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Kai Magnus Sting
Die Ausrottung der Nachbarschaft

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Leichenpuzzle

Kai Magnus Sting, geboren 1978, schreibt Kabarettprogramme, Hörspiele, Kriminalromane, Kurzgeschichten und Kolumnen für Radio und Zeitung. Seit über zwanzig Jahren ist er mit seinen Bühnenprogrammen auf Tournee, produziert Live-CDs und Hörspiele, ist im Fernsehen zu bestaunen und im Radio zu hören und hat für seine kabarettistischen Arbeiten zahlreiche Preise ge wonnen.

Kai Magnus Sting

Die Ausrottung
der Nachbarschaft

Originalausgabe

© 2016 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

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Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Coverillustration: © Heiko Sakurai

Lageplan: Ralf Kramp

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-95441-298-3

E-Book-eISBN 978-3-95441-312-6

Was gehen mir meine dämlichen Nachbarn auf den Sack. Selten solch eine Dummheit, Blödheit, Arroganz, Eitelkeit und Verbohrtheit – und damit habe ich mich nur auf die positiven Dinge konzentriert – auf einem Haufen erlebt. Und das Verrückte dabei: dasselbe denken die auch über mich. Nur gut, dass die Leute nicht immer so dürfen, wie sie wollen und gerne können würden. Man käme aus dem
Metzeln ja gar nicht mehr heraus.

Alfons Friedrichsberg

Dies ist ein Roman und kein Leitfaden – auch kein erzählendes Sachbuch! Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Des Weiteren distanziert sich der Autor mit Nachdruck von den Meinungen und Äußerungen der auftretenden Personen. Auch möchte er klarstellen, dass solche Nachbarschaften ausschließlich der Phantasie entspringen können. Deshalb ist dieser Roman für alle, die schon mal ihre Nachbarn umbringen wollten. Und für die, die das noch vor sich haben. Also für alle.

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Prolog oder Kapitel 0

Unzufällige Unfallzufälle oder:
Anfang, ohne den das Ende nicht wäre

Es passieren mehr Morde als Haushaltsunfälle in den eigenen vier Wänden getarnt, als man sich vorstellen mag. Und es gehört schon eine gewisse Planung dazu, wenn man es so machen will, dass es nicht auffällt. Das ist die Kunst dabei: Das Geplante wie zufällig erscheinen lassen, in diesem Fall: zwei eiskalte Morde wie ein einziges Malheur. Also sie beim Fensterputzen so von der Leiter stoßen, dass sie aus der hübschen Penthousewohnung im siebten Stock auf den Bürgersteig klatscht, und ihn bei der samstäglichen Autopflege vom eigenen Wagen überrollen lassen. Eigentlich zwei urdeutsche Todesfälle. Und beides sollte so geschehen, dass es endgültig ist.

Das war der Plan. Leicht in die Tat umzusetzen, war er auch.

Es war ein wunderschöner Frühlingsnachmittag, einer der ersten angenehm warmen Tage, die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, die Laubsauger bliesen lautstark durch die Vorgärten, manches wurde gekärchert, Kinder liefen von der Schule nach Hause, die Straßencafés waren stark frequentiert, die Menschen genossen die Wärme und die gute Luft.

Der Sommer stand vor der Tür. Und ihre Leiter zu nah am Fenster. Da hätte sie vorsichtiger sein sollen. Im Erdgeschoss hätte man ihr diese durchaus leichtsinnige Aktion noch durchgehen lassen. Aber nicht, wenn man die Fenster im siebten Stock putzen möchte. Natürlich, die Aussicht war phantastisch: vorne raus grün, hinten raus grün, rechts lag die Innenstadt und dahinter der Hafen, links der Zoo und der Wald.

Alles in allem eine sehr idyllische Wohngegend, die einem aber auch nichts mehr bringt, wenn man tot auf dem Asphalt liegt.

Inmitten der Idylle vernahmen die Nachbarn ein undefinierbares Geräusch.

Einige reagierten gar nicht darauf. Ein Mann stand auf, schaute alkoholumnebelt aus dem Fenster, sah die ganze Bescherung, zuckte mit den Schultern und legte sich zurück aufs Sofa; im Fernsehen lief eine Kochsendung, in der das zubereitet wurde, was in der Tiersendung davor vorgestellt wurde. Ein Jugendlicher zückte sein Mobiltelefon, drehte ein Videofilmchen und stellte es ins Netz. Eine Frau ließ vom Gemüseschneiden ab, schaute aus dem Fenster, erschrak, schüttelte den Kopf und schnitt weiter. Ein Kind, eigentlich mit Hausaufgaben beschäftigt, erschauderte so sehr, dass es sich über der Algebra erbrach. Und einer rief ganz einfach die Polizei.

Die eintreffenden Beamten und Ärzte hätten sich einen schöneren Nachmittag vorstellen können.

Auf dem Bürgersteig konnte man mit einigem Bemühen die Reste einer Frau erkennen. Also eigentlich nur den Oberkörper, denn der Kopf war aufgeplatzt, etwas Hirnmasse ausgetreten, ein Teil des Unterkiefers samt Kinn lag in einer Vogeltränke, ein Fuß mitsamt des Schienbeins hinter einem Gartenzwerg. Da hatten sie ordentlich was zusammenzufegen.

Erstaunlich, wie sich schon kurze Zeit nach dem Aufprall Raben und Tauben in den Ästen der umstehenden Bäume sammelten und neugierig die Szene betrachteten, begierig darauf, etwas Essbares zu erhaschen. Wenn man einmal Vögel dabei beobachten durfte, wie sie Totes auseinanderreißen, sieht man diese possierlichen Tiere mit ganz anderen Augen.

