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Jürgen Raap

Eigelstein-Blues

Jürgen Raap ist Kölner, Jahrgang 1952, er studierte Kunstwissenschaften und Germanistik. Heute lebt und arbeitet er in Köln als Journalist und Autor.

Sein erster Krimi »Verhängnisvolle Puppen« erschien 1989. Sein abgehalfterter Detektiv Bär genießt mittlerweile Kultstatus.

Jürgen Raap

Eigelstein-Blues

Ein Karl-Josef-Bär-Krimi

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1. Auflage 2004

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Eine Kneipe namens Sport-Casino gab es früher tatsächlich in der Kölner Machabäerstraße. Die Handlung des Romans ist jedoch frei erfunden, ebenso die Hauptfiguren der Erzählung. Erwähnte Personen der Zeitgeschichte, reale Einwohner des Eigelsteinviertels und reale Orte (z. B. Geschäfte, Lokale) haben nichts mit der Handlung dieses Romans zu tun.

1. Kapitel

Der Regen klatschte bollernd gegen die Fensterscheibe. Ich war froh, nicht vor die Tür zu müssen, und döste in meinem Büro vor mich hin. Das Leben eines Privatdetektivs, wie ich einer bin, ist nicht sehr aufregend. Meistens sitzt man nur gelangweilt in einem abgetickten Büro voller Schrottmöbel herum und träumt vor sich hin. Nie kommt eine aufgedonnerte Blondine herein wie in diesem Werbespot, wo sie zu dem Detektiv sagt: »Finden Sie einen Optiker, der billiger ist als Fielmann«. Nein, so etwas passiert nie in der Realität. Aber in der Realität passiert sowieso nie das, was einem diese Werbefritzen ins Ohr singen. Wenn man das einmal kapiert hat, dann hat man schon einiges an Lebenserfahrung mitgekriegt.

Ich habe dieses Detektivbüro von meinem Onkel Manfred geerbt. Manfred Bär - Diskrete Ermittlungen - Kartenvorverkauf 1. FC Köln. So steht es unten neben der Haustür auf dem orangefarbenen Schild. Das Schild ist mehr als fünfzig Jahre alt. Es stammt aus der Zeit, als Onkel Manfred dieses Detektivbüro gegründet hatte. Die Farbe ist längst ausgeblichen, und Karten für FC-Spiele werden hier auch längst nicht mehr verkauft.

Immerhin kann ich mich rühmen, dass Onkel Manfred einem der ersten FC-Fanclubs angehört hat. Das war in den Fünfzigerjahren gewesen, als es noch keine Bundesliga gab und der FC in der Oberliga West mehrmals Westdeutscher Meister geworden war.

Onkel Manfred war zwar aus dem Eigelsteinviertel nach Ehrenfeld gezogen, weil er dort das Büro eines verkrachten Detektivs übernommen hatte, aber er fuhr immer wieder mit der Straßenbahn in sein altes Viertel zurück, um sich dort in der Kneipe vom Hotel Platz, Ecke Domstraße/Machabäerstraße, mit seinen Kumpeln zum Skatspielen zu treffen. Der Schuhmacher aus dem Haus schräg gegenüber gehörte auch zu der Skatrunde, der Blumenhändler aus Nr. 33 und der Inhaber von Feinkost Dopper, der ein Ladenlokal in einem Neubau auf der Ecke bezogen hatte.

Jeden Sonntag zog Onkel Manfred mit dieser Skatrunde los, um den FC anzufeuern. In der Müngersdorfer Hauptkampfbahn gab es damals nur eine einzige Sitzplatztribüne an der Westseite. Mit Dopper und dem Blumenhändler fuhr Onkel Manfred auch zu den Auswärtsspielen im Ruhrgebiet, zum Beispiel gegen Rot-Weiß Essen, wo zu jener Zeit noch der legendäre Helmut Rahn spielte. 1959 wechselte Rahn zum 1. FC Köln. Anfang der Sechzigerjahre beendete er dann seine Karriere beim MSV Duisburg, der damals noch Meidericher SV hieß.

1960 stand der 1. FC Köln im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft. Alle waren natürlich überzeugt, dass der FC gewinnen würde. Onkel Manfred gab schon Tage vor dem Spiel bei dem Blumenhändler einen Siegerkranz in Auftrag, und die Schleife zierte der Text: Dem Deutschen Meister 1960 – 1. FC Köln. Der Blumenhändler selbst wiederum ließ von der Schneiderin in der Domstraße in seine FC-Fahne Deutscher Meister 1960 sticken. Der Skatclub reservierte im Hotel Platz einen Tisch für die Siegesfeier.

Doch dann verlor der FC im Frankfurter Waldstadion das Endspiel gegen den Hamburger SV knapp mit 2:3 Toren. Onkel Manfred war daraufhin so frustriert, dass er nie wieder ein FC-Spiel besuchte, sondern nur noch sein Büro als Kartenvorverkaufsstelle zur Verfügung stellte. Er war auf diese Einnahmen angewiesen, weil seine Aufträge als Detektiv nicht genügend abwarfen.

Der Blumenhändler überließ später die FC-Fahne mit dem eingestickten falschen Meisterschaftsdatum seinem Sohn Adi, der nun mit Dieter und Henner, mit meinem Vetter Georg und mir samstags zu den Bundesligaspielen loszog. Eine Eintrittskarte für Schüler kostete damals 1,50 Mark. Anfangs lästerten die anderen Fans über die Fahne, doch letztlich respektierten sie die Haltung, die sich in dem aufgestickten falschen Text offenbarte: Schließlich hatten ja auch sie vor diesem Endspiel gegen den HSV nicht am bevorstehenden Sieg des FC gezweifelt.

Der 1. FC Köln wurde dann 1962 und 1964 tatsächlich Deutscher Meister, was Onkel Manfred wieder etwas versöhnlicher stimmte.

Der Mann, der die Treppe heraufgepoltert kam und sich dann schwer atmend durch die Tür in mein Büro schob, war bestimmt nicht auf der Suche nach einem Optiker.

Er mochte fünfundvierzig oder sechsundvierzig Jahre alt sein und hatte schütteres, dunkelblondes, leicht gelocktes Haar. In ein paar Jahren würde er vielleicht eine Glatze haben. Seine Figur war kräftig und zeigte eine Vorliebe für gutes Essen. Richtig dick war er nicht, aber er zählte zu den Kandidaten, denen die Hausärzte gerne zu mehr Bewegung raten.

