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Jürgen Ehlers

Der Wolf von Hamburg

Bisher vom Autor bei KBV erschienen:

»Mann über Bord«

»Mitgegangen«

»Neben dem Gleis«

»Die Nacht von Barmbeck«

»In Deinem schönen Leibe«

»Der Spion von Dunvegan Castle«

»Blutrot blüht die Heide«

»Nur ein gewöhnlicher Mord«

Jürgen Ehlers wurde 1948 in Hamburg geboren und lebt heute mit seiner Familie auf dem Land. Seit 1992 schreibt er Kurzkrimis, die in verschiedenen Verlagen im In- und Ausland veröffentlicht wurden, und ist Herausgeber von Krimianthologien. Er ist Mitglied im »Syndikat« und in der »Crime Writers’ Association«. Sein erster Kriminalroman »Mitgegangen« wurde in der Sparte Debüt für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert.

Jürgen Ehlers

Der Wolf
von Hamburg

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Originalausgabe
© 2015 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: info@kbv-verlag.de
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von:
© artworks-photo und © serge-b · www.fotolia.de
Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
Print-ISBN 978-3-95441-227-3
E-Book-ISBN 978-3-95441-242-6

Inhalt

Wut

Wolf

Das Leck

Jagd

Gesche

Das Buch

Sylvia

Löwe

Zöpfe

Antje

Pilze

Friedhof

Wut

Montag, 17. November 2014

Kein Zweifel, das war Sylvia. Sie sah älter aus als ihre 14 Jahre. Er hatte sie sogleich wiedererkannt. Vor acht Jahren hatte er sie zuletzt gesehen. Er hätte sie normalerweise nie gefunden, aber Facebook hatte ihm ein aktuelles Foto beschert. Genau wie ihre Mutter hatte Sylvia ihn weder besucht noch ihm geschrieben. Anfangs hatte er gehofft, dass sie sich melden würden, aber als nicht einmal zu Weihnachten eine Karte gekommen war, da wusste er, dass sie ihn aus ihrem Leben gestrichen hatten. Erst war er traurig gewesen, dann mehr und mehr zornig geworden. Sie hatten ihn verraten, genau wie all die anderen. Aber irgendwann würde die Stunde der Abrechnung kommen. Acht lange Jahre hatte er auf diesen Moment gewartet. Nun war es so weit.

Gesa hatte die Wohnung gewechselt, das wusste er schon. Aber Sylvia ging nach wie vor zur selben Schule, zur Stadtteilschule Wilhelmsburg. Und er – er hatte alle Zeit der Welt. Er hatte beim Schultor auf sie gewartet – nicht direkt gegenüber, sondern etwas abseits, damit er nicht auffiel. Und tatsächlich war Sylvia am Nachmittag aus dem Tor gekommen, hatte sich von ihren Freundinnen verabschiedet und war dann nach links gegangen, ohne sich noch einmal umzusehen. Er war ihr gefolgt. Sylvia würde ihn zu ihrer Mutter bringen.

Jedenfalls hatte er das geglaubt. Aber Sylvia ging stattdessen zu einem Spielplatz. Trotz der Kälte waren zwei kleine Jungen damit beschäftigt, auf dem Klettergerüst herumzusteigen. Das Gerüst sah aus wie ein Spinnennetz. Sylvia beachtete die anderen nicht. Sie ging zur Mitte der Sandkiste, entnahm ihrer Tasche ein Schulheft und begann damit, Seiten herauszureißen. Sie zerriss das ganze Heft, zerknüllte das Papier, nahm ein Feuerzeug aus der Tasche und zündete den Haufen an.

»He, was machst du denn da?« Eine der beiden Mütter, die mit den Jungen gekommen waren, war aufmerksam geworden.

Sylvia blickte kurz auf, antwortete aber nicht.

»Das geht doch nicht! Du kannst doch nicht einfach deine Schulhefte verbrennen!«

Doch, Sylvia konnte das. Sie war genauso dickköpfig wie er. Er grinste. Das Papier wollte nicht brennen in der feuchtkalten Witterung. Sylvia musste es ein zweites Mal anzünden, und diesmal gelang es. Kleine Flammen züngelten in die Höhe, und Rußpartikel stiegen auf und wehten davon. Die Jungen hatten ihr Spiel unterbrochen und sahen zu, was das Mädchen machte. Die Mutter, die protestiert hatte, war inzwischen aufgestanden, aber sie schritt nicht ein. Es wäre ohnehin zu spät gewesen.