Später stellte man sich bei der Betrachtung des angeblichen Unfallortes die Frage: Wie ist es dazu gekommen? Sie hatten doch eine Zugehfrau, die kam einmal die Woche. Hätte die doch die Fenster putzen können. Nicht, dass es um die nicht auch schade gewesen wäre, wäre die aus dem Fenster gestürzt, das nicht. Aber sie war immerhin vierzig Jahre jünger. Mit Mitte 70 das Fenster putzen im siebten Stock … so etwas macht man doch nicht mehr.

Und wer platzierte seine Leiter so nah ans Fenster? Vielleicht stand sie auch unachtsam und kippelig auf einer Teppichkante.

Einige Nachbarn waren der Meinung, wenn sie das vorher gewusst hätte, dass sie später tot auf dem Bürgersteig liegen würde, hätte sie die Leiter wahrscheinlich noch mal umgestellt.

Der Punkt dabei war allerdings: Sie hatte die Leiter nicht selber aufgestellt. Und sie stand auch nicht freiwillig drauf. Eigentlich hatte sie die Fenster überhaupt nicht geputzt. Im Leben wäre sie nicht auf die Idee gekommen, die Fenster zu putzen, bei ihrer Höhenangst. Und letztlich war sie auch nicht von sich aus hinausgestürzt.

Alles eine einzige Inszenierung.

Dennoch ging man von einem Haushaltsunfall aus.

Die meisten Todesfälle ereignen sich eben in den eigenen vier Wänden.

Natürlich auch außerhalb.

Er hatte mit Hausarbeit nichts am Hut. Er liebte die Natur und seinen Garten; sein Auto war sein ein und alles. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass am Samstagmittag eine intensive Autopflege auf dem Programm stand, dass es fürs Wochenende fertig war und sie mit einem blitzblanken Wagen zu ihren Ausflügen aufbrechen konnten.

Zunächst fuhr er durch die Waschstraße, und dann stellte er seinen Wagen zu Hause vor die Türe und fing mit dem Polieren und den feineren Säuberungsarbeiten an.

Und er wollte einen Reifenwechsel vornehmen.

Man hatte ihm schon oft genug gesagt, er solle bei seiner Arbeit die Handbremse ziehen. Die Garageneinfahrt war nun mal abschüssig, wie leicht kann da so ein Mittelklassewagen zurückrollen. Und wie schnell liegt man drunter.

Er starb an seinen inneren Verletzungen.

Dass diesen Unfall niemand mitbekommen hatte, dass man ihn noch nicht einmal um Hilfe hatte schreien hören, konnte sich keiner erklären.

Es wusste ja auch niemand, dass er zunächst betäubt, dann unter seinen eigenen Wagen gelegt, dann erst der Wagenheber entfernt und er dann von seinem eigenen Fahrzeug überfahren und erdrückt wurde.

Diese gewichtige Belastung über viele Stunden, das überlebt niemand.

Eine Frau mit Hund gab später der Polizei zu Protokoll, dass sie ihn unter seinem Auto habe liegen sehen, als sie aus Gassigründen an der Garage vorbeigekommen sei. Aber der habe immer samstags unter seinem Wagen gelegen. Da habe sie gar nicht so drauf geachtet. Die Tatsache dieser Regelmäßigkeit mochte ja noch angehen, aber nicht die Dauer und der eigentliche Ort. Man liegt nicht freiwillig vier Stunden regungslos unter dem linken hinteren Wagenrad.

Unfälle. Beides.

So stand es jedenfalls in den Protokollen der Polizei.

Nette Menschen waren die beiden auch gewesen. Da geht man nicht von einer absichtsvollen, bösen Tat aus.

Waren sich die ermittelnden Behörden einig.

Waren sich auch die Nachbarn einig.

Alle.

Bei jedem Gespräch mit und unter den Nachbarn kam man zu dem Fazit: tragisch, diese Unfälle, aber doch zufällig.

Wie das Leben eben manchmal so spielen kann.

Schicksal.

Das einzig Seltsame blieb, dass beide innerhalb von nur einem Monat bei diesen tragischen Unfällen ums Leben kamen.

Jeder für sich alleine.

Und dabei waren sie 52 Jahre glücklich miteinander verheiratet gewesen. Nicht beide. Er mehr als sie.

Bei so viel Glück und Harmonie und Frieden ging keiner davon aus, dass sie umgebracht wurden.

Beide.

Und was keiner wissen konnte: dass diese beiden Todesfälle erst der Anfang der Ausrottung der Nachbarschaft sein sollten.

Kapitel 1

Coda im Tümpel

Eigentlich begann alles mit Prof. Dr. Kaiser im Gartenteich. Und dann nahm die Ausrottung der Nachbarschaft ihren Lauf.

Es war ein wunderschöner Sommermorgen. Der Rasen glänzte feucht in der aufgehenden Sonne, die Vögel zwitscherten vergnügt, froh ob der warmen Tage, und flogen von Ast zu Ast, Eichhörnchen schossen die Bäume hinauf und jagten wieder hinunter, alles lag in friedlicher Ruhe da.

So auch Kaiser. Denn das Einzige, was in dieser Gartenidylle wirklich störte, war ein Typ, der voll bekleidet, also in Anzug, Einreiher, Weste, Krawatte und Einstecktuch, Oberhemd, Lederschuhe, dort lag, wo er absolut nichts zu suchen hatte. Jedenfalls nicht in vollem Ornat, nicht derart mit Tauen, Seilen und Hölzern versehen und nicht zu dieser Uhrzeit. Außerdem lag Prof. Dr. Kaiser zu diesem Zeitpunkt schon einige Stunden so da.

Aufgefallen war er Herrn Laubengänger, der nur eben kurz die Essensreste gramgebeugt zum Kompost tragen wollte. Das machte er oft morgens, bevor er zur Arbeit fuhr. Schlafen konnte er eh schlecht, auf der Autofahrt zum Büro über die A 40 würde er sich nur wieder aufregen, da genoss er jeden morgendlichen Gang durch den Garten. Er war auch mühelos zum Kompost gekommen. Nur auf dem Rückweg war er buchstäblich über Kaiser gestolpert.

