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Franziska Franke
Sherlock Holmes und
die schwarze Kobra

Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Sherlock Holmes und die Büste der Primavera
Sherlock Holmes und der Club des Höllenfeuers
Sherlock Holmes und die Katakomben von Paris
Sherlock Holmes und der Fluch des grünen Diamanten
Sherlock Holmes und das Ungeheuer von Ulmen
Sherlock Holmes und der Ritter von Malta
Sherlock Holmes und das Geheimnis der Pyramide

Franziska Franke, in Leipzig geboren, hat nach ihrer Schulzeit, die sie in Essen, Schwetzingen und Wiesbaden verbrachte, an den Universitäten von Mainz und Frankfurt Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Kunstpädagogik studiert. Sie wohnt heute mit ihrem Mann in Mainz, wo sie freiberuflich in der Erwachsenenbildung tätig ist. Mit ihrem Krimi-Debüt »Sherlock Holmes und die Büste der Primavera« erweckte sie den größten Detektiv der Weltliteratur zu neuem Leben und begeisterte Krimifans und Holmesianer.

Franziska Franke

Sherlock Holmes

und die
schwarze Kobra

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Vorwort des Herausgebers

Nachdem ich auf die Übersetzung der vorangegangenen Bände der Aufzeichnungen David Tristrams – wegen der schwer lesbaren Handschrift ihres Verfassers – lang hatte warten müssen, war ich darauf gefasst, dass meine Geduld wieder auf eine harte Probe gestellt werden würde, bis ich endlich wieder die Reinschrift eines der Quartbände in Händen halten würde.

Aber ich wurde angenehm überrascht, denn schon einen Monat später lag auf meinem Schreibtisch die sauber abgetippte Übersetzung des dritten Bandes. Eine Rückfrage bei der mit dieser Arbeit betrauten Studentin ergab, dass sie ihre Arbeit diesmal zügig erledigen konnte, da vier Kapitel des Manuskriptes von Violetta Tristram-Boldoni auf Italienisch verfasst und mit einer schnörkellosen, schönen Handschrift geschrieben waren.

Offenbar hatte es sich David Tristrams Ehefrau nicht nehmen lassen, einige Episoden zu schildern, bei denen ihr Gatte nicht anwesend war. Sie sind im Folgenden durch kursive Schrift gekennzeichnet.

Wieder gewährt der Text uns wertvolle Einblicke in die Jahre, die Sherlock Holmes auf der Flucht vor den Handlangern seines Erzrivalen Professor Moriarty fern von London verbracht hat, Informationen, die ohne den glücklichen Fund der Manuskripte auf dem Dachboden der Florentiner Casa Tristram-Boldoni für immer verloren gegangen wären.

Florenz, den 20.1.2016
Giorgio Battista Scalzi, Anwalt und Notar

1. Ankunft in Bombay

Endlich zeichnete sich die Küste des indischen Subkontinents vor meinen von der Hitze gereizten Augen ab. Unsere kleine Reisegruppe würde sich also bald auflösen. Holmes hatte uns trotzdem bisher weder mitgeteilt, wie lange er in Bombay bleiben wollte, noch was er überhaupt in Indien zu tun gedachte. Möglicherweise schwieg er sich aus, damit ich mich nicht an seine Fersen heftete, vielleicht hatte er aber zu diesem Zeitpunkt auch noch kein konkretes Ziel.

Meine Frau und ich wollten hingegen nach Simla weiterreisen, wo ich zwei Jahre zuvor ein kleines Grundstück von einem abenteuerlustigen Onkel geerbt hatte. Es war gewiss weit weniger wert, als die Reise dorthin kostete, weshalb ich bisher noch keine Anstalten unternommen hatte, mein Erbe in Augenschein zu nehmen. Aber als Holmes angekündigt hatte, dass er nach Indien reisen würde, änderte das schlagartig meine Einstellung zu dem Grundstück. Ich wünschte nur, er hätte diesen Plan bereits in Ägypten geäußert. Dann wären wir nicht von dort erst nach Florenz zurückgekehrt.

Am Nachmittag verkündete ein ohrenbetäubendes Tuten der Schiffssirenen unsere Ankunft in Bombay. Vor uns lag eine ausgedehnte, volkreiche Stadt, die wie Venedig durch Landgewinnung aus mehreren kleinen Inseln gebildet worden war. Heute wurde sie durch einen Bahndamm mit dem Festland verbunden. Auf dem Pier wimmelte eine Menschenmenge bunt durcheinander: indische Diener, Hafenbeamte, Pagen mit großen Namensschildern und die Schlepper der Hotels. Dazwischen standen als Fels in der Brandung die Freunde und Verwandten der Passagiere.

Staunend betrachtete ich die Szenerie am Hafen, denn Bombay war anders, als ich erwartet hatte: sowohl exotischer als auch stärker vom großstädtischen, modernen Leben geprägt.

»Ich hatte mir die Stadt kleiner und weniger hektisch vorgestellt«, murmelte Violetta besorgt vor sich hin.

Mir ging es ähnlich, weshalb ich unverzüglich meinen Reiseführer konsultierte. »Bombay ist seit der Eröffnung des Suezkanals der wichtigste Handelsplatz Indiens. Die Stadt hat 1891 immerhin 821.764 Einwohner und zwar 502.851 Hindu, 158.713 Mohammedaner, 48.597 Parsen, 30.708 eingeborene Christen, 17.387 Buddhisten, 10.541 Europäer, 1168 Eurasier sowie viele Araber, Perser, Chinesen und Neger«, las ich vor und überlegte belustigt, dass wohl seit Redaktionsschluss der eine oder andere von ihnen gestorben sein könnte. Außerdem hatte ich keine Ahnung, was Parsen waren.

»Ob uns ein Hotelpage abholt?«, fragte Violetta und ließ ihren Blick suchend über die Menschenmenge schweifen.

»Wohl kaum, denn das Schiff hat mehrere Stunden Verspätung«, schaltete sich Holmes ungeduldig mit den Fingern auf der Reling herumtrommelnd ein, aber die Andockprozedur war noch immer nicht beendet.

Am späten Nachmittag gingen wir endlich die Gangway hinunter. Hitze und Lärm schlugen uns am Ufer entgegen. Als wir die Zollformalitäten in einer staubigen Baracke hinter uns gebracht hatten, fielen ganze Scharen von Kulis über uns her, die sich anboten, unser Gepäck zu tragen oder uns in der Stadt herumzuführen. Zwischen den dunkelhäutigen Einheimischen mit ihren weißen Gewändern war der schwarz gekleidete Holmes eine sehr auffällige Erscheinung, zumal er die meisten Inder um Haupteslänge überragte.

»Sie wollen uns bestimmt unsere Koffer rauben«, vermutete Violetta, argwöhnisch die einheimischen Kofferträger betrachtend, die sich bereits unseres Gepäcks angenommen hatten.

