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Mirjam Phillips & Toby Martins (Hg.)
Handwerk hat blutigen Boden

Mirjam Phillips & Toby Martins (Hg.)

Handwerk hat blutigen Boden

Kriminalgeschichten

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Originalausgabe

© 2016 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: info@kbv-verlag.de

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von: © donatas1205

Bildnachweis: Werkzeugkiste © donatas1205

Blutstropfen © Dmitriy Lesnyak - alle www.fotolia.de

Print-ISBN 978-3-95441-324-9

E-Book-ISBN 978-3-95441-341-6

Inhalt

Der Panikraum (Architekt)

von Karr & Wehner

Der böse Blick des Bööggs (Bauunternehmer)

von Christoph Badertscher

»Chesa Zuppeda« – das versteckte Haus (Statiker)

von Daniel Badraun

Zusammengefaltet (Maurer)

von Manfred C. Schmidt

Hinter den Steinen (Maurer)

von René Paul Niemann

Der Balkon (Steinmetz)

von Sonja Höstermann und Inga Brodersen

Die Saat des Bösen (Zimmermann)

von Nadine Buranaseda

Two in one (Tischler)

von Biggi Rist

Der Wasserhahn tropft (Klempner)

von Regine Kölpin

Strom ist nützlich (Elektriker)

von Gesa Schwarze

Wat mutt, dat mutt (Fliesenleger)

von Ulrike Barow

Der Dachdecker von Ovelgönne (Dachdecker)

von Jens-Ulrich Davids

Die schöne Glaserin (Glaser)

von Marlies Kalbhenn

Meister Maik heizt Ihnen ein! (Heizungsinstallateur)

von Tatjana Kruse

Der Mann im Haus (Allround-Handwerker)

von Mirjam Phillips

Aufs Parkett gelegt oder Wem der Boden zu heiß wird (Parkettverleger)

von Jürgen und Marita Alberts

Das Duell (Mechatroniker)

von Gunter Gerlach

Passlich eingerichtet (Innenarchitekt)

von Toby Martins

Killerlatein (Maler)

von Eva Lirot

Der Hingucker (Dekorateur)

von Sandra Lüpkes

Das Gips doch gar nicht (Stuckateur)

von Ralf Kramp

Sicherheit ist planbar (Sicherheitstechniker)

von Peter Godazgar

ÄTZEND (Swimmingpoolbauer)

von Anja Ulbig

Schornsteinfeger bringen Glück (Schornsteinfeger)

von Jürgen Ehlers

Meyer und sein Fadenmäher (Landschaftsgärtner)

von Barbara Saladin

Ein Stück Zaun, von Hand gemacht (Zaunmacher)

von Manfred Baumann

Die Autorinnen und Autoren

ACHTUNG: Das Betreten dieses Fundstückes erfolgt auf eigene Gefahr!

Ein eigenes Heim auf sicherem Grund,
ist ein sicherer Hafen zu jeder Stund’…

… trifft auf die folgenden Kurzkrimis nicht zu.

Dass sich so manch ein Bauherr in falscher Sicherheit wiegt, die Täter sich fast immer auf ihr Handwerk verstehen und Haus und Garten zur tödlichen Falle werden können, beweisen die 29 Autoren und Autorinnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, deren Werke Sie in der Hand halten. Hier hat Handwerk BLUTIGEN Boden!

Nie wieder werden Sie so unbekümmert ein fremdes Haus betreten oder einem Unbekannten mit Werkzeugkoffer die Tür öffnen.

Wir garantieren Ihnen ein „un-HEIM-liches“ Lesevergnügen.

Ihre Herausgeber

Mirjam Phillips und Toby Martins

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Der Panikraum

von Karr & Wehner

Freitag, 5. August
Mein Gott, was für ein Auftrag! Den muss ich haben! So leicht habe ich mein Geld noch nie verdient. Was für ein schräger Typ. Wenn das klappt, wird das die ganz große Nummer.

Der Reihe nach: Er habe von mir gehört, sagt er am Telefon. Woher und vom wem habe ich noch nicht rausgekriegt. Er ist jedenfalls der festen Überzeugung, dass ich, Maximilian M., Architekt – Bauplanung und Bauausführung – sein Mann bin.

Für sein Bauprojekt.

Der Anruf war um halb zehn gekommen, um zwölf saß er schon bei mir, erst mal das Vorhaben vorstellen. Susanne, meine Praktikantin, war in der Mittagspause. Wir waren allein im Büro.

Arno Holland, Privatier, vorher ein hohes Tier im Justizwesen. Mitte 60, stahlgraues Haar, schlank, Typ Marathonläufer, braungebrannt, fit wie zwei Turnschuhe. Er hat sich ein Grundstück gekauft, draußen am Hönneufer. 2000 qm, mit einer alten Villa aus den 30er Jahren drauf. Leerstand seit fünf Jahren.

Zuerst dachte ich, dass er nur die Villa sanieren will, so ein Killefitt-Auftrag, Altbau-Scheiß, an dem man wochenlang sitzt und kaum etwas verdient, selbst wenn man die Bauleitung macht und mit den Handwerkern das eine oder andere zur Seite schieben kann.

Aber nach einem Viertelstündchen kam er mit dem wirklichen Job um die Ecke. Und ich sag nur: Mann-o-Mann. Das ist fast der weiße Wal für einen wie mich, also gerade mal 34, und mit seinem Büro neu auf der Szene.

Jackpot. Bingo.

Dienstag, 16. August

Holland ist ein Arsch, aber ein Arsch voll Geld, und er hat diesen Auftrag. Und er weiß, dass er ihn hat, deshalb verhandelt er knallhart. Und entweder hat er schon Erfahrung oder jemanden, der ihn berät. Also Beauftragung LP 1 und 2, Grundlagenermittlung und Vorplanung und dann sehen wir weiter, so wie man es normalerweise macht – da lächelt er nur sein schmales Lächeln und sagt, wie er es sich vorstellt. Und so wird’s dann wohl auch gemacht, bis hin zu LP 9, Gewährleistung, was kein Architekt gerne macht.

Über seine Finanzierung verliert er kein Wort. Ich habe mir seine Schufa und die Creditreform geholt, alles sauber, und ich habe den Verdacht, dass er das Projekt aus seinem Privatvermögen bezahlt. Anyway – jetzt liegt der Vertragsentwurf beim Anwalt und in zwei Wochen ist Unterzeichnung.

