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Jaschinski & Marley (Hg.)
(UN)GELÖST

Jaschinski &
Marley (Hg.)

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Mysteriöse Kriminalfälle,
literarisch neu aufgerollt

ANTHOLOGIE

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Originalausgabe

© 2016 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

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Bildnachweis: Akten © BillionPhotos.com

Lupe © Teodora_D - www.fotolia.de

Print-ISBN 978-3-95441-315-7

E-Book-ISBN 978-3-95441-332-4

Inhalt

(Un)gelöst: Unvergessliche Kriminalfälle – endlich aufgeklärt
VORWORT VON PROFILER AXEL PETERMANN

1 Lizzie Borden | SABINE TRINKAUS

Doppelmord in Fall River

2 Alles für Miyukis Lächeln | CHRISTIANE GÜTH

Der 300-Millionen-Yen-Raub von Tokyo

3 Amelia | ROBERT C. MARLEY

Das rätselhafte Verschwinden der Luftfahrt-Pionierin Amelia Earhart

4 Der Juwelenraub | CORNELIA KUHNERT

Der Fall Düe: Der spektakulärste Raubüberfall der hannoverschen Justizgeschichte

5 Mädchen | NAOMI JASCHINSKI

Der Fall Anna Lehnkering

6 Am Tag, als lazy Rosie starb | JULE GÖLSDORF

Das Schicksal der Rosemarie Nitribitt

7 James Bond, die coolste Sau der Welt …| TATJANA KRUSE

Der große Kunstraub von Montreal

8 Ein freier Fall | MIRJAM PHILLIPS

Der Fall D. B. Cooper

9 Mann über Bord | WOLFRAM TEWES

Der Fall »Hosanna«

10 Der Fingernagel | RALF KRAMP

Das Geheimnis der fehlenden elf Tage im Leben der Agatha Christie

11 Der Geist der Elsie Cameron | SASCHA GUTZEIT

Der »Hühnerfarm-Mord« von Crowborough

13 Der Vampir von Bielefeld | JÜRGEN SIEGMANN

Der mysteriöse Fall eines Maskenmörders

13 Gentleman’s Gimlet | UWE VOEHL

Der Fall des mordenden Butlers

14 Ungeklärter Todesfall | WOLFGANG BROSCHE

Ein wahres Verbrechen in der Familie des Autors

15 Jede Hilfe ist ihres Lohnes wert | RAIKO RELLING

Der Kunstraub auf Schloss Adolphseck

16 Die Grüne Gans | MARCUS WINTER

Das Verschwinden einer Boeing 727 in Luanda

17 Damals im August | MICHAEL BÖHM

Die Tote von Eichenau

18 Seine letzten Tage | REGINE KÖLPIN

Der Fall Kaspar Hauser

19 Arsen-Nannie | ANDREA GEHLEN

Die Serienmörderin Nannie Doss

20 Water, Wasser, Eau? | MANFRED C. SCHMIDT

Verschwundene Pilger auf dem Jakobsweg

21 Das elfte Steigeisen | CHRISTIAN JASCHINSKI

Der Kunstraub von Gotha

22 Aus Mangel an Beweisen | MECHTILD BORRMANN

Die letzten Aufzeichnungen der Lizzie Borden

NACHWORT DER HERAUSGEBER

DIE AUTOREN

Vorwort

[Un]gelöst: Unvergessliche Kriminalfälle - endlich aufgeklärt.

Oder: Auf der Spur des Bösen …

Seit gut fünfzehn Jahren berate ich namhafte Autoren und Fernsehredaktionen bei Kriminalromanen und Tatortproduktionen. Meine Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, Fantasie und Realität zusammenzubringen. Oder, um es anders auszudrücken, ich bin dazu da, dass sich meine fiktiven Kollegen keine bösen Ermittlungspannen erlauben. Daher bin ich von Anfang an, also ab dem Exposé, mit in die Entwicklung eines Plots eingebunden.

Ich erinnere mich noch sehr gut an »mein« erstes Manuskript: Der schwarze Troll. Das Tatort-Debüt von Krimiautorin Thea Dorn. Die Geschichte handelte von einer Giftmörderin, die nicht einmal davor zurückschreckte, ihre eigenen Kinder langsam zu vergiften. Dahinter steckte ihr geradezu krankhaftes Verlangen, als vermeintlich selbstlose und aufopferungsvolle Mutter anerkannt zu werden.

Nächtelang saß ich voller Spannung über den gut einhundertdreißig Seiten Papier. Ich brachte mein Ermittlerwissen auf Vordermann und notierte alles feinsäuberlich, um Autorin und Redaktion jede mögliche kriminalistische Nuance und Finesse meiner Arbeit als Leiter der Mordkommission zu vermitteln. Wie stirbt ein Mensch? Welche Spuren gibt es am Tatort? Wie kann ich ein Motiv erkennen? Was muss ich bei einer Vernehmung beachten? Und so entstand nach vielen, vielen Stunden eine kriminalistische »Ermittlerfibel für Autoren«, von deren totaler Umsetzbarkeit ich vollkommen überzeugt war; denn wie sollte ein spannender Plot anders funktionieren, als sich ausschließlich an der Praxis zu orientieren?

Gespannt wartete ich auf die Antwort der Redaktion. Bei der Besprechung offenbarte sich für mich jedoch eine völlig andere Sichtweise: Zwar waren einige meiner kriminalistischen Empfehlungen in das Drehbuch eingeflossen, doch die detailgetreue Abbildung der Polizeiarbeit und der kriminellen Realität fehlte. Nur warum? Ich verstand erst nach und nach, dass der »Mord am Sonntag« kein Lehrfilm für meine Kriminalistikstudenten an der Hochschule ist. Zudem soll das reale Verbrechen nur bedingt abgebildet werden. Aus gutem Grund, denn die klassische Arbeit in der Mordkommission ist häufig nicht sehr spektakulär; sie ist oft eine wochen- oder gar monatelange Fleißarbeit, bei der die einzelnen Ermittlungsergebnisse vom Tatort, der Obduktion, den Vernehmungen und den Ergebnissen der kriminaltechnischen Untersuchungen ineinander zu einem Abbild der Tat verwoben werden. Meistens auch mit gutem Erfolg: In rund neunzig Prozent der Fälle kann ein Täter überführt werden; insbesondere dann, wenn es um Beziehungstaten geht.

Mit dieser hohen Aufklärungsquote liegen wir als reale Mordermittler aber immer noch weit hinter den fiktiven Kommissaren und ihrem Anspruch, jeden Täter zu fassen. Gleichgültig, wie diffizil und monströs der Fall auch ist. Und das auch noch in einer atemberaubend kurzen Zeit: Gerade einmal zwei, drei Lesetage oder gar nur neunzig Fernseh-Minuten benötigen sie in der Regel für ihre Suche nach dem Mörder; ein Tempo, um das Profis, wie ich, sie beneiden. Und das alles, obwohl die Kommissare bei ihrer Jagd nach dem Täter – wie auch wir realen Ermittler – zusätzlich noch mit eigenen Schwächen, intoleranten Vorgesetzten, schwierigen Partnern oder massiven gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben. Auf der anderen Seite kann so ein Plot entstehen, der neben dem Mord auch sehr persönliche Momente behandelt. Zwar kämpfen echte Kriminalisten bei ihrer Arbeit natürlich auch mit diesen Problemen, allerdings hilft hier häufig das Team von vertrauten Kollegen, um diese Schwächen auszugleichen.