»Durchaus möglich, aber wenigstens fahren hier die Wagen nicht in der falschen Richtung!1«, erklärte Holmes gut gelaunt und winkte dann eine Droschke herbei. »Hotel Bristol«, rief er dem Kutscher zu, einem drahtigen, kleinen Mann mit großer Nase.

Konsul Angus McGregor, ein Kunde meines Schwagers, hatte uns das Hotel empfohlen, da es nicht zu teuer war und angeblich trotzdem europäischen Hygiene-Standards entsprach.

Nachdem die Gepäckträger unsere Koffer im Fahrzeug verstaut hatten, ging die Fahrt so ungestüm los, dass mein Magen einen Satz machte und ich mich vorsichtshalber am Sitz festklammerte. Aber bald bogen wir in eine belebte Straße ein, in der die Kutsche nur noch langsam vorankam. Draußen mischten sich Lastenträger, die überfüllte Schubkarren vor sich herschoben mit Lebensmittelhändlern, die ihre Waren laut anpriesen, weiß gekleidete, arme Hindus mit reichen Landsleuten in farbigen Kleidern und den wichtigtuerischen Beamten der Britischen Kolonialmacht. Letztere hatten mit gewaltigen Bauten der Innenstadt ihren Stempel aufdrückt. Endlich hielten wir vor dem Hotel Bristol, einem modernen Bau, der auch in London hätte stehen können. Aber wahrscheinlich sahen Hotelbauten mittlerweile überall gleich aus.

»Wir haben telegrafisch zwei Zimmer auf die Namen Sigerson und Tristram bestellt«, sagte Holmes zum Rezeptionisten, einem fetten Inder, der nach einigem Suchen unsere Namen in seinem Gästebuch fand. Während Holmes die vorgeschriebenen Eintragungen erledigte, ließ ich meinen Blick durch die Halle wandern, die mit ihren durchbrochenen Bronzelampen und in Rottönen gemusterten Textilien wenigstens etwas exotisches Flair verströmte.

Hotelpagen schleppten unser Gepäck eine herrschaftliche, von einem karminroten Läufer bedeckte Treppe hinauf. Das Gästezimmer war jedoch weit weniger luxuriös, als ich es angesichts des Eingangsbereiches erwartet hatte. Es war zwar geräumig und auf den Parkettfußböden lagen dicke Orientteppiche. Aber die Betten waren unbequem, und die schon etwas angestoßenen Schränke aus dunklem Holz rochen vermodert. Zwei niedrige, wackelige Stühle und ein kleiner Tisch mit matt gescheuerter Platte rundeten die schäbige Einrichtung ab. Betrachtete man allerdings die Lebensverhältnisse der meisten Einwohner Bombays, so hatten wir sicherlich eine akzeptable Unterkunft gefunden, zumal das Hotel sehr zentral gelegen war.

Wir waren von der Reise erschöpft und gingen daher früh zu Bett. Trotzdem schlief ich schlecht, denn die feuchte Luft machte mir zu schaffen. Außerdem hatte ich, als Folge der langen Seefahrt, die ganze Nacht noch immer das Gefühl, dass mein Bett schwankte.

»Denk dran, dass du für Andrea eine Skulptur ausliefern musst«, ermahnte mich Violetta am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück. »Am besten du erledigst es gleich. Dann haben wir den ganzen Nachmittag Zeit, um die Stadt zu besichtigen.«

»Willst du mich wirklich nicht begleiten?«, fragte ich und starrte feindselig auf ein sehr schweres Paket, das in der Ecke auf dem Boden stand. Es enthielt die Büste des bereits erwähnten Mister McGregor, der sich von meinem Schwager Andrea Boldoni hatte porträtieren lassen.

»Nein, das wäre wirklich übertrieben! Es ist schließlich kein gesellschaftlicher Besuch, du sollst doch nur eine Skulptur abliefern«, erwiderte meine Frau belustigt.

Wahrscheinlich wollte sie lieber zum Telegrafenamt, um ihrem Bruder mitzuteilen, dass sie sicher in Bombay angekommen war. Auch nach mehreren Jahren gemeinsamen Lebens hatte ich den Eindruck, dass Violetta sich mehr ihrer Großfamilie als ihrem Ehemann zugehörig fühlte.

»Der Konsul wohnt am anderen Ende der Stadt. Außerdem bin ich nicht der Laufjunge deines Bruders«, versuchte ich sie umzustimmen, denn ich bedauerte inzwischen, an Bord ohne groß nachzudenken in die Auslieferung eingewilligt zu haben.

»Jetzt stell dich nicht so an! Der Konsul weiß, dass du Andreas Schwager bist. Er wird dich bestimmt nicht für einen Laufburschen halten«, sagte meine Frau, während sie mir meinen Hut reichte und entschlossen die Zimmertür öffnete. »Die Statue ist bereits bezahlt. Du musst sie nur übergeben.«

»Wenn es denn sein muss!«, ergab ich mich in mein Schicksal und hob das Paket an.

»Und iss unterwegs nichts bei fliegenden Händlern«, ermahnte mich meine Frau. »Hier gibt es Krankheiten, deren Namen wir nicht einmal kennen. Die Frauen der Offiziere an Bord haben immer wieder betont, dass man in Indien nichts essen oder trinken soll, das nicht abgekocht ist.«

»Keine Sorge. Ich komme so schnell wie möglich zurück. Ich habe nämlich keine Lust, ohne dich in Bombay herumzulaufen«, versicherte ich ihr, doch in Wahrheit befürchtete ich, Holmes könnte sich während meiner Abwesenheit aus dem Staub machen.

Ich gab zwei Hotelpagen ein reichliches Trinkgeld, damit sie für mich die schwere Büste zur nächsten Haltestelle der Stadtbahn schleppten. Von dort fuhr ich mit einem modernen Zug in die Villenvorstadt Malabar-Point, die sich auf dem gleichnamigen, steilen Vorgebirge ausdehnte, das sich im Südwesten Bombays erhob. Hier befand sich unter anderem der Gouverneurspalast. Auch Konsul McGregors Villa, die sich zum Glück nicht weit entfernt von der Haltestelle befand, war äußerst stattlich. Wie die meisten Gebäude des Viertels war sie nicht im einheimischen, sondern im europäischen Stil erbaut. Dem Bronzeschild neben der Haustür entnahm ich, dass Mister McGregor als Honorarkonsul für baltische Kaufleute zuständig war. Ein richtiger Konsul hätte sich bestimmt die Skulptur von einer Spedition schicken lassen. Außerdem bezweifelte ich, dass sich viele Balten nach Indien verliefen. Kopfschüttelnd betätigte ich den Klingelzug, und augenblicklich riss ein blasser Dienstbote mit typisch englischer Physiognomie vehement die Haustür auf. Wie ich später feststellte, handelte es sich um den Kammerdiener des Hausherrn.

