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Ralf Kramp

Totholz

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Tief unterm Laub

Spinner

Rabenschwarz

Der neunte Tod

Still und starr

… denn sterben muss David!

Kurz vor Schluss (Kriminalgeschichten)

Malerische Morde

Hart an der Grenze

Ein Viertelpfund Mord (Kriminalgeschichten)

Ein kaltes Haus

Totentänzer

Nacht zusammen (Kriminalgeschichten)

Stimmen im Wald

Voll ins Schwarze (Kriminalgeschichten)

Starker Abgang (Kriminalgeschichten)

Mord und Totlach (Kriminalgeschichten)

Ralf Kramp, geboren 1963 in Euskirchen, lebt und arbeitet als Krimiautor, Karikaturist und Veranstalter von Krimi-Erlebniswochenenden in der Eifel. Für sein Debüt »Tief unterm Laub« erhielt er 1996 den Eifel-Literatur-Förderpreis. Seither erschienen zahlreiche weitere Bücher bei KBV, unter anderem sechs schwarzhumorige Kurzkrimisammlungen und die bisher sechsteilige Romanreihe um den kauzigen Helden Herbie Feldmann.

Im Jahr 2002 erhielt er den Kulturpreis des Kreises Euskirchen. Seit 2007 führt er mit seiner Frau Monika in Hillesheim das »Kriminalhaus« mit dem »Deutschen Krimi-Archiv« mit 30.000 Bänden, dem Krimi-Café »Café Sherlock« und der »Buchhandlung Lesezeichen«.

www.ralfkramp.de, www.kriminalhaus.de

Ralf Kramp

Totholz

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Originalausgabe

Für Monika.

Für die Flestener.

Und für meine Eifel-Gängster Manni und Günter.

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

»Little white flowers
will never awaken you,
not where the black coach
of sorrow has taken you«

»Kleine weiße Blumen
Werden dich niemals aufwecken
Nicht dort wo der schwarze Wagen
Der Trauer dich hinfortgenommen hat«

Gloomy Sunday
Musik: Rezső Seress

Text: Sam M. Lewis

Prolog

Er hätte es gerne brutal gemacht, voller Hass. Er hätte gerne all die aufgestaute Wut in diese einzige, fatale Bewegung hineingelegt. Hätte gerne geschlagen, gekratzt, gepackt, gequetscht.

Er wollte Schmerzen verursachen, etwas zurückgeben für die Wunden, die er selbst zugefügt bekommen hatte … aber es ging nicht.

Die Bewegung wurde, ohne dass er das wollte, zu einem Streicheln, zu einer sanften, fast gütigen Geste. Die Muskeln der Hand entspannten sich, die Finger legten sich zitternd aneinander, formten eine geschlossene Fläche und senkten sich allmählich hinab. Sie fanden ihr Ziel im Halbdunkel und legten sich darauf. Unerbittlich und fest zwar, aber doch mit großer Milde.

Da war jetzt nichts mehr um ihn herum. Nichts mehr außer dem, was seine Hand tat. Die lauten Töne aus den vielen Kehlen, von den Geräten, die grellen Lichter und hektischen Bewegungen, all das verschwamm zu einem zuckenden, flackernden, sich unablässig um ihn drehenden Nebel.

Da waren nur noch die Hand und das Leben, das unter ihr langsam aber stetig erlosch. Die Hand spürte alles: die zaghaften, immer schwächer werdenden Bewegungen, die heißen Atemstöße, die zwischen den Fingern durchdrangen, immer kürzer werdend und mit immer größeren Abständen. Kürzer … kürzer …

Dann fühlte die Hand nichts mehr.

Als er sie vorsichtig wegnahm, ergriff augenblicklich Kälte Besitz von ihr. Eine Kälte, die sie nie wieder loslassen würde. Eine Kälte, die seinen Körper langsam erobern und unweigerlich sein Herz erreichen würde.

Eine Kälte, die immer in ihm sein würde.

Bis irgendwann das Feuer der Hölle ihn wieder wärmte.

1. Kapitel

Quirin Leitges hätte seinen müden, alten Knochen gerne einen kurzen Moment der Ruhe gegönnt, aber die Stimme, die um die Hausecke drang, verhieß nichts Gutes.

»Bist du da?«

Er musste nur bis vier zählen, bis ihre kleine, vornübergebeugte Gestalt auf dem Plattenweg zwischen dem üppigen Grün der Forsythien auftauchte.

Natürlich war er da, das wusste sie doch. Zilla Fischenich wusste jederzeit, wer sich wo in Schlehborn aufhielt. Und sie wusste natürlich auch, mit wem und warum.

Sie hatte die spitze Nase weit vorgestreckt, wie um Witterung aufzunehmen. Wäre es nicht anatomisch ein Ding der Unmöglichkeit, wäre die Nase von Zilla Fischenich ihrer Besitzerin stets fünf Schritte voraus gewesen.

»Ah, da bist du ja.«

»Weißt du doch, Zilla«, sagte Leitges mit einem ergebenen Seufzer und drückte mit den schwieligen Fingern die filterlose Zigarette in einem Blumentopf aus. »Du hast doch vorhin gesehen, wie ich den Anhänger vom Schuppen rübergezogen habe.«

Er hatte in der Abendsonne eine kleine Pause vom Holzspalten gemacht. Es war der erste richtig heiße Tag dieses Sommers. Er liebte es, die üppig wuchernden Sträucher des Sommerflieders zu betrachten, in denen unzählige Insekten herumschwirrten. Schmetterlinge drehten ihre flatternden Runden und landeten immer wieder auf den gelblichen Blütendolden.