Aber gerade weil die fiktiven Kommissare jenseits ihrer beneidenswerten Aufklärungserfolge Mensch bleiben und Schwächen offenbaren, bekommen fiktive Handlungen einen besonderen Flair, dem sich der Zuschauer nur schwer entziehen kann. Ganz ähnlich wie in erfolgreichen Kriminalromanen mit der Figur des Kurt Wallander von Henning Mankell, um nur ein Beispiel zu nennen. Aus meiner Sicht gilt für beide Genre: Helden müssen Stärken und Schwächen zeigen, aber auch polarisieren – im Guten wie auch im Bösen –, damit sie geliebt oder gehasst werden.

Allerdings sind eine kapriziöse Kommissarin oder ein grantelnder Mordermittler natürlich noch kein Garant für einen erfolgreichen Krimi. Dazu gehört mehr: das Mitraten, das »Whodunnit«, das gedankliche Analysieren, der Geistesblitz. Aber in der Handlung müssen auch die Ursachen und Hintergründe der Tat beleuchtet und erklärt werden: Wie konnte es überhaupt dazu kommen? Warum hat niemand das Verbrechen verhindert? Wie wird es sanktioniert? Gibt es neben der weltlichen Schuld nicht auch Erklärungen für das Tun? Damit der Plot endgültig zur spannenden Unterhaltung wird, gehören für mich neben den branchenüblichen Thrillerelementen weitere Zutaten dazu; zum Beispiel der Anspruch, ein möglichst detailgetreues Abbild der sozialen Wirklichkeit zu liefern.

Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass sich Tötungsdelikte durch alle gesellschaftlichen Schichten, Milieus und Kulturkreise ziehen, auch wenn es so zu sein scheint, dass sich die meisten Taten in den unteren Schichten der Gesellschaft ereignen und häufig in Kombination mit Alkoholproblemen daherkommen. Gerade diese Vielfalt ist auch immer der Reiz für mich gewesen, als Mordermittler und Profiler zu arbeiten. Wir werden ständig mit neuen Menschen und Sachverhalten konfrontiert. Und weil nicht nur ich als Ermittler neugierig und manchmal auch eine Spur voyeuristisch bin, glaube ich, dass der Leser und Zuschauer auch ebendiesen Anspruch haben und sich fragen: Was gibt es außerhalb meines eigenen, privaten und beruflich begrenzten Mikrokosmos noch an weiteren Lebensformen?

Nun komme ich zu einem Aspekt, der den Leser ganz persönlich betrifft: Es geht um das Töten und das sogenannte Böse.

Für mich ist das Töten dem Menschen immanent, das heißt, es ist Teil unseres Lebens, unseres Seins. Und eng verwurzelt damit ist die Frage nach dem Bösen. Und weil dies so ist, übt das Böse auch im Krimigenre seinen Reiz auf den Zuschauer aus. Allerdings glaube ich nicht, dass ausschließlich das Böse angeboren oder vererbt ist. Sondern ich denke, dass der Mensch sowohl Anteile des Bösen wie des Guten in sich trägt, er also stets dem Wechselspiel beider Komponenten ausgesetzt ist und die Tat häufig einen traurigen Höhepunkt seiner Biografie darstellt.

Doch warum wird der eine zum Verbrecher, während der andere sich lediglich gerne Verbrechen in Krimis anschaut? Ist es nur die Frage von Sozialisation oder vielmehr fehlender Sozialisation? Wie und warum schaffen es die meisten Menschen, andere zu achten und anzuerkennen und Gefühle wie Wut, Hass, Ärger, Enttäuschung und Verzweiflung nicht überhandnehmen zu lassen, sodass sie ihr Tun in einem Moment völlig bestimmen?

So beschäftigt mich als Ermittler oft die Frage, wie und warum sich manche Menschen in bedrängenden Situationen beherrschen können und ihren spontanen Gefühlen eben keinen freien Lauf lassen. Und warum sie sich entscheiden, etwas anderes zu tun als das, was sie eigentlich fühlen, und damit nicht dem Bösen erliegen.

Aber zurück zum Krimi-Genre: Lassen wir darin möglicherweise andere für uns stellvertretend agieren, um in gewisser Weise trotzdem dem Bösen nah zu sein? Ich vermute, dass darin der Erfolg von Psychothrillern und Krimis begründet ist, die uns sehr nah, ungeschminkt und manchmal auch heroisierend das Böse und die Abgründe menschlichen Verhaltens vor Augen führen. Vielleicht ist es aber auch die Frage des Zuschauers an sich selber: Wie viel Brutalität und Gewalt halte ich aus? Bei welchen Szenen muss ich weggucken? Und empfinden wir dabei nicht auch die Beruhigung, dass doch alles nur Fiktion und nicht Realität ist und dass ein moralischer Saubermacher – der Kommissar – uns dabei begleitet und dem Bösen damit keine Chance lässt?

Während ich diese Zeilen schreibe, wird mir bewusst, dass ich mich in meinem Beruf ähnlich verhalte: Natürlich will ich alles über die Tat erfahren, möchte verstehen, warum und wie ein Mensch getötet wurde. Auch möchte ich erfahren, wer das Opfer gewesen ist, wie es gelebt hat, mit wem es befreundet war. Doch ab einem bestimmten Punkt hört mein berufliches Interesse auf, nämlich dann, wenn es um Gefühle geht: Ich möchte nie hinterfragen, was der Mensch in dem Moment empfand, als er merkte, dass er sterben wird.

Und ganz zum Schluss möchte ich noch ein Lob verteilen: Wie bei jedem neuen Manuskript bin ich auch von der Fantasie der (Un)gelöst-Autorinnen und Autoren ehrlich beeindruckt und gratuliere zu ihren – wenn auch späten – famosen Aufklärungserfolgen.

Chapeau.

Allerdings beruhigt es mich sehr, dass sich diese Einbildungskraft nicht mit krimineller Energie verbindet. Ansonsten würden sie meinen Kollegen von der Mordkommission, oder mir als Profiler, nicht selten monströse Rätsel aufgeben …

Axel Petermann

Bremen, im August 2016

1. Doppelmord in Fall River

Zwischen neun und elf Uhr am Vormittag des 4. August 1892 wurden der siebzigjährige Andrew Jackson Borden und seine fünf Jahre jüngere zweite Frau Abby in ihrem Haus 92 Second Street in Fall River, Massachusetts brutal erschlagen. Die noch zu Hause lebende zweiunddreißigjährige Tochter Lizzie, die sich zum Zeitpunkt der Taten im Haus aufgehalten hatte, geriet fast augenblicklich unter Verdacht. Obgleich sie vor Gericht aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde, hielt sich der Verdacht gegen sie in der Bevölkerung hartnäckig – bis hinein in die Gegenwart.

Ein Reim aus jener Zeit ist auch heute noch bekannt:

Lizzie Borden took an axe
and gave her mother forty whacks.
When she saw what she had done,
she gave her father forty one
.

Lizzie Borden, die sich nach ihrem Freispruch nie mehr öffentlich zu den Morden äußerte, starb, von der Gesellschaft gemieden, einsam, aber in gesegnetem Alter.

Das ehemalige Mordhaus ist heute ein Museum.

Lizzie Borden

Sabine Trinkaus

»Mrs. Elizabeth Borden was a fine old lady.