Noch nicht ganz wach, den ersten Bürokaffee jetzt schon herbeisehnend, blieb er am rechten Schienbein des Toten hängen, machte einen Satz nach vorne, erschrak kurz, drehte sich über die Schulter nach hinten, sagte kurz »Entschuldigen Sie bitte«, wollte wieder weiter, hielt dann aber inne, drehte sich zurück und traute seinen Augen nicht.

Wenn er das vorher gewusst hätte, so dachte er später an diesem Tag, hätte er seine Frau zum Kompost geschickt. Dann hätte er wenigstens im weiteren Verlauf des Tages seine Ruhe gehabt. Und nicht die Befragungen durch Polizeibeamte, immer wieder dieselben Wiederholungen und Aussagen.

Zurück zum Akademiker. Zum vollen Verständnis muss festgestellt werden: Prof. Dr. Kaiser lag nicht freiwillig im Gartenteich. Es gab ja mittlerweile die absonderlichsten Hobbys, da wunderte einen ja gar nichts mehr. Er lag dort auch nicht vollständig. Also nicht physisch komplett. Eigentlich nur mit einem Körperteil: nämlich dem Kopf.

Aber doch so, dass er nicht umhinkonnte, jämmerlich in seinem eigenen Tümpel zu ertrinken.

Man muss sich das so vorstellen: Prof. Dr. Kaiser lag auf dem Bauch mitten auf dem Rasen, sein Leib fixiert mithilfe eines stabilen Holzbretts, das quer über seinem Oberkörper lag, und an den Enden der Längsseiten an Pfählen tief in den Boden getrieben war, Arme und Beine weit von sich gestreckt und jeder Arm, jedes Bein, selbst Hände und Füße mit Tauen, Seilen und Schleifen an Heringen und Haken so im Erdreich verankert, dass eine körperliche Rührung, selbst die kleinste Bewegung vollkommen unmöglich war.

Wie der Gekreuzigte, nur eben horizontal. Und auch nicht gekreuzigt, sondern eher – wenn man das überhaupt sagen kann: geseilt.

Ein bizarres Bild.

Nun war diese bewegungslose Lage durchaus bewusst gewählt, fast schon liebevoll arrangiert, das Ganze. Denn der Geseilte, also Prof. Dr. Kaiser, lag mit Blickrichtung Teich in seinem Garten. Leider eine letale Blickrichtung, da ihm so sein Gartenteich näher stand, vielmehr lag, als gut für ihn war.

Er hatte seinen blöden Tümpel quasi auf Augenhöhe. Nasenspitzenhöhe, kann man fast sagen. Zungenspitzenhöhe, noch besser.

Ach, eigentlich war Kaiser seinem Teich in dieser Situation näher, als ihm lieb sein konnte. Denn er hing mit seinem Kopf darin. Und zwar so, dass er ihn nicht mehr rausbekam, da sein Hinterkopf mit einem Lederriemen so stramm fixiert war, dass er den Kopf weder heben noch nach links oder rechts hätte wenden können.

Und da bleibt einem natürlich nichts anderes übrig, als zu ersaufen. Da kannst du in deinem Leben noch so viele Seepferdchen, Freie Schwimmer oder sonstige Abzeichen erturnt und erschwommen haben: Wenn du so im Gartenteich hängst, dann ist Schluss. Dann läuft dir das Wasser kontinuierlich in den Mund, den Hals runter, dann ertrinkst du irgendwann jämmerlich.

Und da der Garten Prof. Dr. Kaisers höchstes Gut war, kann man durchaus sagen, dass er mit seiner ihm höchst eigenen Leidenschaft dahingestreckt wurde.

Es war Sommer: alles erblühte, erstrahlte, erwachte zum Leben und der Mensch im Gartenteich hauchte sein letztes Lüftchen aus.

Die Vögel zwitscherten in den Bäumen und sangen ihre Lieder, die Bienen summten, die Fische zogen an Kaisers aufgerissenen Augen vorbei und spiegelten sich in den trüben, toten Pupillen.

Die Frösche hatten gelaicht. Und wer weiß … Die Atmungen Kaisers, das anfängliche Wehren, dann das Einatmen, vielmehr: Einwässern … Da schwamm mit Sicherheit der ein oder andere Froschlaich mit in den sich im Todeskampf Befindlichen. Und dort, in den dunkel-feuchten Körperwelten würde vielleicht so mancher Frosch jetzt das Licht der Welt erblicken, vielmehr: das Dunkel.

Und wie so oft im Leben: Des einen Freud, des andern Leid. Hier wurde gestorben, dort wurde gelebt. Ein fortwährender Teufelskreis.

Und so kam über Nacht der Tod in Form eines ansons ten überaus idyllischen Gartenteichs zu Prof. Dr. Kaiser. Auch vor akademischen Weihen macht er nicht Halt, der Tod, dieser Lauser.

Kapitel 2

Hingang in der Nachbarschaft

Was sagst du eigentlich zu meinen Geranien?« Jupp Straaten rupfte linkisch Verwelktes zwischen den Blüten hervor und warf es über die Balkonbrüstung.

Alfons Friedrichsberg schien völlig unbeeindruckt und desinteressiert. Er lag auf dem Balkon im Holzstuhl, zog an seiner kubanischen Zigarre und bellte ein »Ich?« zwischen dem Qualm in die warme Luft.

