fragte ich ihn.

Mein Partner setzte diesen Blick auf, dem in der Regel ein Vortrag über den Nullraum folgte. So nannte er das Energiefeld zwischen den subatomaren Bauteilen von Materie, durch das alle Teilchen des Universums auf Quantenebene miteinander kommunizieren. »Die Atomphysiker behaupten, dass auf ein Ziel gerichtete Gedanken beim Erschaffen von Wirklichkeit eine zentrale Rolle spielen. Zigeunerflüche funktionieren auf die gleiche Weise, weil die Heiler dieses Volkes den Nullraum durch einen intuitiven Zugang beeinflussen können. Neuzeit-Menschen haben diese Begabung gegen digitale Armbanduhren eingetauscht.«

Ich heuchelte Bestürzung. »Wie konnte ich die alles durchdringende Magie der Quantenprozesse im Nullraum vergessen?«

Der Tonfall meines Partners verriet seine Empfindlichkeit bei diesem Thema. »Unterschätze nie die Fähigkeiten der Zigeuner. Dass Gedanken Materie beeinflussen, konnten Wissenschaftler bereits vor Jahrzehnten mit einem Experiment belegen. Streck bitte deinen Arm aus. Ich werde zweimal versuchen, ihn hinunterzudrücken. Das erste Mal konzentrierst du deine Gedanken darauf, dass ich es auf keinen Fall schaffe, und du behältst recht.« Er schnippte mit den Fingern. »Beim zweiten Versuch denkst du voller Überzeugung an deine Chancenlosigkeit, und ich drücke deinen Arm ohne Mühe herunter. Die Welt entwickelt sich so, wie wir sie uns denken!«

Das Klingeln des Telefons unterbrach seine Ausführungen.

»Isse hier Renato«, drang es aus dem Hörer. »Habe ich bekomme die informazione. Was könne zahle?«

Mein Zeigefinger drückte auf den Knopf für die Lautsprechanlage, damit Romanov mithören konnte. »Sie haben Ihren Lohn bereits im Voraus erhalten.«

Als sich drei Wochen zuvor die Identität des Mannes lüftete, der mich als Schulkind entführt hatte, lieferte nur das Nummernschild eines in Italien zugelassenen Autos einen Hinweis auf seinen Verbleib. Die Spur führte zum Fuhrpark des Konstantinordens in Rom, also flogen wir hin. Trotz mehrerer Bittgänge machte man dort aber keine Anstalten, uns zu empfangen, deshalb schaltete ich die Polizei ein. Ein Ordensmitarbeiter teilte den Carabinieri mit, dass der Computer mit den Nutzerdaten des Wagens bei einem Einbruch entwendet wurde. Da eine entsprechende Anzeige vorlag, betrachteten die Beamten den Fall als erledigt.

Dass sich der Konstantinorden nicht in die Karten schauen lassen wollte, lag im Interesse seiner Mitglieder. Ihm gehörten Persönlichkeiten wie Silvio Berlusconi oder Monsignor Nunzio Scarano an. Der flog seinerzeit auf, als er 20 Millionen Euro Schwarzgeld in einem Privatjet aus der Schweiz nach Italien transportierte. Einige Leute in Rom behaupteten, dass die Ordensgemeinschaft als Kontaktbörse für Kriminelle fungierte. Angeblich ließen sich Mafiosi dort aufnehmen, um mithilfe der Vatikanbank Geld zu waschen oder Würdenträger als Drogenkuriere einzusetzen.

Wir verbrachten viel Zeit in den Spelunken der ewigen Stadt, um Informationen gegen Geld zu tauschen und stießen schließlich auf Renato. Die Szene empfahl ihn als Vatikan-Insider mit Kontakten in die Kurie.

»Meine informatore kanne kucke in die Computer von die Vaticano«, sagte Renato. »Aber musse du zahle viel mehr.«

»Ich biete zehntausend Euro!«, sagte ich.

Ein schäbiges Lachen drang aus dem Hörer.

»Moltiplicare con quattro. Bekomme ich die moneta in Hand. Nix banca. Musse du mir nur sagen quando.«

»Was erhalte ich als Gegenleistung?«

»Un nome!«

»Den kenne ich bereits. Er lautet Domenico Meletti.«

Die Stille am anderen Ende der Leitung sprach für sich.