»Kommen Sie herein! Konsul McGregor erwartet Sie bereits«, forderte er mich auf, noch bevor ich mich vorgestellt hatte. Vermutlich hatte er mich an dem Paket erkannt, das ich vor der Tür abgestellt hatte.

Der Kammerdiener geleitete mich in eine Art Vorzimmer, murmelte einige unverständliche Höflichkeitsfloskeln vor sich hin und verschwand hinter einer weiß lackierten Tür. Da mir der Diener meine Last nicht abgenommen hatte, deponierte ich das Paket auf einem mit Intarsien verzierten, runden Tisch, der in der Mitte des Raums stand, und schaute mich um. Von der Straße her drang der Geruch von fremdartigen Gewürzen durch das Fenster. Das war aber auch das Einzige, was mich daran erinnerte, dass ich mich nicht in London, sondern in Indien befand. Der Raum mit seinen dunklen, englischen Stilmöbeln und den gerahmten Stichen mit Jagdmotiven wirkte auf mich wenig einladend, wie ich überhaupt das ganze Haus eher imposant als anheimelnd fand.

Ein paar Sekunden später wurde die Tür aufgerissen und gab den Blick auf den angrenzenden Raum frei, dessen Wände mit ausgestopften Tigerköpfen dekoriert waren. Mit erwartungsvoller Miene stürmte der Hausherr herein. Er war ein unauffälliger Mann um die vierzig, dessen buschiger Schnurrbart mich an ein Walross erinnerte. Bei meinem Anblick blieb er abrupt stehen. Der freudige Ausdruck verschwand von seinem Gesicht, während er mich von Kopf bis Fuß musterte. Offenbar hatte er jemand anderes erwartet.

»Guten Morgen, Konsul McGregor, mein Name ist David Tristram«, stellte ich mich vor und überreichte dem Hausherrn meine Karte. »Ich bin der Schwager von Andrea Boldoni und bringe Ihnen die bestellte Büste.«

Noch immer starrte Mister McGregor mich so fassungslos an, dass ich mich spontan erkundigte, ob ich mich in der Adresse vertan hatte. Natürlich war das eine dumme Frage, denn schließlich hatte ich Namen und Titel des Hausherrn auf dem Messingschild gelesen.

»Nein, Sie sind hier völlig richtig«, beteuerte mein Gesprächspartner mit einem etwas gezwungenen Lächeln. Seine raue Stimme ließ einen Kettenraucher vermuten. »Ich bin Konsul McGregor. Ich vermute, die Büste ist da drin?«

Er sprach das Wort Büste wie ein Schimpfwort aus und deutete dabei anklagend auf das sorgfältig verschnürte Paket.

Kein Laut drang aus dem riesigen Haus, und ich fragte mich, ob es nur von ihm und seinem Diener bewohnt wurde.

»Ja, das ist sie!«, bestätigte ich, während ich das gute Stück vorsichtig auspackte, damit Konsul McGregor es begutachtete. Ich konnte nur hoffen, dass sie ihm zusagte, denn ich hatte keine Lust, die schwere Skulptur wieder ins Hotel zurückzuschleppen.

»Das Porträt ist sehr gut gelungen!«, sagte er mit einem erstaunten Lachen, das allmählich in ein leises Husten überging.

Auch ich war von der Bildhauerarbeit angetan. Das Modell war durchaus wiederzuerkennen. Aber um wie viel imposanter sah sein marmornes Abbild aus! Es würde eine Zierde der Villa sein. Ich musste neidlos zugeben, dass mein Schwager Andrea immer besser wurde. Mittlerweile kamen seine Skulpturen fast an die seines berühmten Vaters Maestro Boldoni heran.

»Was schulde ich Ihnen?«, fragte Mister McGregor, nachdem er sein Konterfei einige Augenblicke lang wie seinen Todfeind gemustert hatte.

»Meine Frau sagte, dass die Büste im Voraus bezahlt worden sei«, erwiderte ich verblüfft, denn es kommt im Geschäftsleben selten vor, dass ein Kunde freiwillig zweimal zahlt – und schon gar nicht bei den happigen Preisen der Werkstatt meines Schwagers. Außerdem irritierte mich, dass mein Gesprächspartner die üblichen Höflichkeiten wie die Frage nach dem Befinden der Familie – mit einem kleinen Glas Sherry – übersprungen hatte und gleich zum geschäftlichen Teil übergegangen war. Noch nicht einmal einen Stuhl hatte er mir angeboten. Von einem Konsul hätte ich bessere Umgangsformen erwartet.

»Das stimmt. Sie haben völlig recht!«, erklärte Mister McGregor nach einer Schrecksekunde. Er griff sich mit einer fahrigen Handbewegung an die Stirn und wirkte überhaupt zunehmend nervös. Es herrschte eine angespannte Atmosphäre im Raum, die ich geradezu körperlich spürte. »Ich habe ganz vergessen, dass ich Ihnen das Geld schon in London gegeben habe.«

Hatte er tatsächlich London gesagt? Fast wäre mir die Frage herausgerutscht, ob er Florenz gemeint hatte. Aber langsam war mir der Konsul nicht mehr geheuer. Was hatte ich mir da wieder eingebrockt! Ich erwartete jeden Augenblick, dass der Hausherr einen Klingelzug betätigte und zwei muskulöse Handlanger aus dem Hinterzimmer stürmten, um mich den Tigern zum Fraß vorzuwerfen. In den Kolonien war schon mancher spurlos verschwunden, ohne dass es die Behörden bekümmert hätte. Höchste Zeit, das Haus zu verlassen!

»Genau so ist es«, sagte ich mit dem verbindlichsten Lächeln, das ich zustande brachte.

»Sie müssen meine Zerstreutheit entschuldigen, aber ich gebe morgen Abend einen Empfang, und wir sind von den Vorbereitungen doch sehr in Anspruch genommen«, machte mein Gastgeber einen Versuch, die Ungereimtheiten zu erklären. »Wollen Sie uns nicht mit Ihrer Anwesenheit beehren? Der Einlass beginnt um sieben.«

Die Einladung kam völlig unerwartet und war sicher nicht ernst gemeint, brachte mich aber dennoch kurz aus dem Konzept. »Vielen Dank! Ich weiß Ihre Freundlichkeit zu schätzen«, entgegnete ich möglichst unverbindlich, bevor ich mich verabschiedete und schleunigst das Haus verließ.