»Ja, du. Oder ist außer dir und mir sonst noch wer auf dem Balkon?«

Friedrichsberg sah sich um. »Also ich seh niemanden.«

»Ja, und?«, schüttelte Straaten den Kopf. »Was sagst du jetzt zu meinen Geranien?«

»Nun, ich muss gestehen, ich wusste nicht, dass sie wert auf angemessene Unterhaltung legen, sonst hätte ich mich ganz anders auf sie vorbereitet und eingestellt. Aber allen Ernstes: Bist du wirklich der Meinung, die möchten ein Gespräch mit mir führen?«

»Wenn sie halbwegs bei Verstand sind, nicht«, atmete Straaten schwer aus.

»Außerdem komme ich mir hier vor wie auf dem Rosenmontagszug, nur anstelle von Kamellen werfen wir Blumen in den Garten. Wo bleibt Dahl eigentlich? Wollte der nicht schon längst hier sein? Der wollte doch Kuchen mitbringen.«

»Sollte. Er sollte Kuchen mitbringen. Aber da der Kaffee ja auch noch nicht durch ist«, Straaten nickte über seine Schulter nach hinten in Richtung Küche, »hat auch noch der Kuchen und somit Dahl, also haben beide noch Zeit.«

Friedrichsberg erhob sich schwerfällig und lehnte sich weit über die Balkonbrüstung, schaute hinab in den Garten und paffte Kringel nach unten. »Hmhmhm … Sag mal, was ist da eigentlich bei dir im Garten los? Was sind denn da so viele Leute unterwegs? Ist das ein Volksaufstand? Eine Massendemo im Kleinen oder ein neudeutscher Flashmob?«

»Weder, weder, noch. Die haben einen Toten gefunden.«

»Was? Wo?« Friedrichsberg beugte sich rasch zurück.

»Was: wie gesagt, einen Toten, wo: im Gartenteich.«

»Und namentlich?«

»Prof. Dr. Kaiser von nebenan.«

»Und der ist in seinem eigenen Gartenteich ertrunken?«

»Na ja«, über Straatens Mund huschte ein kühles Lächeln. »Ich würde eher sagen: ertrunken worden.«

»Wie?«

»Der wurde am Boden, also im Erdreich, mit Tauen und Strippen und derlei solcherart befestigt, dass er sich nicht mehr rühren konnte und mit dem Kopf im Teich hing. Und da er da ohne fremde Hilfe nicht wegkam, ist er zwangsläufig ersoffen. Worden.«

»Na, fein, das grenzt schon eher an eine Hinrichtung.« Friedrichsberg ließ sich ächzend in seinem Holzstuhl nieder und streckte die Beine von sich. »Und wann wurde der entdeckt?«

»Heute Morgen. Da hat Frau Tellmann ihre Wäsche aufhängen wollen.«

»An Herrn Kaiser?«

»Im Garten. Und da lag er.«

»Das ist ja grauslich. Aber auch schön«, eine große Rauchwolke verließ Friedrichsbergs Mund, »zeugt doch von Phantasie, so eine Teichtötungsaktion. Alle naselang werden sie erschossen, als ständ man auf der Kirmes, als ging’s um einen Teddybären. Aber auf so was hier musst du erst mal kommen, fast schon poetisch: Ersäufnis im Teich.«

»Dich begeistert das?«

»Ein bisschen schon. Vor allen Dingen ist es hier doch so hübsch idyllisch. Nette Wohngegend, liebe Menschen, jeder kennt sich, man spricht miteinander, behält sich im Auge, weiß was vom Nächsten, reicht mal ein Stückchen Kuchen rüber zum Kaffee, man grillt gemeinsam im Sommer, und dann verreckt einer aus dieser Gemeinschaft vor den Augen aller im eigenen Tümpel. Na, auf gute Nachbarschaft.«

»Haha, nicht wirklich amüsant.«

»Und ich frage mich da zwangsläufig: Wer macht so was? Und vor allen Dingen: Warum?«

»Ich bitte dich!« Straaten, der sich bisher eingehend um seine Balkonbepflanzung gekümmert hatte, drehte sich abrupt um und schaute seinen alten Freund streng an: »Du willst doch nicht schon wieder …«

»Heißt mit anderen Worten«, unterbrach er ihn, »wir haben wieder was zu tun.«

Man muss sich, um sich die Örtlichkeit vors geistige Auge zu bringen, man muss sich also ein Rechteck vorstellen. Beziehungsweise eine rechteckige Wohnanlage, allesamt Bauten aus den Zwanzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts.

Sieben Häuser, die meisten mit zwei oder drei Wohnparteien, nur in einem Häuschen hatte eine alte Dame gewohnt. Vier Häuser an der oberen Längsseite, drei Häuser schlossen das Rechteck rechts ein. An der unteren Längsseite befand sich ein länglicher, über Eck gehender Backsteinbau: das Heimatmuseum der Stadt.

Und in der Mitte dieses Rechtecks eine parkähnliche Anlage mit Bäumen, Büschen, einer Rosenhecke, einer Rasenfläche, Kieswegen, einem kleinen Taubenschlag, mehreren Bänken, Teppichstangen und dem bereits erwähnten Gartenteich.

Von Klettergerüsten, Sandkästen, Reitpferdchen, Tischtennisplatten oder Ähnlichem hatte man beizeiten Abstand genommen. Man fand, dass die Zeit der Kinderbespaßung vorbei sei und hatte nicht vor, sich die idyllische Ruhe durch kleine, laute Blagen abspenstig zu machen. Ruhe ist stets hart erkämpft; und ist sie erst einmal erreicht, möchte man sie sich von niemandem wegschreien lassen.

Und in diesen Häusern wohnte Nachbarschaft beisammen. Eine Nachbarschaft, die sich nun schon lange kannte, größtenteils jedenfalls, lebten die meisten doch schon seit vielen Jahren hier. Und der Rest … nun ja, der Rest … Es gibt immer einen Rest; egal wo und egal wie und auch egal wie viel davon. Mit dem muss man auskommen. Ein Rest muss immer sein. Denn nur mit dem Rest offenbart sich das Ganze; es kann nur wirken, wenn man sich stets des Restes bewusst ist.