»Mich interessiert der Aufenthaltsort seines Vaters. Ich will wissen, wo sie ihn verstecken!«

»Musse sehe. Musse probiere«, verabschiedete sich Renato. »Buona sera«

»Beim Akzent eines Italieners bekomme ich immer Hunger auf Pizza«, sagte Romanov.

Das Foto von Signore Meletti gelangte wie von selbst in meine Hand. Die Ränder des Bildes waren bis zum Zerfleddern abgegriffen, weil ich es mindestens eine Million Mal aus dem Portemonnaie gezogen haben musste, seit Stefania es mir überlassen hatte. Ich versuchte, Blickkontakt zu meinem Entführer herzustellen, der da Arm in Arm mit seiner Enkelin vor dem Restaurant der Familie stand. Wollte ihn zum Sprechen bringen. Forderte Antworten, aber Signore Meletti schwieg. Seine Eisaugen zogen mich mit der Macht eines Mahlstroms zurück in den Erdkerker, wo Lanzen aus Sonnenlicht durch die Ritzen des Bretterdeckels stachen, um auf dem Lehmboden verschimmelnde Fäkalien in Szene zu setzen. Ihr Modergeruch umgab mich wie ein gebrauchtes Leichentuch. Als mir auch die Feuchtigkeit in den unterkühlten Körper kroch, begann mein Atem immer leiser zu rasseln, bis die Welt jenseits des Verlieses zu einer Erinnerung ohne Bedeutung verblasste. Wenn das letzte bisschen Lebenskraft aus einem Kind tröpfelt, beschäftigt es sich nicht mit den letzten Fragen des Seins. Es sehnt bloß seine Eltern herbei, damit sie einen in den Arm nehmen. Damit sie erklären, warum das alles geschah. Im Grunde genommen wartete der kleine Teilhard bis heute darauf. Ich sollte das Foto verbrennen und die Asche in der Hand zu Staub zerreiben, aber mir fehlte der Glaube an die reinigende Kraft der Rituale von Nana Mobango. Manche Dinge vergisst man nie.

Romanovs Stimme klang, als stünde er Raum und Zeit zum Trotz über mir, auf dem Klappdeckel des Erdkerkers.

»Eine Uhu-Feder aufzutreiben, erscheint mir am einfachsten«, sagte er. »Ich wette, du weißt schon, woher wir sie bekommen.«

»Aus dem Zoo«, murmelte ich.

»Der Tierpark schließt um achtzehn Uhr. Willst du über den Zaun klettern? In diesem Fall möchte ich dich darauf hinweisen, dass mir ein Aufenthalt im Tigergehege für den Rest meines Lebens reicht!«

Der Nörgelton meines Partners zerrte mich zurück in die Gegenwart. »Morgen früh rufe ich Brandner an. Er schuldet uns einen Gefallen. Als Direktor eines Zoos mit Eulenvoliere dürfte er uns weiterhelfen können.« Die Erinnerung an meine Entführung saugte mir sämtliche Kraft aus dem Knochenmark. Die Strapazen des Reisetags taten ein Übriges. Selbst das Gähnen fiel schwer. »Wir treffen uns um zehn Uhr vor dem Haupteingang«, sagte ich.

2. KAPITEL

EIN TAUSENDER FÜR DEN KOPF VON RAMBO

Es soll eine Hölle geben, in der Sünder bis in alle Ewigkeit mit Senioren in einer Schlange stehen müssen. Einen Vorgeschmack auf diese Folter bekommt man an Supermarktkassen, wo Heerscharen griesgrämiger Greise nur darauf warten, dir mit dem Einkaufswagen in die Hacken zu fahren. Danach überhäufen sie jeden frei werdenden Zentimeter des Transportbands mit Dörrpflaumen, Eisbein und Klatschzeitungen, obwohl du noch aufpackst.

Dass man sich im Leben zu oft über solche Nichtigkeiten aufregt, begreift jeder Wartende, wenn Senioren in der Reihe vor ihm anstehen.