Donnerstag, 18. August

Schlecht geschlafen. Geträumt, wieder am Fluss, die Kälte gespürt, das Wasser bis zur Brust und dann schweißgebadet hochgeschreckt. Konnte nicht wieder einschlafen, bin joggen gegangen. Morgens um halb sieben, in die aufgehende Sonne. Im Büro fragt mich Susanne, ob sie nicht auch mal bei einem Auftrag etwas eigenverantwortlich machen kann. Sie trägt ein halbes Dutzend Armketten mit glitzernden Glaswürfeln, die wie Rubine und Saphire leuchten. Ich verspreche, es mir zu überlegen.

Sie hat den Vertragsentwurf von Holland in der Post und gegen Mittag machen wir den Termin zur Unterzeichnung klar.

Montag, 29. August

Alles klar. Auftragsunterzeichnung, mit erster Planungsbesprechung. Der Scheck mit der Anzahlung ist so fett, dass er mir die Jackentasche ausbeult.

Es geht um einen Komplex von gut 100 umbauten Kubikmetern im Garten seiner Villa am Hönneufer, mit Zugang zum Kellergeschoss des Gebäudes. Eine Art Rettungsraum. Außerdem noch die Sanierung der Villa und des Gartens, aber das sind nur Peanuts im Vergleich zum real thing.

Ein Hochsicherheitsraum als Stahlbeton-Bauwerk. Zu 90 Prozent unterirdisch. Decken und Wandstärken von bis zu zwei Meter Beton. Je nach Tiefe und Bodenbeschaffenheit brauchen wir einen Verbau für die Baugrube.

Als Zeitrahmen habe ich grob mindestens ein Jahr kalkuliert. Geht ja nicht als Fertigteil. Alles kein Problem für Mister Money.

»Waren Sie das, da am Fluss?«, fragt er mittendrin auf einmal.

»Bitte?«

»Ich dachte, ich hätte Sie gesehen, beim Joggen, vor ein paar Wochen. Unten am Fluss.«

»Möglich.«

»Ich laufe da auch manchmal. Angenehmer Platz, nicht wahr?«

Egal wo und wann er joggt. Ich kalkuliere schon mal. Die Preise für Stahl sind gerade günstig. Die Wege für den Betonmischer in den Garten müssen abgeklärt werden.

Dann die ganze Routine: Brandschutz-Sachverständigen kontaktieren. Bauvoranfrage bei der Stadt stellen. Wasser- und Abwasserplanung, Elektro- und Sicherheitstechnik, die Lüftungsanlage mit dem haustechnischen Büro klären und so weiter und so fort …

Abends will ich den Auftrag mit Susanne feiern. So kühl, wie sie sich immer gibt, scheint sie gar nicht zu sein. Holland hat das sofort gemerkt, als er sie bei mir im Büro gesehen hat. Der kennt sich da wohl aus. Mir ist sein Blick aufgefallen, als sie reinkam, mit den Verträgen und dem Papierkram. Dem Glitzerkram an den Handgelenken. So ein Blick, unter halb gesenkten Lidern. Und nachdem sie wieder gegangen war, dieses kleine Lächeln zu mir rüber. Mit diesem Blick.

Als er dann endlich weg ist, gehe ich nach vorn und lege Susanne den Scheck hin. Ob sie den verbuchen kann. Und wir was trinken und essen gehen können, zur Feier des Tages.

»Klar«, sagt sie.

Na Doppel-Bingo!, denk ich. Aber als ich sie nach dem Essen abschleppen will, sagt sie, lieber nicht, sie hätte ihre Tage und lässt sich am Bahnhof absetzen.

Donnerstag, 8. September

Lauter Kleinkram: Bodengutachter eingeschaltet und Vermesser angerufen. Ich bespreche mit Holland, dass wir das ganze Ding am besten als »weiße Wanne« ausbilden. Und er soll abklären, ob er steuerlich und baurechtlich günstiger wegkommt, wenn er seinen Panikraum als Bunker deklariert. Dann brauchen wir allerdings Filteranlagen oder Sauerstofftanks. Oder doch Zuluft und Abluftkanal, per Sondergenehmigung für Kamine, die aber blöde aus der Erde ragen und immer von dem Elsternpack mit ihren Nestern verstopft werden.

Ohne Datum

Aufgewacht, hochgeschreckt, schweißnass. Herzklopfen. Panik. Erst langsam begriffen, dass das nur wieder der Traum war und nicht wirklich passiert ist. Oder doch? Weil ich weiß, dass ich nicht wieder einschlafen kann, gehe ich joggen. Im Morgengrauen, die Sonne geht erst auf, als ich schon auf dem Rückweg bin. Hat Holland nicht gesagt, dass er auch manchmal hier unten am Fluss läuft? Das wäre zehn Kilometer von seinem Haus entfernt. Ernsthaft? Ich werde nicht schlau aus ihm. Er lebt allein, da draußen in seinem Haus in Iserlohn, am Siedlerweg. Eins von diesen Siedlungshäusern, die sie sich im letzten Jahrhundert in Nachbarschaftshilfe gebaut haben. Wenn die Villa und der Panikraum fertig sind, will er da hinziehen, hat er angedeutet. Ich könnte ihn mal fragen, was dann mit dem Haus im Siedlerweg wird. Das könnte man nett sanieren, wäre dazu noch eine gute Kapitalanlage.

Freitag, 28. Oktober.

Es läuft. Perfekt. Ausschreibung Erdarbeiten, Rohbau mit den Abdichtungsarbeiten, Beton und Mauerwerk, die Haustechnik, Metallbauarbeiten, und viel später dann Trockenbau und Estrich laufen. Susanne hat wieder gefragt, ob sie sich nicht um das andere kümmern kann – Ausschreibung Putzarbeiten, Innentüren, Fliesen, Maler- und Lackierarbeiten und so weiter. Warum nicht?

Entlastet mich. Und das andere wird sich auch noch entwickeln.

Wie das mit der Haustechnik wird, müssen wir noch sehen, die Typen machen nur Ärger, sind nie pünktlich und wollen eine Menge Kohle fürs Nixtun. Ich schlage Mister Money vor, dass er das selber beauftragt, dann hat er den Ärger. Außerdem hat er ja den einen oder anderen Sonderwunsch. Was genau, will er noch nicht sagen. Ich habe das Gefühl, der will in seinem Panikraum später irgendwelche Partys feiern, Schwarze Messen oder Gruppensex oder weiß der Teufel was.