Friedrichsberg überkreuzte seine ausgestreckten Beine und legte sie vor sich auf einen kleinen Hocker, bevor er sich in dem Liegestuhl zurücklehnte, seine Zigarre in den Aschenbecher legte, die Hände vor seinem stattlichen Bauch schloss, Däumchen drehte, über sich in den Himmel blickte und in ihn hineinphilosophierte: »Möglichkeit eins: Der Tümpel-Täter oder Kloaken-Killer, ganz wie du magst, kommt von außerhalb. Dann müssen wir heftigst auf die Suche gehen. Möglichkeit zwei: Der Morast-Mörder sitzt hier in der Nachbarschaft, ist also allen hinlänglich bekannt. Dann wird sich unsere Suche erheblich einfacher gestalten, und in dieser Wohnanlage wird bald eine neue Immobilie frei. Die Frage ist nur: Wer war’s?!«

»Ich habe keine Lust auf diese Mörderspiele.« Müde ließ sich Straaten neben Friedrichsberg auf einem Holzstuhl nieder.

Friedrichsberg kombinierte weiter: »Vielleicht ist der ausgezehrte ältere Herr vom Hochparterre unser Meuchelmörder, der immer noch die hell beigefarbene Cordhose trägt, die er seinerzeit, es mag an die 35 Jahre her sein, in einem Kaufhaus erstanden hat und die er immer noch mit Stolz trägt, wenn sie auch an den Knien etwas ausgedünnt ist. Ebenso verhält es sich mit dem Cordsakko und dem kleinkarierten Hemd unter dem hellblauen Pullunder. Alles in die Jahre gekommene Qualitätsprodukte, die mittlerweile auch ihren olfaktorischen Reiz ausleben und einen die Straßenseite wechseln lassen, wenn man diesen Herren daherkommen sieht. Oder ist es die ältere Dame in der orangefarbenen Kittelschürze, die jedem, aber auch wirklich jedem ein Gespräch aufdrängt und über alles und jeden Bescheid weiß? Der fleischgewordene Tratsch, die Boshaftigkeit in Person, die alles und jeden gegeneinander auszuspielen versucht. Und dabei redet und redet und redet und redet, und trotzdem nichts sagt.«

»So was wohnt hier nicht.«

»Pah! Hast du ‘ne Ahnung. So was gibt’s überall, sieht nur immer anders aus. So was ist chamäleonesk. Es könnte aber auch die Businesstrulla sein: Hosenanzug und Blazer von der Designerstange, Sonnenbrille – auch im Winter – in die Haare gesteckt, der Erfolg sitzt ihr in den Knochen und will da nicht rauskommen, stets am Rande des Limits, blank liegende Nerven auf 1,67 Meter und damit ihr gesamtes Umfeld verseuchen wollend und das auch schaffend. Wer auch als blut rünstiger Mörder infrage kommt, ist der Lump: Fenster, die sich nicht mehr putzen lassen, die rausgebrochen und neu eingesetzt werden müssen, dahinter Gardinen, die aussehen wie das Turiner Grabtuch, die Flurwoche hält er für einen aggressiven Angriff auf die Freiheit seiner Person und kommt einem mit Begriffen wie Leibeigener und Sklave und spießige Kapitalistenschweine. Wie es bei dem drinnen aussieht, will man gar nicht wissen. Also in der Wohnung; im Oberstübchen dürfte nichts sein. Wirft man aber einen Blick auf den Balkon, fühlt man sich in gewisser Weise an einen frischen Grzimek erinnert: die ganze ausgedorrte und vertrocknete Blumentopf- und Kastenbepflanzung muss unter dem Motto stehen: Serengeti darf nicht sterben. Darunter aber immer mindestens ein Kasten Bier.«

»Ja, so was wohnt hier. Der hat zu allem Überfluss auch noch einen Hund.«

»Siehst du wohl. Es könnte natürlich auch der Helfer sein, der alles weiß, aber nichts kann. Wenn der anpackt, ist es so, wie wenn drei andere loslassen. Will jedem helfen und verursacht dadurch nur noch größeren Schaden, hält sich dann aber raus. Und wenn ein Schuldiger gesucht wird, redet seine Frau. Als Mörder kommt natürlich auch der Hausmeistertyp infrage: Eigentlich der Schlimmste von allen. Meistens im Kittel und seit einigen Jahren mit neuem Titel: facility manager. Macht aber dieselbe Scheiße wie zu seiner Zeit als Hausmeister. Nur kommt er sich jetzt noch wichtiger vor. Haut nur große Sprüche raus, kann gar nichts, und ist und bleibt ein obrigkeitshöriger, kleingeistiger Uniformträger. Unloyal, feige, faul, bestechlich. Ein Blockwart der Neuzeit, ein mieser Mörder.«

»Jetzt hör aber auf. Das macht bei uns alles eine Verwaltung.«

»Was? Das Morden? So eine Art Miet-Mord-Mafia? Und denen kannst du dann mitteilen, wen du gerne ausgeschaltet sehen würdest? Hochinteressant. Hast du da mal eine Durchwahl für mich? Vielleicht möchte ich deren Dienste in Anspruch nehmen.«

»Ich hör einfach nicht hin. Tässchen Kaffee gefällig?«

Friedrichsberg nickte. »Mit Milch. Und Zucker. Oder der Täter ist der Spanner: eine fleischwurstähnliche Masse mit Gesicht, hübsch in Feinripp untergebracht, kahl rasierter Schädel umschließt unüberraschend wenig. Alles unter dem Motto: Wenn schon unappetitlich, dann richtig. Das ist auch der Typ, der sich seine Flaschen Bier und seine Zigaretten in Plastiktüten am Kiosk um die Ecke besorgt und an jedem Fenster ein Fernglas stehen hat. Er sagt, daraufhin angesprochen, es gehe ihm um die Vögel. Nun ja, so kann man’s auch ausdrücken.«