Zilla ließ sich ungefragt auf einem der alten Holzstühle nieder. Sie trug ihre Gummistiefel und eine zerschlissene, dunkelgrüne Arbeitsweste. Das graue Haar hatte sie mit einem Tuch zurückgebunden. Ihre vollen Wangen leuchteten wie zwei reife Tomaten. »Ich brauche mal deine Heckenschere, Quirin. Meine ist verrostet. Hat im Regen gelegen.«

»Ist doch nicht die richtige Zeit für die Hecke«, grunzte er. »Da sind doch Vogelnester drin. Warte bis zum Herbst.«

»Die wuchert. Ich will ja nur die oberen Spitzen abschneiden. Man kann kaum noch drübergucken.«

»Oh, das geht natürlich nicht.« Er kicherte leise, während er sich erhob, um in den Schuppen zu gehen. »Drübergucken muss man schon können.«

»Genau. Wo ich doch gerade die Fenster blitzblank geputzt habe.« Zilla reckte den Kopf und erhob ihre Stimme. »Wer hat denn Holz bestellt?«, fragte sie unverblümt.

»Geht dich nix an, Zilla.« Er verschwand in den Verschlag, der an sein altes Fachwerkhäuschen grenzte, und ein paar Augenblicke lang war nichts anderes zu hören als Scheppern und Gepolter. Dann kehrte er mit der blank glänzenden Heckenschere zurück.

»Hier, für deine freie Sicht.«

Sie nahm sie mit beiden Händen entgegen, machte aber keinerlei Anstalten, sich zu verabschieden. »Ist für den Doktor Frings, das Holz, hab ich gehört.«

»Aha, so. Hast du also gehört?« Leitges sah sie säuerlich an. »Ist es aber nicht.«

Zilla schüttelte die Kaffeekanne und hielt sie ans Ohr. »Noch was drin?«

Wortlos schlurfte Leitges ins Haus und kehrte mit einer Tasse zurück. »Schwarz, oder?«, fragte er.

Sie nickte, und während sie sich Kaffee einschenkte, fuhr sie mit ihrer Befragung fort. »Aber der Doktor hat doch auch Holz bestellt. Die kann sich doch nicht geirrt haben.«

»Wer?«

Zilla verriet ihre Informanten nur in dringenden Notfällen. »Egal. Sie hat jedenfalls gesagt, er hat Holz bei dir bestellt.«

Leitges ließ sich wieder auf seinen Gartenstuhl fallen, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Das konnte dauern. »Ja, stimmt, hat er auch, aber ich hab ihn vorhin angerufen und ihm gesagt, dass ich es ihm erst morgen bringen kann. Die sind alle schlau, die kaufen das Holz jetzt, im Sommer. Hat lange genug gedauert, bis ich die mal alle so weit hatte, sodass ich im Herbst nicht so einen Stress kriege. Der Doktor muss aber noch ein bisschen warten, weil ich heute jemand anderem dringend zwei Festmeter …«

»Der Doktor ist so ein feiner Mann. Der hat Manieren«, unterbrach sie ihn. Manchmal stimmte ihr Timing nicht. Womöglich, so befürchtete sie, entgingen ihr unbemerkt wichtige Informationen. »Der hat was gesehen von der Welt. Wie einfach der lebt, da oben im Fringshof. Sicher hat der noch ein Haus in … Paris, da kam er doch zuletzt her, oder?«

»Wird wohl ‘nen Ausgleich suchen. Einfaches Landleben und so.«

In einem Rosenstrauch balgte sich laut schimpfend eine Handvoll Spatzen.

»Keiner grüßt so freundlich wie der. Und der nimmt Schnupftabak und raucht nicht so fiese Zigaretten. Und spendabel ist der auch. Wenn ich höre, wie oft der in der Kneipe Runden gibt, Jungejunge.«

Leitges nickte stumm und kratzte sich mit einer seiner großen Hände am Kinn, ohne die Augen zu öffnen.

Zilla fand jetzt wieder in die Spur zurück: »Und wer, sagst du, hat zwei Meter Holz bei dir bestellt?« Sie schlürfte am Kaffee und sah ihn mit unschuldigem Augenaufschlag über den Tassenrand hinweg an.

»Gar nichts hab ich gesagt.« Und da er wusste, dass sie erst Ruhe geben würde, wenn sie in Erfahrung gebracht hatte, was sie wissen wollte, kapitulierte er. »Lorna Weiler.«

Ihr entfuhr ein leises Quieken.

Er öffnete die Augen und blinzelte durch den Sonnenschein hindurch zu ihr hinüber. »Was denn?«

»Die hat doch Holz genug. Die sammelt doch jedes Ästchen und Stöckchen, das sie finden kann. Die ist komisch. Findest du nicht, dass sie komisch ist?«

»Ach was. Künstlerin eben.« Er stand auf und drückte ächzend den Rücken durch. »Und das Holz, das die sammelt, braucht sie für ihre Kunstwerke, und nicht zum Heizen. So, Zilla, ich muss jetzt weitermachen, sonst …«

Sie zog die Augenbrauen in die Höhe und rümpfte affektiert die spitze Nase. »Na, ich meine ja nur. Sie ist jetzt wieder solo.« Das letzte Wort betonte sie besonders. »Komische Verhältnisse, wenn du mich fragst.«

»Geht mich nix an.« Leitges schüttete den erkalteten Rest aus der Kaffeetasse ins Staudenbeet. »Und dich auch nicht.«

Als sie sich erhob, sagte sie betont beiläufig. »So ist das mit den Zugezogenen. Die einen sind ein Gewinn, und die anderen … Na ja, wie ich vorhin sagte: Der Doktor ist ein Mann mit Anstand, von dem hört man nie so komische Sachen. Solche Geschichten

Quirin Leitges hatte sich wieder abgewandt und trottete zu seinem Holzspalter hinüber. Er würde sich ranhalten müssen. »Ich mach weiter, Zilla. Sonst wird das heute Abend nix mehr mit der Lieferung. Deine Geschichten musst du mir ein andermal erzählen. Versau mir die Schere nicht.« Er pflegte sein Werkzeug sehr sorgfältig und hasste es, wenn man es ihm schmutzig zurückbrachte.

