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Ansgar Sittmann

Ein Fünf-Sterne-Mord

Ansgar Sittmann, seit über zwanzig Jahren glücklich mit Heike verheiratet und stolzer Vater von Linda und Eric, ist am 10. November 1965 in Trier geboren. Dass er wegen seines Berufs zum Weltenbummler geworden ist und nach Aufenthalten in Brüssel, Islamabad, Paris nun in Washington DC lebt, liegt sicher an seinem ersten Auslandsaufenthalt und den prägenden Jahren in Fontainebleau von 1977 bis 1981. Die Verbundenheit zur Heimat ist ungebrochen, weswegen seine Hauptfigur, der Berliner Privatdetektiv Castor L. Dennings, immer wieder an der Mosel ermittelt.

Ansgar Sittmann

Ein Fünf-Sterne-Mord

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Für Linda und Eric

1. Kapitel

Sie müssen meinen Laptop finden!«

Ein kleines, dickes Schwein mit hochrotem Kopf stand mir in meinem Hotelzimmer gegenüber. Niedermayer, ein berühmter, unter den Sterneköchen Deutschlands gefürchteter Restaurantkritiker.

»Hören Sie, Herr Dennings? Sie müssen ihn wiederkriegen, um jeden Preis! Dafür werden Sie bezahlt!«

Ich setzte mich aufs Sofa der etwas aus der Zeit geratenen Sitzgruppe und zündete eine Zigarette an.

»Herr Dennings, könnten Sie die bitte ausmachen!«

Das war keine Frage, sondern eindeutig ein Befehl.

»Herr Niedermayer, jetzt setzen Sie sich erst einmal, und beruhigen Sie sich. Und keine Sorge, ich habe extra ein Raucherzimmer bestellt.«

»Das ist mir egal! Machen Sie den Glimmstängel aus!«, fauchte er mich an.

Jetzt reichte es! Ich stand auf, ging zur Tür, öffnete sie und zeigte auf den Flur. »Passen Sie mal schön auf, Niedermayer. Damit eines klar ist: Sie haben mich engagiert, mit einer klaren Zielvorgabe. Ich werde Ihnen Ergebnisse liefern gegen ein vereinbartes Honorar. Ich bin nicht Ihr Angestellter, und wenn Sie sich den Vertragsentwurf durchlesen, den ich mitgebracht habe, kann ich aus wichtigen Gründen jederzeit unsere Zusammenarbeit beenden. Ist das klar?«

Niedermayer machte ein entsetztes Gesicht.

»So, und wenn Sie jetzt gehen möchten, die Tür ist offen!«

Jähzornigen Giftzwergen muss sofort gezeigt werden, wo der Hammer hängt. Diese Erfahrung hatte ich des Öfteren gemacht. Niedermayer wirkte jetzt noch kleiner und hilflos, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Halbglatze.

»Nun?«

»Ich ... also ... wenn ...«, stammelte er unentschlossen. Dann nahm er tief Luft und entschuldigte sich, was ihm merklich schwer fiel und wohl nur selten praktiziert wurde. »Verzeihung, Herr Dennings, ich ... das ist eine Art Allergie, und außerdem greift der Rauch meine Geschmacksnerven an, mein Kapital, nicht wahr. Was denken Sie, wie gut für mich das Rauchverbot in Restaurants ist.«

Ich schloss die Tür und öffnete stattdessen das Fenster. Ein letzter kräftiger Zug, dann drückte ich die Zigarette aus. »Schon gut. Setzen wir uns doch, okay?«

Ein netter Fall, der mir mitten in einer Flaute erst am Vortag zugetragen worden war. Meine Sekretärin Nathalie hingegen hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet: »Das letzte Mal, als Sie einen Auftrag in der Ferne angenommen haben, wären Sie beinahe von feinem Ebenholz umgeben heimgeführt worden!« Sie spielte auf meinen letzten großen Fall in Paris an, bei dem ich meine Gegner eindeutig unterschätzt hatte. Die Einschussnarben waren immer noch sichtbar. »Speyer ist nicht Paris, meine Liebe, und ein Restaurantführer kein gefälschter Pass«, hatte ich sie beruhigt.