Das war also Rainer Kentenich. Er hatte am Vortag angerufen und einen Termin ausgemacht, und jetzt kam er fast eine Viertelstunde zu früh in mein Büro geschnauft. Kentenich trug Blue Jeans und einen braun-weiß gestreiften Pulli mit Reißverschluss und dickem braunem Kragen. Er hatte eine gelb-braune Lederjacke an. Alles in allem sah er ziemlich nichts sagend aus. Er gehört zu jenen Typen, die man in einem rosa Pyjama auf die Straße schicken kann und die dann immer noch völlig nichts sagend aussehen. Er hatte ein ziemlich glattes, fast pausbäckiges Gesicht, trug eine randlose Brille und öffnete seinen Mund zu einem breiten Lächeln.

»Sie sind Herr Bär … nicht wahr?«

»Ja, außer mir gibt es hier sonst niemanden. Ich bin ein Einmann-Betrieb. Eine Ich-AG, wie man heute sagt.«

Kentenich arbeitete als Kassierer und Tankwart an einer Tankstelle am Eifelplatz. Das hatte er mir schon am Telefon erzählt. Was er von mir wollte, hatte er mir allerdings am Telefon nicht erzählen wollen. Er nahm umständlich auf dem Besucherstuhl vor meinem Schreibtisch Platz und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor, das er nun vorsichtig vor mir ausbreitete und glatt strich.

Es war eine Rechnung aus dem Jahre 1964. Ausgestellt von Manfred Bär. Über 150 Mark. Ich rechnete schnell nach. Heute würde eine solche Summe eine Kaufkraft von etwa 700 Euro besitzen. Bei dem Tarif, den ich meinen Klienten berechne, wären das knapp zwei Tagessätze.

»Ihr Detektivbüro hat schon mal für meine Familie gearbeitet.«

»Ja, wie ich sehe, war das vor vierzig Jahren. Manfred Bär war mein Onkel. Er ist aber schon längst tot.«

»Haben Sie über diesen Auftrag von damals noch Unterlagen, Herr Bär? Ich möchte Sie nämlich in derselben Sache noch einmal beauftragen. Ich habe diese Rechnung im Nachlass meines Onkels gefunden. Er ist vor einem halben Jahr an einem Herzinfarkt gestorben. Mit dreiundsiebzig Jahren. Er hatte vorher schon zwei Operationen hinter sich, fünf Bypässe … Er war es, der damals die Detektei Bär beauftragt hatte …«

»Ihr Onkel hatte also damals meinen Onkel als Detektiv angeheuert, Herr Kentenich? Und jetzt finden sich aus beiden Familien zwei Vertreter aus der nächsten Generation in derselben Sache noch einmal zusammen? Mein lieber Mann, so etwas habe ich wirklich noch nie erlebt! Das ist ja phantastisch! Ich nehme an, mein Onkel Manfred hat damals mit seinen Nachforschungen keinen Erfolg gehabt. Sonst säßen Sie jetzt nicht hier.«

Kentenich nickte. »Darf ich rauchen?«, fragte er.

Ich schob ihm den Aschenbecher hin. Ich selbst habe mir vor vier Jahren das Rauchen abgewöhnt, aber es stört mich nicht, wenn sich jemand in meiner Gegenwart über eine Zigarette hermacht. Diese Engstirnigkeit, wie sie in den USA üblich ist, finde ich bescheuert. Wenn du dir dort auf dem Times Square von New York eine Kippe anzündest, schauen sie dich an, als ob du gerade vor allen Leuten die Hosen heruntergelassen und auf den Bürgersteig gekackt hättest.

»Also, Herr Bär … es geht um meinen Vater: Rudolf Kentenich. Er war … nun … er war das schwarze Schaf in der Familie. Man sprach nicht gerne über ihn. Wissen Sie, was ein Maggler ist?«

»Sicher. Ich bin gebürtiger Kölner. Mein Onkel Manfred hat in der Nachkriegszeit mit allen möglichen Sachen herumgemaggelt. Schwarzmarktgeschäfte, Schiebereien mit schwarz gebranntem Schnaps und so. Onkel Manfred kannte immer einen, der jemand anderen kannte, der wusste, wem gerade etwas vom LKW heruntergefallen war. Er maggelte mit Zigaretten, Kaugummi, Nylonstrümpfen, Uhren, Pelzen, Schmuck und Antiquitäten. Nach der Währungsreform 1948 war das aber vorbei. Irgendwann in den Fünfzigerjahren hatte er dieses Detektivbüro hier in Ehrenfeld übernommen.«

»Sehen Sie, und diesen Absprung hatte mein Vater wohl nie geschafft. Ich habe ihn nicht gekannt. Es hieß immer nur, er sei ein … ein krimineller Hehler gewesen. Kurz nach meiner Geburt kam er in den Klingelpütz. Meine Mutter ließ sich von ihm scheiden und zog mit mir nach Düren. Kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wurde mein Vater ermordet. In einer Kaschemme in der Machabäerstraße, die einen ziemlich üblen Ruf hatte. Als Bordellkneipe, als Gaunertreff, was weiß ich … Die Kneipe hieß Sport-Casino.«

Hm … Mein Vetter Georg und ich sind ja im Eigelsteinviertel groß geworden. An dieses Sport-Casino erinnere ich mich noch genau. Die Erwachsenen erzählten sich allerlei merkwürdige Dinge über diese Spelunke, aber die Details dieser Erzählungen versuchte man vor uns Kindern geheim zu halten. Uns wurde immer wieder eingeschärft, wir dürften bloß nicht vor dieser Kneipe spielen. Das sei viel zu gefährlich. Meistens waren an dieser Kneipe die Rollläden heruntergelassen. Die hölzerne Tür war recht massiv, und sie bot keinerlei Gelegenheit, einen Blick ins halbdunkle Innere zu werfen, aus dem manchmal heiseres Gelächter und der blecherne Klang einer Musikbox mit Schlagerschnulzen und Rock ’n’ Roll drang.

Was sich in dieser finsteren Räuberhöhle abspielen mochte, malten wir als Neunjährige uns in den schillerndsten Farben aus. In unserer kindlichen Phantasie steigerten wir uns schließlich so sehr in diese Gräuelmärchen hinein, dass schon allein die bloße Erwähnung des Namens Sport-Casino uns schaudern ließ.