Er hat ein Auge auf mich, das spüre ich, auch wenn er es eher kumpelhaft anlegt. Kontrolliert alles, was ich mache, rennt auf dem Bauplatz herum und fotografiert.

Fragt nach den Angeboten zu den Gewerken, die reinkommen. Angebote sehen gut aus. Läuft.

Weihnachten/Neujahr, 2. Januar

Holland ist überall. Also – Arno. Wir sind jetzt per Du, denn wir haben zwischen den Jahren einen draufgemacht, in einem der Clubs, in denen die Kollegen aus den Großbüros feiern, wenn sie einen dicken Fisch an Land gezogen haben oder was mit den Herren vom Bauamt zu klären ist. TONIO. In der Altstadt, verstecktes, altes Gründerzeithaus, sagenhaft gut saniert. Überall Kameras, am Tor und vor der Tür.

Arno muss nur sein Gesicht hinhalten und schon geht alles auf. Er hat mir seine Hand auf den Rücken gelegt und schiebt mich rein, als würde er spüren, wie ich zögere. Drinnen ist alles geschmackvoller als ich gedacht habe. Marmorböden, Seidentapeten, klare Formen, offene Räume. Weiche Polster. Die Mädchen in Lack und Latex, High Heels. Stilettos klacken über die Bodenfliesen, die garantiert einen Tausender pro Quadratmeter kosten.

»Der Abend geht auf mich«, sagt Arno. »Hab Spaß!«

Er zieht mit einer androgynen Blondine ab, die nicht mehr trägt als zwei Straußenfedern.

Später tauchen die beiden unten beim Whirlpool auf, wo ich mit Ellen … nun ja. Es ist dämmrig und ich bin nicht ganz nüchtern und Ellen ist scharf. Arno und Blondie machen es sich uns gegenüber auf einer Liege gemütlich. Es geht rund.

Später, tief in der Nacht, als wir an der Bar noch einen Absacker nehmen, in Bademänteln und angenehm ausgepowert, sagt Arno, dass mich irgendjemand als Architekten für sein »Basement« empfohlen hat. So nennt er seinen Sicherheitsraum.

Erst denke ich, es ist dieser Bordellbesitzer aus Dortmund gewesen. Aber dann erzählt Arno irgendwas von Kollegen aus dem Justizministerium, und da fällt mir die Grauhaarige mit ihrem Porsche Turbo S ein. Schwarzes Cabrio, rote Ledersitze. Und diesem ausgefallenen Nummernschild NRW 5-5555.

Für den hatte ich diesen Schwarzbau ins Naturschutzgebiet geplant, als Subsubunternehmer für diesen Typen aus Düsseldorf, der seinen Namen nicht auf den Bauplänen sehen wollte. Der könnte gut aus dem Justizministerium gewesen sein.

Aber egal, Hauptsache Arno ist mit mir zufrieden.

»Du machst das ganz prima, Max!«, sagt er und legt mir die Hand auf die Schulter. Er lächelt, aber irgendwie ist da keine Wärme in seinem Blick.

Später hat mich dann noch ein anderes Mädel abgeschleppt, unten in den Keller des Clubs, wo sie einen Darkroom haben und die speziellen Zimmer. Ich begreife erst, wie gefährlich das werden kann, als wir schon mittendrin sind, in diesem Zimmer mit der Streckbank, dem Bock und dem Andreaskreuz. Das Mädel zuckt unter mir und schnappt nach Luft, ich habe meine Hände an ihrem Hals, und ich spüre die Ohrmuschel zwischen den Zähnen und will beißen, als mich einer von den Türstehern von hinten wegreißt. Natürlich haben die auch da unten Kameras. Zum Glück für das Mädel. Oder für mich? Ich hab keine Ahnung.

»Alles in Ordnung?«, fragt Arno, als mich der Türsteher an die Bar zurückschleppt.

Alles in Ordnung, versichere ich ihm, und er nickt dem Türsteher zu, dass er mich loslassen kann.

12. April

Alles läuft nach Plan. Susanne entwickelt sich. Nimmt mir den ganzen Kleinkram ab. Ich hab ihr eine neue von diesen Glasketten geschenkt: »Wegen der Überstunden.« Aber sie ist nicht darauf eingegangen, hat sich nur bedankt und gefragt: »Was baut sich der Holland denn da eigentlich genau?«, als sie die ganzen Pläne sieht, die vom Zeichner zurückkamen.

»Sicherheitsraum«, sag ich.

»Sicherheitsraum?«

»Ja. Paranoia, wahrscheinlich.«

»Paranoia?«

»Manche haben Paranoia wegen Überfällen, Krieg, Erdbeben, Meteoriten, der Klimakatastrophe oder der Pest. Solche Sachen. Dann wollen sie vorbereitet sein.«

»Krank«, sagt sie.

25. Juni

Sie wehrt sich, will schreien, aber ich habe die Hand auf ihrem Mund. Sie beißt, ich drücke zu, schlage mit der andere Hand zu. Fest, in den Bauch, wieder und wieder, sie stöhnt und kämpft und ich sehe die Schmerztränen in ihren Augen, diesen Blick voller Panik, und spüre die Zähne in meiner Hand.

Zugleich spüre ich da noch etwas, etwas Erregendes, Geiles, wenn sie sich unter mir windet, um freizukommen. Aber ich lasse sie nicht frei. Beuge mich hinunter, lecke über ihre Ohrmuschel, sie schreit, es schießt mir ins Blut, ich … Und dann drücke ich fester … fester, fester. Bis das Rauschen in meinen Ohren abreißt, sie sich nicht mehr bewegt, mir der Schweiß von der Stirn läuft und ich spüre, dass ich gekommen bin. Caroline. Sie rührt sich nicht. Caroline. Sie atmet nicht mehr. Caroline. Sie lebt nicht mehr.

Caroline ist tot.

Ich schrecke auf, schweißgebadet. Zitternd. Bin noch so weit im Traum, dass ich denke, alles sei eben erst geschehen.

Und nicht vor 10 Jahren. Mit Caroline.

Sie war 19, ich war 24. Sie ist tot. Und ich lebe.