There was nothing wrong with her.«

(Ruby Cameron, Weekly World News, 19.03.1985)

Je schwächer ich werde, desto häufiger kommt sie zurück. Sie kommt, wenn ich schlafe. Erwacht in einem Winkel meines Kopfes, füllt meinen Geist im Schlaf. Wenn ich erwache, huschen meine Augen zur Tür, warten darauf, dass die sich öffnet und Emma hereinkommt mit Tee und Toast für Lizzie. Denn Lizzie liebt Emma. Lizzie braucht Emma.

Es dauert jeden Tag ein bisschen länger, bis ich mich daran erinnert habe, dass ich nicht mehr Lizzie bin. Schon lange nicht mehr. Ich bin Mrs. Elizabeth Borden, Maple Croft, The Hill, Fall River. So steht es auf meiner Karte. Mrs. E. Borden ist eine wohlhabende alte Dame, die in einem schönen Haus im richtigen Teil der Stadt lebt, umgeben von Angestellten, die sie umsorgen.

Wenn die Tür von Mrs. Bordens Schlafzimmer sich öffnet, kommt nicht Emma herein, sondern Ruby. Wunderbare Ruby mit den starken Händen und dem unverwüstlichen Optimismus. Hartnäckig versucht sie, mich aus dem Bett zu bekommen. Ich muss wieder auf die Beine kommen, sagt sie. Obwohl sie weiß, dass es sinnlos ist. Mrs. Elizabeth Borden wird dieses Bett nie mehr verlassen. Sie kann nicht. Und sie will auch nicht. Mrs. Elizabeth Borden will hier liegen und mit einer gewissen Erleichterung fühlen, wie das Leben aus ihrem Körper weicht, ganz langsam, ganz sanft. Ganz anders als damals bei Vater und Abby.

Manchmal höre ich die Kinder auf der Straße singen.

Lizzie Borden took an axe …

Helle, unschuldige Stimmen, die nicht zu den grausigen Worten passen, die durch mein offenes Fenster dringen. Anfangs hat Ruby es immer sofort geschlossen. Mittlerweile ist sie dazu übergegangen, so zu tun, als höre sie nichts. Wunderbare Ruby. Sie behandelt mich, als wäre ich ein ganz normaler Mensch. Als wäre sie frei von der morbiden Faszination, die die meisten Menschen nicht einmal zu verbergen suchen. Augen, die mich anstarren. Blicke, die immer wieder zu meinen Händen wandern. Gesichter, aus denen die stumme Frage schreit: Waren sie das? Haben diese Hände das getan?

Lizzie Borden took an axe

and gave her mother forty whacks …

Die Kinder singen es auf der Straße, die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Niemanden interessiert, dass es nicht wahr ist.

Abby war nicht meine Mutter. Und es waren nicht vierzig Hiebe. Es waren nur zwanzig.

Aber mit solchen Details halten die Leute sich nicht auf. Sie wollen eine Geschichte. Eine, die ihnen einen wohligen Schauer überjagt. Eine mit Struktur, Anfang und Ende, Ursache und Wirkung, gut und böse. Niemand will hören, dass es nicht so einfach war.

When she saw what she had done

she gave her father forty-one …

Noch mehr Lügen, Kinderstimmen, die den grausigen Abzählreim singen, während Ruby sich taub stellt. Wunderbare Ruby. Sie ist gut zu mir. Sie ist der einzige Mensch, der mir bleibt.

Ich wünschte, ich könnte sie lieben. So, wie Lizzie Emma geliebt hat. Tief und unbedingt. Emma war immer für Lizzie da. Darum hätte Lizzie alles für Emma getan. Wirklich alles.

Darum hat Lizzie alles für Emma getan. Wirklich alles.

Am Donnerstag, den 4. August 1892 um 11 Uhr 15, wird im ersten Stock des Hauses 93 Second Street, Fall River, Massachusetts, die Leiche von Abby Borden gefunden. Die Tote liegt im Gästezimmer im ersten Stock des Hauses, der Körper mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Abby war offenbar gerade dabei, das Bett zu machen, als ihr Angreifer den Raum betrat. Das Opfer richtete sich auf, sah dem Eindringling ins Gesicht, bevor es von einem Beilhieb seitlich am Kopf getroffen wurde, wie ein Einschnitt knapp über dem Ohr zeigt. Abby wandte sich ab, wohl um einen Fluchtversuch zu unternehmen, fiel allerdings schwer verletzt durch den ersten Schlag mit dem Gesicht nach unten zu Boden, wobei sie sich erheblich an Nase und Stirn verletzte. Der Angreifer setzte sich daraufhin auf ihren Rücken und schlug mit dem Beil weitere neunzehn Mal auf ihren Hinterkopf ein.

Anwesend im Haus zum Tatzeitpunkt waren das Hausmädchen Bridget Sullivan, fünfundzwanzig Jahre, und die Stieftochter des Opfers, Lizzie Borden, zweiunddreißig Jahre.

Lizzie hat Abby gehasst.

Wie die Liebe zu Emma gehörte der Hass auf Abby selbstverständlich zu ihrem Leben. Ich musste Elizabeth Borden werden, um endlich zu begreifen, dass Abby diesen Hass nie wirklich verdient hatte. Aber Lizzie war erst fünf, als Abby ihre Stiefmutter wurde. Lizzie musste Abby hassen, weil Emma das tat. Es erschien ihr so natürlich und folgerichtig wie das Atmen. Mrs. Elizabeth Borden weiß, dass Abby im Grunde eher Mitleid verdient hätte. Nicht, weil sie dieses Ende nahm. Das Leben, das sie führte, war letztlich schlimmer als das, was die Axt ihr antat.

Vater hat sie geheiratet, weil es praktisch war, sinnvoll. Ein Witwer mit zwei Töchtern braucht eine Frau. Er hat gesehen, dass es für Emma zu viel war. Eine Fünfzehnjährige, die versucht, der kleinen Schwester die Mutter, ihm die Frau zu ersetzen. Vater hat Abby aus Liebe geheiratet – aus Liebe zu seinen Töchtern. Denn er hat uns geliebt, da bin ich sicher. Obwohl er sich nicht gut darauf verstand. Er ist mit Liebe so umgegangen wie mit Geld. Hat an sich gerafft, angehäuft, hat versteckt und misstrauisch bewacht, was ihm kostbar schien. Er hat nie begriffen, dass man Liebe geben muss, um sie zu vermehren.

Abby war eine tüchtige Frau aus gutem Haus. Ohne Vermögen, zu alt, um noch ernstlich auf etwas Besseres zu hoffen. Abby musste dankbar sein für den Status, den Vater ihr anbot. Zweite Frau eines reichen, wenn auch krankhaft geizigen Witwers, Stiefmutter zweier Töchter – Abby war nicht in der Position, wählerisch zu sein. Und sie war sicher nicht die erste Frau, die sich in ein solches Schicksal fügte.

Vermutlich hat Abby keine Liebe erwartet. Ebenso wenig konnte sie allerdings ahnen, was stattdessen auf sie zukam.

Niemand hat vorhergesehen, wie übel Emma Vater diese Heirat nahm. Emma wollte keine falsche Mrs. Borden, keine, die ihr die Rolle streitig machte, womöglich versuchte, unsere Mutter zu ersetzen. Sie hat Abby dafür gehasst, und ihr Hass war stark und kompromisslos, genau wie der Vorsatz, ihr das Leben zur Hölle zu machen.