Zilla Fischenich griff sich die Heckenschere und wandte sich mit einem kurzen Abschiedsgruß um. Gerade hatte sie auf der Straße den letzten Bus vorbeifahren sehen. Wenn sie sich beeilte, konnte sie von der Straßenecke aus noch sehen, wer ein- und ausstieg.

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Ludwig Vauen sah auf die Uhr. Der Sommer verdiente langsam seinen Namen. Die Hitze nahm zu, und es blieb länger hell. In dem Haus, dessen leere Flure er in diesem Augenblick mit klackenden Absätzen durchmaß, war es kalt.

Eine Villa in Köln-Rodenkirchen. Die ehemaligen Besitzer hatten den ewigen Kampf mit dem Rheinhochwasser aufgegeben, und er hatte sofort zugeschlagen, noch bevor es auf dem Immobilienmarkt überhaupt angeboten worden war. Er hatte gute Informanten.

Aber heute Abend war er aus einem anderen Grund hier.

Ludwig Vauen war der festen Überzeugung, dass er ein gutes Geschäft machen würde. Ein sehr gutes. Der Typ, mit dem er verabredet war, hatte mit Sicherheit keine Ahnung von dem, was er da anbot. Ein Brief mit der persönlichen Signatur von Albert Speer, das war für einen wie den doch nicht viel anders als ein Autogramm von Heino.

Der Mann hatte ungepflegt gewirkt. Stoppeliges Kinn, Schuppen, blutunterlaufener Blick. Nach Bier hatte er gerochen, und sein Anzug war ihm mindestens eine Nummer zu klein gewesen und an den Schultern speckig. Er hatte auf dem Antikmarkt im Rheinauhafen plötzlich neben ihm gestanden und ein mit Schreibmaschine geschriebenes, vergilbtes Blatt aus einem Briefumschlag gezogen. Albert Speer. Die Unterschrift war Vauen gleich ins Auge gesprungen, noch bevor der Typ das Schreiben über den Verkaufstisch zu dem Antikhändler hatte hinüberreichen können, der sich gerade mit der Frau vom Nachbarstand unterhielt.

Seit seiner Jugend sammelte Ludwig Vauen alles, was mit dem Dritten Reich zu tun hatte. Es faszinierte ihn, Dinge zu berühren, die einst in den Händen der Mächtigen dieses Landes geruht hatten. Er besaß Füllfederhalter, Siegelringe und Briefmappen, handsignierte Fotografien, Waffen und Krawattennadeln. In seiner umfangreichen Sammlung befanden sich Gegenstände aus dem Besitz von Göring, Hess und Heydrich. Auch eine Kleiderbürste fand sich darunter, von der es hieß, dass sie einmal dem Führer selbst gehört habe. Das ließ sich natürlich nicht beweisen, und daher betrachtete er dieses Utensil auch eher als Kuriosum in seiner Kollektion.

Der Brief von Speer jedenfalls war echt. Vauen hatte ein paar ausgewiesene Kenner an der Hand, die diese Stücke für ihn bewerteten. Selbstverständlich war ein Speer-Brief nichts Weltbewegendes, aber er brauchte immer wieder Tauschmaterialien, mit deren Hilfe er seiner Sammlung ein paar außergewöhnliche Stücke würde hinzufügen können.

Vauen verschränkte die Arme hinter dem Rücken und blickte sich zufrieden in dem leeren Raum um.

Auch das mit der Villa war ein ausgesprochen gutes Geschäft gewesen. Vauen beschränkte sich auf die guten Geschäfte, den Rest überließ er den anderen. Mit einer kleinen Investition hatte er das Haus wasserdicht gemacht. Es würde sich innerhalb kürzester Zeit verkaufen lassen. Für die Handwerker, die ihm dabei geholfen hatten, war es vielleicht kein so gutes Geschäft gewesen, aber das gehörte nun mal zu seinem Prinzip. Im Umkreis von hundert Kilometern um Köln gab es für jedes einzelne Gewerk irgendwen, der es für besonders kleines Geld ausführte. Und wenn es dann erledigt war, mussten sie das nehmen, was Vauen ihnen anbot. Oder eben gar nichts.

Halb acht. Der Typ musste jeden Moment kommen. Er betrachtete die frisch gestrichenen, schneeweißen Wände und ließ den Blick prüfend über die Bodenfliesen wandern. Er ließ solche Leute wie diesen Typen nicht gerne in sein eigenes Haus in Marienburg hinein. Ein leer stehendes Objekt wie dieses schien ihm als Treffpunkt viel geeigneter.