Mir jedenfalls schien es, als hätte die Sonne bereits ein ordentliches Stück Morgenhimmel erklommen, seitdem ein Rentnerehepaar das Kassenhäuschen des Zoos belagerte. Die beiden hatten sich vorgedrängelt, weil sie angeblich nicht mehr so lange stehen konnten. Ihre Gebrechlichkeit hinderte die Ruheständler allerdings nicht daran, Centstücke aus dem Schlitz eines Sparschweins zu schütteln, um den Eintritt zu bezahlen.

Langeweile kam trotzdem nicht auf, weil hinter den Pensionären ein Mittvierziger mit ausrasiertem Dreitagebart seine Begleitung anbalzte. Die Wasserstoffblondine trug High Heels zu Leggins und das Jeanshemd so weit aufgeknöpft, dass ihre Silikonbrüste auch etwas sehen konnten.

»… aber die Krampen vom Compliance checken das eh nicht«, tönte der Mann so laut, dass alle Umstehenden die Wichtigkeit seiner Person erkannten. »Wenn sie den Overflow einsacken, fragt im Riskmanagement kein Schwein mehr nach Single Sign-ons.« Das Vokabular sollte auch dem Unbedarftesten klarmachen, dass der Mann einen Managerposten bekleidete. Er streckte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen, damit das Polo-Shirt hochrutschte. Sein entblößtes Sixpack lud alle Wartenden zum Bewundern ein. Dann stützte er sich am Kassenhäuschen ab, als müsste er das Gebäude vor dem Einsturz bewahren. Um uns das Betrachten des angespannten Bizeps zu ermöglichen, lag sein Mohairpulli trotz der Morgenfrische nur über den Schultern. »Meine Tippse textet seit Tagen die Jungs vom Customs Board wegen des Mission Statements an, bekommt aber immer nur Rückmeldung von so ’ner Truse ohne Durchblick«, erzählte er. »Im Development beamen sie auch bloß flowpots ins Datennirwana.«

Die Blondine himmelte ihn an, aber das Vakuum in ihren Kulleraugen verriet, dass sie kein Wort von dem Fachchinesisch verstand.

Romanov holte seine Tarotkarten aus der Innentasche des Gehrocks.

»Kommt Brandner zum Eingang?«, fragte er.

»Konnte ihn nicht erreichen«, sagte ich. »Die Zentrale wimmelte mich jedes Mal ab.«

Der Manager bückte sich nach einem zu Boden gesprungenen Centstück, um seinem Balzobjekt den Hintern zu präsentieren.

Einen Kängurusprung neben dem Kassenhäuschen befand sich ein Rolltor. Es versperrte Unbefugten den Zugang zum Parkplatz des Verwaltungsgebäudes.

»Lass es uns durch den Lieferanteneingang probieren«, schlug ich Romanov vor.

Mein Partner zog eine Tarotkarte aus dem Stapel, um sie mir zu präsentieren. Auf ihrem Bild hing ein Mann kopfüber am Galgen. Sein rechter Fuß steckte in der Henkerschlinge und die Arme waren auf den Rücken gefesselt. Eine im Mittelalter übliche Form der Folter. Trotz der misslichen Lage strahlte sein Gesicht Entspanntheit aus. »Der Gehängte will dir sagen, dass alles seine Zeit hat. Dass du dich in Geduld üben sollst. Die Karte warnt aber auch vor dem Ruin oder einer Sackgasse.«

»Wenn der Gehängte recht behält«, schlug ich Romanov vor, »leihen wir uns Geld von der Bank, um am Ende der Sackgasse einen Slow-Food-Imbiss zu eröffnen. Da drin warten wir dann auf bessere Zeiten!« Ich zog ihn am Arm mit mir.

Das Rolltor erwies sich als genauso verschlossen wie die Stahlgittertür für Fußgänger, aber im angrenzenden Mauerwerk befand sich eine Sprechanlage mit vier Klingeln. Auf keinem der Namensschilder stand Brandner.

Ich drückte alle Knöpfe gleichzeitig, trotzdem meldete sich nur eine Stimme.

»Ja?«

»Guten Morgen«, sagte ich. »Wir möchten zu Direktor Brandner.«

»Der Direktor kann aufgrund einer Ausnahmesituation keinen Besuch empfangen«, wimmelte die Stimme mich ab. »Auf Wiedersehen.«

Romanov deutete auf die Neuankömmlinge in der Warteschlange.