Wäre die Geschichte einfach, dann könnte man Vater die Schuld für alles geben. Aber er hat nichts Böses gewollt. Ganz im Gegenteil – er wollte es gut machen und richtig. Am Ende hat es ihm nichts genutzt.

Am 4. August 1982 verließ Andrew Borden nach dem Frühstück das Haus in der Second Street, um wie gewohnt seinen Geschäften nachzugehen. Weil er sich nicht wohlfühlte, kehrte er bereits um 10 Uhr 45, viel früher als gewöhnlich, nach Hause zurück. Er fand die Haustür verbarrikadiert. Auf sein Klopfen und Rufen wurde er eingelassen. Er begab sich ins Wohnzimmer, wo er sich auf die Couch legte, um zu ruhen. Als sein Mörder zuschlug, schlief Mr. Borden bereits fest. Das zeigt der Umstand, dass einer seiner Augäpfel sauber durchtrennt war. Die Polizei fand Andrew Borden rücklinks auf dem Sofa liegend, sein Gesicht war durch zwölf Hiebe mit einer Axt zerstört worden.

Emma hat mich verlassen. Am Anfang war ich sicher, dass sie zurückkommt. Weil sie immer da gewesen ist, weil sie Lizzie nie im Stich gelassen hätte. Aber die Tage vergingen, wurden zu Wochen, Monaten, Jahren. Zeit, die langsam die Hoffnung fraß, dann ein Schmerz, der mir half, Lizzie endgültig hinter mir zu lassen und Mrs. Elizabeth Borden zu werden.

Mrs. Elizabeth Borden stirbt allein. Ihr bleibt nur Ruby.

Wunderbare Ruby. Sie gibt mir so viel mehr, als mein Geld kaufen kann. Ich möchte sie lieben, aber das kann ich nicht. Ich möchte ihr trotzdem etwas zurückgeben.

Darum erzähle ich ihr diese Geschichte.

Die Wahrheit, sage ich, Ruby, ich werde dir die Wahrheit erzählen.

Die Geschichte handelt von Liebe. Von Lizzies Liebe zu einem wunderbaren Mann. Er war schön und wild und stark, er war verrückt nach Lizzie. Eine verschlingende, leidenschaftliche Liebe, zwei Menschen, die ohne einander nicht sein konnten. Vater hat ihn gehasst. Er hat ihn aus dem Haus geworfen, er und Abby haben ihm verboten, sich Lizzie zu nähern. Sie haben nicht verstanden, dass man sich einer solchen Liebe nicht ungestraft in den Weg stellt.

Wie hieß er, fragt Ruby. Wie war sein Name?

Das tut nichts zur Sache, erwidere ich. Wichtig ist allein, dass er Lizzie liebte, wie man einen Menschen nur lieben kann. Dass er nicht ertrug, von ihr getrennt zu sein. Es hat ihn in den Wahnsinn getrieben. Und darum hat er sich im Schrank versteckt, im Haus. Darum ist er irgendwann herausgekommen und hat die Axt genommen. Er hat Abby erschlagen, dann gewartet, bis Vater nach Hause kam. Er war verrückt vor Zorn und Verzweiflung. Er konnte nicht anders. Es war diese Art von Liebe.

Ruby lauscht mit offenem Mund. Ich merke, dass ihr die Geschichte gefällt, eine mit Anfang und Ende, Ursache und Wirkung, die Geschichte einer großen Liebe, die tragisch und furchtbar endete.

Das ist mein Geschenk an sie. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, und wenn ich tot bin, dann wird sie den Menschen davon erzählen. Sie wird ein wenig abbekommen von meinem unrühmlichen Ruhm. Sie hat mehr verdient als das, aber mehr habe ich nicht zu geben.

Später, als ich allein bin, daliege und auf den Schlaf warte, merke ich, wie glücklich es mich gemacht hat, die Geschichte zu erzählen. Mir vorzustellen, dass es ihn wirklich gegeben haben könnte, diesen Mann, diesen Menschen, der Lizzie so geliebt hat, dass er für sie getötet hätte. Man muss einen Menschen sehr lieben, um für ihn zu töten. Das weiß niemand besser als ich.

Obwohl wir nie darüber gesprochen haben, Emma und ich. Nicht vor dem Prozess und auch nicht danach. In all den Jahren haben wir das Thema gemieden. Gleichzeitig war es immer präsent. Weil wir beide wussten, dass letztlich alles nur geschah, weil es diese Art Liebe gibt. Weil jemand sie gefunden hat. An einem Ort, an dem man nie danach gesucht hätte.

Laut Aussagen von Nachbarn und Bekannten der Familie Borden war das Verhältnis zwischen Abby Borden und ihren Stieftöchtern distanziert bis feindselig. Emma und Lizzie schauten auf Abby herab. Sie sprachen sie mit Mrs. Borden an, verweigerten ihr öffentlich und privat jede Form der Sympathie oder gar Zuneigung.

Auch zwischen Andrew Borden und seinen Töchtern gab es häufig Spannungen. Mr. Borden war als krankhaft geizig bekannt. Obwohl er als erfolgreicher Geschäftsmann über ein beträchtliches Vermögen verfügte, verweigerte er seinen Töchtern ein standesgemäßes Leben. Die Familie blieb in dem Haus in der Second Street wohnen, in dem unkomfortablen, verbauten Gebäude, in dem es weder warmes Wasser noch sanitäre Anlagen gab und das so gut wie keine Privatsphäre bot. Das trug zu den Spannungen innerhalb der Familie Borden bei. Man aß nur selten zusammen. Abby und ihre Stieftöchter gingen sich nach Möglichkeit aus dem Weg.

Niemand hätte nach Liebe gesucht in so einem Haus. Emma und Lizzie hassten Abby, und sie erwiderte diesen Hass, der irgendwann zu der sonderbaren Gelassenheit fand, die sich einstellt, wenn ein Krieg zu lange währt, als dass noch Hoffnung auf Sieg bestünde. Mit der Zeit wurden die Abneigung stumpf, die Hiebe, die wir einander versetzten, zu routiniert, um noch echte Wunden zu schlagen.

Zwischen den Fronten Vater, der tat, als sei alles völlig normal. Und damit irgendwann nicht einmal mehr unrecht hatte. Vermutlich wäre es für immer so weitergegangen. Hätte Emma nicht das gefunden, was ihr gefehlt hat. Unter unseren Augen und doch unsichtbar. Eine Liebe, die mit einem Schlag das kranke Gleichgewicht des Hasses zerstörte.

Es ist unbegreiflich, dass es so lange unbemerkt blieb. In diesem Haus, in dem wir ständig umeinander herumschlichen, uns gegenseitig belauerten. Immer wachsam, voller Argwohn, Abby, Emma und ich. Aber man sieht nur das, wonach man Ausschau hält. Nach Liebe hätte keiner gesucht in dieser giftigen Atmosphäre, in einem Alltag, bestimmt von Boshaftigkeiten und Demütigung.

Nach Liebe hätte keiner gesucht, auch nicht Lizzie, nicht an diesem Tag, den auch Mrs. Elizabeth Borden nicht vergessen hat.