Er hatte dem Mann einen Hunderter geboten. Das war der übliche Marktwert für Autographen dieser Kategorie. Bei solchen Kleinigkeiten feilschte er nicht lange herum. Außerdem hatte der Antikhändler unterdessen seinen Schwatz beendet und war nun wieder ansprechbar. Und als der Mann mit den Schuppen Vauen im nächsten Moment ein weiteres Schriftstück zeigte, eine handschriftliche Notiz mit der Signatur von Martin Bormann, dem persönlichen Sekretär Hitlers, da hatte ihn plötzlich die Aufregung gepackt, und er hatte den Mann nicht schnell genug von dem Antiquitätenstand wegziehen können. Versuchsweise hatte er zweihundert geboten, obwohl dieses Stück, wenn es echt war, seinem Verkäufer bestimmt das Doppelte hätte einbringen können. Der Mann hatte aufgeregt geschluckt und mit zitternder Hand eingeschlagen.

Und dann hatte Vauen die verheißungsvolle Worte: »Ich hab da noch ’ne ganze Menge von dem Kram« vernommen. Und er hatte sofort gewusst, dass er ein gutes Geschäft machen würde.

Es summte von der Haustür her. Hatte er nicht einen Dreiklang-Gong in Auftrag gegeben? Nun, dem Elektriker aus dem Bergischen hatte er ohnehin dreißig Prozent abgezogen, da musste er nicht mehr nachverhandeln.

Er öffnete die Tür mit einer bedächtigen Bewegung.

Der blutunterlaufene Blick seines Besuchers schien ihm heute noch ausgeprägter. Quer über den Nasenrücken hatte er ein fleckiges Pflaster geklebt. Er trug ein anderes Jackett, das aber ebenso erbärmlich wirkte wie das vom Antikmarkt.

Eigentlich hätte er ein stattlicher Mann sein können. Grau meliertes Haar, durchtrainierter Körper, gesunde Hautfarbe. Aber irgendetwas war in seinem Leben wohl schiefgelaufen. Vauen hatte kein Mitleid mit solchen Typen. Er wusste, dass man es zu etwas bringen konnte, wenn man es nur wollte.

Er drückte die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde, mit Widerwillen und registrierte mit wachsender Vorfreude die abgeschabte Aktentasche unter dem Arm des Mannes.

»Ihr Haus?«, fragte der Besucher, als er in den Flur trat. »Ziehen Sie ein oder aus?«

»Weder noch.« Vauen hatte kein Interesse daran, sich allzu sehr in die Karten gucken zu lassen.

Im Wohnzimmer stand ein Tapeziertisch, auf dem Vauen die beiden bereits erhaltenen Schriftstücke in Klarsichthüllen abgelegt hatte.

»Ich habe die Sachen prüfen lassen«, sagte er obenhin. »Wahrscheinlich sind sie sogar echt. Sie haben ein gutes Geschäft gemacht, Herr …«

Der andere zog eine altmodische Brille aus der Innentasche seines unmodernen Jacketts. Er vollendete den Satz nicht. Auch er hatte offenbar kein Interesse daran, sich allzu sehr in die Karten gucken zu lassen. Er betrachtete die beiden Papiere, die bis vor drei Tagen ihm gehört hatten, und nickte langsam. »Ja, ich dachte mir, dass sie echt sind. Ich meine, wer fälscht denn so olle Briefe. Das würde sich ja kaum lohnen. Da wär’ ja was von Boris Becker viel lukrativer. Oder Rudi Carell oder so was.«

Vauen nickte grinsend. »Sicher, sicher.« Er deutete auf die Aktentasche. »Sie sagten, Sie haben noch mehr?«

Ein zögerliches Nicken. »Ne ganze Menge Zeug. Briefe, Zettel, Postkarten. Alles alt.«

»So alt wie das da?«

»Wahrscheinlich. Kann man kaum lesen. Ist so altdeutsche Schrift, wissense.«

»Verstehe.«

»Vielleicht müsste ich mich mal näher damit beschäftigen, aber das ist schwierig mit dem Gekrakel.« Er schniefte und fummelte an der Schnalle der Aktentasche herum. »Bin auch ’n bisschen knapp, also ich würd’ mich schon davon trennen.«

Vauen lächelte versonnen und dachte wieder an das bevorstehende gute Geschäft, während der Mann die Tasche öffnete und ein zerfleddertes Bündel Papiere hervorzog.

»Wenn Sie’s nicht haben wollen, können Sie mir vielleicht wenigstens sagen, wen ich sonst mal deswegen fragen kann.«

Vauen sagte nichts. Sein Blick versuchte augenblicklich, Details zu erhaschen, Worte und Namen zu entziffern. Er war geübt. Gut, buntes Allerlei. NSDAP-Briefköpfe, Generaloberst Dietl, Obergruppenführer Werner, eine Autogrammpostkarte von … wer war das? General Deßloch. Da, etwas von Himmler, kein Zweifel! Himmler, immerhin. Eine Art Notizzettel oder so was.

»Woher haben Sie die Sachen?« Er versuchte, seine Stimme unaufgeregt und gleichmütig klingen zu lassen, während seine Augen weiter forschten. Er hatte seine Hände in den Taschen seines Sommermantels vergraben, damit nicht zu sehen war, dass sie zitterten.

»Eine Sammlung, die ich von jemandem … na, ist doch eigentlich egal, oder?«

Vauen nickte bedächtig. Wieder Speer. Speer, Speer … ein Brief von Himmler … Herrgott, wie viel war das denn? Und da! Er schloss ganz kurz die Augen, um sie erneut zu öffnen und zu prüfen, ob er sich nicht getäuscht hatte. Kein Zweifel, er hatte sich nicht verguckt. Die Unterschrift … Adolf Hitler. Für einen Laien vielleicht nicht zu erkennen, für einen Fachmann jedoch eindeutig zu identifizieren. Er war Fachmann. Hitler … Bleistift, Karton, gelocht. Ein anderes Schreiben schob sich im nächsten Augenblick davor.