Draußen atmete ich erleichtert durch und schwor, mich nie wieder unentgeltlich von der Familie Boldoni einspannen zu lassen. Noch immer etwas verwirrt eilte ich zur Haltestelle zurück. Kaum hatte ich die Hauptstraße erreicht, fühlte ich eine Hand in die Tasche meiner Jacke gleiten. Ich packte sie beim Gelenk, wirbelte herum und erblickte gerade noch einen mageren Jungen in einem dünnen, weißen Gewand. Der kleine Taschendieb wand sich los und rannte davon. Im letzten Moment, bevor er in der Menge verschwunden war, erkannte ich etwas Weißes in seiner Hand. Hatte ich gedankenverloren eine Visitenkarte in die Jackentasche getan? Die Überprüfung der Tasche ergab, dass auch mein Kleingeld fehlte. In Italien hatte ich mir nämlich angewöhnt, immer ein paar Münzen für Bettler griffbereit zu haben.

Voller Mitteilungsdrang betrat ich eine halbe Stunde später das Hotel. Aber zu meinem größten Bedauern traf ich meine Frau nicht in unserem Zimmer an. Ich fluchte kurz vor mich hin, doch es war wohl sowieso besser, zuerst Holmes ins Vertrauen zu ziehen.

Ich schritt zur Tür des Nachbarraums und klopfte an. Von drinnen vernahm ich ein unverständliches Brummen, das ich als Aufforderung einzutreten interpretierte. Als ich die Tür aufstieß, waberten mir Rauchschwaden entgegen, aber das Hotelzimmer war ordentlich und sauber, was für den Fleiß des Zimmermädchens sprach, denn Holmes richtete überall in wenigen Stunden ein namenloses Chaos an. Mit angehaltenem Atem durchquerte ich den Raum, schob die geschlossenen Vorhänge zur Seite und zog das typisch englische Fenster herunter, das mich immer an eine Guillotine erinnerte. Heiße Luft strömte herein, aber wenigstens war sie sauber, da das Fenster nicht zur Straße führte. Das mittägliche Licht, das in den Raum fiel, beleuchtete die lange Gestalt von Holmes, der auf dem Bett saß und die Saiten seiner Geige überprüfte. Seine Pfeife hatte er auf den Nachttisch abgelegt.

»Mir ist eben etwas Seltsames passiert«, begann ich, ließ mich auf einen Stuhl fallen und berichtete dann von meinem Besuch beim Konsul.

»Mister McGregor kann kaum so zerstreut sein, dass er Florenz mit London verwechselt. Auch die Tatsache, dass er sich nicht mehr daran erinnert, eine größere Summe bereits bezahlt zu haben, ist befremdlich«, bemerkte Holmes, der während meines Berichts aufgestanden war und nun mit dem Rücken an den Schrank gelehnt aus dem Fenster schaute.

»David!«, hörte ich im gleichen Augenblick meine Frau im Flur rufen. »Kannst du bitte die Tür aufmachen? Mein Schlüssel ist ganz unten in meiner Tasche!«

Bevor ich auch nur aufgestanden war, hatte Violetta bereits dreimal ungeduldig an unsere Zimmertür geklopft.

»David! Bist du in der Badewanne?«, hörte ich ihre mittlerweile leicht ungehaltene Stimme.

Ich öffnete die Tür und räusperte mich.

»Ich bin im Zimmer von Holmes«, gab ich bekannt und bedeutete Violetta mit einer Geste, sich zu uns zu gesellen.

Mit besorgter Miene folgte sie meiner Aufforderung. »Was ist passiert?«, fragte sie, kaum dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Holmes machte eine einladende Geste auf einen freien Stuhl, und meine Frau nahm Platz, während ich mich auf dem anderen Stuhl niederließ.

»Es wäre nett, wenn Sie Ihrer Frau noch einmal alles ausführlich schildern. Vielleicht erinnern Sie sich dabei noch an weitere Einzelheiten«, forderte Holmes mich auf, was mich unangenehm an die Polizei erinnerte, der man immer alles mehrfach erzählen musste.

Widerwillig tat ich, wie mir geheißen. »Ich möchte zu gern wissen, wen er statt meiner erwartete«, überlegte ich, nachdem ich geendet hatte.

Holmes warf mir einen schwer zu deutenden Blick zu. »Diese seltsame Geschichte hat wahrscheinlich eine ganz harmlose Erklärung.« Ich war sicher, dass er das nur behauptete, um Violetta und mich zu beruhigen. »Trotzdem sollten Sie besser im Hotel bleiben, bis ich diesen Konsul McGregor unter die Lupe genommen habe.« Ich wollte protestieren, aber Holmes ließ mich nicht zu Worte kommen. »Sie haben Mister McGregor gegenüber hoffentlich nicht zufällig das Hotel Bristol erwähnt?«

»Nein, das habe ich nicht«, beteuerte ich.

»Das ist gut«, brummte Holmes, legte seine Geige neben sich, griff nach seiner unvermeidlichen Pfeife und begann sie zu stopfen.

»Er wird trotzdem wissen, dass wir hier abgestiegen sind«, gab ich zu bedenken, »schließlich war er es, der uns das Hotel empfohlen hat.«

»Da bin ich mir gar nicht so sicher. Immerhin ist ihm auch entfallen, dass er sich hat porträtieren lassen«, entgegnete Holmes und zündete seine Pfeife an.

Als sie brannte, stand er auf und begann, mit der Pfeife im Mundwinkel im Raum auf- und abzugehen. Nach der dritten Runde blieb er abrupt stehen und schaute meine Frau an. »Mrs Tristram, seien Sie doch bitte so freundlich, mir alles zu erzählen, was Sie über Mister McGregor wissen.«

»Mister McGregor ist ein in Bombay ansässiger schottischer Kaufmann. Er hat einen Besuch bei Geschäftspartnern in London mit einer Italienreise verbunden. Ein anderer Brite hat ihn dort auf die Werkstatt meines Bruders aufmerksam gemacht«, antwortete Violetta nach kurzem Nachdenken.

»Es war nicht zufällig Mortimer Hopper?«, fragte ich besorgt, da ich dem zwielichtigen Kunsthändler alles zutraute.

Meine Frau zuckte entschuldigend mit den Schultern, was wohl bedeutete, dass sie es nicht wusste.

»Jedenfalls hat Mister McGregor sich von Andrea porträtieren lassen, obwohl er nicht genug Zeit hatte, um bis zur Fertigstellung der Büste in Florenz zu bleiben, da er bereits eine Rückfahrkarte gebucht hatte. Als Andrea hörte, dass sein Kunde in Bombay wohnt, hat er ihn gefragt, ob er uns ein Hotel empfehlen könnte. Das hat wiederum den Konsul auf die Idee gebracht, dass wir die Büste bei ihm vorbeibringen könnten. Wie Sie sich vorstellen können, hat mein Bruder auf Vorauskasse bestanden, denn er hat in ähnlichen Fällen schon schlechte Erfahrungen gemacht.«

»Sie kennen Konsul McGregor also nicht persönlich?«, fasste Holmes den etwas konfusen Bericht sachlich zusammen.