Die Reste des Schulheftes waren verbrannt. Sylvia trat mit den Stiefeln darauf, bis auch die Ascheflocken zu Staub zerkleinert waren. Sie gab dem Karussell einen Tritt, sodass es schwerfällig zu kreisen begann. Dann nahm sie ihre Tasche und machte sich auf den Heimweg. Sie ging nach Norden, in Richtung Neuhöfer Straße, vorbei an dem alten Flakbunker. Der Betonklotz hatte einen neuen Anstrich bekommen und hieß jetzt Energiebunker, und in einem der Flaktürme war angeblich ein Café untergebracht. Wilhelmsburg hatte sich verändert, seit er zuletzt hier gewesen war.

Sylvia ging auf der Neuhöfer Straße ein kleines Stück nach links und bog dann in die Veringstraße ein. Er folgte ihr in sicherem Abstand und sah zu, wie sie in ein Haus auf der linken Straßenseite verschwand. Wohnte sie hier oder war sie zu Besuch zu einer Freundin gegangen? Nein, sie wohnte hier. Ihr Name stand neben einem der Klingelknöpfe. Früher hatten sie in der Georg-Wilhelm-Straße gewohnt, keinen Kilometer entfernt. Die Menschen neigten dazu, sich wenig zu verändern. Das kam ihm entgegen. Sylvia und ihre Mutter konnten ihm nicht mehr entkommen.

Wolf

Dienstag, 18. November 2014

Du kommst spät«, sagte Vincent.

Sie gaben sich die Hand.

»Schon alles gelaufen?«, fragte Bernd.

»Fast alles.«

»Schneller ging’s nicht.« Hauptkommissar Bernd Kastrup trug einen Schutzanzug, genau wie die anderen. Er sah sich um. Am Tatort sah es aus, als hätte sich ein halbes Dutzend weißer Gespenster um die Leiche versammelt. Eine nächtliche Geisterparty bei flackerndem Blaulicht in der dunklen Speicherstadt. Was sollte er hier? Hatte er nicht frei? »Wieso haben die uns überhaupt gerufen? Ich denke, wir sind gar nicht dran! Ich denke, Wilfried ist dran mit der Mordbereitschaft.«

»Die haben uns gerufen, weil der Mord vor deiner Haustür passiert ist, Bernd. Die haben natürlich geglaubt, dass du bloß die Treppe herunterlaufen müsstest, und schon wärst du da!«

»Ich war aber nicht zu Hause.«

»Macht nichts. Wir kommen schon klar.« Alexander und Vincent hatten getan, was sie tun konnten. Die Spurensicherung war schon wieder abgerückt. Jetzt warteten sie darauf, dass der Mediziner mit seiner Untersuchung fertig wurde. »Jedenfalls sieht es nach einem interessanten Fall aus.«

Interessant war ein anderes Wort für schwierig. »Wo ist Jennifer?«, fragte Bernd.

»Die versucht, irgendwelche Zeugen aufzutreiben.« Vincent Weber hielt einen Styroporbecher mit heißem Kaffee in der Hand. »Willst du auch einen?«

»Jetzt nicht.«

Alexander trat von einem Bein auf das andere; es war ganz offensichtlich, dass er fror. Er hatte wie meistens bei solchen Gelegenheiten sein iPad in der Hand und tippte irgendwelche Dinge ein. Schließlich fragte er den Mediziner nach der Herzfrequenz der Wanderratte.

»Was?« Irritiert hob Dr. Beelitz den Kopf.

»Du bist doch Arzt, du musst so was wissen!«

»Wieso muss ich das wissen?«

»Weil du … Ach, Scheiße, jetzt ist es sowieso zu spät! Merk dir das fürs nächste Mal: 300-400 Schläge pro Minute.«

»Was?« Beelitz verstand noch immer nicht.

»Quizduell«, sagte Vincent. »Das ist so ein Computerspiel.«

»Es ist eine App«, erläuterte Alexander. »Zwanzig Millionen Leute spielen das in Deutschland!«

»Mein Gott!«, sagte Beelitz. Er war kein Spieler. Er hielt nichts von Spielern.