»Also einen Spanner haben wir hier nun wirklich nicht. Ich hab jedenfalls noch keinen gesehen.«

»Ja, und darum geht’s ja schließlich auch: Sehen und Gesehenwerden. Und dann wären da noch die jungen Leute. Die haben meistens nie einen Namen, werden nur ›die jungen Leute‹ genannt, auch wenn sie schon Mitte 40 sind. Und die sind immer alles: zu laut, zu forsch, zu frech, zu wild, zu spät, zu früh und überhaupt zu zu. Die sind einfach nur zu viel, die jungen Leute. Und für die jungen Leute sind alle anderen nur die peinlichen, alten Spießer. Auch wenn die anderen gerade mal Anfang oder Mitte 50 sind.«

»Die sind aber auch wirklich zu laut. Die wohnen ganz rechts. Grad im Sommer …«

»Was: grad im Sommer? Wohnen die da ganz rechts im Sommer mehr oder sind sie dann besonders laut?«

»Die wohnen sommers wie winters dort, nur sommers fällt’s mehr ins Gewicht. Da stehen die Fenster öfter auf.«

»Du siehst, mein lieber Straaten, das Ganze ist also ein sich ständig wiederholender Kreislauf. Da kommt man so schnell nicht wieder heraus. Und in diesem Kreislauf trifft man sich, tagtäglich, man sieht sich, tagtäglich, Nachbar trifft auf Nachbar trifft auf Nachbar, und man könnte sich manchmal ebenso tagtäglich die Gurgel umdrehen.«

Straaten atmete laut auf, als er mit der Kaffeekanne aus der Küche zurück auf den Balkon trat: »Ja, grad, wenn die Fenster auf Kipp stehen.«

Beide tranken ihren Kaffee, schauten ab und an auf die Szenerie im Innenhofgarten und entschlossen sich dann, runterzugehen und das Ganze aus der Nähe zu betrachten.

Kurz gesagt: Unten sah es nicht viel anders aus als von oben. Absperrband, Polizei, Menschen in weißlichen Ganzkörperanzügen, Streifenwagen, hektische Betriebsamkeit.

Das war die eine Seite, die Seite der Exekutive.

Und auf der anderen Seite: die Nachbarn.

Friedrichsberg hatte sich bis ans Absperrband vorgearbeitet; Straaten war zwar gefolgt, ganz recht war ihm die Aktion allerdings nicht gewesen.

Plötzlich hörten die beiden hinter ihnen eine Frauenstimme: »Ich weiß auch nicht mehr … Ich wollte eigentlich nur eben die Wäsche aufhängen heute Morgen. Also Handtücher. Die hatte ich gestern Abend … Die waren nicht trocken geworden … Also wollt ich die heute Morgen …«

»Jetzt rede doch mal einen Satz vernünftig geradeaus durch, Hilde! Ist ja fürchterlich.«

»Ja, ja, Hedwig, ich dachte nur …« Die kleine, rundliche, ältere Dame stockte wieder in ihrem Redefluss.

Die große, hagere, aber ebenso ältere Dame neben ihr verdrehte die Augen: »Sie kriegt wieder keinen Satz raus. Ist aufgeregt. Jedes Mal dasselbe, Herr Straaten.«

»Schönen guten Tag, zusammen«, Jupp Straaten reichte den beiden Damen zur Begrüßung die Hand; zu Friedrichsberg gewandt sagte er: »Das sind die Tellmann-Bach-Schwestern: Hilde Tellmann und Hedwig Bach.«

»Angenehm, mein Name ist Friedrichsberg«, er machte einen leichten Diener. »So, hätten wir die Formalitäten auch erledigt.«

»Die beiden wohnen hier schon … Jahrzehnte.«

»Um genau zu sein: zweiundfünfzig Jahre«, sagte die kleine Hilde Tellmann.

»Das ist enorm.«

»Ja, und in all den vielen Jahren ist so was hier noch nicht passiert.«

»Ein recht ungewöhnliches Ereignis, oder etwa nicht, Frau Tellmann?!«

»Da sagen Sie was, Herr Straaten. Da will man die Wäsche aufhängen und dann das! Der Herr Kaiser liegt da im Gartenteich. Das ist doch ein Akademiker. So was macht man doch nicht. Und der Teich war ja sein ganzer Stolz. Den wollte der noch am kommenden Wochenende entalgen.«

Friedrichsberg paffte einen Kringel in die Luft: »Das muss er jetzt nicht mehr.«

»Na ja«, sagte Straaten, »sagen wir mal so, er kann’s nicht mehr.«

Hilde Tellmann schüttelte ihren Kopf: »Und ich kam heute nicht dazu, die Handtücher aufzuhängen. Also erst mal nicht. Ich geh noch so zur Leine rüber, denk mir noch: Da liegt doch jemand, und guck … und schau …«

»Ja, ja«, unterbrach sie ihre Schwester, »du guckst und schaust …«

»Und dann seh ich da jemanden liegen. Am Boden. Halb im Teich. Bin ich rübergegangen und hab mir gedacht: Das ist doch der Herr Professor. Und ich trete ihm hier so in die Seite, aber er, er rührt sich nicht. Und da hab ich gedacht …«

»Dass er tot ist. Mensch, das ist dir aber schnell gekommen.«

»Man merkt, dass Sie Schwestern sind« , grinste Friedrichsberg feist übers ganze Gesicht.