»Leider nicht!«, bedauerte Violetta. »Ich halte mich nur selten in der Werkstatt auf. Der Konsul hat meines Wissens auch nur zweimal Modell gesessen. Ansonsten hat Andrea nach einer Fotografie gearbeitet.«

»Das ist bedauerlich«, bemerkte Holmes mit erstaunlicher Beiläufigkeit. »Wenn ich mich richtig erinnere, so ist die Skulptur gerade noch rechtzeitig fertig geworden, um sie mitzunehmen?«, fragte er dann, was Violetta bestätigte. »Könnten Sie vielleicht abschätzen, wie viel Zeit seit der Abreise ihres Modells vergangen ist?«

Meine Frau schaute einen Moment lang verdattert drein, was wohl an dem langen englischen Satz lag. »Das muss ich nicht schätzen. Mein Bruder hat gesagt, dass sich der Konsul am 14. Juli einschiffen will. Ich habe mir das Datum gemerkt, weil es der französische Nationalfeiertag ist«, verkündete sie dann, was wiederum Holmes für eine Sekunde aus dem Konzept brachte.

»Es ist ein Jammer, dass ich nicht in meiner Kartei nachschauen kann, ob ich bereits eine Akte über Konsul McGregor angelegt habe«, überlegte er dann. »Es gefällt mir gar nicht, dass sein Name mit dem Buchstaben M beginnt.«

Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob Holmes die tropische Sonne nicht bekommen war.

»Weil das auch für Professor Moriarty, Cornel Moran und Mister Milverton zutrifft«, klärte er mich angesichts meines verblüfften Gesichtsausdrucks auf. »Aber auch für uns gibt es Arbeit! So trifft es sich gut, dass Mister McGregor morgen Abend einen Empfang gibt, was ich übrigens vorhin bereits auf der Gesellschaftsseite der Zeitung gelesen habe. Ich bin sicher, dass unsere Reisebekanntschaft Mrs Summerly uns eine Einladung besorgen kann.«

Mrs Jane Summerly war eine leicht überspannte, sehr junge Frau, die an Bord unseres Schiffes mit der Behauptung, einer der Mitreisenden habe ihr den Verlobungsring gestohlen, für einen allgemeinen Aufruhr gesorgt hatte. Holmes hatte das Corpus Delicti binnen einer Stunde wiederbeschafft und so den Frieden gerettet. Der Ring war dann bei der Hochzeit der Verlobten sogleich zum Einsatz gekommen.

»Uns?«, fragte ich erstaunt zurück, denn schließlich hatte Holmes mich eben erst unter Hausarrest gestellt. Dann erinnerte ich mich mit gemischten Gefühlen daran, dass Violetta an Bord des Schiffes Mrs Sigerson gespielt hatte. Das war aus Sicherheitsgründen geschehen. Sollten Professor Moriartys Schergen die Passagierlisten der Schiffe nach Übersee kontrollieren, würden sie einem verheirateten Mann keine Beachtung schenken. Meiner Meinung nach war diese Maskerade überflüssig, denn der Reisepass auf den Namen Sven Sigerson, den der Vetter unserer Florentiner Nachbarn angefertigt hatte, sah authentischer aus als die meisten echten Dokumente.

»Mrs Summerly würde sich sehr wundern, wenn ich ohne meine Gemahlin den Empfang besuche. Da Mrs Tristram dem Konsul in Florenz nicht begegnet ist, besteht keine Gefahr, dass er sie wiedererkennt«, bestätigte Holmes meinen aufkeimenden Verdacht, aber er wirkte alles andere als begeistert.

Meine Frau hingegen nickte mit leuchtenden Augen. Sie hatte sich in Florenz immer beschwert, dass sie sich nicht an unseren Ermittlungen beteiligen durfte.

»Das kommt nicht infrage!«, widersprach ich entschieden. »Ich gehe mit. Schließlich möchte ich Ihnen assistieren. Außerdem hat mich der Konsul ja selbst eingeladen, und wenn Violettas italienische Verwandtschaft erfährt, dass sie ohne mich Empfänge besucht …«

»Wie sollte sie das erfahren?«, unterbrach mich meine Frau mit einem spitzbübischen Lächeln.

»Ich muss Sie bitten, vorsichtshalber im Hotel zu bleiben. Mir gefällt die Reaktion des Konsuls gar nicht«, sagte Holmes kategorisch zu mir und fügte versöhnlicher hinzu. »Was den Empfang betrifft, kann ich Ihnen aber versichern, dass Sie bestimmt nichts versäumen. Empfänge sind eine höchst langweilige Angelegenheit.«

Wenn Holmes nicht allseits als Frauenfeind bekannt wäre, hätte ich weiterhin darauf bestanden, Violetta zu begleiten. Doch so gab ich mir einen innerlichen Ruck. »Wenn es denn sein muss«, brummte ich resigniert. »Aber wie wollen Sie Mrs Summerly in dieser riesigen Stadt finden?«

Holmes zog ein Gesicht, als ob das eine sehr dumme Frage gewesen wäre, und ich erwartete, dass er ihre Anschrift aus der Größe ihres Koffers und dem Beruf ihres Gatten geschlossen hatte. »Sie erinnern sich doch daran, dass Mrs Summerly uns ihre neue Adresse in Bombay genannt hat?«

Ich schüttelte den Kopf, und auch meine Frau hatte es offenbar nicht mitbekommen.

Holmes warf Violetta einen abschätzigen Seitenblick zu. »Ich gehe auch davon aus, dass Mrs Summerly Ihnen mit einer für diesen Anlass geeigneten Garderobe aushelfen kann. Ihre Kleider müssten Ihnen eigentlich passen«, verkündete er mir in seiner nüchternen und in diesem Fall ziemlich ungalanten Art.

Violettas Miene verdüsterte sich, und auch ich fragte mich empört, ob man sich mit meiner Frau wirklich nicht auf einem Empfang blicken lassen konnte. Mühsam verkniff ich mir einen boshaften Kommentar über pfefferminzgrüne Kleider, karierte Hosen und Mützen mit Ohrenklappen.

2. Der Empfang

Mir war am Vortag gar nicht bewusst gewesen, dass ich David durch halb Bombay geschickt hatte. Ich dachte, er hätte das nur aus Faulheit behauptet. Wenigstens war Malabar-Point durch eine Stadteisenbahn mit der Altstadt verbunden. Beim Gedanken an David wurde mir ganz mulmig zumute. Wer weiß, in welches Wespennest er am Vortag gestochen hatte!

»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir die Konversation überlassen würden«, schärfte Holmes mir ein, als wir uns dem Eingang der Villa näherten. »Und denken Sie immer daran, dass Sie Mrs Sigerson sind. Also bitte fragen Sie weder nach Ihrem Gemahl noch nach der Büste, die Mister McGregor bei Ihrem Bruder bestellt hat.«

Bevor ich irgendetwas erwidern konnte, gab Holmes seine Karte einem älteren Diener, dessen Aufgabe es war, ungeladene Gäste abzuwimmeln, denn er warf einen äußerst kritischen Blick auf die Gästeliste, bevor er uns eintreten ließ.