Ich brauche wieder fast eine halbe Stunde, bis ich mich beruhigt habe. Weil ich weiß, dass ich nicht wieder einschlafen kann, gehe ich laufen. Es wird Sommer, die Sonne steigt schon früh am Morgen über dem Fluss auf. Hat Arno nicht gesagt, dass er auch manchmal diese Strecke läuft, obwohl er fast am anderen Ende der Stadt lebt?

Das Laufen beruhigt mich. Ein wenig wenigstens. Am Fluss entlang, an der Stelle vorbei, an der es passiert ist.

Mit Caroline. Wir waren nicht wirklich zusammen, nur Praktikantenkollegen in einem Architekturbüro in Dortmund, eine dieser Planungsfabriken, in denen man einen Auftrag nach dem anderen runterreißt. Bürohäuser, Geschäftspassagen, irgendwelche Sanierungen von Siebzigerjahre-Abschreibungsruinen.

Wir waren ein paar Mal ausgegangen, in Kneipen, getanzt, geknutscht, mehr nicht. Aber irgendwie hatte ich gewusst, dass da mehr ist.

An diesem Wochenende zum Beispiel. Wir hatten am Nachmittag im Reinoldipark in der Sonne gelegen, unsere Hände aufeinander, dann auf Wanderschaft auf unseren Körpern. Heiße Küsse und heftiges Gefummel, bis die Rentner, die ihre Hunde ausführten, losmeckerten, wir sollten uns ein Zimmer nehmen.

Wir lachten.

Später, nachdem es passiert war, am Fluss, kauerte ich zitternd neben Caroline. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich brauchte, um klarzukommen. Sie war tot. Tot, tot, tot.

Dafür gehe ich in den Knast.

Sie muss weg. Ich zerre ihr die Kleider vom Leib, die Jacke, das Shirt, die Jeans, den Slip, alles, bis sie nackt ist. Dann zerre ich sie zum Wasser, ziehe sie hinein, weiter und tiefer, bis ich bis zum Hals im Wasser stehe und sie endlich von der Strömung erfasst und abgetrieben wird.

Ich brauche endlos lange auf den glitschigen Steinen zum Ufer zurück. Greife mir ihre Klamotten und schleppe mich zum Wagen.

Ich bebte vor Kälte und Angst, als ich losfuhr.

Es dauerte ein paar Tage, bis man Caroline vermisste. Keiner machte sich große Gedanken. In ihrer WG nahm man an, dass sie mit einem Typen nach Indien oder Thailand abgehauen war. Erst als nach vierzehn Tagen die Leiche am Wehr in Dahlhausen angetrieben wurde, kam die Polizei ins Spiel. Aber das Wasser hatte wie erwartet fast alle Spuren vernichtet. Und wenn da noch etwas gewesen war, dann konnte man es bei den Ermittlungen niemandem zuordnen. Wie etwa die Bissspuren an ihrem Ohr. Oder gab es doch noch etwas, was mich hätte verraten können?

Die Kripo kam mit drei Leuten ins Büro und befragte jeden. Wie sie so gewesen wäre, mit wem sie Umgang gehabt hätte, ob sie von Freunden gesprochen oder sich bedroht gefühlt habe. Doch keiner konnte was Genaues sagen. Wer war sie schon – eine Praktikantin, die sie hier durchschleusten und an deren Namen man sich nicht mehr erinnerte, wenn sie die Tür hinter sich zugemacht hatte. Keiner wusste das besser als ich. Ich war schließlich auch nur Praktikant.

Ein paar Wochen war ich nervös. Zwei Kripobeamte kamen noch mal, fragten die Chefs und dann auch mich, weil man uns ein paar Mal hatte zusammen herumstehen sehen. Danach passierte nichts. Erst fünf Jahre später gab es einen Bericht in der Zeitung: Wer tötete Caroline K.? Es ging um den leitenden Ermittler, der in den Ruhestand ging und sich an seine bemerkenswertesten Fälle erinnerte. »… seltsam waren die auffälligen Bissspuren am Ohr der Toten. So etwas hatte ich bisher noch nie gesehen.«

23. September

Arnos Panikraum ist fertig. Oder fast. Es gibt noch einige Arbeiten, die er selbst beauftragt hat. Keine Ahnung, was das sein soll. Jedenfalls hat er mich gebeten, mit der Schlussrechnung noch ein paar Wochen zu warten. Nicht dass ich Sorgen habe, dass er mir was schuldig bleibt…

Er hat mich eingeladen, um eine Schlussbegehung zu machen.

Zwei Tage später

Nichts. Totenstille. Der kühle Strom der Belüftung trocknet mir den Schweiß.

Ruhig.

Was ist passiert …

Ich bin pünktlich zur Schlussbegehung gekommen, er wartete auf mich im Garten der alten Villa.

»Schön, dass du es einrichten konntest!« Arno gab sich jovial. Hatte Gin Tonic gemacht, nahm sich auch einen. »Gehen wir mal runter.« Es ging über die Treppe in den Gang, der den Keller der Villa mit dem Panikraum verbindet. Es roch nach frischer Farbe, die Luft war kühl, die Klimaanlage lief schon.

Die erste Stahltür, die zweite, und die Schleuse nach unten. Auf die er bestanden hatte. Er ließ mich vorgehen. Ich merkte zu spät, dass er nicht nachkam. Und dann spürte ich auch schon die Schwäche in den Beinen, den Schwindel von dem Zeug, das er mir in den Drink getan haben muss.

Und es wurde schwarz …

Als ich wieder zu mir kam, dröhnte mir der Kopf. Ich lag auf einer Pritsche, die Wände waren aus Beton. Langsam wurde das Bild deutlicher, und ich begriff, dass ich in Hollands Panikraum lag, in dem zweiten kleinen Raum, den ich als Raum B eingezeichnet hatte.

Was zum Teufel …

Als ich mich aufrichtete, entdeckte ich meinen Laptop auf dem kleinen Tisch, davor ein Stuhl.

Außerdem eine Flasche Mineralwasser. Ich trank durstig, wollte sofort raus … aber die Tür war verschlossen. Zufall? Nein, sicher nicht. Der Schweiß brach mir aus. Obwohl ich wusste, dass es keinen Sinn hatte zu klopfen oder zu rufen, schrie ich und hämmerte gegen die Tür.