»Wir … Wir wohnen hier zusammen.«

»Ja, Hilde. Und das seit mein Mann tot ist. Das ist jetzt auch schon 27 Jahre her. Meine WG mit meiner Schwester Hilde dauert inzwischen länger als meine Ehe mit Herbert. Auch eine Zumutung.«

»Ihre Ehe mit Ihrem Gatten oder die WG mit Ihrer Schwester, Frau Bach?«, wollte Straaten wissen.

»Beides. Ich kann gar nicht sagen, welches das größere Übel ist.«

»Ich wohne hier ja schon seit über fünfzig Jahren.«

Straaten schielte neugierig zu den Weißumhüllten von der Spurensicherung rüber, die durch, entlang und im Gartentümpel standen und mit Gefäßen, Pipetten und anderen Utensilien hantierten.

»Was ich überhaupt nicht begreifen kann, Herr Straaten«, machte die alte Tellmann weiter, »ist: Wer hat denn wohl den Herrn Professor umgebracht?! Da gibt’s doch überhaupt keinen Grund für.«

»Nun ja«, gab der Angesprochene zur Antwort, »irgendeinen Grund wird’s schon geben, sonst würde er ja nicht tot im Teich hängen, oder, Alfons?«

Friedrichsberg gluckste: »Ach, wenn man schon bei den kleinsten Kleinigkeiten irgendwo in ander Leut Teichen liegen würde, was wären die Teiche voll … Sie haben ja direkt neben Herrn Kaiser gewohnt, Frau Bach, Frau Tellmann … Wie war der denn so? Als Nachbar, meine ich.«

»Nett, sehr nett. Oder, Hedwig? Ein sehr sympathischer, vornehmer, aufmerksamer Herr in den besten Jahren.«

»Ach was. Aufgesetzt war der. Mit dem stimmte doch was nicht.«

»Wie meinen Sie das?«, wollte Friedrichsberg wissen.

»Hatte der Dreck am Stecken, Frau Bach?«, hakte Straaten nach.

»Was fragen Sie denn?! Sie haben den doch auch gekannt, Sie wohnen doch direkt nebenan.«

»Selbstverständlich kenne … kannte ich Kaiser.«

»Lackaffe.«

»Wie bitte, Frau Bach?«

»Das war ein Lackaffe.«

»Ein gepflegter Herr«, korrigierte ihre Schwester.

»Lackaffe.«

»Ach, Hedwig … Hat ein bisschen zu laut Musik gehört, manchmal. Nicht immer, weiß Gott, nicht immer. Manchmal aber. Der Herr Professor war ja an und für sich ein ruhiger Zeitgenosse.«

»Ein Lackaffe.«

»Nur manchmal, die laute Musik…«

Hedwig Bach prustete los. »Das war so laut, dass bei uns im Schrank die Sammeltassen gewackelt haben. Und immer so ein klassisches Zeug. Schrecklich. Nicht mal so einen schönen Schlager, was zum Mitsingen. Immer dieser Klassikkrampf.«

»Bach, Hedwig, er hat Bach gehört.«

»Ja und? Ist das etwa kein Klassikkrampf?! Also.« Friedrichsberg setzte seine Zigarre, die in der Zwischenzeit erloschen war, erneut in Brand. »Aber er zählt zu einem der angenehmeren Krämpfe, mit denen wir uns konfrontiert sehen.«

»Und immer Schallplatte. Ganz altmodisch war er da«, Hilde Tellmann strahlte über das ganze Gesicht, und es bildeten sich feine Lachfältchen. »Hatte ich beim letzten Besuch noch auf dem Tisch liegen sehen. Brandenburgische Konzerte

»Also doch nicht Bach.«

»Ach, Hedwig«, Hilde schüttelte den Kopf. Friedrichsberg winkte ab, legte Straaten seine Hand auf die Schulter und ermunterte ihn zum Gehen. »Wir genehmigen uns jetzt ein Schnäpschen auf dem Balkon. Auf den Schrecken. Also auf die Leiche. Ist doch nett, wenn man noch mal einen auf die Toten trinkt.«

Damit drehten sich die beiden älteren Herren ab und verließen die Szenerie.

Kapitel 3

Holländische Annäherung

Bei den unzufälligen Unfallzufällen hatte er höchstselbst sowohl die Inszenierung wie auch die Durchführung innegehabt.

Bei den nun folgenden Taten wollte er sich allerdings die Finger nicht schmutzig machen, von den Händen oder sonstigen Körperteilen gar nicht zu reden.

Er war an die holländische Küste gefahren, um eine Verabredung wahrzunehmen. Den Tipp hatte er von einem alten Klassenkameraden bekommen, zu dem er ziemlich losen Kontakt hielt. Damals war dieser Primus gewesen; heute ein eher zwielichtiges Subjekt, das sich jahrelang mit Spielhallen über Wasser gehalten hatte, auch mal mehrere Jahre wegen Drogenbesitzes im Knast gesessen hatte, und nun in Datteln eine Eckkneipe unterhielt. Die Geschäfte liefen mehr schlecht als recht, das wusste man; was man auch wusste: Man konnte über ihn ohne große Probleme und ohne Nachfragen nicht registrierte Schusswaffen und Ähnliches beziehen.

Er hatte ihn in seiner Eckkneipe aufgesucht, sie hatten zusammen getrunken bis weit in die Nacht, hatten sich über dies und das unterhalten, er hatte dem heruntergekommenen Kneipier gesagt, was er bräuchte, vielmehr wen wofür, das schien den Schankwirt ziemlich zu amüsieren, er dachte kurz nach und nannte ihm eine Mobilnummer, die er sofort in seinem Handy abspeicherte.

Am nächsten Tag hatte er die Nummer angerufen und Kontakt aufgenommen und sich für den kommenden Samstag in Bergen aan Zee verabredet.