Er zahle jeden Preis, hatte er am Telefon gesagt, aber ich müsste sofort anfangen. Wie es sich für einen ordentlichen Geschäftsmann gehört, hatte ich den leicht Zaudernden gespielt. Der vielen anderen Aufträge wegen, die ich zurückstellen musste. Egal, er zahle das Doppelte. Stante pede packte ich meine Reisetasche mit den wichtigsten Utensilien, gab Nathalie ein paar letzte Anweisungen und setzte mich in meinen Mini, um die rund siebenhundert Kilometer von Berlin in die Pfalz in einem Stück durchzufahren.

Nun saß ich hier in einem kleinen Hotel in Dudenhofen, nur wenige Kilometer von Speyer entfernt, ein verschlafenes, nettes Dorf, berühmt für seinen Spargel, der jedes Jahr bei dem gleichnamigen Fest zelebriert wurde. Auf das Spargelfest hatte mich das Hotelpersonal gleich bei meiner Ankunft hingewiesen. Das Ereignis im Ort schlechthin, zu toppen nur vom Speyerer Brezelfest. Sympathische Region, die ihre kulinarischen Erzeugnisse in den Mittelpunkt ihrer Festlichkeiten rückte.

»Also, Ihr Laptop ist gestohlen worden, Herr Niedermayer. Wann und wo?«

Niedermayer wippte ungeduldig auf seinem Sessel herum und griff mehrfach in die Innentasche seines Sakkos. »Gestern. Es muss zwischen zwölf und drei gewesen sein. Aus meinem Hotelzimmer im Domhof. In der Nähe des Speyerer Doms.«

»Sie waren zum Essen unterwegs? Zum Testen?«

»Ja, genau, und sonst ist nichts verschwunden«, fuhr er fort. »An der Rezeption habe ich schon nachgefragt, ob jemand nach mir gefragt hatte. Das Zimmermädchen hat niemanden gesehen.«

»Nur Ihr Laptop, sagen Sie. Was hätte denn noch interessant sein können?«

»Nichts, gar nichts«, antwortete er aufgeregt. »Vielleicht etwas Bargeld, das ich in der Regel immer mit mir führe und in einer Schublade aufbewahre. Lächerlich, wie viele Lokale immer noch keine Kreditkarten akzeptieren«, fügte er kopfschüttelnd hinzu.

»Etwas? Darf ich fragen wie viel?«

»Na ja, schon genug für den gemeinen Dieb, vierhundert, nein, fünfhundert hatte ich am Geldautomaten gezogen.«

»Machen wir’s kurz, Herr Niedermayer. Was Sie mir sagen wollen, ist, dass der Dieb es ausschließlich auf Ihren Laptop abgesehen hatte und demzufolge wusste, wem er ihn klaut und was möglicherweise drauf ist, stimmt’s?«

»Ja, so ist es.«

»Was ist denn drauf?«

Wie ein Rumpelstilzchen sprang Niedermayer auf. »Was ist drauf?«, rief er aufgeregt. »Was soll schon drauf sein? Meine neuen Bewertungen für die nächste Ausgabe meines Restaurantführers natürlich!«

»Haben Sie die Daten gesichert?« Langsam amüsierte ich mich über die Gestik dieses Mannes, wie er vor mir stand und die Arme ausbreitete.

»Was halten Sie von mir, Herr Dennings? Natürlich! Doppelt und dreifach. Auf CD-Rom, USB-Stick, in meiner Mail. Natürlich komme ich immer wieder an meine Daten. Mich macht der Gedanke verrückt, was der Kerl damit macht, der jetzt Zugriff auf meine Bewertungen hat, bevor sie veröffentlicht sind!«

Ich nickte verständnisvoll. »Ja, sicher, verstehe.« Obwohl, so ganz verstand ich es trotzdem nicht. An wen sollte ein gewöhnlicher Dieb die Daten verhökern? Wer würde bereit sein, dafür viel Geld auszugeben? Vielleicht ein konkurrierender Verlag? Irgendein Sternekoch, der aus den Notizen einen Vorteil ziehen konnte? »Und sonst ist nichts drauf?«

Wieder errötete Niedermayer, dieses Mal verschämt. »Was meinen Sie?«

»Na ja, was man eben so auf seinem Laptop hat. Kontakte, Fotos, sensible Daten, was weiß ich.«

Wie ein nasser Sack plumpste Niedermayer in seinen Sessel und rieb sich das Gesicht.

»Nein ... oder doch, schon ... Namen. Ja. Vielleicht auch ein paar private Fotos, sicher.«

»Kompromittierende?«, fragte ich frei heraus.