Nichts. Totenstille. Der kühle Strom der Belüftung trocknete mir den Schweiß.

Ruhig.

Ganz ruhig.

Ich klappe den Laptop auf und schon nach einer Sekunde startet ein Video.

Ich sehe Arno. Sein Gesicht ist unbewegt, sein Blick von einer Kälte, die mich frieren lässt.

»Hallo«, sagt er und hält ein Foto in die Kamera. Eine Frau, blond, Jeansjacke, buntes Top … ich friere, Caroline.

»Meine Nichte«, sagt Arno. »Du hast sie gekannt. Und ich weiß, dass du sie umgebracht hast, damals am Fluss. Ich habe mir die Ermittlungsakten angesehen, in meiner Position ist das nicht schwer, wenn man die richtigen Leute kennt. Und ich kenne sie.

Der leitende Ermittler hat hinter deinem Namen viele Fragezeichen gemacht. Grund genug, mich näher mit dir zu befassen. Und je länger ich das tat, desto klarer wurde mir, dass du Caroline umgebracht hast. Und ich dich dafür bestrafen würde.«

Arno macht eine Pause, trinkt einen Schluck aus einem Glas, das ihm jemand reicht. Ein Handgelenk mit Glitzerarmbändern taucht kurz im Bild auf. Verschwindet.

»Die letzte Sicherheit gab mir das Mädel aus dem Club. Sie war nicht zufällig da. Ich habe mit den Sicherheitsleuten an der Videoüberwachung gesessen, als du sie dir in dem Spezialraum vorgenommen hast. Als du die Beherrschung verloren hast. Als du ihr ins Ohr gebissen hast und deine Hände um ihren Hals lagen, genau wie bei Caroline.«

Wieder eine Pause.

»Deshalb ergeht jetzt das Urteil. Ich verurteile dich zu lebenslänglich. Hier, in diesem Gefängnis, das du dir selbst gebaut hast. Eine interessantes Konzept nicht wahr? Lebenslänglich Einzelhaft. Und ich kümmere mich um dich; solange ich am Leben bin, bleibst du am Leben. Für den Fall, dass mir etwas passiert, habe ich keine Vorsorge getroffen. Ich finde, diese Ungewissheit gibt der Sache einen ganz besonderen Reiz. Du kannst nie sicher sein, ob die nächste Versorgungslieferung auch wirklich kommt …«

Arno spricht weiter, aber ich bekomme es nicht mehr mit. Das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich spüre einen Druck auf der Brust, der mir den Atem nimmt. Ich schnappe nach Luft, spüre das Herz rasen, will raus – und stoße nur auf meterdicken Beton. Auf mein Gefängnis …

Drei Wochen ist das jetzt her, seit drei Wochen bin ich sein Gefangener. Drei Wochen, in denen ich zusammengebrochen bin, mit Panikattacken, Herzschmerzen, Atemnot. Um Hilfe geschrien, gebettelt habe, weil ich sicher bin, dass er mich mit Kameras überwacht, die er hinter meinem Rücken eingebaut hat.

Alle zwei Tage liefert er Essen in der Schleuse. Billiges Zeug, Fast Food, in Papiertüten. Ich vegetiere nur noch. Das Toilettenpapier ist alle und ich benutze die Papiertüten. Er muss die Dusche geregelt haben, es gibt nur alle vier Tage für ein paar Minuten kaltes Wasser. Gestern habe ich den letzten Rest aus der Zahncremetube gequetscht. Ich habe nur meinen Laptop, dessen Akkus ich aber nicht aufladen kann, weil es keine Steckdose gibt. Ich bin sehr sparsam mit den Akkus umgegangen, habe den Laptop nur eingeschaltet, um mein Tagebuch weiterzuschreiben. Aber auch das wird bald nicht mehr möglich sein, weil die Energie zu Ende …

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Der böse Blick des Bööggs

von Christoph Badertscher

Waldmanns neuster Coup: die Expat-Kugel. Mietwohnungen der Luxusklasse mitten in Zürich, mit Seeanstoß und unverstellter Sicht – für Topmanager aus dem Ausland, die nur für ein paar Jährchen in die Schweiz kamen und nicht gleich eine Villa kauften. Oben und unten Appartements mit vier oder fünf Zimmern für Singles, in der Mitte Suiten für hochbezahlte Führungskräfte, die ihre Familie gleich mitbrachten. Neider behaupteten, die Wohnlandschaften seien ausladend genug, um darin Ehefrau und Geliebte unterzubringen, ohne dass diese Gefahr liefen, voneinander auch nur zu erfahren.

Der Kugelform verdankte das Prachtstück auch seinen Übernamen. Die einen meinten mit »Blase« den kulturellen Hohlraum, in dem die des Deutschen nicht mächtigen »expatriates« sich bewegten. Die andern die Immobilienspekulation, welche die Preise in der Metropole in so schwindelerregende Höhen trieb, dass Einheimische sie sich kaum mehr leisten konnten. Die Dritten die vesica urinaria, an deren Farbe der spiegelnde Neubau erinnerte, wenn er das Morgenlicht auf die Schifflände warf: ein Organ mit geringem Prestige, aber umso höherem Nutzen, das selbst bei Millionären, die sich nur caffè macchiato und Grenache noire gönnten, gelegentlich geleert sein wollte.