»Bitte folgen Sie mir«, forderte uns dann einer der indischen Diener auf, deren große Anzahl demonstrierte, wie preiswert Dienstboten in den englischen Kolonien waren, und Holmes nickte.

Mein geliehenes, rosafarbenes Seidenkleid raschelte beim Gehen, obwohl ich nur einen einzigen Unterrock trug, und ich fühlte mich in meinem Korsett wie in einem Panzer. Die Pracht der Räume, die ich auf dem Weg zum Ballsaal durchschritt, erinnerte mich an die der königlichen Gemächer im Palazzo Pitti. Offenbar schien ihr schottischer Besitzer alles andere als geizig zu sein.

Unterwegs nickte ich den uns entgegenkommenden Gästen zu, da ich nicht wusste, wie man sich auf einem Empfang verhielt. Dabei hielt ich nach der Büste Ausschau, die David geliefert hatte. Wo mochte wohl in diesem Prachtbau die Büste des Hausherrn ihren Ehrenplatz gefunden haben? Im Vestibül? Im Empfangsraum oder im Arbeitszimmer? Vielleicht war Mister McGregor aber auch noch nicht dazu gekommen, einen geeigneten Standort auszuwählen. Schließlich hatte er sie erst am Vortag erhalten.

Im großen Saal des Hauses standen förmlich gekleidete Damen und Herren in Gruppen herum. Man brauchte offenbar eine Menge Geld, um sich in diesen Kreisen bewegen zu können, allein schon für die Kleidung. Ganze Scharen indischer Dienstboten schwirrten mit Wein- und Sektflaschen umher sowie mit Tellern voller Snacks. Die Gesellschaft schien ein geschlossener Kreis zu sein, denn ich sah keinen einzigen Einheimischen unter den Gästen.

»Lädt man in Bombay keine Inder zu den Empfängen ein?«, fragte ich leise.

»Selten und dann allenfalls reiche, parsische Kaufleute«, flüsterte Holmes zurück. »Nach dem Aufstand von 1859 ist die anfängliche Neugier meiner Landsleute in tiefes Misstrauen den Indern gegenüber umgeschlagen.«

Vor einem der Fenster saß auf einer kunstvoll geschnitzten Lampe ein großer, schwarzer Kakadu, der unentwegt sinnlose Silben vor sich hin brabbelte.

Man geleitete uns zum Hausherrn, einem durchschnittlich aussehenden Mann mittleren Alters, den allenfalls sein buschiger Schnurrbart interessant erscheinen ließ. Ich hatte erwartet, dass jemand, der mit Vornamen Angus hieß, einen Kilt tragen würde, aber nur das weiße Einstecktuch unterbrach das monotone Schwarz seiner Garderobe. Auch die meisten seiner Gäste trugen ausschließlich Schwarz und Weiß, wodurch sie einem Elsternschwarm glichen.

Hinter Mister McGregor stand ein blasser Kammerdiener mit einer typisch englischen, eckigen Physiognomie. Er war es wohl gewesen, der David eingelassen hatte. Momentan beäugte er jeden einzelnen Gast so misstrauisch, als ob er ein potentieller Attentäter wäre. Als wir Mister McGregor erreichten, probierte der Diener einen der Happen, die herumgereicht wurden, und gab das versilberte Tablett dann weiter an den Hausherrn. Offensichtlich kostete der Kammerdiener die Speisen für seinen Herrn vor. Allein bei der bloßen Vorstellung schauderte es mich.

»Mrs und Mister Sigerson, Konsul McGregor«, stellte man uns vor, und ich hatte Mühe, so etwas Ähnliches wie ein Lächeln zustande zu bringen, denn mich beschäftigte immer noch, warum Mister McGregor sich David gegenüber so seltsam verhalten hatte.

»Ach, Sie waren es, der den verschollenen Verlobungsring der armen Mrs Summerly an Bord des Schiffes wiedergefunden hat!«, sagte Mister McGregor zu Holmes. »Sie hat ganz Bombay von Ihnen vorgeschwärmt!«

Hatte sich das tatsächlich in den zwei Tagen, die seit unserer Landung vergangen waren, herumgesprochen?

»Meiner Meinung nach hat sie ziemlich überreagiert«, mischte sich eine ältere Matrone ein, die ich vom Sehen her kannte, denn auch sie hatte zu den Passagieren unseres Dampfers gehört. »Es war doch eine ziemliche Unverfrorenheit, die anderen Gäste öffentlich des Diebstahls zu bezichtigen! Aber was soll man schon von einem Mädchen halten, dass die melodramatische Idee hat, sich vom Kapitän eines Schiffes trauen zu lassen!«

Um nicht für unhöflich gehalten zu werden, wies ich nicht darauf hin, dass es nicht Jane, sondern ihr Verlobter Mister Summerly gewesen war, der seine Mitreisenden als Bande von Dieben bezeichnet hatte.

»Das hat ihr sicher eine Menge Kosten gespart«, erwiderte Mister McGregor. »Allein schon für die Bewirtung der Familie.«

»Immerhin hat Mister Summerly die gesamte Belegschaft des Schiffes zur Hochzeit eingeladen«, gab Holmes zu bedenken, und ich stand unsicher lächelnd neben ihm, denn ich wusste nicht, was von mir als Gemahlin an Holmes‘ Seite erwartet wurde. Es war mein erster Empfang, und ich hoffte, dass es auch mein letzter sein würde, denn ich fühlte mich äußerst unwohl in der feinen, englischen Gesellschaft.

»Tatsächlich?«, fragte Mister McGregor mäßig interessiert zurück.

»Ich habe gehört, dass Sie im Sommer Florenz besucht haben?«, erkundigte sich Holmes mit genauso gelangweilter Miene, und ich hielt den Atem an.

»Ja, ich liebe Italien! Und Florenz ist ein bezauberndes Städtchen! Nur die vielen englischen Touristen haben mir missfallen! Es werden von Jahr zu Jahr mehr. Auf der Piazza della Signoria hört man fast kein Italienisch mehr. Man fühlt sich fast wie auf dem Trafalgar Square!«

Leider hatte er nur allzu recht.