Welche Taktik musste er hier anwenden? Jetzt durfte er keinen Fehler machen.

»Hören Sie, ich gebe Ihnen zweitausend. Wie hört sich das an?«

Der Mann legte den Kopf schief und blickte zu den Papieren hinunter, die wirr auf dem Tapeziertisch aufgefächert lagen. Dann schürzte er die Lippen und murmelte: »Na ja, ich habe mir schon gedacht, dass Sie kein wirkliches Interesse daran haben. Hören Sie, Sie müssen mir keinen Gefallen tun. Ich werde die Sachen schon irgendwo los.« Er begann, die Blätter zusammenzuschieben. Seine Finger waren ungepflegt, er hatte schwarze Ränder unter den Fingernägeln.

»Moment mal, wieso?«, fragte Vauen jetzt eine Spur zu aufgebracht. »Was ist gegen zweitausend einzuwenden?«

»Zweitausend? Für alles?« Der Mann betrachtete ihn über den Rand der hässlichen Brille hinweg.

»Natürlich für alles.«

Als Antwort bekam er ein leicht spöttisches Grinsen. Der Mann fuhr fort mit seiner Tätigkeit auf dem Tapeziertisch.

Vauen fasste ihn am Arm und wusste, dass er in diesem Moment taktisch versagte. Ein kaum wiedergutzumachender Fehler, zu viel Interesse zu signalisieren. »Moment, Moment. Gut, es ist ja wirklich eine Menge Zeug, ich will nicht kleinlich sein. Das Meiste davon ist nichts wert … Ramsch. Aber ich biete Ihnen … sagen wir … dreifünf. Dreitausendfünfhundert? Na? Ist das ein Angebot?« Und er fügte mit wichtiger Miene hinzu: »Ich will auch gar nicht wissen, wo Sie die Sachen herhaben.«

Der Mann grinste nun noch breiter, und ein Schwall sauren Bieratems drang zu Vauen herüber. »Hör mal gut zu, Meister. Ich hab’ gesagt, dass ich mich nicht damit auskenne. Ich brauch’ Kohle und will den Rotz loswerden. Die Schrift kann ich nicht lesen, aber die Unterschriften, weißt du, die Unterschriften, die sind teilweise ganz leserlich. Da ist auch der Obermacker dabei, und das hast du gerade eben genau gesehen, Meister, stimmt’s? Ich hab’s an deinem Blick erkannt. Onkel Addi höchstpersönlich. Das ist doch was für dich, oder?«

Vauen gefiel nicht, welche Wendung das Gespräch genommen hatte. »Ich weiß ja gar nicht, ob die Sachen auch wirklich echt …«

»Du hast die zwei doch prüfen lassen!« Der Ton des Mannes nahm an Schärfe zu, als er wütend mit dem Finger auf die beiden Klarsichthüllen und deren Inhalt tippte.

»Ja, stimmt, aber das da …«

»Okay«, sagte der Mann. »Lass es prüfen! Wir machen einen Termin, und wir dackeln zu deinem Fachmann. Dann wirst du schon sehen, dass es hundertpro echt ist. Hundertpro, hörst du!«

»Gut, wenn wir es prüfen lassen, dann …«

»Adolf Hitler. Und Heydrich und Hess und die ganze Combo! Vier Briefe allein vom Führer.«

»Vier …?«

Sein Gegenüber warf sich in die Brust. »Oh ja, vier Stück! Ein handgeschriebener Brief, sogar zweiseitig. An Bormann, mit sehr persönlichem Inhalt.«

Vauens Augen fixierten das Gesicht des Mannes. Anstelle der Unsicherheit von vorhin war jetzt kühle Entschlossenheit darin zu sehen. Die Lippen waren schmal geworden, der Blick stechend.

Der Mann fragte: »Na, und jetzt? Wie viel?«

Es dauerte einen Moment, bis Vauen hervorpresste: »Fünfzehntausend.«

Der Mann lachte.

»Achtzehn. Achtzehntausend, hören Sie? Das ist mein letztes Wort. Mehr als achtzehntausend …« Er kramte einen länglichen, weißen Briefumschlag hervor.

Der Mann schob die Papiere gemächlich zurück in die Aktentasche.

»Ich habe hier …« Vauen fuhr mit zittrigen Fingern durch den Inhalt des Umschlags. »Ich habe hier neunzehntausend für den Anstreicher …« Er griff zu seinem Portemonnaie und zog einen weiteren Tausender hervor. »Zwanzig!«

»Für achtundzwanzig ist es deins.«

»Zwanzig. Wir gehen jetzt gleich zu einem Freund, der sich das Ganze ansehen wird.«

»Achtundzwanzig oder Feierabend.«

Vauen fingerte erneut das Portemonnaie aus seiner Gesäßtasche und rupfte zwei weitere Tausender heraus. Jetzt war das Fach mit den Scheinen leer. »Zweiundzwanzig!«, blaffte er, steckte die Scheine mit zittrigen Fingern zu den anderen in den Umschlag und wedelte damit in der Luft herum. »Okay?«

Der Fremde senkte die Lider und schüttelte langsam den Kopf. »Achtundzwanzig und keinen Cent weniger.«

Vauen biss sich auf die Lippen. Das Verlangen war einfach zu groß. Mit dieser Kollektion würde er ein paar blendende Tauschgeschäfte machen können. Er hatte Adressen in den Staaten, in England und Italien, mit deren Hilfe er sicherlich das Dreifache aus dem Geld machen könnte. Aber es war nicht das Geld, das ihn lockte. Das verdiente er schneller auf bequemere Art. Es war der Wunsch, diese Dinge zu besitzen.