Der Spott kümmerte Waldmann wenig, denn der Bau versprach phänomenale Renditen. Ohnehin war er ganz damit beschäftigt, sein Wirkungsfeld an die Nordsee auszudehnen, wo er einen aufsehenerregenden Sitz für die größte Bremer Schifffahrtsgesellschaft bauen wollte. Um die Chancen auf den Zuschlag zu erhöhen, galt es, deren Besitzer an das Sechseläuten zu lotsen und bei einem gehörigen Gelage die geschäftlichen Beziehungen zu festigen. Die Bande in die Hansestadt war schon geknüpft, denn im Vorjahr wurde der Präsident des Zentralkomitees der Zürcher Zünfte zu der dortigen Schaffermahlzeit geladen, bei der das Haus Seefahrt um Spenden zugunsten Bedürftiger warb. Mit seiner generösen Gabe bereitete er unfreiwillig den Boden für Waldmanns Expansion. Dieser musste einzig noch dafür sorgen, dass an die Limmat nicht der offizielle Gast kam, nämlich der Vorsteher der Stiftung, welche den Bremer Traditionsanlass durchführte, sondern dessen Stellvertreter, Kapitän Smidt, der Besitzer ebenjener Reederei. Zu diesem Zweck sandte er in seiner Eigenschaft als Ehrenmeister der Zunft zum Leu dem Vorsteher als Vorgeschmack auf Zürcher Gaumenfreuden eine Schachtel leicht verderblichen Mandel-Eiweiß-Gebäcks mit Buttercreme-Füllung. Äußerlich überstand die nach einem mitteleuropäischen Großherzogtum benannte lokale Spezialität die Reise bei unüblich warmen Temperaturen gut. Der Beschenkte, ein Feinschmecker, der nach eigenen Worten weniger auf »deftig« als auf »dolce« stand, ließ niemanden daran teilhaben, sondern verschlang die Delikatesse trotz empfindlichem Magen ganz allein. Nach seinem Hinscheiden hielt sich hartnäckig das Gerücht, die Lebensmittelintoxikation sei die fatale Spätfolge des letzten tonnenschweren Sechsgängers mit Seefahrtsbier in der rauchgeschwängerten Oberen Rathaushalle.

So saß beim Mittagessen vor dem Festzug durch die Zürcher Altstadt neben Waldmann denn ein kleiner, schweigsamer Kerl in Kapitänsuniform. Von der Unterhaltung verstand er nicht eben viel – zu dialektal war das Deutsch, zu hoch der Lärmpegel, zu gering seine Kenntnis der lokalen Sitten. Misstrauisch stocherte er im Geschnetzelten, als fürchte er, auf der kurzen Reise von der Küche bis zur Tafel sei das Kalb verdorben. Waldmann entschuldigte sich für das im Vergleich zum Bremer Schmaus frugale Mahl, zu dem nicht einmal Wein gereicht wurde; schließlich sollten die Reiter den Pferden nicht im Übermut die Sporen geben, noch ehe sie im Finale den Böögg umkreisten. Immerhin konnte er den Kapitän auf den Abend vertrösten, denn standen die Tiere erst einmal im Stall, floss für den Herrn so reichlich Rebensaft wie Wasser für den Hengst. Auch das Geschäftliche musste bis nach der Dämmerung warten. Der Gastgeber zählte fest darauf, dass beim Zuprosten nach überstandenem Ritt selbst der spröde Reeder etwas auftaute und die Nacht mit einem Handschlag endete.

Vorläufig aber galt die Plauderei den seltsamen Zürcher Bräuchen. Waldmann machte Smidt mit der Stadtlegende vertraut, nach der Zürich nur ein schöner Sommer bevorstand, wenn der Kopf des Bööggs nach kurzer Zeit explodierte. Heftig stritten sich seine Mitzünftler darüber, woher die Bezeichnung für den Schneemann rührte, den man als Symbol für die kalte Jahreszeit verbrannte. Von »bogeyman« leiteten sie die Expats ab, von »Bösmann« die seriösen Sprachwissenschaftler, von »Buhmann« die Volksetymologen, von »Waldmann« seine zunftinternen Gegner. Für einmal war der Ehrenmeister froh, dass sein aufgedunsener Leib und sein kugelförmiger Kopf unübersehbare Ähnlichkeit zu der mit Holzwolle und Knallkörpern vollgestopften Winterfigur hatten. So ließ sich der Scherz mit einem gutmütigen, wenn auch etwas gezwungenen Lachen abtun.

Damit das Gespräch nicht etwa auf die Zeitungsmeldungen kam, die seine Kontrahenten beflügelten, zählte er dem Kapitän mit lauter Stimme auf, was dem Böögg im Lauf der Jahrzehnte schon widerfahren war: zu früh angezündet, vom Holzstapel gefallen, in den See gekippt, von Aktivistinnen entführt. Überhaupt: die Frauenfrage – ein gefundenes Fressen. Obwohl er sich insgeheim viel lieber mit dreihundert Weibern in den Sattel geschwungen hätte, gab er sich vor Smidt als unnachgiebiger Verfechter der Zunft als Männerbund.

»Wären wir doch so konsequent wie ihr in Bremen: ein paar weibliche Gäste nur im Nebenraum.«

»Die Damen«, bestätigte Smidt trocken, »mögen eben keinen S-tockfisch und Pinkel.«

»Wenigstens steht der Gesellschaft zu Fraumünster keine Reiterinnengruppe zu«, höhnte Waldmann. »Zwar tragen sie Kostüme aus der Zeit, als die Äbtissin der Stadt vorstand, doch durchqueren sie diese zu Fuß.«

Als man die Pferde bestieg, blieb der Kapitän an Waldmanns Seite. Die Auszeichnung, den Ehrengast mitzuführen, kam der Zunft zum Leu zu, als der ältesten, die auf eine Handwerkervereinigung zurückging, jene der Ofensetzer. Faktisch bestand allerdings seit dem Vorletzten Jahrhundert keine Bindung mehr zu den Berufsleuten, die einst auch Fliesen und Mosaike Verlegten. Heute zählten zu den Mitgliedern Baulöwen, ein Konzertmeister, ein Zoo- und ein Gefängnisdirektor – alle in historischem Gewand. Da fiel eine Schiffsuniform, so exotisch sie sich zu Pferde ausnahm, nicht weiter auf.

Kaum war der Tross gestartet, zum flotten Rhythmus des einst aus Preußen eingeführten »Marsches der freiwilligen Jäger«, hob sich Waldmanns Stimmung. Die ganze Stadt in Festlaune. Auch hatte das sich am Straßenrand drängende Volk bei der gestrigen Abstimmung in seinem Sinn entschieden: Künftig erhielten Expats auch ohne Vertrautheit mit einer Landessprache die Niederlassungsbewilligung, wenn sie zu den guten Steuerzahlern gehörten. Damit war die Vollbelegung der Kugel auf Jahrzehnte gesichert. Passend dazu marschierte hinter ihm der Finanzdirektor des Gastkantons Zug, der die Ausnahme ersonnen hatte. Während dem Regierungsrat jedoch keinerlei Aufmerksamkeit zuteilwurde, liefen zu den Reitern in Waldmanns Gruppe strahlende Frauen hin. Sie kredenzten Sträuße und erhielten dafür einen Kuss. Waldmann hingegen flog einer der Weißfische ins Gesicht, welche die Stubengesellen der Zunft zur Schiffleuten zuvor mit schlüpfrigem Lachen ins Publikum schmissen. Der schuppige Kadaver landete unter den Hufen seines Pferdes, das ausrutschte und um ein Haar zu Boden ging. Einen zweiten Fisch, der sein Ziel verfehlte, bekam Smidt ab. Er deutete ihn als zum Umzug gehörendes Brauchtum und nahm ihn so klaglos hin wie einen Wurf über die Reling aus stürmischer See.