Frieder aus der Jakordenstraße dachte sich bei unseren Spielen in den Trümmerlöchern immer irgendwelche Mutproben aus. Wer traute sich, durch die Löcher, welche die Bomben im Krieg in die dicken Betondecken gesprengt hatten, ganz tief in diese halb verschütteten Keller hineinzukriechen? An der Ecke zur Domstraße waren nach Kriegsende von der Fassade nur noch mannshohe Mauerstümpfe übrig geblieben, über die wir in das Trümmergrundstück hineinkletterten. Aus den Schutthalden wucherten Brennnesselbüsche, Kletten und allerlei Unkraut, und bei einem dieser Löcher in der Betondecke konnte man an einer solchen Schutthalde herunterrutschen und dann durch ein unheimliches Labyrinth von feuchten und dunklen Kellergängen ans andere Ende des Grundstücks gelangen.

Manchmal forderte Frieder uns auch dazu heraus, einen Regenwurm zu essen, und eines Tages behauptete er, im Sport-Casino gäbe es nackte Frauen zu sehen. Einer von uns müsse sich das unbedingt angucken und den anderen davon berichten.

Es war ein heißer Sommertag gewesen, an dem die Tür zum Sport-Casino ausnahmsweise mal weit offen stand. Wir losten aus, wer sich dieser Mutprobe stellen musste, und das Los fiel auf Dieter. Der nahm nun all seinen Mut zusammen und stapfte klopfenden Herzens in die Kneipe hinein. Wir anderen warteten auf dem großen, platt gewalzten Trümmerfeld auf der anderen Straßenseite, das wir »Plätzchen« nannten.

Dieter kam erst nach zehn Minuten wieder heraus. Die Frauen dort seien überhaupt nicht nackt, erzählte er. Sie wären aber ganz freundlich gewesen und hätten ihm ein Glas Limonade gegeben, bevor sie ihn wieder hinausschoben. Leider sah gerade in diesem Moment eine Nachbarin, wie Dieter aus dem Sport-Casino kam. Sie erzählte das natürlich Dieters Mutter, die ihm abends eine deftige Tracht Prügel verabreichte. Die Angst, dass uns anderen auch eine elterliche Tracht Prügel drohen würde, hielt uns davon ab, diese Mutprobe zu wiederholen.

Kurze Zeit später passierte dort tatsächlich ein Mord. Die Kneipe wurde daraufhin von der Polizei dicht gemacht. Die Puffmutter, die in der ersten Etage über der Kneipe gewohnt hatte, verschwand.

Bald darauf wurde das Haus mit dem Sport-Casino abgerissen, weil sie mit dem Bau der Nord-Süd-Fahrt anfingen: eine Schnellstraße, in jeder Richtung dreispurig, die sich von der Ulrepforte im Süden bis zum Ebertplatz im Norden quer durch die Innenstadt zieht. Sie schneidet am Offenbachplatz die östliche Seite mit den Wohn- und Bürohäusern ab, und sie haut eine brutale Schneise in das Eigelsteinviertel.

Links neben dem Sport-Casino war das Vorderhaus vollständig weggebombt worden. Im stehen gebliebenen Hinterhaus wohnte Dieters Familie, und dieses Haus riss man dann ebenfalls ab, desgleichen die benachbarte Volksschule Machabäerstraße.

Das Viertel geriet 1964 noch wegen zwei, drei anderen Morden in die Schlagzeilen. In einer Kneipe am Eigelstein gab es eine Messerstecherei, und die Lokalpresse nannte das Viertel nun »Klein Chicago«. Man richtete bald darauf eine neue Polizeiwache am Ursulaplatz ein.

Der Tote aus dem Sport-Casino war also Rudolf Kentenich gewesen, der Vater des Mannes, der jetzt vor mir saß und mich vierzig Jahre später wegen dieses Mordes engagieren wollte.

»Ich werde mal nachschauen, ob mein Onkel seine Notizen von damals aufbewahrt hat«, sagte ich zu dem Klienten auf meinem Besucherstuhl. »Aber was soll das jetzt noch bringen?«

»Der Mord konnte von der Polizei damals nicht aufgeklärt werden. Mein Onkel Franz, also der Bruder meines Vaters, hatte schließlich beschlossen, einen Detektiv zu beauftragen. Ich weiß nicht, wieso er ausgerechnet auf die Detektei Manfred Bär in Ehrenfeld kam.«

»Wahrscheinlich kannten sich unsere beiden Onkel schon vorher«, überlegte ich laut. »Manfred Bär lebte am Eigelstein, bevor er dieses Detektivbüro in Ehrenfeld übernahm. Er verlangte keine Mondpreise als Honorar, und er kannte sich in dem Milieu aus … ich kann durchaus nachvollziehen, wieso ausgerechnet er von Ihrem Onkel diesen Auftrag bekam.«

»Aber Ihr Onkel Manfred Bär konnte den Mörder auch nicht überführen. Er tappte genauso im Dunklen wie die Polizei. Ich glaube auch nicht, dass es jetzt, vierzig Jahre später, noch möglich ist, Licht in dieses Dunkel zu bringen, Herr Bär. Die Tat ist bestimmt längst verjährt, und womöglich lebt der Mörder auch nicht mehr.«

»Mord verjährt nicht. Wenn ich tatsächlich auf neue Indizien stoßen sollte, müsste der Staatsanwalt den Fall noch einmal von vorne aufrollen.«

»Nun ja, Herr Bär … eigentlich geht es mir primär gar nicht so sehr darum, nach vierzig Jahren endlich einen Mörder zu identifizieren. Sondern … ich möchte einfach wissen, wer mein Vater war. Er wurde ermordet, als ich vier Jahre alt war. Meine Mutter, mein Onkel und alle anderen Verwandten sind inzwischen tot … Zu Lebzeiten haben sie sich alle geweigert, über meinen Vater zu sprechen. Ja, er wurde im wahrsten Sinne des Wortes totgeschwiegen. Ich weiß nichts über ihn. Gar nichts. Aber es muss dort im Viertel doch noch Leute geben, die ihn gekannt haben. Ich selbst wüsste nicht, wie ich solche Nachforschungen anstellen sollte. Sie sind der Fachmann, Herr Bär. Rekonstruieren Sie seine Biografie, soweit das noch möglich ist. Das ist mein Auftrag an Sie. Ich kann es mir erst jetzt leisten, einen Detektiv zu engagieren, weil ich von meinem kürzlich verstorbenen Onkel Franz ein hübsches Sümmchen geerbt habe.«