»Nein!«

Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Ich spürte, dass sich Niedermayer immer unwohler fühlte.

»Wenn Sie wollen, dass ich Ihren Laptop finde, müssen Sie mir so viele Details wie möglich mitteilen. Verstehen Sie das?«

»Ja, ja, natürlich«, antwortete er leicht resigniert.

Hatte er etwa gehofft, für viel Geld einen Detektiv zu engagieren, der ihm im Handumdrehen sein Eigentum wiederbeschaffen könnte? Ohne jeglichen Wirbel, ohne Ermittlungen, bei denen zwangsläufig dem ein oder anderen auf die Füße getreten werden könnte?

»Worauf ich hinaus will: Sie selbst gehen davon aus, dass es der Dieb ganz gezielt auf Ihren Laptop abgesehen hat. Daraus will er einen Nutzen ziehen. So einfach ist das! Welchen Nutzen? Wenn ich das weiß, wird die Zahl derer, die infrage kommen, sehr schnell viel kleiner. Also, Sie müssen mir schon vertrauen! Kann jemand Sie mit dem erpressen, was sich auf Ihrem Laptop befindet?«

»Erpressen?« Niedermayer riss erschrocken Augen und Mund auf. Wieder griff er in seine Jacke, nahm jetzt ein Kuvert heraus und warf es auf den Tisch. »Reichen zehntausend?«

Ich schaute ihn verdutzt an. »Vielleicht. Aber wollen Sie nicht zuerst einen Blick auf den Vertrag werfen?«

»Kein Vertrag! Ich will keinen Vertrag, verstehen Sie. Ich will meinen Laptop. Sie müssen ihn finden!«

Es hatte keinen Sinn, weiter mit ihm zu reden. Dafür war er zu aufgewühlt. Obwohl ich noch jede Menge Fragen hatte. Nur eine vorläufig letzte stellte ich ihm, bevor ich uns beiden eine Auszeit und mir eine Zigarette genehmigte. »Welche Restaurants testen Sie hier?«

Niedermayer nannte mir ein Dutzend Namen, drei in Speyer in unmittelbarer Umgebung, ein Restaurant an der deutsch-französischen Grenze in der Nähe von Weißkirchen, einige in der Mainzer Ecke und drei bei Trier.

Wir tauschten unsere Handynummern aus. Jeden Tag gegen sechzehn Uhr wollte er mich anrufen. Ich war froh, als er mein Zimmer verließ; es gibt Menschen, die einen fürchterlich anstrengen.

Müde ließ ich mich auf mein Bett fallen. Die Anreise steckte mir noch in den Knochen. Der Aschenbecher stand auf dem Nachttisch. Die Zigarette schmeckte wunderbar. Es war kurz nach vier, also zu früh, um essen zu gehen, und nach einem touristischen Programm war mir gegenwärtig nicht, obwohl Speyer, so viel wusste ich immerhin, zu den Zweitausendern in der deutschen Städtelandschaft gehörte, also zu jenen Orten, die Jesus zumindest theoretisch hätte sehen können. Eine Provinzstadt mit einem wuchtigen, beeindruckenden Dom, welcher der Stadt auf die Liste der Welterbestätten verholfen hatte. Zweitausend Jahre und doch so klein.

Den Laptop eines Kritikers finden. Ein drolliger Fall! Niedermayer wollte auf keinen Fall die Polizei einschalten, wie er mir bei unserem ersten Telefongespräch eindringlich vermittelt hatte. Damit wäre der Diebstahl ein öffentlicher Tatbestand geworden, der zwangsläufig binnen kürzester Zeit in der Presse landete. Das konnte sich ein angesehener Restaurantführer nicht leisten. Und außerdem: Wie viel Energie würde die Staatsanwaltschaft schon beim Diebstahl eines wenige hundert Euro teuren Laptops aufwenden? Ich sei der Beste, hatte er gesagt, er habe sich bei seinem Hauptstadtbüro erkundigt. Ohne Preis kein Reis. Bevor ich den Auftrag angenommen hatte, hielt ich Niedermayer meine Honorarvorstellungen vor Augen, was ihn offensichtlich nicht abschreckte.

Gelangweilt schaltete ich den Fernseher ein. Seifenopern oder billige Talkshows, bei denen minderbemittelte Menschen vorgeführt wurden, auf allen Kanälen. Zwar ließ ich den Flimmerkasten laufen, griff aber nach dem Telefon und rief Nathalie an.