Waldmann wusste sehr wohl, aus welcher politischen Ecke der Angriff kam. Zum dritten Mal schon reichte eine kämpferische Gewerkschaft beim Staatsanwalt Klage gegen ihn ein, bloß weil ein indirekter Auftragnehmer, mit dem er nie etwas zu tun hatte, auf seiner Baustelle die Minimallöhne leicht unterbot und wegen Zeitnot ein paar unbezahlte Überstunden forderte. Zum Glück ahnte niemand, dass die Verspätung noch nicht aufgeholt und in der Kugel ein gutes Dutzend portugiesischer Plattenleger am Werk war – auch am heutigen Ruhetag, auch nach sechs Uhr. Das hätte Schlagzeilen gegeben! Hoffentlich erinnerte sich kein Zeitungsfritze daran, dass der Anlass auf das Frühjahrsfest zurückging, mit dem man bei der Tagundnachtgleiche den Arbeitsschluss zur sechsten Stunde feierte.

Beim Kontermarsch durch die Bahnhofstraße glaubte Waldmann für einen Augenblick doch tatsächlich die Ex-Präsidentin jenes streitbaren Verbandes zu erkennen: ein sehniges Frauenzimmer auf ausgehungertem Pferd. Die »rote Ruth« am Sechseläutenumzug – ein Ding der Unmöglichkeit. Eher hätte eine Zunft sich aufgelöst, als die militante Aktivistin einzuladen, die zu allem Übel auch noch der AUNS vorstand, der »Aktion für ein unpaternalistisches und nicht diskriminierendes Sechseläuten«. So sicher ihn eben seine Sinne getäuscht hatten, so real war die Gefahr, die von der Rothenberger ausging. Seit heute Morgen wusste er, dass sie sich, getarnt als Praktikantin im Zweitstudium, Zugang zum Büro seines Architekten verschafft hatte. Ihr Ziel: die Dokumentation zur »Blase«. Zu finden gab es da allerhand. In den Papieren für den Statiker etwa fehlte der Hinweis auf die besonders tiefe Seeablagerung, welche die Tragfähigkeit des Grundes beeinträchtigte. Ohne kleine Manipulation hätte man zur Ableitung des Gewichts in stabilere Schichten das ganze Gelände mit Pressbetonkleinbohrpfählen verstärken müssen, einzig für den Fall eines Erdbebens, wie es in dieser Region gerade mal alle tausend Jahre vorkam. Bei Bauingenieuren und Beamten war Übervorsicht ja eine Berufskrankheit.

Als es über den Limmatquai zum See und zum Sechseläutenplatz ging, sah er sich aus dem Augenwinkel ständig nach der »roten Ruth« um, doch sie erreichten ohne Störaktion ihr Ziel: den Böögg über dem dreizehn Meter hohen Scheiterhaufen. Auf den sechsten Schlag der Kirche St. Peter entfachten Männer mit Fackeln das darin eingelassene Stroh. Während das Feuer züngelte, schien Waldmann, die Glupschaugen des Wintersymbols richteten sich schadenfroh auf ihn. Erst das hart im Wind flatternde Zunftbanner des ersten Reiters brachte ihn zur Besinnung; er trieb sein Pferd an und bildete den Abschluss der den Schneemann umrundenden Gruppe. Der hämisch grinsende Schädel des Bööggs drehte sich jedoch exakt in seinem Tempo um sich selbst und ließ keine Sekunde von ihm, als stehe nicht er, sondern Waldmann im Zentrum des Spektakels.

Die Flammen fraßen sich indessen hinauf und schwärzten den weißen Leib. Zu Pferde und zu Fuß erwartete man die Explosion des Kopfs – da preschte die AUNS auf den Platz und drängte in den innersten Zirkel. Die magere Mähre ihrer Anführerin stieß gegen Waldmann, sein scheuendes Ross warf ihn in hohem Bogen ab. Er fürchtete schon, zertrampelt zu werden wie zuvor der Fisch, so nahe preschten die Weiber an ihm vorbei. Ehe ihm jemand zu Hilfe eilte, gelang es ihm, in einer Lücke zum Haufen hin zu rollen, wo brennende Fetzen flogen und Rauch aufstieg, er aber sicher vor den Tieren war. Der Boden unter ihm schien zu beben. Die trampelnden Hufe? Eine Erderschütterung?

Die Eindringlinge galoppierten in Gegenrichtung zu den verblüfften Zünftlern im Kreis. Im Visier hatten sie nicht etwa den Ehrenmeister, sondern die Gesellschaft zu Fraumünster, welche die Verbrennung neuerdings aus der vordersten Reihe verfolgen durfte. Die Rothenberger richtete ihre Büchse im Trab auf deren Vorsteherin, ihre Intimfeindin, die sich so lange dazu hergegeben hatte, den Männerbündlern in einer Alibiprozession voranzuschreiten, und nach wie vor auf Pferde verzichtete. Mit Gummigeschossen riss sie ihr die Krone vom Kopf und den Stab aus der Hand.

Raunen, Aufschrei, Händeklatschen.

Einzig der stoisch weiterreitende Smidt glaubte da noch, Zeuge hiesiger Riten zu sein.

Dem Böögg fielen derweil fast unbemerkt die Arme vom lodernden Leib. Der Kopf flog, statt zu explodieren, in die Höh, als fliehe er vor dem Flammentod. Am höchsten Punkt hielt er inne und richtete, leicht nach vorne geneigt, seinen zerstörerischen Blick auf die »Blase« am anderen Ufer des Sees. Die Kugel erzitterte, ihre Panoramafenster barsten, die Betondecken stürzten eine um die andere ein, bis aus der Staubwolke nur noch Stahlträger ragten, auf deren höchstem, wie zuvor der Böögg auf seinem Gerüst, ein portugiesischer Plattenleger steckte.