»Falls Sie mit diesen Nachforschungen Ihren Vater rehabilitieren wollen, Herr Kentenich: Es kann durchaus sein, dass ich über ihn wenig Schmeichelhaftes herausfinde. Sie haben mir ja gerade erzählt, dass er wegen Hehlerei im Klingelpütz einsaß.«

Die Kinder im Eigelsteinviertel hätten damals bestimmt nicht mit Rainer Kentenich spielen dürfen. Wegen des schlechten Rufs, den sein Vater hatte. Deswegen war die Mutter nach der Scheidung mit dem Jungen nach Düren gezogen, wo niemand die Familie kannte und der kleine Rainer ohne das Stigma aufwachsen konnte, der Sohn eines Verbrechers zu sein. Doch irgendwann begann er, Fragen zu stellen. Und er bekam keine befriedigenden Antworten. Er litt ziemlich stark darunter, und dieses Gefühl des Leidens wurde im Laufe der Jahre immer stärker. Der ermordete Vater blieb ein Phantom.

Außer der vierzig Jahre alten Rechnung der Detektei Bär hatte er nur ein paar alte Zeitungsausschnitte, einer davon trug die Schlagzeile Mord im Sport-Casino.

Die Kneipe war seit Tagen geschlossen gewesen, weil die Wirtin zu Verwandten nach Hannover gereist war. Als sie zurückkam, fand sie im Thekenraum die Leiche ihres Stammgastes Rudolf Kentenich. Er wurde in dem Artikel nur als »Rudolf K.« erwähnt und war an einem Messerstich gestorben. Seine Leiche wies Spuren eines Kampfes auf, und in der Kneipe war bei einer wüsten Schlägerei auch einiges zerdeppert worden. Man fand Blutspuren, aber mit den damaligen Methoden der Kriminaltechnik konnte man all diese Spuren nur unzureichend auswerten.

Kurz zuvor hatte es einen Überfall auf einen Juwelier am Eigelstein gegeben. K. stand im Verdacht, als Hehler Abnehmer der Beute gewesen zu sein. Hatte es Streit zwischen K. und den Juwelenräubern gegeben? Hatte einer von ihnen K. abgestochen?

»Der Schmuck von dem Überfall blieb übrigens verschwunden«, erzählte mir sein Sohn. »Mein Onkel Franz war wohl auf die Belohnung scharf gewesen, die für die Wiederbeschaffung ausgesetzt war. Nicht zuletzt deswegen hatte er einen Detektiv beauftragt. Aber die Beute ist bis heute nicht wieder aufgetaucht.«

»Wahrscheinlich sind die Gold- und Silberringe, Armreifen und Ketten eingeschmolzen worden«, gab ich zu bedenken. »Die Schmucksteine hat man separat verkauft. Natürlich nicht in Kölner Hehlerkreisen, sondern im Ausland. Wenn Ihr Vater tatsächlich mit diesen Gangstern zu tun hatte, die den Überfall auf den Juwelier durchgeführt haben, dann war die Beute nach der Ermordung Ihres Vaters einfach zu heiß.«

Er nickte zustimmend. Die Polizei schnüffelte überall herum. Sie führte Razzien durch, sie verhaftete ein paar Verdächtige und ließ sie wieder laufen, als der Verdacht sich nicht bestätigte. Sie quetschte ihre Spitzel aus, was man sich im Milieu erzählte …

Alle stadtbekannten Hehler hätten die Finger davon gelassen und die kleinen Maggler erst recht, die mit angeblich todsicheren Tipps fürs nächste Pferderennen durch die Kaschemmen zwischen Heumarkt und Gereonswall zogen, und die auch schon mal eine goldene Armbanduhr aus der Schweiz günstig abzugeben hatten.

Ein merkwürdiger Auftrag. Rainer Kentenich verlangte nach Informationen, damit das äußerst blasse Bild, dass er in seiner Vorstellung von seinem Vater hatte, nun endlich konkrete Konturen bekam. Eigentlich hätte er lieber zu einem Psychologen gehen sollen, um sein Familiendrama aufzuarbeiten, aber er hatte sich eben für einen Detektiv entschieden. Die einzigen Erinnerungsstücke waren die Zeitungsartikel und Onkel Manfreds Rechnung – und das war ihm zu wenig.

Sicherlich wäre er mit einem ganz anderen Gefühl aufgewachsen, wenn er zwanzig Jahre früher geboren worden und sein Vater kurz darauf als Kriegsheld in Russland gefallen wäre. So aber musste der heranwachsende Rainer ertragen, dass die Verwandtschaft sich am Kaffeetisch viel sagende Blicke zuwarf, wenn das Gespräch auf ihn kam. Und dass man schnell das Thema wechselte und seinen Fragen auswich. Rudolf Kentenich sei ein »schlechter Mensch« gewesen, beschied man ihm. Als Rainer älter wurde und man glaubte, er könne nun die Wahrheit ertragen, da wurde Onkel Franz etwas deutlicher und erklärte seinem Neffen, der Vater sei »im Gefängnis gewesen«. Mehr aber wollte auch Franz Kentenich nicht verraten, dem die Rolle zugefallen war, da, wo der Vater fehlte, den Neffen ein wenig unter seine Fittiche zu nehmen.

Die Mutter indes war in ständiger Sorge, ihr Junge könnte auch auf die schiefe Bahn geraten, und dies versuchte sie durch eine besonders strenge Erziehung zu verhindern.

»Werd’ bloß nicht so wie dein Vater«, hieß es immer wieder. Manchmal hatte Rainer den Eindruck, seine Mutter bestrafe ihn mit dieser erzieherischen Strenge für die Verfehlungen seines Vaters; er müsse die Suppe auslöffeln, und dabei wusste er noch nicht einmal genau, was ihm der Vater eigentlich in diese Suppe eingebrockt hatte.

Die Mutter traktierte ihn mit Verboten, deren Sinn er nicht immer einsehen konnte. Rainer durfte sich manche Filme im Kino oder im Fernsehen nicht anschauen, weil sie glaubte, dies hätte auf den Sohn einen verderblichen Einfluss. Sie kontrollierte genau, was für Comic-Hefte er sammelte und mit den anderen Jungs tauschte, und dabei fiel alles außer Micky Maus und Fix & Foxi unter ihre persönliche Zensur.