»Wir haben vor, im nächsten Jahr Florenz einen Besuch abzustatten«, fuhr Holmes ungerührt fort und blickte mich Beifall heischend an. »Meine Frau würde gern einige Skulpturen für unser neues Haus erwerben …«

»Da gibt es nur eine Adresse, und das ist Mortimer Hopper!«, unterbrach ihn der Hausherr. »Aber lassen Sie sich keine Produkte der Werkstatt Boldoni unterjubeln.« Fast hätte ich mich an meinem Champagner verschluckt, so ungeheuerlich war dieser Ratschlag. Nur mit größter Mühe gelang es mir, die Rolle zu spielen, die Holmes mir zugewiesen hatte. »Seit Maestro Boldoni gestorben ist, ist die Werkstatt nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sein Sohn Andrea Boldoni ist ein ziemlicher Stümper! Sie sollten nur die Büste sehen, die er von mir angefertigt hat!«

»Wenn Sie vielleicht so freundlich wären, sie mir zu zeigen«, mischte ich mich ein, obwohl ich innerlich noch immer vor Wut kochte und Probleme hatte, höflich zu bleiben. »Dann könnte ich mir selbst ein Bild von den Arbeiten der Werkstatt Boldoni machen.« Es kostete mich wieder einige Anstrengungen, so etwas Ähnliches wie ein Lächeln zustande zu bringen.

»Da muss ich leider passen!« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Ich fand die Skulptur so hässlich, dass ich sie sofort als Geburtstagsgeschenk an meine Schwester gesandt habe.«

Aber sie ist doch erst gestern ausgeliefert worden, wäre mir um ein Haar herausgerutscht, doch ein missbilligender Blick von Holmes brachte mich zum Schweigen.

»So ist die Büste also ganz umsonst um die halbe Welt gereist!«, konstatierte Holmes trocken und nahm sich einen Happen von dem Tablett, mit dem ein Hausmädchen gerade die Reihe der Gäste abschritt. Ihre weiße Schürze ließ ihre braune Haut noch dunkler erscheinen.

»Wo denken Sie hin! Meine liebe Schwester lebt im kühlen Norden, an den Hängen des Himalaja.« Dann nahm ein Stimmengewirr im Treppenhaus die Aufmerksamkeit unseres Gastgebers in Anspruch. »Aber da ist ja unsere frisch gebackene Mrs Summerly«, erklärte er in einem pathetischen Tonfall und deutete auf die Tür. Tatsächlich zelebrierte Jane gerade an der Seite von Mister Summerly ihren großen Auftritt. Sie trug eine weiße Abendgarderobe und war schnell von Gästen umgeben, die dem jungen Paar gratulierten. Unmöglich, ein privates Wort mit ihr zu wechseln! Enttäuschung stieg in mir auf, denn ich hatte gehofft, endlich jemanden zum Plaudern gefunden zu haben.

Mister McGregor wandte uns den Rücken zu, und ich folgte dem Gespräch nur noch mit halbem Ohr, zumal es überwiegend aus dem Austausch von verklausulierten Gehässigkeiten bestand, deren Sinn ich oft nicht erfasste. Ob das daran lag, dass mich meine Englischkenntnisse im Stich ließen, oder daran, dass ich sonst nicht in diesen gehobenen Kreisen verkehrte, vermochte ich nicht zu beurteilen. Vielleicht begriff ich aber auch nicht alles, weil ich die meisten Personen nicht kannte, über die man sich den Mund zerriss.

»Mutter sagt, dass du eine Norwegerin bist«, sprach mich ein etwa neunjähriger Junge an und riss mich damit aus meinen Gedanken.

»Nein, ich bin Italienerin. Mein Gatte ist Norweger«, entgegnete ich schlecht gelaunt, denn mir schwante nichts Gutes.

»Ich interessiere mich nämlich für Geographie.«

Wahrscheinlich las der Junge im Bett heimlich Abenteuerromane. Ich erwiderte nichts, denn ich war nicht in der Stimmung, mich ausfragen zu lassen. Wenn ich nicht befürchtet hätte, Holmes aus den Augen zu verlieren, hätte ich mich spätestens jetzt zum Nasepudern zurückgezogen.

»Wie heißt eigentlich der norwegische König?«

Ich täuschte einen Hustenanfall vor, um nicht antworten zu müssen. Glücklicherweise brachte das Holmes auf den Plan. Er hatte seit einer Viertelstunde mit einem korrekt gekleideten, älteren Mann geplaudert, der offenbar zu den wenigen Engländern gehörte, die nicht ausschließlich über Pferde und Hunde redete. Ich hatte nämlich die Worte Höhlen von Elephanta aufgeschnappt. Wie mir David erzählt hatte, befanden sie sich in der Nähe von Bombay.

»Es gibt in Norwegen keinen eigenen Herrscher. Das Land wird von dem schwedischen König Oscar II. mitregiert«, informierte Holmes das neugierige Kind.

»Peter! Habe ich dir nicht gesagt, dass du die Gäste nicht belästigen sollst?«, tadelte ihn die Matrone, die über Mrs Summerly gelästert hatte und erst jetzt zu erkennen gab, dass sie die Mutter des Knaben war. Sie blickte uns durch eine Lorgnette hochnäsig an. »Es tut mir leid, dass er so neugierig ist«, sagte sie dann entschuldigend, während sie den Jungen vor sich herschob.

»Überhaupt nicht«, log ich höflichkeitshalber. »Er ist doch so ein reizender Junge.«

Einen Augenblick lang befürchtete ich, einen Fehler begangen zu habe. Hoffentlich hatte ich damit den Jungen nicht zu weiteren Fragen animiert! Aber zu meiner Erleichterung wurde er von seiner Mutter bereits in eine andere Ecke des Saals geschleift. Auch Mrs Summerly rauschte im wahrsten Sinn des Wortes an der Seite ihres frischgebackenen Ehemanns ab.

»Falls Sie übrigens jemand danach fragen sollte: Die Hauptstadt von Norwegen heißt Christiania«, gab mir Holmes knapp Bescheid.

Wie gut, dass er nicht tatsächlich mein Ehemann war! Ich würde seine besserwisserische Art keine Woche lang ertragen!

Als Holmes sich wieder zu seinem Gesprächspartner gesellte, folgte ich ihm.

»Professor Woodthorpe«, stellte sich der ältere Herr mit einer höflichen Verbeugung vor. Sein glatt zurückgekämmtes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, aber seine Augen waren aufmerksam und lebhaft. Später erfuhr ich, dass er emeritierter Professor für Geschichtswissenschaften war, der sich in Indien dem Studium des Buddhismus und des Hinduismus widmete.

»Morgen habe ich einen anstrengenden Tag vor mir. Daher muss ich Sie jetzt leider verlassen«, erklärte Professor Woodthorpe nach wenigen Minuten, was ich wirklich bedauerte, denn er war ein angenehmer Gesprächspartner.

Ehe ich mich versah, war auch Holmes in der Menge untergetaucht, und ich blickte mich vergeblich nach einem weiblichen Wesen um, mit dem ich hätte plaudern können. Wie wohl überall in den Kolonien herrschte auch auf diesem Empfang ein großer Männerüberschuss.