* * *

In der Strafanstalt absolvierte Waldmann eine Lehre als Maurer. Er gab sich diszipliniert und angepasst: hielt seine Zelle sauber und überschritt mit seinen Ersparnissen nie den Maximalbetrag von 320 Franken. Ins Freie kam er nur einmal pro Tag, womit er nicht zu sehr haderte, denn der Sommer blieb dieses Jahr aus.

Die Zunft zum Leu hatte ihm nach der Verurteilung Mitgliedschaft und Ehrenmeistertitel aberkannt. Frauen bekam Waldmann im Gefängnisalltag keine mehr zu Gesicht; dafür träumte er jede Nacht, wie dreihundert Reiterinnen in knallengen Hosen auf knarrende Ledersättel stiegen. Vom Kapitän, der den neuen Sitz der Reederei durch einen Landsmann errichten ließ, hörte er nie mehr einen Ton, obwohl das Haus Seefahrt sich doch der Unterstützung in Not Geratener widmete. Wenigstens eine Schachtel Kluten hätte Smidt ihm schicken können; die Bremer Süßigkeit war deutlich robuster als die fragile Zürcher Spezialität und hätte die Häftlingskost doch verfeinert.

An die Wände seiner Zelle hängte er ein einziges Bild: den mit wenigen Strichen gezeichneten Löwen, der als moderne Version des Kantonsemblems auf allen Dokumenten der Vollzugsanstalt prangte. Aufgerichtet auf zwei Pfoten, die Mähne keck im Wind, die Augen halb geschlossen, zwinkernd und züngelnd zugleich, eine Tatze mit Besitzerstolz auf dem Wappen, die andere in die Luft gestreckt, bereit für neue Eroberungen.

Auf seiner Abteilung gehörte Waldmann bald dem tonangebenden Zirkel an – nicht aufgrund der Muskelkraft, die er durch das Mauern zurückgewann, sondern wegen seiner hervorragenden Kontakte in- und außerhalb des Knasts. Förderlich war seiner Stellung auch, dass er die dreizehn ausländischen Handwerker nicht eigenhändig in den Tod geschickt hatte, sondern sie einem Missverständnis beim Auftrag an den Statiker zum Opfer fielen. Ebenso hoch rechnete man es ihm an, dass er mit privaten Mitteln eine Stiftung zur Unterstützung der Witwen und Waisen ins Leben rief. Die Hinterbliebenen jener zwölf, die der Beton begrub oder der Staub erstickte, nahmen sein Angebot an, die einen mit Dank, die andern mit Schweigen. Die Gattin des dreizehnten jedoch, den der Stahlträger aufspießte, lehnte es ab. Mit dem ihr zugedachten Geld gründete Waldmann »Bene factum«, die Zunft der Wohltäter; das Amt des Säckel- und des Stubenwarts übernahm er gleich selbst, auf diese Weise hatte er die Finanzen am besten im Griff und konnte sich mit der Errichtung eines repräsentativen Lokals zu gegebener Zeit auch gleich einen lukrativen Auftrag zuschanzen.

Der Verlust des Gewinns aus der Kugel schmerzte zwar, doch brauchte er ihn nicht allein zu tragen. Das zweitinstanzliche Gericht befand, bei einem Baugrund so nahe am See hätte der Ingenieur von sich aus nach Sedimenten fragen müssen, denn diese verminderten die Stabilität so sehr, dass bereits das leichteste Beben einen Einsturz zur Folge haben konnte.

Nach ein paar unauffälligen Transaktionen nahm Waldmann seine wirtschaftliche Tätigkeit wieder auf, mithilfe dreier hereingeschmuggelter Mobiltelefone und versteckt hinter einem von ihm selbst errichteten Wall. Wie früher konzentrierte er sich dabei ganz aufs Inlandgeschäft. In seinem Auftrag erstanden altgediente Anwälte renovationsbedürftige Immobilien in der Umgebung des Gefängnisses, ohne dass hinter den Käufern jemand ihn vermutete. Sein neues Zuhause lehrte ihn, in großen Zeiträumen zu denken: Wenn der Schweizer Strafvollzug erst einmal privatisiert war, erwarb er als Herzstück seiner Errungenschaften auch die Haftanstalt selbst. Bei ihrer Umgestaltung plante er den Einbau einer weitläufigen Suite. Zumindest eine der Mauern wollte er eigenhändig hochziehen. Man musste sich neben all der Arbeit ja auch mal einen Spaß gönnen.

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›Chesa Zuppeda‹ - Das versteckte Haus

von Daniel Badraun

Sie wollen zur Baustelle von Hofer?« Der zahnlose Alte, der vor einem heruntergekommenen Haus auf einer Bank hockt, zeigt mit dem durchgekauten Stiel seiner Pfeife in östliche Richtung. »Ich war schon lange nicht mehr da draußen.« Mit traurigem Blick betrachtet er seine Füße, die unter einer schmuddeligen Wolldecke hervorschauen. »Dabei würde es mich schon interessieren, was da läuft. Die ›Chesa Zuppeda‹ werde ziemlich groß, sagen die Leute.«

»›Chesa Zuppeda‹, verstecktes Haus, ein guter Name für eine Villa, die vom Dorf aus nicht zu sehen ist.«

»Was wollen Sie hier bei uns?« Der Mann schaut mich neugierig an.

»Ich arbeite für Hofer«, sage ich. »Auf der Baustelle.«

»Sie sehen nicht wie ein Bauarbeiter aus.« Der Alte grinst. »Und Rumäne sind Sie auch nicht.«

Ich klopfe auf die lederne Aktentasche, die mir mein Freund Reto Müller gestern Abend übergeben hatte. »Ich gehöre zur Teppichetage.«

Gestern noch saß ich als weitgehend mittelloser Wanderleiter auf der Sonnenterrasse des Hausers in St. Moritz und trank ein Bier, zu dem mich Reto Müller eingeladen hatte. Müller erschien wie immer zu spät, hatte das Handy am Ohr und war daran, irgendwelche windigen Geschäfte abzuwickeln.

»Mettler«, sagte Müller zu mir, »ich habe einen Auftrag für dich. Acht Stunden Arbeit, einen Tausender auf die Hand, was sagst du dazu?«

Müller legte einen Briefumschlag auf den Tisch. Ich schaute hinein. Ein Bündel Hunderter lag darin. »Was ist der Haken an der Geschichte?«