Andere Mütter verbannten zwar auch Comic-Strips mit allzu viel Sex and Crime aus den Zimmern ihrer Kinder, aber bei Rainer Kentenich hatte eben alles immer mit seinem nebulösen Vater zu tun. Als er sich schließlich in der Pubertät für Mädchen zu interessieren begann und schon mal eine Freundin mit nach Hause brachte, die er in der Tanzstunde oder auf einer Lehrlingsfete kennen gelernt hatte, da musste er sich von seiner Mutter eine hochnotpeinliche Befragung über den familiären Hintergrund des Mädchens gefallen lassen: »Was ist denn ihr Vater von Beruf?« Meistens gelangte die Mutter dann zu dem vernichtenden Urteil: »Die ist nichts für dich!«

Als er an einem Samstagabend mal unbedingt in eine Dürener Disco wollte, die allerdings im Ruf stand, dort werde mit Dope gedealt, da brach seine Mutter in Tränen aus und schrie voller Hysterie: »Dein Vater hat sich auch immer nur in solchen Lokalen herumgetrieben!«

Es gab schließlich nur eine Möglichkeit, sich von dieser übergroßen Gluckenhaftigkeit seiner Mutter zu befreien: Er zog nach Köln. Das Verhältnis zur Mutter blieb bis zu deren Tod verkrampft und gespannt. Wenn er zu Weihnachten oder zu ihrem Geburtstag mal nach Düren fuhr, war er jedes Mal froh, wieder im Zug zurück nach Köln zu sitzen. Die Mutter beklagte sich über Rainers Einsilbigkeit, doch der mochte nicht erzählen, wie es ihm ging und was er in seiner Freizeit machte, mit wem er verkehrte und wofür er sich interessierte, denn auf jede Einlassung hätte sie ja nur wieder mit barschen Zurechtweisungen oder wüstem Geschimpfe reagiert.

Auf Fragen nach seinem Vater bekam er auch jetzt noch keine Antwort, und irgendwann gab er es auf, irgendwelche Fragen zu stellen. So schwiegen sich Mutter und Sohn bei ihren familiären Zusammenkünften einfach nur noch an.

Die Atmosphäre war auch nicht viel lockerer, wenn Onkel Franz mal zu Besuch war. Der beklagte sich schon mal, einen kriminellen Bruder gehabt zu haben, dies hätte ihm nur berufliche und sonstige Nachteile eingebracht. Erst neulich habe ihn auf dem Eigelstein ein älterer Herr angesprochen: »Sagen Se mal, Sie sin doch dä Kentenichs Franz? Wor dat nit Üre Broder jewäse, dä se do avjestoche han?« Nach all den Jahren sprach man ihn immer noch auf den Mord im Sport-Casino an. Und das war Franz Kentenich ungeheuer peinlich.

Ich saß an meinem Schreibtisch und hörte einfach nur zu, wie Rainer Kentenich mir seine Lebensgeschichte erzählte. Einem wildfremden Menschen, mit dem er nur einmal kurz telefoniert und den er bis vor zwanzig Minuten noch nie gesehen hatte.

Aber wem sonst hätte er seine Geschichte erzählen können? Offenbar gab es niemanden, dem er sich anvertraut hätte. Ich fragte ihn, ob er verheiratet sei und Kinder hätte; und wenn ja, was würde er seinen Kindern wohl über den Opa erzählen?

Rainer Kentenich schüttelte den Kopf. Er war Junggeselle geblieben. Ein kontaktscheuer, in sich gekehrter Mensch, ganz das Gegenteil eines lebenslustigen, fröhlichen, kommunikationsfreudigen Rheinländers. An den Karnevalstagen ging er nicht vor die Tür. Der Tankwart Rainer Kentenich war auch sonst kein Freund von Geselligkeit.

Der Umzug von Düren nach Köln hatte ihm zwar vierzig Kilometer Distanz zu seiner herrischen Mutter, aber letztlich keine wirkliche Befreiung eingebracht. Natürlich hatte er auch das Viertel aufgesucht, in dem sein Vater vor vierzig Jahren als angeblicher Hehler lebte und in einer üblen Kaschemme zu Tode gekommen war.

Doch die Gegend zwischen Hauptbahnhof und Ebertplatz hat sich inzwischen so stark verändert, dass es einfach sinnlos war, sich genau dort, wo früher das Sport-Casino war, an die Kreuzung Turiner Straße/Machabäerstraße zu stellen und auf das große Wandbild an der Fassade der Kreuzkirche zu starren, das ein Rembrandt-Motiv mit einem gekreuzigten Jesus zeigt, und auf die Rückfront vom Savoy-Hotel, wo sie im Erdgeschoss für die Gäste der Bar eine Herrentoilette mit einem riesigen Aquarium haben. Ich war neulich mal mit Vetter Georg in dieser Hotel-Bar gewesen und musste aufs Klo. Man hat das Gefühl, die Fische schauen einem beim Pinkeln zu.

Ich saß also da und hörte mir Rainer Kentenichs Geschichte an. Als er damit fertig war, kam ich an die Reihe. Er hatte ein glückliches Händchen, sich ausgerechnet an mich zu wenden. Denn ich habe ja die gleichen Milieukenntnisse wie seinerzeit Onkel Manfred, der aus genau diesem Grund von Franz Kentenich mit Nachforschungen beauftragt worden war.

Ich merkte, wie wichtig es für meinen Klienten war, ihm zu erzählen, wie es damals rund um das Sport-Casino ausgesehen hatte. Er hing an meinen Lippen, und er schien jedes meiner Worte aufzusaugen wie ein Verdurstender einen Schluck Wasser. Doch mein Vetter Georg, der Kunstkritiker, sagt immer, über Dinge, die man sich anschauen kann, soll man nicht quatschen, denn das visuelle Erlebnis bei der Bildbetrachtung sei viel eindringlicher und das Gerede darüber viel distanzierter und abstrakter. Und so ähnlich war es auch jetzt: Ich konnte meinem Klienten viel plastischer vermitteln, in welchem Milieu sein Vater vor vierzig Jahren gelebt hatte, indem ich ihn einfach zu meinen Streifzügen mitnahm.