Verärgert über die Unhöflichkeit, mich allein herumstehen zu lassen, schlenderte ich auf der Suche nach Holmes durch den Ballsaal. Ich fragte mich, ob uns überhaupt irgendjemand das Ehepaar abnahm, obwohl wir einander nicht mit Vornamen ansprachen und mich Holmes ständig irgendwo zurückließ. Wenigstens hatte die englische Sprache den Vorteil, dass sie keine Höflichkeitsformen besaß. Doch das nützte Holmes weidlich aus. Auf der zweiten Runde durch die Menge fand ich ihn im Gespräch mit einem rotgesichtigen Major.

»Und was machen Sie beruflich?«, fragte dieser gerade mit herablassender Miene, als ich mich zu meinem vermeintlichen Ehemann gesellte.

»Ich versuche, aus meinem Verstand Kapital zu schlagen«, antwortete Holmes mit einer derart unnachahmlichen Arroganz, dass der Major sich mit dieser Auskunft zufriedengab.

»Sie werden mich einen Augenblick entschuldigen«, sagte dieser und schritt auf einen prahlerischen Leutnant in Galauniform zu, mit dem er einige Worte wechselte.

»Die Lage ist angespannt«, hörte ich den Neuankömmling leise sagen.

»Das ist sie eigentlich immer!«

Leider konnte ich nicht weiterlauschen, denn Konsul McGregors Kammerdiener balancierte ein Tablett mit gefüllten Weingläsern an uns vorbei, und ich wunderte mich, dass diese profane Tätigkeit zu seinen Aufgaben gehörte.

»Ich habe eine Information, die Sie interessieren könnte«, raunte er Holmes im Vorbeigehen so leise zu, dass es die Offiziere nicht hören konnten. »Morgen ist mein freier Tag. Kommen Sie um zehn Uhr morgens in den Warteraum erster Klasse der Victoria Station.«

Bevor Holmes etwas entgegnen konnte, war der Kammerdiener schon wieder verschwunden. Bedauerlicherweise hatte der eingebildete Leutnant sich ebenfalls zurückgezogen, und der rotgesichtige Major machte Anstalten, das Gespräch mit Holmes fortzusetzen.

»Mir ist etwas unwohl! Ich würde gern ins Freie gehen«, sagte ich daraufhin mit gequälter Miene zu meinem falschen Ehemann.

»Die Villa besitzt eine schöne Veranda!«, erklärte der Offizier mit einer knappen Geste in Richtung Saalende.

Holmes nickte dem Major zu, der mir einen neugierigen Blick zuwarf. Sicher vermutete er, ich sei in anderen Umständen.

Trotz der fortgeschrittenen Stunde war die Luft draußen noch immer stickig. Ein heißer Wind trieb mir stoßweise einen betörenden Blumenduft ins Gesicht, und ich wandte mich ab. Der Vogelgesang aus den Nachbargärten mischte sich mit den Geräuschen der modernen Großstadt, aber ich vernahm auch Laute, die ich nicht kannte und die mich beunruhigten.

»Was will er uns wohl sagen?« Ich fragte mich, wie ich die Ungewissheit noch bis zum folgenden Tag ertragen sollte. »Ich gehe doch davon aus, dass es der Diener war, der David in die Villa eingelassen hat.« Zum Glück waren Holmes und ich allein und ich musste nicht flüstern.

»Auch ich vermute, dass der Bursche das Gespräch über die Büste mitbekommen hat. Jetzt will er uns sagen, in welcher Rumpelkammer sein Herr das gute Stück deponiert hat und möchte Geld dafür haben.« Holmes sog die Luft in einer Art und Weise ein, dass ich mich an einen schnüffelnden Hund erinnert fühlte. »Vielleicht haben wir aber auch Glück, und er hat Informationen über Mister McGregors Gedächtnislücke.«

»Und was halten Sie davon, dass der Konsul sich plötzlich wieder daran erinnert, dass er die Skulptur in Florenz erworben hat?«

»Das ist beim derzeitigen Stand der Ermittlungen schwer zu beurteilen.« Holmes konsultierte seine Taschenuhr. »Ich glaube, ich habe alle Informationen gesammelt, die ich hier erhalten kann«, sagte er sachlich. »Wir müssen unsere Zeit also nicht länger hier verschwenden.«

Nicht, dass ich mich auf Mister McGregors Empfang besonders wohlgefühlt hätte! Aber ich fand es doch befremdlich, dass ich nicht einmal gefragt wurde, ob ich vielleicht lieber bleiben wolle. In letzter Sekunde verkniff ich mir einen diesbezüglichen Kommentar, der mir bereits auf der Zunge lag, und schritt schicksalsergeben an der Seite von Holmes in den Ballsaal, wo mein Blick vergeblich den Hausherrn suchte, von dem wir uns anstandshalber verabschieden mussten. Nachdem wir einige Minuten untätig herumgestanden hatten, kehrte Konsul McGregor endlich mit einer üppigen, schwarzhaarigen Dame in den Saal zurück, die auf ihn einredete. Wir steuerten den Honorarkonsul und seine Begleiterin an.

»Leider müssen wir Sie schon wieder verlassen, da ich morgen sehr früh aufstehen muss«, behauptete Holmes und nickte dem Hausherrn zum Abschied zu. »Es war mir eine Ehre, Sie kennengelernt zu haben, Konsul McGregor.«

Der Hausherr lächelte unverbindlich, und wir bewegten uns auf den Ausgang zu. Ich war mittlerweile heilfroh, den langweiligen Empfang verlassen zu dürfen, doch es kam ganz anders. Ein gellender Schrei drang durch die Villa, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Man musste kein Meister-Detektiv sein, um zu wissen, dass etwas Schreckliches vorgefallen war.

»Was ist passiert?«, fragte Holmes einen Diener, der gerade den Ballsaal betrat. Der Inder war schlank, gelenkig und hatte intelligente Augen, aber sein Gesicht war vor Schreck wie versteinert.

»George … Mister McGregors Kammerdiener … liegt tot auf der Veranda, Sir«, stammelte er.

Auch mich schockierte diese Nachricht. Warum hatte ich David ausgerechnet in dieses Haus geschickt, in dem sich so schreckliche Dinge ereigneten?

»Was für eine Tragödie«, erwiderte Holmes, und meinte damit wohl, dass wir nun niemals erfahren würden, was uns der Diener mitteilen wollte.

»Wahrscheinlich ist ihm das tropische Klima nicht bekommen«, vermutete der indische Diener.

»Dabei hat er doch erst vor Kurzem seine Stellung angetreten«, meinte Holmes, und ich war einen Augenblick lang verblüfft. »Das konnte man an seiner hellen Gesichtsfarbe unschwer erkennen«, erklärte er mir etwas gönnerhaft.

»George ist tatsächlich erst seit wenigen Wochen in Bombay«, bestätigte der Diener und setzte dann seinen Weg fort.

»Mister McGregor hat ihn im Sommer aus England mitgebracht«, bemerkte eine magere Dame in weißer Seidentoilette, die das Gespräch mitverfolgt hatte. »Heutzutage ist es so schwierig, gutes Personal zu finden!«