An diesem Tag, an dem das Grauen seinen Anfang nimmt, ist es ein Zufall, eine unwichtige, alltägliche Geschäftigkeit, die Lizzie in das Zimmer führt. Die Suche nach einer Nähnadel, vielleicht, nach einer Zeitschrift, daran kann sie sich später nicht erinnern.

Sie öffnet einfach die Tür, sie betritt den Raum. Im ersten Moment versteht sie nicht, was sie sieht. Sie denkt, Bridget richtet Emmas Kleid, etwas stimmt nicht mit dem Kleid ihrer Schwester, denkt sie, und das Dienstmädchen geht ihr zur Hand. Dann sieht sie Emmas Gesicht und erschrickt. Sie hat Schmerzen, denkt Lizzie, Emma hat sich verletzt. Erst dann begreift sie, dass weder das leise Stöhnen noch der Gesichtsausdruck ihrer Schwester vom Schmerz herrührt.

Sie müsste schockiert sein, aber da ist nur ein leises Unbehagen. Nicht, weil ihr das, was sie sieht, irgendwie widernatürlich oder gar abstoßend erscheint. Aber ihr ist sofort klar, dass das Bild nicht für ihre Augen bestimmt ist. Das, was sie sieht, gehört diesen zwei Menschen, ihnen ganz allein. Zwei Menschen, die sich nah sind, näher als Lizzie je einem Menschen gekommen ist.

Sie muss ein Geräusch gemacht haben, denn Emma öffnet die Augen. Sie sieht Lizzie an, ein kurzer Schreck, dann eine fast flehende Bitte. Geh, sagen die Augen, geh aus diesem Zimmer und vergiss, was du gesehen hast.

Aber Lizzie kann nicht. Sie steht da, unfähig, den Blick abzuwenden. Von dem, was sie als Liebe erkennt, eine Liebe, die schön ist und groß. Eine Liebe, die sie trotzdem traurig macht, weil sie sie ausschließt.

Lizzie sieht, wie Emmas Blick sich wandelt. Die Bitte verschwindet, macht nacktem Entsetzen Platz.

Dann hört sie Abby lachen. Sie fährt herum, sieht das Gesicht ihrer Stiefmutter. Sie sieht Triumph, Zufriedenheit. Glück. Es ist der einzige Moment, in dem sie ihre Stiefmutter wahrhaft glücklich sieht.

Abby sagt kein Wort. Sie dreht sich einfach um und geht. Lizzie folgt ihr. Tut den ersten Schritt auf dem Weg, der uns alle in die Hölle führen wird.

Man hat mir im Prozess vorgeworfen, widersprüchliche Aussagen zu machen. Niemand hat verstanden, dass es nicht anders ging. Ich hatte keine Antwort auf ihre Fragen. Da waren Dinge, an die ich mich erinnerte, die zu erwähnen sich aber verbot. Und da waren so viele Fragmente, diffuse Partikel, Bruchstücke, die nicht sauber zusammenpassten.

Bis heute entzieht sich das, was danach geschah, dem vollständigen Begreifen.

Am diesem Abend sitzen Emma, Bridget und Lizzie in der Küche, während Vater mit Abby im Wohnzimmer isst. Starr vor Angst erwarten Emma und Bridget das, was unvermeidlich scheint. Qualvoll dahinschleichende Minuten, in denen Lizzie sich irgendwann das schreckliche Ende herbeisehnt. Den Moment, in dem Vater in die Küche kommt, schreit, außer sich ist. In dem er Bridget aus dem Haus jagt und Emma wegschickt, aus seinen Augen, weil er die unbeschreibliche Schande nicht ertragen kann.

Lizzie wartet vergeblich. Irgendwann begreift sie, dass es nicht passieren wird. Das Warten wird nicht enden, nicht an diesem Abend. Denn Abby schweigt.

Sie schweigt an diesem Abend und auch am nächsten. Abby verliert Vater gegenüber kein Wort über den Vorfall. Auch mit Emma und Lizzie spricht sie kaum. Berauscht von der Macht, die sie auf einmal hat, braucht sie keine Worte mehr. Jede Geste, jeder Blick macht klar, wer jetzt am Zug ist. Während sie Emma mit Verachtung straft, schikaniert sie Bridget, die in hündischer Ergebenheit jeder noch so absurden und demütigenden Anweisung Folge leistet. Abby spielt mit Bridgets Angst, mit dem verzweifelten Hoffen, dem unvermeidlichen Schicksal zu entgehen. Sie weiß, dass Bridgets Scham, ihre ängstliche Unterwürfigkeit für Emma schlimmer als alles ist, was sie ihr selbst antun kann. Und sie genießt es. Sie genießt jede Sekunde.

Dann kommt die Hitze. Erstickende Höllenhitze, die sich über die Stadt legt, unerträglich und drückend. Eine boshafte Hitze, geschwängert von Hass, der alles durchdringt. Auch das Hammelfleisch. Billiges und ekelhaftes Hammelfleisch, das in dem Topf auf dem Herd steht, den ganzen Tag. Am Abend essen sie davon, darauf besteht Vater. Er duldet nicht, dass man etwas verkommen lässt, selbst dann nicht, wenn es längst verkommen ist.

Sie essen von dem Fleisch, und in der Nacht erbrechen sie bis zur Erschöpfung, verzweifelt bemüht, das loszuwerden, was giftig durch die Leiber dringt.

Alle sind schwach am nächsten Morgen in der Küche, alle, auch Abby. Trotzdem ist sie nicht bereit, sich oder Emma oder Bridget eine Pause zu gönnen.

Sie kommt in die Küche. Sie lächelt, als sie Bridget sieht, zittrig, entkräftet und elend. Sie geht zum Topf, der noch immer auf dem Herd steht, schöpft reichlich auf einen Teller. Sie stellt ihn vor Bridget auf den Tisch.

Iss, sagt Abby. Iss das!

Lizzie sieht Bridgets Blick, den entsetzten Blick, mit dem sie auf den Teller starrt. Sie fängt an zu weinen.

Iss, sagt Abby. Iss, kleines Dreckstück, sofort!

Der Gestank ist kaum zu ertragen, giftig, verdorbener Hammel, der in der Nase sticht, sich mit dem Geruch von Erbrochenem mischt. Lizzie sieht, dass Bridgets Hand zittert, als sie nach dem Löffel greift. Ihn langsam zum Mund führt, dabei das Würgen zu unterdrücken sucht.

Lizzie erträgt den Anblick nicht. Sie schaut zur Seite. Sie sieht Emma. Emma, die nach dem Messer greift. Lizzies Körper reagiert schneller als ihr Verstand. Sie springt auf, stürzt sich auf ihre Schwester. Es gelingt ihr, ihren rasenden Zorn zu bändigen, bis Abby aus der Küche geflohen ist.

Du musst hier weg, sagt sie zu Emma, als die sich wieder unter Kontrolle hat. Aber Emma will nichts davon hören.

Du musst hier weg, sagt auch Bridget, Miss Lizzie hat recht, Geliebte, du musst gehen. Wir brauchen Zeit, wir werden eine Lösung finden. Geh, sagt Bridget, geh, tu es für mich.

Es tut Lizzie weh, die Worte zu hören. Worte voll unsinniger Hoffnung, die sie gerne geteilt hätte, die sie aber nicht betrifft. Es tut weh zu sehen, wie Emmas Widerstand schwindet. Wie sie Bridget ansieht.