»Chef!«

»Hoho, Sie sind ja noch im Büro!«, flachste ich.

»Tja, das Mäuschen tanzt nicht auf dem Tisch.«

Eine schöne Vorstellung.

»Darüber sprechen wir noch mal, meine Liebe. Ich hätte eine Bitte, Nathalie.«

»Immer zu Diensten.«

»Auch darüber können wir uns noch mal unterhalten!«

»Chef!«

»Entschuldigung, also, könnten Sie sich bitte die letzten drei oder vier Niedermayer-Führer besorgen? Sehen Sie nach, welche Restaurants und Köche in dieser Ecke, also im Südwesten einschließlich Elsass, bewertet worden sind. Wer besonders schlecht abgeschnitten hat und so weiter.«

»Sie denken, bei denen fündig zu werden, die zur Bewertung anstehen, oder die in der Gunst des Kritikers gefallen sind?«

»Warum nicht? Wo sollte ich sonst ansetzen? Vielleicht bei der Konkurrenz, das wäre noch eine Piste. Der Gault-Millau zum Beispiel. Für die dortige Redaktion wäre schon interessant, zu welchen Ergebnissen Niedermayer kommt, bevor sie veröffentlicht sind.«

»Wen verdächtigt er denn, Chef?«

»Das ist es ja. Keinen.«

»Was meinen Sie?«

»Nathalie, wie lange arbeiten Sie schon für mich?« Auf meine rhetorische Frage erhielt ich keine Antwort.

»Tut mir leid, Chef«, antwortete sie leicht pikiert. »Ich kann Ihren Gedankengängen heute nicht folgen.«

»Niedermayer ist nicht doof. Er ahnt genauso wie wir, wem seine Aufzeichnungen dienen können. Aber er nennt nicht einen Namen, gibt selbst nicht den geringsten Hinweis.«

»Warum?«

»Da steckt mehr dahinter, Nathalie.«

»Vielleicht hat er verbotene Schmutzfotos oder Filmchen heruntergeladen!«

Nathalies Gedanke war nicht abwegig. Niedermayer hatte etwas Schmieriges.

»Tja, wer weiß. Jedenfalls würde ich gerne bei den Köchen und Restaurants anfangen.«

»Verstanden. Ich werde mir noch heute die letzten Ausgaben beschaffen.«

»So war das nicht gemeint, meine Liebe. Ich höre gerne Ihre Stimme.«

»Ach ja?«

»Natürlich.«

»Was Fräulein Mark dazu sagen würde?«, foppte sie mich.

»Was schon! Und überhaupt, warum kommen Sie gerade jetzt auf sie?«

»Sie hat angerufen und wollte Sie sprechen.«

»Das sagen Sie mir erst jetzt? Was wollte Sie denn?«

»Was wollte sie schon, Chef? Ihre Stimme hören!« Nathalie wirkte nun genervt. »So, ich mache mich jetzt auf den Weg, Chef. Die Bücher muss ich ja nicht nach dem Dienst kaufen, oder?«

Bevor ich antworten konnte, hatte sie aufgelegt.

Mittlerweile war es fast fünf Uhr. Ich verspürte einen leichten Hunger. Auf zum Domhof.

Ich sprang noch schnell unter die Dusche, zog mir ein paar frische Klamotten an und machte mich auf den Weg nach Speyer, ein Katzensprung von Dudenhofen. Hinter dem Dom fand ich einen Parkplatz. Der kurze Spaziergang entlang der westlichen Fassade der imposanten Kulturstätte über den Vorplatz Richtung Maximilianstraße tat gut. Ich hatte den ganzen Tag gesessen, auf der Fahrt eine Zigarette nach der anderen geraucht und zu wenig getrunken. Der Domhof entpuppte sich als ein wunderbar erhaltener Gebäudekomplex bestehend aus der hauseigenen Brauerei nebst Gaststätte und Biergarten sowie dem im hinteren Bereich liegenden Hotel. Angesichts der milden Temperatur war der Biergarten bereits ordentlich gefüllt. Ich hatte mich kaum an einen leeren Tisch gesetzt, als bereits ein freundlicher Kellner die Bestellung aufnehmen wollte.