Er murmelte: »Sie wissen genau, was diese Sachen wert sind, stimmt’s?«

Der Mann nickte bedächtig. »Einigermaßen.«

»Gut«, sagte Vauen. »Achtundzwanzigtausend.« Dann schlug er in die ausgestreckte Hand ein. »Und jetzt will ich mir die Sachen in Ruhe ansehen. Dann konsultieren wir gemeinsam den Fachmann, und wenn alles in Ordnung ist, besorge ich den Rest des Geldes. Okay?«

»Okay.« Der Mann nickte zufrieden.

In diesem Moment ertönte die Türklingel.

Ratlos blickten sich die beiden Männer an. Vauen kniff skeptisch die Augen zusammen. »Was soll das?« Er betrachtete seinen Gast mit gespitzten Lippen. »Versuchen Sie hier eine linke Tour mit mir?«

Sein Gegenüber zuckte ratlos mit den Schultern. »Moment mal, Kollege, ich habe keinen blassen Schimmer, wer …«

Als Vauen zum Fenster trat, weiteten sich seine Augen. Vor dem Haus, direkt neben dem Berg nagelneuer Pflastersteine, der darauf wartete, verlegt zu werden, stand ein Polizeifahrzeug.

Der fremde Mann trat an seine Seite und fuhr augenblicklich zusammen.

Als Vauen sich zu ihm wandte, nahm er Schweißperlen auf dessen Stirn wahr.

»Verfluchte Scheiße, die Bullen!«, zischte der Fremde durch die Zähne. »So ein verfluchter Dreck. Wie können die denn wissen, dass ich hier …«

Es schellte jetzt erneut, und Vauen sah einen Polizisten, der die sechs Stufen der Eingangstreppe hinunterging und an der Hausfassade hochguckte.

Panisch riss der Fremde die Aktentasche an sich. »Die Bullen, so eine Sauerei! Die Bullen! Wie komme ich hier raus?«

Er hatte plötzlich Angst. Nackte Angst.

Ein Grinsen machte sich langsam auf Vauens Lippen breit. Das Blatt hatte sich gewendet. Jetzt, wo sein Gegenüber Schwäche zeigte, bekam er Aufwind. Er sagte leise und beinahe sarkastisch: »Erst die Mappe.«

Der Fremde packte ihn mit einem unterdrückten Aufschrei am Hemdkragen und schüttelte ihn. »Ich muss hier raus, hörst du?«

»Die Aktenmappe, dann sag ich Ihnen, wie Sie rauskommen!« Er wedelte mit dem Umschlag in der Luft herum. »Erst dann. Das ist Ihre letzte Chance, Sie kleiner Gauner. Sie nehmen das Geld, das ist mehr als genug für einen schmierigen Hehler wie Sie. Geben Sie mir die Mappe, und dann ziehen Sie ab.«

Der Andere hielt einen Moment inne, grabschte dann nach dem Briefumschlag, ließ ihn in seine Jacketttasche verschwinden und schleuderte Vauen mit einem unterdrückten Fluch die Aktenmappe vor die Füße.

»Es gibt einen Hinterausgang, der zu den Mülltonnen führt«, sagte Vauen und rückte sich den Kragen zurecht. »Sie gehen den Flur entlang, zweite Tür rechts, dann in den Keller, und hinterm Heizungsraum ist eine Metalltür. Der Schlüssel steckt.«

Als er die Aktentasche aufgehoben und sich wieder aufgerichtet hatte, war sein Besucher bereits verschwunden.

Es schellte ein drittes Mal.

Bevor er die Haustür öffnete, versuchte Vauen, seine Gedanken zu ordnen. Er hasste Handgreiflichkeiten. Der ein oder andere Handwerker hatte schon mal versucht, ihn in die Mangel zu nehmen, aber bislang hatte er fast immer Glück gehabt. Er hatte die Papiere. Während er zur Tür ging, öffnete er die Tasche und spähte hinein. Er roch das alte Papier, fühlte seine raue Oberfläche. Das, was er da herauszog, war Gold wert, diesem Schatz würde er sich später in aller Ruhe widmen. Er ließ die Papiere rasch in seinen Pilotenkoffer verschwinden und verstellte die beiden Zahlenschlösser. Die leere Tasche warf er achtlos zwischen ein paar Müllsäcke, die an der Garderobe lehnten.

Woher kamen die Schriftstücke bloß? Wie kam ein kleiner, abgerissener Ganove an eine solche Sammlung? Und wie hatte die Polizei ihn bis hierher verfolgen können?

Er öffnete die Milchglastür und setzte eine geschäftsmäßige Miene auf.

»Guten Abend«, sagte er, und der junge, südländisch aussehende Beamte erwiderte seinen Gruß.

Der zweite Polizist war ein wenig älter und untersetzt. Er kam wieder die Treppenstufen herauf und positionierte sich neben seinem Kollegen.

»Wohnen Sie hier?«, fragte er in rheinischem Tonfall. »Ist das Ihr Haus?« Er guckte auf das Klingelschild, fand aber keinen Namen.

»Das Haus gehört mir, aber ich wohne hier nicht. Es wird zurzeit renoviert.« Der Fremde hatte inzwischen sicherlich den Hinterausgang erreicht und war in Richtung Rheinufer abgehauen.

»Das Haus ist unbewohnt, Herr …?«

»Mein Name ist Vauen.«

»Herr Vauen, gut.« Der Jüngere trat näher. Für Vauens Geschmack ein wenig zu nah. »Sie haben sicher nichts dagegen, wenn wir einen Moment reinkommen und uns mal kurz umsehen?« Er verrenkte sich regelrecht den Hals, um in die Wohnung spähen zu können.