»Haben Sie jetzt noch ein bisschen Zeit, Herr Kentenich? Eine Stunde vielleicht? Der Regen hat aufgehört. Ich würde dann jetzt sofort mit meinen Recherchen anfangen. Sie können mich gerne heute Nachmittag begleiten.«

2. Kapitel

Von Piano Justen sieht man bemalte Klaviertasten an der Fassade. In dem Ladenlokal ist heute ein Feng-Shui-Center. Direkt daneben war der düstere Eingang zur Volksschule gewesen. Aber das weiß Rainer Kentenich nicht. Das heutige Erscheinungsbild des Viertels verrät ihm nichts.

Es liefert ihm keine Informationen über seinen Vater, und es liefert ihm genauso wenig Informationen über die Sechzigerjahre, als der Skilift als Höhepunkt der Zivilisation galt, als Kurt-Georg Kiesinger wegen seiner Nazi-Vergangenheit geohrfeigt wurde, als die Rentner stinkende Zigarren mit Namen wie Handelsgold, Weiße Eule oder Tropenschatz rauchten, und als man Whisky-Gläser mit Schottenmustern bedruckte.

Damals konnte man eine gewisse Weltläufigkeit nur aus James-Bond-Filmen gewinnen, die darin gipfelte, dass man den Martini gerührt und nicht geschüttelt trank, pflaumenblaue Samtjacketts zu weißem Rollkragenpullover trug und sich die Haare in die Stirn kämmte. Fan einer Beat-Band zu sein war eine Glaubensfrage: Entweder man war für die Beatles oder man war für die Rolling Stones.

Das AOK-Gebäude sah damals ganz anders aus. Die Kellerschächte vor der Fassade waren mit quer liegenden Gittern aus Stacheldraht abgedeckt. Wir kletterten als Kinder über ein kniehohes Mäuerchen auf diese Drahtgitter, auf denen man sehr vorsichtig balancieren musste, denn wenn man mit dem Fuß abrutschte und das Bein zwischen zwei Stacheldrahtreihen hinuntersackte, konnte man sich schon ziemlich böse verletzen.

Rechts neben dem Haupteingang lag im Erdgeschoss die Wohnung des Hausmeisters. Er war einer der ersten in der Straße, der sich schon 1960 einen Fernseher angeschafft hatte. Von der Straße aus konnten wir uns die Olympischen Spiele in Rom ansehen. Wir erlebten mit, wie Wilma Rudolph die Goldmedaille gewann. An manchen Nachmittagen hatten wir auch die Chance, die Wildwest-Serie Texas Rangers zu verfolgen, aber dabei mussten wir mucksmäuschenstill sein; denn wenn uns der Hausmeister vor seinem Fenster bemerkte, zog er wütend die Vorhänge zu.

Vor dem Krieg war in diesem Gebäude eine Verwaltungsstelle der Nazi-Partei gewesen. Am Ende des AOK-Blocks war ein großes Garagentor, das uns als Fußballtor diente. Wenn wir den Ball zu laut gegen das Tor bollerten, kam der Hausmeister herausgerannt und jagte uns fort. Vielleicht hatte dreißig Jahre zuvor auch Rudolf Kentenich hier Fußball gespielt und war ebenfalls von einem Hausmeister verjagt worden. Um 1933 oder 1934 muss der Vater meines Klienten in dem gleichen Alter gewesen sein wie wir als Volksschüler, die heimlich einen Blick in das übel beleumdete Sport-Casino zu werfen versuchten.

»Meine Familie lebte damals in der Domstraße«, sagte Rainer Kentenich.

»Das ist gleich hier um die Ecke«, erklärte ich ihm.

Wenn uns der Hausmeister von der AOK nicht wegscheuchte, dann der Metzger Hubert Kallrath aus dem Nachbarhaus. Ich erinnere mich noch gut daran, wie das meckernde Lachen des Metzgers aus der Wurstküche durch die angrenzenden Höfe drang.

Kallrath bewahrte die Rosenmontagszugkamelle immer bis St. Martin auf. Wenn wir im November mit unseren Martinslaternen in seiner Metzgerei das Lied anstimmten, »Dä hellige Zinter Mätes, dat wor ne jode Mann, dä jov de Kinder Kääze und stoch’ se selver an«, dann steckte uns der Metzgermeister großzügig ein paar von diesen alten Karnevalskamelle zu, die inzwischen steinhart waren.

Neben der Metzgerei war die Schuhmacherwerkstatt, die einer der Skatkumpel von Onkel Manfred betrieb. In diesem Ladenlokal ist heute eine Beratungsstelle für Mädchen auf Trebe.

Prostitution hat es im Eigelsteinviertel immer schon gegeben. Im Stavenhof soll sich sogar Friedrich Nietzsche die Syphilis geholt haben. In den Sechzigerjahren fiel den Politikern nichts anderes ein, als eine neue Polizeiwache einzurichten, deren abschreckende Wirkung auf die Zuhälter, Diebe und Hehler jedoch relativ gering war. Die Kriminalstatistik änderte sich erst ein wenig, als sich die Bevölkerungsstruktur wandelte.

Wo in der Straße Unter Krahnenbäumen früher der Schrotthändler August Kaufen residierte, hatte in den Neunzigerjahren ein weltberühmter Maler sein Atelier. Ein Bild von ihm kostet heute mindestens 100.000 Euro. Ein bekannter Fernsehmoderator zog in die Lübecker Straße, und er lässt sich gerne von den Lokalreportern fotografieren, wie er bei den türkischen Händlern in der Weidengasse Lammfleisch, frische Minze und exotisches Gemüse kauft.

Aber trotz dieses sozialen Wandels ist in vielen Großstädten, in Frankfurt etwa und auch in Köln, nach wie vor das Bahnhofsviertel ein bevorzugtes Auffangbecken für die Gestrandeten und Gestrauchelten, die sich in schäbigen kleinen Hotels verkriechen, an deren Rückfront die ICE-Züge aus der Bahnhofshalle gleiten.