»Ein Bier, bitte.«

»Ä Schoppe?«

Des Pfälzischen und insbesondere der hiesigen Maßeinheiten nicht mächtig zeigte ich auf ein großes Bier am Nachbartisch. »So eins hätte ich gerne.«

Die Speisen ringsum sahen deftig und appetitlich aus. Ich bestellte mir einen Wurstsalat mit Pommes, neben Saumagen und Leberknödel eine Art Pfälzer Nationalgericht, wie die Karte verriet. In Fäden geschnittene Fleischwurst, mit Gurken, Ei und Zwiebeln in Essig und Öl angemacht. Dazu eine Riesenportion Pommes, die jeden Brummi problemlos gesättigt hätte.

»Gude, gell!«

Den guten Appetit hatte ich mitgebracht, und ich ließ nicht viel übrig vom Essen. Eine köstliche Mahlzeit, wenn man Hunger hat. Nachdem auch der Durst nach zwei Schoppen Bier vorläufig gestillt war, entschied ich mich, auf Rotwein überzugehen.

»Rotwoi?«, fragte der Kellner ein wenig entgeistert, nicht ganz zu Unrecht in einer Brauerei.

»Ja, bitte, einen trockenen.«

»Da dät isch Ihne den Dornfelder empfehle, werklisch gut, aus Deidesheim.«

»Na, da nehme ich den doch. Wenn er besser ist als der Amselfelder«, fügte ich scherzhaft hinzu.

Diese Anmerkung goutierte der Kellner nicht und wandte sich ab. Kopfschüttelnd schritt er Richtung Gaststätte davon.

Der Biergarten war nun brechend voll. Bevor ich den gleichen Status erreichte, entsann ich mich meines Auftrags und wollte noch einen Blick in die Lobby des Hotels werfen. Ich leerte meinen Rotwein, der mich trotz der Empfehlung nicht überzeugt hatte, und zahlte. Vom Biergarten zum Hotel waren es nur wenige Schritte. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, wurde ich schon angesprochen.

»Konn isch Ihne helfe?«

An der Rezeption saß eine attraktive Dame. Vielleicht Ende zwanzig, blond, Pferdeschwanz. Über der zugeknöpften Bluse trug sie eine schwarze, ärmellose Weste mit Namensschild.

»Hallo, Frau Schüssler, ja, Sie können mir helfen. Ich bin zu Besuch hier und wollte ursprünglich nur zwei Nächte bleiben. Jetzt habe ich mich entschlossen, länger zu bleiben. Es gibt hier in der Ecke so viel zu sehen.«

»Sie suchen also ein Hotel, Herr ...?«

»Dennings. Ja, genau.«

Fräulein Schüssler hatte recht problemlos ins Hochdeutsche gewechselt. Nur ein leichter Singsang verriet noch ihre Herkunft.

»Und wenn möglich, würde ich auch ganz gerne eines Ihrer Zimmer sehen.«

Sie schaute mich kurz prüfend an.

»Das würde ich schon gerne, Herr Dennings, aber wir sind zur Zeit komplett ausgebucht.«

»Oh, wie schade!«

Sie reichte mir einen Prospekt. »Das vermittelt zumindest einen Eindruck.«

»Prima, vielen Dank, Frau Schüssler.«

Ich faltete den Flyer auf und betrachtete kurz die Fotos. »Sehr nett! Und die Lage ist prima. Hier kann man gleich vom Biergarten ins Bett fallen.«

Sie lachte. »In der Tat, praktisch, nicht wahr?«

»Na ja, vielleicht ein anderes Mal.«

»Sie sind jederzeit willkommen.«

Den Türgriff bereits in der Hand drehte ich mich noch einmal um. »Ach, sagen Sie: Ist die Rezeption eigentlich rund um die Uhr besetzt?«

»Nein, nur bis Mitternacht. Aber dann wird die Eingangstür verschlossen. Jeder Gast erhält einen Schlüssel.«

»Gut, das reicht ja auch. Also, nochmals vielen Dank und auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen, Herr Dennings.«

Kaum hatte ich die Tür hinter mir zugezogen, kam mir Niedermayer bereits entgegen. Ich wartete, bis er mich ansprach. Bei Kunden verfuhr ich stets so. Der ein oder andere wollte aus Gründen der Verschwiegenheit nicht mit mir in Verbindung gebracht werden.