Vauen wich nicht zurück. Er wusste nicht, was er von der Sache halten sollte. Hier stimmte etwas nicht. Waren sie wirklich auf der Suche nach dem Hehler?

»Umsehen?«, fragte er. »Warum wollen Sie sich denn bei mir umsehen? Das Haus ist leer. Hier finden Sie nichts als leere Räume und ein paar Sachen von den Handwerkern. Ich meine, warum sollte ich Ihnen erlauben, sich hier drinnen umzusehen, wenn ich fragen darf?«

Die beiden uniformierten Männer wechselten ein paar Blicke. »Wissen Sie, wir haben vor ein paar Minuten einen Anruf bekommen«, sagte der Ältere schließlich. »Eine junge Frau behauptet, hier bei Ihnen im Haus zu sein.«

»Eine junge Frau, sagen Sie? Eine junge Frau?«

»Sie hat am Telefon um Hilfe gerufen«, erklärte der Jüngere bereitwillig, und sein Kollege ergänzte: »Und sie hat diese Adresse genannt, Herr Vauen.«

In diesem Augenblick begriff Ludwig Vauen, dass sein Geschäft womöglich doch kein ganz so gutes gewesen sein würde.

2. Kapitel

Es war windstill. Für einen kurzen Moment war nichts zu hören als das Ticken des Motors unter der noch warmen Kühlerhaube. Björn Kaulen starrte durch das heruntergelassene Fahrerfenster in die Dunkelheit, in die der Mondschein silberglänzendes Gestrüpp schraffierte. Dann entdeckte er die Taschenlampe, deren runder Lichtfleck sich tanzend näherte. Zwei Gestalten schälten sich aus dem Dunkel.

Er verspürte ein vages Gefühl der Besorgnis. Sicher würde er es bereuen, der Bitte der beiden Folge geleistet zu haben. Von Röggel und Pulli war noch nie was Gutes gekommen, so sagte man im Dorf.

Röggel und Pulli waren seine Cousins, die Söhne des Bauern Altrogge, zwei nichtsnutzige, wenn auch fröhliche Tagediebe, die ihren Eltern mit ihren gut zwanzig Jahren immer noch auf der Tasche lagen und sich noch nie für irgendeinen Blödsinn zu schade gewesen waren. Sie hatten Björn vorhin angerufen und ihm mit ungemein verschwörerischem Ton gesagt, er solle doch in etwa einer Stunde hoch zum Waldrand kommen, wo die beiden Fluren Auf Schalkskopf und Drömmert aufeinandertrafen. Sie bräuchten seine Hilfe, und es gäbe dazu auch noch richtig was zu sehen.

Mit einem Seufzer stieß Björn die Autotür auf und blickte in zwei feixende Schattengesichter. »Also gut, raus mit der Sprache, was gibt’s?« Er war ein paar Jahre älter als die beiden und kannte sie von klein auf. Gefühlt waren es mindestens zehn Jahre, die sie unterschieden, in Wirklichkeit nur fünf. Auf eine unbestimmte Art hatte er sich immer irgendwie verantwortlich für sie gefühlt.

»Wirst staunen«, kicherte Röggel und zerrte ihn am Ärmel seiner Jeansjacke.

»Komm mit!« Pulli, der trotz der hohen Temperaturen in seinem unvermeidlichen Pullover aus Nickistoff steckte, hüpfte mit der Lampe vorneweg.

Die beiden anderen beeilten sich, ihm zu folgen. Sie ließen den Weg hinter sich und wanden sich zwischen Büschen und jungen Buchen hindurch. Ihre Schritte auf dem mit Laub bedeckten Waldboden waren unglaublich laut. Es knisterte und krachte. Und Röggel und Pulli kicherten die ganze Zeit.

»Leute, wenn ihr wieder irgendeinen Scheiß gebaut habt, dann … « Björns Sorge wuchs. Er wollte da in nichts reingezogen werden. Sie hatten Zigarettenautomaten geknackt und die Goldhochzeits-Girlanden am Haus der Thelens geklaut. Bei jedem ihrer Dinger hatte Björn versucht, es ihnen auszureden, aber das war jedes Mal zwecklos gewesen.

Erst jetzt erkannte er einen prallen Stoffbeutel, der um Pullis Hüfte schlenkerte. »Was ist da drin? Ich soll euch helfen? Wobei?«, fragte er lauernd, erhielt aber keine Antwort.

Sie hatten einen Streifen Wald durchquert und eine Wiese erreicht, die sich dunkelgrau vor ihnen ausbreitete.

Röggel blieb stehen, ließ den Schein der Taschenlampe wandern und pfiff einmal laut auf den Fingern. Dann rief er in die Nacht hinaus: »Hejo Hü!«

Pulli zündete sich eine Zigarette an und grinste. »Kapierste jetzt?«

»Hejo Hü!«, rief Röggel wieder und lauschte in die Stille. Seine Linke tauchte in den Beutel hinab.

Und Björn verstand. Das war es also, was sie hier wollten.

»Sie ist hier?«, fragte er verblüfft.

Pulli nickte. »Mal hier, mal da. Je nachdem, wo wir sie hinbringen.« Er hustete den Qualm in die Nacht. »Geil, oder?«

»Hejo Hü!«

Und dann raschelte es in der Ferne. Röggel holte einen Apfel aus dem Beutel hervor und wedelte damit in der Luft herum.

Etwas bewegte sich durch die Finsternis. Ein großes Lebewesen. Schwer und schnaufend näherte es sich. Das Gras flüsterte um seine Beine, als der massige Körper auf sie zukam.