Es tut weh, aber Lizzie ist trotzdem erleichtert, denn sie ist sicher, dass etwas Grauenhaftes geschehen wird, wenn Emma bleibt. Sie hat noch nicht verstanden, dass das Grauenhafte längst unausweichlich ist.

Emma geht. Still und klammheimlich verlässt sie das Haus, fährt nach Fairhaven zu Freunden.

Erst am nächsten Morgen bemerkt Abby, dass sie weg ist.

Lizzie steht in der Küche, sie wäscht das Geschirr, als Abby hereinkommt. Sie schreit nach Bridget, die sich noch immer nicht erholt hat, sich kaum auf den Beinen halten kann, keinen Schluck Wasser bei sich behält. Die trotzdem kommt, eilig, geduckt, bereit, alles zu tun, alles, was Abby verlangt. Mehr, als sie verkraften kann, denn Abby tut es wieder. Sie geht zum Topf, sie schöpft, stellt den Teller auf den Tisch.

Iss, sagt sie. Iss das! Und dann putzt du die Fenster, innen und außen.

Bridget sieht Lizzie an. Die kann nichts tun, gar nichts, vielleicht will sie auch nicht, sie weiß es nicht genau, sie will nicht darüber nachdenken. Sie steht auf, verlässt die Küche.

Iss, hört sie Abby wieder sagen, als sie vor der Tür ist.

Iss, du kleines irisches Dreckstück.

Sie hört Bridget wimmern.

Später haben sie mich immer wieder gefragt, wo ich gewesen bin. Was ich getan habe, nachdem ich die Küche verließ. Ich wusste keine Antwort. Aber sie bestanden darauf, sie bohrten, bedrängten mich, bis ich etwas sagte, irgendetwas, damit sie aufhörten. Ich war in der Scheune, habe ich gesagt, ich habe Birnen gegessen. Ich habe etwas gesucht, um die Tür zu reparieren, ich habe nach den Tauben gesehen. Ich habe im Wohnzimmer gebügelt, ich habe eine Zeitschrift gelesen. Ich sagte Dinge, von denen ich hoffte, dass sie genügen würden. Ich wollte nicht lügen, aber man hat keine Wahl, wenn man die Wahrheit nicht kennt.

Ich weiß nicht, wo ich war, was ich tat. Dieser Teil meiner Erinnerung ging in dem Moment verloren, in dem ich zurück ins Haus kehrte.

Lizzie geht zurück in die Küche. Sie sieht den Teller auf dem Tisch. Er ist leer. Ein Moment tiefen Entsetzens, als sie begreift, was das bedeutet.

Ein Geräusch lenkt sie ab, irritiert sie, weil sie es nicht versteht. Ein Schmatzen und Knirschen, ein fremdes Geräusch in dem vertraut verhassten Haus. Sie folgt dem Klang, geht die Treppe hinauf. Sie betritt das Gästezimmer. Versteht, was sie hört, weil sie sieht, was sie nie hätte sehen wollen. Glasklar das Bild, aber das wird ihr nichts nutzen, später, wenn man ihr all diese Fragen stellt. Denn sie weiß sofort, dass sie nie jemandem davon erzählen wird. Davon, wie Bridget auf Abbys Rücken sitzt. Wie sie das Beil hebt.

… and gave her mother forty whacks …

Nicht vierzig. Nicht Mutter. Nicht Lizzie. Nicht wahr.

Zwanzig Mal, insgesamt zwanzig Mal schlägt Bridget auf Abby ein, die doch längst nichts mehr fühlt. Lizzie versucht nicht, sie aufzuhalten. Es ist offensichtlich, dass es zu spät ist.

Sie weiß nicht, ob Bridget sie bemerkt hat. Es ist ihr egal. Sie will nur weg. Findet sich in der Küche wieder, immer die Küche. Sie nimmt den leeren Teller, wäscht ihn. Sie versucht, darüber nachzudenken, was geschehen wird, wenn Vater nach Hause kommt. Er wird Abby finden. Die Polizei wird kommen. Man wird Bridget hängen, denkt Lizzie, und ein Teil von ihr umarmt den Gedanken. Ein Leben ohne Abby, ohne Bridget, nur Vater, Emma und Lizzie. Aber sie weiß, dass das nicht geht. Sie ist Lizzie, sie liebt Emma, liebt sie genug, um zu wissen, dass sie nie verkraften würde, wenn man Bridget aufhängt.

Es stinkt, verdorbener Hammel und Erbrochenes. Lizzie in der Küche, ein Versuch, Undenkbares zu denken, bis sie Geräusche von der Haustür hört. Klopfen und Rufen, jemand hat die Tür verriegelt, Vater kann nicht ins Haus.

Sie hört Bridget, die ihm öffnet. Sie eilt in den Flur. Bridget steht neben Vater. Sie hat sich umgezogen, kein Fleck auf ihrem Kleid. Vater beachtet sie gar nicht. Wo ist Abby?, fragt er Lizzie.

Fort, sagt Lizzie, Abby ist fort.

Das genügt ihm. Er fragt nicht weiter. Er fühlt sich nicht gut, sagt er, noch immer krank, darum ist er nach Hause gekommen. Lizzie denkt an das stinkende Hammelfleisch, daran, dass es jemand wegwerfen muss, dringend. Sie will Bridget darum bitten, begreift gerade noch rechtzeitig, dass Bridget nie wieder in die Nähe dieses Fleisches kommen darf.

Vater geht ins Wohnzimmer. Er will sich hinlegen, will ruhen. Bridget sagt, sie werde dasselbe tun. Sie ist ganz ruhig, so, als sei nichts geschehen.

Lizzie denkt an Emma und versteht, dass jetzt alles von ihr abhängt. Sie muss etwas tun. Mit Vater reden. Sie kann sagen, dass sie Geräusche gehört hat. Dass jemand aus dem Haus gerannt sein, ein Einbrecher, ein Fremder, ein Unhold, der gekommen ist und Abby erschlagen hat, oben im Gästezimmer. Das muss sie sagen. Sie folgt Vater ins Wohnzimmer.

Er liegt auf dem Sofa, die Augen geschlossen. Sie wundert sich, dass er so schnell eingeschlafen ist. Sie spricht ihn trotzdem an, ganz leise.

Vater, sagt sie, Vater, etwas ist geschehen. Etwas Schreckliches, sagt sie, dann legt sich eine Hand auf ihre Schulter.

Sie hat Bridget nicht hereinkommen hören. Bridget lächelt. Sie schüttelt den Kopf.

Miss Lizzie, sagt sie, nicht doch, Miss Lizzie. Sei still, halt doch den Mund, wir wollen ihn nicht stören. Schau, er schläft so tief, wir wollen ihn nicht aufregen mit furchtbaren Geschichten.

Dann tritt sie näher zum Sofa.

Und hebt wieder die Axt.

Die Leiche von Mr. Andrew Borden wurde laut Aussage des Hausmädchens Bridget Sullivan am 4. August 1892 um 11 Uhr 10 von seiner Tochter Lizzie entdeckt. Bridget erklärte, dass Lizzie nach ihr gerufen habe. »Komm schnell, Vater ist tot. Jemand ist gekommen und hat ihn umgebracht.«

Kurz nachdem Nachbarn und ein Arzt zur Hilfe gerufen waren, wurde in der oberen Etage auch die Leiche von Abby Borden entdeckt. Im Keller fand die Polizei später ein Beil, an dem sich zwar kein Blut befand, dessen Klinge aber kürzlich mit Asche gereinigt worden war.