»Sie?«, fuhr er mich aufgeregt an. »Spionieren Sie mir nach?«

»Guten Abend, Niedermayer, kommen Sie vom Essen?«

»Ja ... ja, was geht Sie das an?«

Ich nahm tief Luft, atmete langsam aus und versuchte, ruhig zu bleiben. »Ich arbeite für Sie, oder? Wo bin ich hier?« Ich schaute ihn eindringlich an und gab die Antwort selbst. »Am Ort des Verbrechens, sozusagen, oder?«

Niedermayer begann wieder zu schwitzen, nahm ein Taschentuch aus der Hose und fuhr sich über die Stirn. »Natürlich ... natürlich. Ich bitte um Verzeihung, aber ... das macht mich einfach fertig!«

Auf einmal wirkte er wieder wie ein Häufchen Elend.

»Gibt es vielleicht noch etwas, das ich wissen sollte, Herr Niedermayer?«, fragte ich ihn, besonders behutsam und ruhig.

»Was Sie wissen sollten? Was meinen Sie?« Unfassbar, wie schnell die Emotionen ihn ihm hochkochten, eben noch völlig verzweifelt, dann innerhalb von Sekundenbruchteilen in Habachtstellung. Niedermayer starrte mich an, ohne mir jedoch direkt in die Augen schauen zu können, und wartete auf meine Reaktion.

Wie war es diesem Menschen gelungen, in der Gastronomielandschaft einen solchen Stellenwert zu erreichen? Konnte er besonders gut schreiben? Hatte er tatsächlich so feine Geschmacksnerven, dass er ein ihm vorgesetztes Gericht bis ins kleinste Detail analysieren konnte? Da wurde Maggi verwendet, Puh! Diese Note darf ein guter Koch nur mit Liebstöckel erreichen. Der Einsatz von Ingwer ist hier wohl dosiert; gepaart mit hochwertigem Curry und etwas Salbei verleiht er der zarten Putenbrust einen außergewöhnlichen, leicht pikanten orientalischen Geschmack. Nun ja, das war wohl die Stärke dieses Männleins. Während ich ihn so betrachtete, schossen mir all diese mehr oder weniger fürchterlich aufdringlichen Fernsehköche und Restauranttester durch den Kopf: Ein lispelnder Hausmannskost-Guru, der nach überstandenem Burnout als Dünnbrett-Philosoph durch diverse TV-Shows tourte, eine Kölsche Frohnatur mit dem Barte eines Walrosses, betont lässig nach außen, im eigenen Betrieb wahrscheinlich ein Sklaventreiber mit Pickelhaube, ein notorischer Grinser mit schwarzer Bürste über dem strahlend weißen Gebiss, ein grantiger Münchner, der neben Kochtöpfen auch Eisen stemmte. Und hier Niedermayer, im Hintergrund wirkend, der die Zukunft der brutzelnden Zunft maßgeblich beeinflussen konnte.

»Was ist los, Dennings? Warum sagen Sie nichts?«

Ich musste grinsen, denn ich dachte an Louis de Funès und den Film Brust oder Keule. Vor etwa vierzig Jahren schon eine aberwitzige Parodie auf die Gastronomieindustrie.

»Dennings!«

»Herr Niedermayer, Sie haben eine ordentliche Vorauszahlung geleistet, und ich versichere Ihnen, dass ich mein Bestes geben werde. Meine Ermittlungen führen umso schneller zu Ergebnissen, je mehr Informationen ich von meinen Auftraggebern bekomme. Das verstehen Sie doch, oder?«

Sein dicker Bauch ging auf und ab. Er atmete schnell. »Gut, ich habe verstanden. Kommen Sie.« Mit schnellen Schritten steuerte er einen freien Tisch im Biergarten an, setzte sich und zog ein Scheckheft aus der Brusttasche des Jacketts.

Ein Ober wischte unseren Tisch ab und wollte unsere Bestellung aufnehmen. »Was derf’s soi, die Herre?«

»Einen Schoppen.« Ich hatte dazugelernt.

Niedermayer schaute kurz auf, machte eine ablehnende Handbewegung. »Nichts, vielen Dank, ich gehe gleich.« Dann reichte er mir hektisch einen ausgefüllten Scheck über dreitausend Euro. »Das sind jetzt dreizehn. Das wird doch wohl reichen, oder?«

Ich betrachtete den Scheck.

»Ich denke schon. Wir werden sehen.«

Natürlich bluffte ich, und am liebsten hätte ich einen Luftsprung gemacht. Oft musste ich meinen Kunden wochenlang hinterherlaufen, wenn ich ihnen meine Abrechnungen vorlegte. Daher hatte ich mir angewöhnt, stattliche Vorauszahlungen zu fordern. In guten Zeiten jedenfalls konnte ich mir das erlauben.