Den ehemaligen Schulfreund und Kneipenwirt hatte man am nächsten Abend hinter dem Tresen seiner Pinte mit gebrochenem Genick tot aufgefunden. Er hatte Handschuhe getragen und seine benutzten Gläser, auch die Schnapspinnchen, beim Verlassen der Kneipe mitgenommen und zu Hause vernichtet. Spuren hinterlassen sollte er nicht haben; ob man die Verbindung (außer der schulischen, aber da gab es ja noch dreißig andere Möglichkeiten) zu ihm herstellen konnte, war äußerst fraglich.

Er hatte sich mittags auf den Weg gemacht, war über Kleve, Nijmegen, Amsterdam, Alkmaar und Bergen gefahren und war am Nachmittag in Bergen aan Zee eingetroffen. Am Zeeweg stellte er seinen Wagen ab und legte die letzten Meter zum Strandpavillon zu Fuß zurück.

Es war warm, die Sonne schien aus einem strahlend blauen Himmel, der Strand war gut besucht, Kinder buddelten im Sand und bauten Burgen, Frauen saßen daneben und kritzelten in Sudoku-Heften, Männer lasen Zeitung oder schliefen.

Und mittendrin ein mehrfacher Mörder, der wie ein ganz normaler Tourist wirkte.

Dieser Mörder suchte sich einen freien Platz an einem der Tische auf dem Vorbau des Strandpavillons und legte ein Buch vor sich hin: Schuld und Sühne in einer gebundenen Ausgabe.

Als die Bedienung kam, bestellte er sich ein Heineken und einen Bessenjenever und wartete. Mit den Getränken kam ein bärtiger Mann an seinen Tisch und stellte fest: »Ach, Sie interessieren sich für Dostojewski? Bei so schönem Wetter?«

Er schaute auf, nickte dem Bärtigen zu und forderte ihn auf, sich zu setzen.

»Ich nehme einen Kaffee, danke«, sagte der Bärtige zur Bedienung.

Eine Weile saßen sie wortlos da. Der Kaffee kam, der Bärtige nahm einen Schluck und fragte: »Sie haben meine Nummer von Günther, stimmt’s?«

Er nickte.

»Wenn irgendwas über Günther kommt, bedeutet das für mich in der Regel Arbeit. Und da wir beide nicht zum Small Talk hier zusammengekommen sind … Ich höre.«

Der Mörder beugte sich ein wenig nach vorne und legte die Arme auf den Tisch. »Ich möchte Sie engagieren.«

Pause.

»Schön. Und für was?«

»Für eine kleine Schrecknummer.«

»Aha. Was habe ich unter Schrecknummer zu verstehen?«

»Sie sollen einigen Personen Schrecken einjagen, ganz einfach.«

Der Bärtige nippte noch mal am Kaffee. »Das klingt recht einfach. Normalerweise kommen von Günther ganz andere Dinge … Mehr ist es nicht? Ich soll wen erschrecken?«

»Ja. Mehr ist es nicht. Haben Sie eine Frau?«

Der Bärtige stutzte. »Ich bin nicht verheiratet, wenn Sie das meinen.«

»Interessiert mich nicht, was Sie sind oder nicht sind.«

»Ach so, Sie meinen, ob ich eine Partnerin habe?«

»Genau. Ich benötige ein Paar.«

»Kann ich besorgen. Und wann soll das ganze Ding steigen?«

»Übermorgen Abend. Was kriegen Sie dafür?«

»Fünf.«

»Tausend?«

Der Bärtige nickte. »Legen Sie noch zehn drauf, und ich erschreck sie zu Tode.« Der Bärtige lachte.

Der Mörder griff in die Innentasche seiner Jacke und holte einen kleinen Zettel hervor, auf dem eine Adresse notiert war und ein Name und schob ihn dem Bärtigen über den Tisch zu.

»Danke fürs Angebot.«

Er trank den letzten Schluck Heineken aus, stand auf, nahm das Buch vom Tisch und sagte: »Ich werde drüber nachdenken.« Der Mörder stand auf, verließ den Strandpavillon und lief zwischen den Sandburgen zu seinem Auto zurück.

Kapitel 4

Überblick über die Verhältnisse

Einen Tag nach der Auffindung der teilweise gewässerten Leiche saß Alfons Friedrichsberg zusammen mit seinen Freunden Jupp Straaten und Willi Dahl auf einer der Bänke, die in dem parkähnlichen Innenhof standen.

»Sag mal, muss das sein?« Straaten warf Friedrichsberg einen strengen Blick zu. »Jetzt sitzt du mal an der frischen Luft, und dir fällt nichts Besseres ein, als dir direkt wieder so einen dicken Stumpen in den Mund zu schieben.«

Dahl nickte beipflichtend: »Richtig. Das ist auch für uns nicht schön.«

Friedrichsberg nahm die Zigarre aus dem Mund, streckte den beiden die Zunge raus und paffte dann genüsslich weiter. An der Zigarre vorbei sagte er zu Straaten: »Du kanntest Kaiser doch. Was weißt du denn über ihn?«

Noch bevor der Angesprochene antworten konnte, warf sich Dahl verbal dazwischen: »Halt. Nee, Leute, wirklich nicht. Ich habe keine Lust schon wieder in irgend so eine Mordgeschichte verwickelt zu werden. Das beim letzten Mal, das hat mir wirklich gereicht.«

»Huch, was hat er denn?« Straaten schaute seinen Nebensitzer verblüfft an.

»Die Schnauze voll von euren Kriminalknobeleien hat er. Was soll das denn jetzt schon wieder? Kaum stolpert euch mal eine Leiche vor die Füße, müsst ihr eure alten Nasen in Dinge stecken, die euch nun wirklich absolut nichts angehen.«

»Meinst du«, sagte Friedrichsberg an seiner Zigarre vorbei.

»Ja, meine ich. Das ist Sache der Polizei. Die haben Leute dafür, die sich um so etwas kümmern.«