Manche warten dort in muffigen Zimmern mit Stockflecken auf der vergilbten Tapete darauf, dass ihnen jemand gefälschte Papiere vorbeibringt, die ihnen endlich eine legale Existenz erlauben. Manche warten hier auf den nächsten Schuss Heroin. Manch einer taucht hier unter, wie sich damals wohl auch die Räuber nach dem Überfall auf den Juwelier und ein paar Tage später ebenso der Mörder von Rudolf Kentenich in einer solchen Absteige versteckt hatten, immer bereit, sofort aus dem Fenster in den Hof hinunterzuspringen und im Labyrinth dieser Höfe mit einer Kartoffelhandlung, Garagen und wackligen Schuppen zu verschwinden, wenn eine Razzia drohte.

In dunklen Ecken an der Bahnunterführung, wo immer Wasser von den Eisenträgern heruntertropft, flanieren Frauen auf und ab, die für das Pascha in der Hornstraße oder für Jobs in den Sauna-Clubs inzwischen zu alt sind. Aber auch Siebzehnjährige mit ungesund bleicher Haut, mit tiefen dunklen Augenhöhlen und völlig apathischem, glanzlosem Blick. Vierzehnjährige, die nicht wissen, wo sie hin sollen. Deswegen haben sie in der alten Schuhmacherei eine Beratungsstelle für Probleme mit Armutsprostitution und Drogen eröffnet.

Ich habe schon erwähnt, dass auf dem Grundstück neben dem Sport-Casino das Vorderhaus völlig zerbombt war. Nur von der Fassade war noch ein Stück bis zum ersten Stock stehen geblieben. An der Innenseite dieser Mauer war ein Wasserhahn. Unsere Clique erlaubte sich den bösen Scherz, ihn aufzudrehen und das Wasser einfach laufen zu lassen.

Im Hinterhaus, wo auch Dieter wohnte, lebte ein Kriegskrüppel namens Leske, der mit seinen zwei Beinprothesen nur mühsam vorankam. Er trug immer einen grauen Kittel und ein grünes Jägerhütchen. Wir hämmerten mit Stöcken so lange auf den metallenen Mülltonnen herum, bis Leske aus seiner Wohnung gehinkt kam und drohend seinen Stock schwang. Wir machten uns aus dem Staub, nur Frieder ließ ihn immer ganz nah an sich herankommen, bis Leske ihn fast greifen konnte, und dann erst haute auch Frieder ab.

Wenn Leske den rauschenden Wasserhahn wieder zugedreht hatte, war sein wütendes Geschimpfe noch bis zum »Plätzchen« auf der anderen Straßenseite zu hören, und dann schaute auch manchmal die Puffmutter vom Sport-Casino oben aus dem Fenster, weil sie wissen wollte, was denn da auf der Straße schon wieder los war.

Dieses eingeebnete Trümmerfeld, das wir »Plätzchen« nannten, erstreckte sich über drei Häuserblocks von der Maximinenstraße am Hauptbahnhof bis zu der hohen Mauer, die neben dem AOK-Gebäude den Schulhof der Volksschule Machabäerstraße abgrenzte. Genau über dieses »Plätzchen« verläuft heute die Nord-Süd-Fahrt.

An der Allerheiligenstraße lagen die Ruinen der alten Gummifabrik Osselmann: Der hohe Schornstein war intakt geblieben; er war so eine Art Wahrzeichen im Eigelsteinviertel, genau gegenüber der Gaffel-Brauerei. Als dieser Schornstein abgetragen wurde, war das der Lokalpresse sogar einen längeren Bericht wert.

Zwischen den Mauerresten lagen noch ein paar alte Gummimatten herum. In der Mitte des zerbombten Fabrikhofes war eine rechteckige Vertiefung im Boden mit zwei dicken, breiten Stahlschienen. Ein Mann in einem ölverschmierten Arbeitsanzug reparierte hier Autos, die er auf diesen rostigen Stahlschienen über das Loch rollte, um dann von unten an den Autos herumzuhämmern oder mit dem Schweißgerät zu hantieren.

Meistens verjagte er uns Kinder, genau wie der Hausmeister von der AOK, der Metzger Kallrath und der invalide Nachbar Leske.

»Dreckelije Pänz, maht bloß, dat ihr fottkütt. He hatt ihr nix verlore.«

Aber wenn der Automechaniker nicht da war, am Samstagnachmittag zum Beispiel, dann hatten Frieder, Dieter, dessen Bruder Deddy, Adi, mein Vetter Georg, ich und die anderen Jungs aus dem Viertel die gesamte Fabrikruine für uns. Das war unser Indianerfort, das wir mit Pfeil und Bogen gegen die »Kraate« aus Unter Krahnenbäumen verteidigten.

»Kraat« heißt im kölschen Dialekt Kröte. Damit bezeichnete man die krakeeligen Leute aus dem Subproletariat, aus den sozialen Problemvierteln. Die ursprünglichen Bewohner von Unter Krahnenbäumen waren »Rhingroller« gewesen, die am Rheinufer die Schiffe entluden und die Fässer über den Kai rollten. Tagelöhner, Gelegenheitsarbeiter … In den Sechzigerjahren erlebten wir Unter Krahnenbäumen, die Querstraße Krahnenhof und die angrenzende Straße Unter Kahlenhausen als eine Gegend, die man besser mied.

Die »Kraate« waren streitsüchtig, und wenn sie uns verprügelten, begründeten sie dies meistens mit den Worten: »Do häs mingem Broder jet jedonn«. Das stimmte natürlich nicht; sie benötigten einen solchen Vorwand einfach nur als rituelle Eröffnung für eine Klopperei, bei der sie meistens in der Überzahl waren. Selbst Frieder und Adi, die in unserer Clique die Kräftigsten waren, holten sich bei den »Kraate« schon mal eine blutige Nase.

Hätten wir damals als Straßenkinder im Grundschulalter meinen jetzigen Klienten Rainer Kentenich gekannt – wir hätten ihn bestimmt auch als »Kraat« angesehen.

Karneval verkleideten wir uns als Cowboys und Indianer. Nur an den Karnevalstagen durften wir unsere Knallplättchenrevolver mit uns führen und damit draußen spielen. Aschermittwoch wurden diese Spielzeugwaffen mit den Kostümen wieder sorgfältig weggepackt. Wir schnitzten uns daraufhin Holzstücke als Revolver zurecht, aber mein Vater ermahnte mich einmal, man ziele nicht mit einer Waffe auf Menschen, auch nicht zum Spaß.