»Sie trinken zu viel!«

»Kann sein,« antwortete ich und nahm einen kräftigen Schluck.

Niedermayer war auf dem Sprung zu gehen. Ich hielt ihn am Ärmel fest.

»Einen kurzen Augenblick, bitte. Ich stelle Ihnen keine Fragen mehr. Sie sind mein Kunde, und ich werde mein Bestes geben. Klar? Nur eine letzte Bitte: Sagen Sie mir, wo Sie sich in den nächsten Tagen aufhalten.«

»Wieso ist das wichtig? Der Laptop ist hier gestohlen worden!«

»Einige Restaurants testen Sie wahrscheinlich inkognito, bei einigen anderen, könnte ich mir vorstellen, melden Sie Ihren Besuch an. Bei jenen etwa, die schon ihren positiven Niederschlag in Ihren früheren Ausgaben erfahren haben. Stimmt’s?«

»Ja, ja, das ist richtig.«

»Na also. Selbst wenn der Diebstahl hier stattgefunden hat, kann der Täter aus einem anderen Ort kommen. Sollte sich der Dieb unter den Betrieben befinden, die Sie testen, und davon sollten wir zunächst einmal ausgehen, kommen wohl in erster Linie die infrage, bei denen Sie sich angekündigt haben. Leuchtet das ein?«

Niedermayer nickte hastig.

»Also?«

»Gut, in Ordnung, warten Sie.« Wieder kramte Niedermayer in seiner Brusttasche, um einen kleinen, schwarzen Taschenkalender hervorzunehmen. Er blätterte hastig und nervös in seinem Filofax. »So, ach ja, also, gleich morgen werde ich nach Schweich fahren. Ein kleines Städtchen an der Mosel, nicht weit von Trier. Ich habe mich im Schweicher Hof einquartiert und teste dessen Restaurant. Vergangenes Jahr hat es eine Empfehlung von uns bekommen. Noch keinen Stern. Vielleicht dieses Jahr.«

»Sehr schön. Und man weiß, dass Sie kommen?«

»Ja.«

»Um wie viel Uhr werden Sie dort speisen?«

»Achtzehn Uhr. Ich esse fast immer um sechs.«

Wahrscheinlich hatte er auch immer Sex am letzten Sonntag des Monats. Menschen mit strengen, zeitlichen Gewohnheiten waren mir schon immer suspekt gewesen.

»Gut, bestens. Und dann?«

»Zwei weitere Restaurants in Trier, Frankenturm und eine Pizzeria. Den Namen finde ich gerade nicht. Das sage ich Ihnen dann morgen, wenn wir telefonieren.«

Ich beließ es dabei. Niedermayer verabschiedete sich. Er wolle noch etwas auf seinem Zimmer arbeiten, sagte er.

Mir reichte es auch. Ich bestellte ein letztes Bier und machte mich danach auf den Rückweg zu meinem Hotel in Dudenhofen. Für die nötige Bettschwere hatte mein Alkoholkonsum gesorgt. Trotzdem schaltete ich den Fernseher ein, Zeit für ein paar Nachrichten.

Plötzlich fiel mir siedend heiß ein, dass Katharina versucht hatte, mich zu erreichen. Ich wählte ihre Nummer.

»Mark, hallo?«

»Hallo Katharina, na, wie geht’s dir?«

»Castor! Ich habe dich vermisst!«

Drei Wochen waren vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. In Berlin, ein Liebeswochenende in meiner Wohnung, die wir nur zum Essengehen verlassen hatten. Jedes Mal, wenn ich sie sah, beschlich mich die Angst, dass es das letzte Mal sein könnte. Ich alter Sack und eine bildhübsche, junge Frau. Mit fast sechzig hatte ich kein wirkliches Interesse mehr, Pläne für die Zukunft zu schmieden. Für mich zählte nur die Gegenwart.

»Ich habe dich auch vermisst, Katharina.«

Was stimmte. Ich liebte sie. Auf meine Art, ohne Zukunftspläne.

»Du bist in Speyer, hat mir deine Sekretärin erzählt. Viel zu weit weg.«

»Ja. Ein komischer Fall. Aber lukrativ. Hast du schon mal dreizehn Riesen bekommen, um einen gestohlenen Laptop aufzuspüren?«

Katharina schwieg.