Die herbeigerufenen Polizisten sagten später, Lizzie habe ruhig und souverän gewirkt. Ein Polizist, der das Haus in den folgenden Stunden bewachte, gab an, er habe Lizzie am Abend mit einem Bündel Kleider in den Keller gehen sehen. Eine Freundin der Familie behauptete, sie habe Lizzie dabei gesehen, wie sie ein fleckiges Kleid in der Küche verbrannte. Auf Nachfrage gab Lizzie an, es habe Lackflecken und sei daher nicht mehr zu reinigen.

Am 8. August 1892 wurde Lizzie in Anwesenheit eines Anwalts zum ersten Mal verhört. Zu diesem Zeitpunkt bekam sie Morphium. Ihr Verhalten wirkte erratisch, ihre Aussagen waren widersprüchlich.

Am 11. August 1892 wurde Lizzie Borden verhaftet. Ihr wurde vorgeworfen, ihren Vater und ihre Stiefmutter heimtückisch erschlagen zu haben.

Am 2. November 1892 begann der Prozess gegen sie, der im Juni 1892 mit einem Freispruch endete.

Nach dem Freispruch zog Lizzie mit ihrer Schwester Emma in ein Haus in der besten Wohngegend der Stadt. Die Schwestern beschäftigten Personal, lebten ein angenehmes und gutes Leben. Die große Unterstützung, die Lizzie während des Prozesses seitens der Einwohner von Fall River entgegengebracht wurde, fand nach ihrem Freispruch ein jähes Ende. Lizzie wurde zur Geächteten, niemand in der Stadt wollte mit ihr zu tun haben.

1905 kam es zu einem Zerwürfnis zwischen den Schwestern. Emma zog aus dem gemeinsamen Haus aus und verließ Fall River.

Emma ist fort. Mir bleibt nur Ruby, Ruby sitzt am Bett, sie hält meine Hand, sie kühlt meine Stirn, die schon wieder heiß ist, die glüht, mit einem feuchten Tuch. Ich liege da, ich bin Mrs. Elizabeth Borden, und ich denke an Lizzie, naive, kleine Lizzie, die tatsächlich nicht einmal auf die Idee gekommen ist, dass die Sache noch schlimmer für sie hätte ausgehen können. Dass man sie für etwas hätte verurteilen können, was sie nicht getan hatte. Selbst wenn ihr das klar gewesen wäre, hätte sie keine Wahl gehabt. Sie musste es tun, ich musste es tun, für Emma, es ging nicht anders, denn ich habe Emma geliebt, umfassend, bedingungslos, ich habe Emma so geliebt, wie Emma Bridget liebt. Liebe, die am Ende nur Unheil brachte.

Am Ende hat Lizzie Emma verloren. Und Emma hat Bridget verloren. Am Ende hatte Lizzie alles für Emma getan, aber sie konnte sie trotzdem nicht retten. Es lag nicht in ihrer Macht. Und das war es, was Emma ihr letztlich nicht verzeihen konnte. Emma wusste, dass Lizzie keine Schuld trug. Sie konnte nichts dafür, dass Bridgets Liebe am Ende zu schwach war, zu klein. Sie konnte nichts dafür, dass Bridget nicht für Emma getötet hat, sondern für sich selbst. Dass Bridget sich selbst gerettet hat, nicht Emma und ihre Liebe.

Emma und Lizzie haben nie darüber gesprochen.

Bis heute weiß ich nicht, was genau geschehen ist. Ich war so lange im Gefängnis, und wenn Emma mich besuchte, erwähnte sie Bridget nie.

Als ich wieder nach Hause kam, war Bridget fort.

Die Leute haben gesagt, dass sie geheiratet hat. Die arme Bridget, haben sie gesagt, natürlich ist sie geflohen, so schnell wie möglich, weit weg vom grauenhaften Borden-Haus. Sie hat einen netten Mann gefunden, führt ein bescheidenes, anständiges und gutes Leben.

Emma hat nie ein Wort darüber verloren.

Das musste sie nicht. Sogar Lizzie hat begriffen, dass Emmas Herz und ihre Seele gestorben sind, in dem Moment, in dem Bridget sie verließ.

Ruby reicht mir den Becher, setzt ihn an meine Lippen. Ich schlucke, es schmerzt im Hals, aber Ruby lächelt, wunderbare Ruby, die ich so gern lieben würde, weil sie der einzige Mensch ist, der mir bleibt. Ich weiß, dass die Liebe am Ende nur Unheil gebracht hat, dass sie niemanden rettet, nicht einmal dann, wenn sie so umfassend ist und so unbedingt wie Lizzies Liebe zu Emma. Trotzdem würde ich gern noch einmal so lieben, ein letztes Mal.

Lizzie hat alles für Emma getan. Emma wusste das. Darum musste sie gehen, darum hat sie ihre Lizzie verlassen. Sie konnte den Druck, ihr trotz allem dankbar sein zu müssen, nicht mehr ertragen.

Emma hat Lizzie verlassen, Lizzie ist nicht mehr Lizzie, ich bin Mrs. Elizabeth Borden, Maplecroft, The Hill, Fall River. Aber je schwächer ich werde, desto häufiger kommt sie zurück. Sie kommt, wenn ich schlafe. Erwacht in einem Winkel meines Kopfes, füllt meinen Geist im Schlaf. Lizzie liegt da und wartet auf Emma, während Ruby an Mrs. Elizabeth Bordens Bett sitzt. Mrs. Elizabeth Borden erzählt Ruby Lügen, während sie die Kinder auf der Straße singen hört, und Mrs. Elizabeth Borden spürt mit einer gewissen Erleichterung, wie das Leben aus ihrem Körper weicht. Ganz langsam, ganz sanft.

Ganz anders als damals bei Vater und Abby.

Lizzie Borden starb am 1. Juni 1927 im Alter von siebenundsechzig Jahren in ihrem Haus in Fall River, ohne ihre Schwester Emma noch einmal gesehen zu haben. Wenige Tage später, am 10. Juni 1927, verstarb auch Emma Borden in New Market, New Hampshire.

Lizzie wurde auf dem Oak Grove Cemetery in Fall River bestattet. Sie hinterließ den größten Teil ihres Vermögens der Fall River Animal Rescue League. Außerdem richtete sie einen Fonds ein, der die Grabpflege ihres Vaters garantierte.

Im März 1985 wandte sich die zu diesem Zeitpunkt fünfundachtzigjährige ehemalige Krankenschwester Ruby Cameron, wohnhaft in Cherryfield, Maine, an die Presse. Sie gab an, die Wahrheit über den Doppelmord zu kennen. Ihre Geschichte fand für eine kurze Zeit die Aufmerksamkeit der Presse und Öffentlichkeit, wurde aber von Experten sofort als die Art Auswuchs der Fantasie bezeichnet, die ein blutiges und ungelöstes Verbrechen wie der Borden-Fall wohl für immer mit sich bringen wird.

2. Der 300–Millionen–Yen–Raum von Tokyo

Am 10. Dezember 1968 sind im Tokyoer Stadtteil Fuchu vier Mitarbeiter der Nihon Shintaku Bank unterwegs. Sie transportieren zwei Kisten mit fast 300 Millionen Yen, nach heutiger Kaufkraft umgerechnet etwa 21 Millionen Euro. Kurz vor ihrem Ziel hält ein Polizist auf einem weißen Motorrad den Geldtransport an. Direkt gegenüber dem berüchtigten Fuchu-Gefängnis.