Im Mondlicht erkannte Björn die gefleckte Haut einer Rotbunten. Das war Fabiola, die Kuh, die seit Wochen durch Zeitung und Fernsehen geisterte.

Ihre große Zunge wand sich um den Apfel in Röggels Hand, und mit einem saftigen Krachen wurde er zwischen ihren Zähnen zermalmt.

Röggel hatte noch mehr Äpfel dabei. Er strich Fabiola über den Kopf und sagte ungewöhnlich sanft: »Wir lassen dich doch nicht alleine, oder?«

Fabiola war ausgebüxt. Das war auf dem Hof der Altrogges keine Seltenheit. Immer wieder mussten einzelne Rinder von der Straße getrieben werden. Aber Fabiola war plötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Damit hatte vor anderthalb Monaten alles begonnen. Angeblich trieb sie sich irgendwo in dem Gebiet zwischen Wiesbaum, Mirbach, Flesten und Schlehborn herum. Manchmal wurde sie gesehen, manchmal gelang es fast, sie einzufangen. Aber Fabiola liebte offenbar die neu gewonnene Freiheit und schaffte es immer wieder, ihren Häschern zu entkommen. Dabei legte sie große Strecken zurück. War sie an einem Vormittag von einem Wanderer oberhalb von Üxheim gesehen worden, sah man sie in der hereinbrechenden Abenddämmerung zwischen Dollendorf und Wiesbaum, unweit der Bundesstraße. Jetzt, da Björn seine beiden feixenden Cousins betrachtete, ahnte er auch, wer dafür verantwortlich war, dass Fabiola es immer wieder schaffte, rechtzeitig unterzutauchen.

Und er begriff auch, warum die beiden das taten.

Die lokale Presse hatte als Erstes darüber berichtet. Der Kölner Stadt-Anzeiger, die Kölnische Rundschau und der Trierische Volksfreund hatten es gebracht. Eine beschwingte Story, die half, das Sommerloch zu stopfen.

Dann waren Radio und Fernsehen eingestiegen. Und der Hof der Altrogges rückte in den Fokus der Öffentlichkeit. Wie passend, da man sich dort gerade an einer kleinen Hofgastronomie versuchte. Die ersten Touristen fuhren einen Umweg, um sich anzusehen, wo die Phantomkuh zu Hause war.

Die Kuhsichtungen und der ein oder andere spektakulär gescheiterte Versuch, die Ausreißerin einzufangen, machten das Tier in den kommenden Wochen zu einer kleinen Berühmtheit.

»Zwei Tage hatten wir sie in die alte Hütte am Steinbruch gesperrt«, erklärte Röggel und fütterte sie. »Wir sorgen immer dafür, dass sie was zu fressen und zu saufen hat.«

»Und ihr zieht die Show für die Presse ab?«

»Klappt doch«, sagte Pulli stolz. »Kommen voll viele Leute auf den Hof.«

»Muss sie nicht gemolken werden?«

Röggel schüttelte den Kopf. »Ist ‘ne Färse. Die gibt noch keine Milch.«

»Und wie lange wollt ihr das noch treiben?«

»Och, mal gucken. Macht doch Bock. Manchmal fahren wir sie mit dem Anhänger hin und her. Voll die Geheimaktion.«

Björn grinste befreit. »Mann, Mann, was euch auch immer einfällt.«

Pulli wandte sich zu ihm um. »Dachtest wohl, es wär was anderes, was? Irgendein Scheiß, oder?« Er lächelte plötzlich nicht mehr.

Sein Bruder strich der Kuh kräftig über die Flanke. Auch er grinste nicht mehr. »Hier, sie hat sich ‘nen Kratzer geholt. Kannst du da mal nachgucken?«

Björn bückte sich und stützte sich auf den Knien ab. »Leuchte mal.« Im schmutzig weißen Fell am Bauch der Kuh war deutlich eine längliche Wunde zu erkennen. Dunkles Blut hatte die Haare um die Schramme verkrustet. Vorsichtig tastete Björn die Ränder ab.

»Schlimm?«, fragte Röggel.

Björn schüttelte den Kopf. »Wirklich nur ein Kratzer. Ich würde sagen, dass man die Wunde hätte auswaschen können, aber jetzt verheilt sie schon. Kann man so lassen.«

Pulli atmete tief durch. »Gott sei Dank. Wir dachten schon, das hätte genäht werden müssen.«

»Aber Doktor Fechner hätten wir ja wohl schlecht holen können. Und du hättest bestimmt alles dabeigehabt, oder?«

Björn nickte. »Hab alles im Auto.«

Er wäre zu gerne Tierarzt geworden, aber für das Studium hatte es hinten und vorne nicht gereicht. Weder in der Schule noch im Portemonnaie seiner Eltern. Björn liebte Tiere über alles. Er arbeitete auf einem Gnadenhof in der Nähe von Rohr, und dort vertraute man mittlerweile seinem Urteil, wenn es um kleinere Behandlungen der Tiere ging. Alles, was er wusste, hatte er sich selbst angeeignet. Wann immer er konnte, wälzte er Bücher und Fachmagazine, und wenn der alte Tierarzt den Gnadenhof besuchte, folgte er jeder seiner Handlungen mit wachsamem Blick.

»Ich geb euch gleich eine Salbe«, sagte er und rieb der Kuh über die breite Stirn. »Davon könnt ihr vorsichtshalber was drauf tun. Aber falls sich doch was entzündet, kommt ihr um Dr. Fechner nicht herum.«

»Wird schon nicht«, sagte Röggel beiläufig.