»Hey, Katharina, noch da?«

»Ja, natürlich, entschuldige bitte. Ich musste gerade an Paris denken.«

»Ich hoffe doch, an unsere erste Liebesnacht?«, flachste ich.

»Daran auch«, erwiderte sie zärtlich. »Aber eben dachte ich an den Abend, als du zusammengeschossen wurdest. An die Intensivstation, Schläuche in Mund, Nase, deine Wunden. Ich will das nie wieder erleben, Castor. Du weißt doch, dass ich dich liebe.«

Nun schwieg ich und wartete, dass sie weitersprach.

»Castor, ich habe viel nachgedacht in letzter Zeit. Du weißt, dass ich einen gut bezahlten Job habe. Genug für uns zwei.«

»Moment, darüber haben wir doch schon gesprochen, Katharina. Willst du dir einen Rentner ins Haus holen? Der dich bekocht, dir deine Wäsche macht, dir im Bademantel morgens einen erfolgreichen Arbeitstag wünscht?«

»Du weißt genau, was ich meine. Sei nicht unfair. Ich habe einfach Angst um dich.«

Ich war ungerecht, und das merkte ich in diesem Augenblick, als Katharinas Stimme zu versagen begann. »Ja, ich weiß, was du meinst. Und ich wünschte mir, wir hätten mehr Zeit füreinander, könnten wie ein normales Paar miteinander leben. Lass mich nachdenken, Katharina, gib mir ein wenig Zeit. Ich habe ein Büro, eine Angestellte, Kunden. Von heute auf morgen, und gerade am Telefon, lässt sich so etwas nicht entscheiden.«

»Was wäre mit einem Geschäftspartner? Du könntest kürzer treten, vom Büro aus arbeiten, und ...«

»Katharina!«

Nun begann sie zu weinen. Hinter ihrem Anruf schien mehr zu stecken.

»Hey, hey, was ist los?«

»Nichts ... Castor ... ich, ich will dich sehen.«

»Hör zu, ich habe eine Idee. Morgen fahre ich nach Trier. Ich miete ein nettes Hotelzimmer, und du kommst nach. Was hältst du davon?«

Ich war froh, Katharina lachen zu hören.

»Unverbesserlich, mein Herr Privatdetektiv. Morgen ist Donnerstag, und ich habe einige wichtige Termine. Aber Freitag ließe sich vielleicht arrangieren.«

»Na prima. Dann lass uns morgen telefonieren. Sobald ich in Trier bin, rufe ich dich an.«

Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, zündete ich eine Zigarette an und begann zu grübeln. An Schlaf dachte ich auf einmal nicht mehr. Katharina war alles andere als ein Pflänzchen, äußerlich wirkte sie vielleicht zerbrechlich mit ihrer mädchenhaften Figur und ihren langen, schwarzen Haaren, aber charakterlich war sie gefestigt, tough und intelligent. Irgendetwas beschäftigte sie. Privatdetektive haben eine überbordende Phantasie, und so schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass sie schwanger sein könnte. Oder es werden wollte. Hörte sie ihre biologische Uhr ticken? Die Vorstellung wühlte mich auf. Ohne einen Schlaftrunk würde ich nun keine Ruhe finden. Also ging ich in das Hotelrestaurant, bestellte eine Flasche Rotwein und nahm sie mit auf mein Zimmer. Während ich mit einem halben Ohr den Tagesthemen lauschte, leerte ich den Bordeaux bis auf den letzten Tropfen. Müde geworden, hörte ich noch, wie Beckmann seine Gäste begrüßte und schlief ein.

2. Kapitel

Dass Niedermayer so großzügig in Vorkasse getreten war, entpuppte sich als Glückstreffer. Ich sah ihn nur noch einmal lebend. Bei toten Kunden nutzte es nichts, an deren Zahlungsmoral zu appellieren. Der Reihe nach.

Der Rotwein, den ich am Vorabend getrunken hatte, hielt, was er versprach. Kein Brummschädel, nur eine belegte Zunge und einen trockenen Rachen. Beides bekam ich mit einem ordentlichen, deftigen Frühstück, reichlich Kaffee und Orangensaft problemlos in den Griff.

Bevor ich auscheckte, rief ich meine Sekretärin an.

»Hallo Nathalie, ausgeschlafen?«