»Drei Plätze verschenkt«, sagte er. »Schönen Gruß vom Gehängten!«

Wir stellten uns hinter der Kleinfamilie an.

An den Ökoklamotten und dem ungesunden Teint der Erziehungsberechtigten erkannte man, dass sie ihr Morgenmüsli bei einer Tasse fair gehandeltem Kaffee selber schroteten. Außerdem zeugten die Magenfalten in den Leidensmienen von Selbstkasteiung und Sorge um den Weltfrieden. Ihre Tochter befand sich in jener vorpubertären Problemphase, die heutzutage bereits nach der Grundschule einsetzt. Die Enge ihrer Marken-Klamotten betonte das Übergewicht des Mädchens. Kinder entwickeln sich häufig zum Gegenentwurf der Eltern, da nützt alles Holzspielzeug dieser Welt nichts. Sie starrte auf ein Smartphone.

»Sieh nur, Prinzessin«, sagte der Familienvater. »Wir gehen in den Zoo!«

Das Mädchen tippte ohne aufzusehen Nachrichten in ihr Telefon. Wahrscheinlich verkündete sie allen Followern, dass ein Zoobesuch anstand.

Der Erziehungsberechtigte bemühte sich, die Aufmerksamkeit der Prinzessin zu erlangen. »Du glaubst nicht, wie viele interessante Tiere da leben!«

Seine Tochter zeigte ihm das Display des Handys.

»Die Zahl mag ja stimmen«, sagte ihr Vater, »aber gleich kannst du sie sogar anfassen!«

»Hier gibt es nicht mal Elefanten«, quengelte die Prinzessin. »Ich mag Elefanten aber am liebsten!«

Die Ökö-Mama lächelte in sich hinein. Sie kniff ihrem Mann ein Auge zu. »Vielleicht weiß der Papa ja mehr als dein Handy.«

Das Mädchen sah seine Mutter an, als wäre sie eine zu Recht mit Aussatz gestrafte Gotteslästerin.

Die Senioren hatten die Frau hinter der Kasse mit Fragen über Preisnachlässe für Rentner so weich gekocht, dass sie auch ohne den Gesamtbetrag zu bezahlen eintreten durften.

»Tach!«, sagte der Manager mit dem Dreitagebart. Er sah erst die Dame im Häuschen, dann seine Begleitung voller Erwartung an.

»Zwei Erwachsene?«, fragte die Kassiererin nach einer Weile. In ihrer Stimme lag schon jetzt ein Anflug von Gereiztheit.

»Meine Firma …«, sagte der Manager in einer Weise, die alle Zuhörer an einen Weltkonzern denken ließ, »übernimmt so viele Patenschaften für die Tiere dieses Zoos, dass in Ihrem Verschlag ein Foto von mir hängen müsste, um Ihnen die Chance zu geben, mich angemessen zu begrüßen. Da verlangen Sie ja wohl nicht, dass ich wie jeder x-beliebige Popanz Eintritt zahle?«

»Doch«, sagte die Kassiererin. Eine Wolke aus Mopsigkeit umwaberte sie. Mit Perücke, Designerklamotten und einem Fitnesscoach hätte sie Karneval als Victoria Beckham gehen können.

Der Manager packte das Ablagebrett der Kasse, als wollte er es herausreißen, um sie damit zu verprügeln. »Ich möchte Ihren Vorgesetzten sprechen«, sagte er. »Sofort! Nein, warten Sie! Schaffen Sie mir den Chef vom Ganzen her. Der Brandner bettelt mich alle naselang wegen einer weiteren Spende an, da können wir uns gleich über den Grund meiner Absage unterhalten. Danach sehe ich mir con mucho gusto an, wie er Sie vor dem Rausschmiss runterputzt.«

»Den Herrn Direktor holen?«, stammelte die Kassiererin. »Das geht zurzeit überhaupt nicht. Melden Sie sich später noch mal bei mir. Ich versuch ihn an die Strippe zu bekommen.«

Der Zeigefinger des Managers bedrohte die Kassiererin, während er die Wasserstoffblondine durch den Eingang schob, ohne den Eintritt zu bezahlen.