Für die Spielzeugpistolen, die wir uns dann heimlich kauften, mussten wir arbeiten. Adi und ich sammelten auf den Trümmerfeldern rostige Eisenteile und verkauften sie an den Schrotthändler August Kaufen in Unter Krahnenbäumen für drei Pfennig pro Kilo.

An einem Nachmittag verdienten wir 20 oder 25 Pfennig, und wir hatten das Gefühl, der Ertrag hätte höher sein müssen. Wir glaubten, der Schrotthändler würde uns bescheißen, und so versuchten wir ohne schlechtes Gewissen, den Schrotthändler ebenfalls übers Ohr zu hauen, indem wir in dem zerbeulten Koffer, in dem wir den Ertrag unserer Sammelei transportierten, irgendwelchen wertlosen Dreck unter das Eisen mischten, um den Koffer schwerer zu machen.

Der Schrotthändler durchschaute jedoch den Trick und blaffte uns an: »Wat es dat dann för ne Driss? Dat es doch kein Ieser!«

Wir antworteten darauf mit Unschuldsmiene: »Och, wie es dat dann en dä Koffer jekumme?«

August Kaufen hatte uns schon mehrmals gezeigt, wie Eisen, emailliertes Aluminiumblech und Kupfer aussieht und uns erklärt, für »Juss«, Gusseisen, zahle er am meisten. Das wurde wieder eingeschmolzen. Er kaufte auch Stofflumpen und zusammengeschnürte Packen mit Zeitungen an. In der Nachkriegszeit wurde grundsätzlich nichts weggeworfen, was man noch irgendwie gebrauchen konnte.

Einen Nachmittag lang halfen wir dem alten Sievers in der Domstraße, seinen Keller zu entrümpeln und den Prüll zum Schrotthändler zu karren. Das brachte jedem von uns noch einmal 30 Pfennig ein. Der alte Sievers pflegte im Suff immer völlig wirres Zeug zu reden. Das fand seine Frau einmal so beängstigend, dass sie den Arzt rief: »Herr Doktor, mein Mann ist verrückt geworden!«

Der Arzt hörte sich das Gebrabbel an und sagte: »Das ist Latein.«

Frau Sievers erzählte nun ganz stolz überall im Viertel herum, dass ihr Mann neuerdings Lateinisch sprechen könne. Sie verschwieg allerdings, dass er diese Fähigkeit nur im Vollrausch hatte. Der alte Sievers selbst begann, sich für ein Genie zu halten. Ein Genie entrümpelt seinen Keller nicht selbst, und deswegen überließ er diese Arbeit Adi und mir.

Die Knallplättchenpistolen kosteten um die vier Mark, und als wir das Geld endlich beisammen hatten, kauften wir diese Waffen im Kiosk Keulemanns in der Domstraße, gleich neben der Kneipe Em Dömche. Später bekam Keulemanns eine saftige Ordnungsstrafe aufgebrummt, nachdem die Schwester Oberin vom Ursulinenkloster angezeigt hatte, dass Keulemanns an uns dicke Silvesterkracher verkauft hatte. Die durften nicht an Personen unter achtzehn Jahren abgegeben werden, und wir hatten diese Böller ausgerechnet im Flur der Klosterschule explodieren lassen, weil der Krach dort so schön hallte.

Natürlich durften wir unsere neuen, heimlich gekauften Pistolen nicht nach Hause mitnehmen. Wir versteckten sie daher in der alten Gummifabrik. Dort gab es Stellen, die nur durch eine äußerst waghalsige Kletterei zu erreichen waren, und an diese Stellen gelangte niemand außer uns. Selbstverständlich hielten wir das Versteck vor Frieder und den anderen geheim.

Wenn ich so ein Typ wie Rudolf Kentenich wäre und mir damals nach dem Überfall am Eigelstein ein Beutel mit Juwelen in die Finger gefallen wäre, dann hätte ich diesen Schmuck wahrscheinlich genauso in der alten Fabrikruine versteckt, an solch einer ziemlich unzugänglichen Stelle. Ich hätte abgewartet, bis sich die Aufregung gelegt hätte …

»Die haben den Schmuck damals an den falschen Stellen gesucht«, sagte ich zu Kentenich junior. »Die Polizei war einfach nicht in der Lage, sich in die Denkweise der Räuber hineinzuversetzen. Deswegen haben sie die Beute aus diesem Raubüberfall nicht gefunden.«

»Aber Ihr Onkel auch nicht, Herr Bär!«

»Da haben Sie Recht, Herr Kentenich. Aber er hatte als Privatdetektiv ja auch nicht die Möglichkeit, in diesem Viertel jedes Haus vom Keller bis zum Speicher zu durchsuchen.«

»Sie nehmen also an, die Räuber hatten den Schmuck nach dem Überfall irgendwo in der Nähe des Tatorts versteckt? Wie kommen Sie darauf, Herr Bär? Es wäre doch auch möglich, dass sie die Beute sofort einem Hehler überlassen haben, der das Zeug ins Ausland schaffte …«

»Der Hehler soll doch Ihr Vater gewesen sein … Zumindest wurde das damals in der Presse so angedeutet …«

»Sie meinen, mein Vater hatte vor seiner Ermordung im Sport-Casino noch keine Gelegenheit, die Beute loszuwerden?«

»Genau das meine ich, Herr Kentenich, denn Hehlerkontakte bedeuten immer ein Risiko für einen Dieb. Wenn sich der Kreis der Mitwisser vergrößert, sickert meistens auch schnell etwas durch. Irgendein Zuträger, ein Spitzel, der etwas aufschnappt, der Ihren Vater mit irgendwem zusammen gesehen hat, der hätte bestimmt den Mund aufgemacht. Um die Belohnung zu kassieren. In Mordfällen, bei denen die Polizei nicht weiterkommt, setzt sie oft eine Belohnung für sachdienliche Hinweise aus, die zur Überführung des Täters führen. Und ich nehme an, dass der Juwelier sein Inventar versichert hatte. Die Versicherung hätte für die Wiederbeschaffung des geraubten Schmucks bestimmt auch etwas springen lassen. Glauben Sie mir, Herr Kentenich, der Schmuck wäre bald wieder aufgetaucht.«

Wir waren vor der alten Schuhmacherwerkstatt stehen geblieben, in der sich jetzt diese Drogenberatungsstelle befindet. Rainer Kentenich zündete sich schon wieder eine Zigarette an. Ich hatte den Eindruck, dass er ein ziemlich starker Raucher war.