Er informiert die Männer, dass er einen Notruf der Zentrale bekommen habe. In den unruhigen Tagen des Jahres 1968 war auch die Nihon Shintaku Bank Ziel von Drohungen und Protesten. Der Polizist berichtet, dass das Haus des Filialleiters explodiert sei und Hinweise gefunden wurden dass in dem Geldtransporter ebenfalls Sprengstoff versteckt sei. Im Befehlston fordert er die vier Männer auf, den Wagen zu verlassen, damit er ihn untersuchen könne. Als der »Polizist kurze Zeit später mit dem Transporter davonbraust, glauben die Fahrer zunächst, er wolle das Fahrzeug auf einem unbebauten Gelände in der Nähe abstellen, damit eine Explosion keinen weiteren Schaden anrichtet.

Doch der Dieb verschwindet mit dem Geld. Auf seiner Flucht wechselte er noch zweimal das Fahrzeug und fährt immer mit wenige Tage zuvor gestohlenen Fahrzeugen weiter. Jedes Mal hinterlässt er deutlich Spuren, mit denen er die Polizei auf falsche Spuren bringt – genauso falsch wie seine Uniform und sein umlackiertes Motorrad.

Von dem Geld und von dem Täter fehlt bis heute jede Spur.

Alles für Miyukis Lächeln

Christiane Güth

Sie hieß Miyuki – und sah auch so aus. Alles an ihr war schön. Schon bei unserer ersten Begegnung bestaunte ich ihre schneeweiße Haut. Verliebt habe ich mich jedoch sofort in ihre freundlichen Augen. Als sie mich dann noch ansprach, war es um mich geschehen. Ich hatte zwar in Büchern von der Liebe gelesen, aber ich kannte niemanden, der sie selbst erlebt hatte und mir davon hätte berichten können. Meine Mutter und mein Vater jedenfalls nicht. Sie hatten nach dem Omiai-Brauch geheiratet – ganz ohne Liebe, dafür zur vollen Zufriedenheit ihrer Familien.

»Wie kann ich Ihnen helfen, werter Herr?«, fragte Miyuki mit leiser Stimme. Ich gab mir Mühe, meinen Blick so schnell wie möglich von ihr abzuwenden. Aber es fiel mir schwer. Sie durfte nicht sehen, dass ich errötete. So schnell ich konnte, verbeugte ich mich, und meine Zunge begann schneller zu sprechen, als ich denken konnte.

»Ich brauche ein neues Kostüm.«

Miyuki kicherte und zeigte auf eine Kleiderstange.

Wie töricht musste dieser Satz in ihren Ohren geklungen haben. Natürlich suchte ich ein Kostüm. Wäre ich sonst in ihr Geschäft gekommen? Der winzige Laden lag mitten in Setagaya und gehörte zur Präfektur Tokyo. Auf meinem Weg zur Konservenfabrik Shenso war ich mindestens einhundert Mal daran vorbeigegangen. Und immer hatte ich die Kostüme bewundert, die Miyuki in ihrem Schaufenster ausstellte. Samuraigewänder und Kimonos waren darunter. Aber mir gefielen die Verkleidungen am besten. Seit ich mich erinnern kann, schlüpfe ich gern in andere Rollen. »Schau her, heute bin ich Lokführer«, hatte ich schon als kleiner Junge meiner Mutter zugerufen, wenn sie mich weckte. »Und morgen bin ich Pilot«, hatte ich geflüstert, als sie abends das Licht löschte. Diese Leidenschaft war nie vergangen, und ich besaß einen stolzen Fundus an Kostümen.

»Was genau suchen Sie denn?«

»Eine Frau wie Sie«, schoss es mir durch den Kopf, doch zum Glück konnte ich mich zurückhalten.

»Vielleicht … äh … eine Feuerwehruniform«, antwortete ich stattdessen leicht stockend.

Miyuki hob eine Augenbraue. Sie ließ ihren Blick von meinen Schultern bis zu meinen Füßen herunterwandern.

»Polizist«, sagte sie noch leiser.

»Wie meinen Sie?«

»Entschuldigen Sie, dass ich es sage, aber für mich wären Sie ein Polizist. Die Uniform würde zu Ihnen passen.«

Ich schluckte.

Eine Woche später stand ich wieder in Miyukis Laden.

Als sie mich erblickte, bekam ihre weiße Haut einen Hauch von Ume-Blüten.

»Ist mit Ihrer Uniform alles in Ordnung?«, stotterte sie.

Miyuki erinnerte sich an mich. Ein gutes Zeichen.

»Oh ja«, sagte ich und nickte viel zu schnell. »Ich bin sehr zufrieden. Jacke und Hose passen ausgezeichnet. Auch der Helm. Ich freue mich, dass Sie mir geholfen haben.«

Miyuki verbeugte sich, und ich sah sie Richtung Boden lächeln.

Der beste Moment, um meinen Mut zusammenzunehmen.

»Darf ich Sie etwas fragen? Warum haben Sie mir die Polizeiuniform empfohlen?«

Miyuki räusperte sich, dann sah sie mir zum ersten Mal in die Augen. Mein Herz drohte stehen zu bleiben.

»Sie sind schlank – und groß.«

»Bitte?«, unterbrach ich Miyuki und bedauerte im selben Moment meine Unhöflichkeit. Doch ich konnte nicht glauben, was sie gesagt hatte. Wie kam Miyuki darauf, dass ich groß sei? Im Vergleich zu meinen Brüdern war ich winzig. Mein älterer Bruder Gato hatte mich stets »kinoko«, einen kleinen Pilz, genannt.

»Neben mir sind Sie ein Riese«, antwortete sie und lächelte wieder. »Und nicht jeder Mann kann diese Uniform tragen. Erst letzten Monat hat ein untersetzter, älterer Herr eine gekauft. Sie passte einfach nicht zu ihm. Als Sie am Donnerstag mein Geschäft betraten, wusste ich, jemand wie Sie könnte Polizist sein.«

Ich bekam Miyukis Worte einfach nicht aus meinem Kopf. Für sie war ich groß. Außerdem wusste sie noch genau, wann ich das Kostüm gekauft hatte. Mochte sie mich? War sie vielleicht sogar auf der Suche nach einem Ehemann? Eine Frau wie Miyuki an meiner Seite zu haben – daran hatte ich bis vor wenigen Tagen nicht zu träumen gewagt. Natürlich, ich war im besten Alter, und ich wollte keine Omiai-Ehe eingehen – wie meine Eltern. Meine Braut würde ich selbst bestimmen. Mutter und Vater waren damit einverstanden, hatten sie gesagt. Doch ich wusste, sie hatten Angst, weil ich einer Frau nicht viel zu bieten habe. Mit meiner Körpergröße erfülle ich nicht mal eins der drei Kriterien, die wichtig sind, um eine Chance zu haben. Um die anderen beiden ist es auch nicht besser bestellt. Ich habe kein Studium vorzuweisen. Und mein Verdienst in der Verwaltung der Konservenfabrik reichte nur für ein bescheidenes Leben. Suchte Miyuki jemanden mit hoher Bildung und einem entsprechenden Gehalt, konnte ich mir die Mühe sparen.