»Das ist sie?« Bernd deutete auf den Leichnam einer Frau, der auf dem vom Regen der Nacht noch nassen Kopfsteinpflaster lag.

Vincent nickte. Die Tote hatte schwere Bissverletzungen im Kopf- und Halsbereich. Die Oberlippe war aufgerissen, die linke Wange war regelrecht zerfetzt worden, sodass das Jochbein freilag.

»Scheiße«, sagte Bernd.

Dr. Beelitz blickte auf. »Hallo Bernd. Hab gar nicht gemerkt, dass du gekommen bist. In diesen Schutzanzügen seht ihr alle gleich aus.«

Sie gaben sich die Hand. »Wie ist denn das passiert?«

»Sie ist totgebissen worden«, sagte der Mediziner. »Jedenfalls sieht es so aus. Zahlreiche Bisse in Gesicht und Hals. Hier, hier hat er ihre Kehle erwischt, das hat ihr den Rest gegeben. Einzelheiten später.«

Bernd schluckte. Er hatte so etwas schon einmal gesehen, vor vielen, vielen Jahren, als ein kleines Kind auf einem Spielplatz von einem Kampfhund angefallen worden war. Obwohl sofort Hilfe zur Stelle gewesen war, hatten sie das Kind nicht retten können. Einige Tatorte waren schlimmer als andere. »Und sie hat so dagelegen?«

»Nein, natürlich nicht. Sie hat auf dem Bauch gelegen. Wir haben sie umgedreht.«

Bernd betrachtete die Verletzungen. Eine Bissspur lief schräg über das Gesicht. »Ein Hund?«

»Möglich. Irgendein ziemlich großer Hund, würde ich vermuten. Er hat die Frau offenbar überraschend angegriffen.«

»Überraschend?«

Der Mediziner wies auf die Hände der Toten. »Keine Abwehrverletzungen. Bis auf diese Schramme hier an der linken Hand, aber die ist lächerlich. Die stammt nicht von einem Kampf auf Leben und Tod.«

»Und du bist dir sicher, dass das ein Hund gewesen ist?«

Der Mediziner sah sich suchend um. »Wo ist Vincent? – Vincent, erzähl du es ihm.«

Vincent sagte: »Wir haben einen Anruf gekriegt. Jemand hat behauptet, er würde hier in der Speicherstadt von einem Wolf verfolgt.«

»Von einem Wolf? Blödsinn!«

»Ja, das haben die Kollegen auch gedacht. Aber sie haben vorsichtshalber einen Streifenwagen losgeschickt. Und die Polizisten haben dann die tote Frau entdeckt.«

»Wer hat angerufen? Diese Frau?«

»Nein, ein Mann. Er hat seinen Namen nicht genannt.«

»Seltsam.«

»So seltsam nun auch wieder nicht. Die Kollegen von der Rathauswache sagen, der Mann sei ziemlich in Panik gewesen.«

»Es gibt keine Wölfe in Hamburg«, sagte Bernd.

»Nein, natürlich nicht. Jedenfalls haben wir das bisher alle gedacht. Aber diesen Zettel haben wir in der Tasche der Toten gefunden.« Vincent hielt einen durchsichtigen Plastikbeutel hoch.

Der Zettel war eine Eintrittskarte zum Tierpark Hagenbeck. Das aufgedruckte Foto zeigte zwei Giraffen, darunter stand in Druckbuchstaben nur ein einziges, mit Filzstift geschriebenes Wort: Wolf.

»Was soll das heißen?«

»Das heißt Wolf«, sagte Vincent.

»Das sehe ich. Aber wo kommt diese Eintrittskarte her? Warum hat die Frau sie in der Tasche? Warum hat sie Wolf geschrieben?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, warum sie das geschrieben hat. Ich weiß nicht einmal, ob sie das geschrieben hat. Und wer diese Frau ist, das weiß ich auch nicht. Sie hat keine Papiere bei sich«, sagte Vincent.

Dr. Beelitz erhob sich. »Sie ist schätzungsweise 30 Jahre alt. Dass sie so unvorteilhaft aussieht, das liegt an den Verletzungen und daran, dass sie hier im Dreck liegt. Soweit ich das beurteilen kann, ist das eine, die auf ein gepflegtes Äußeres Wert gelegt hat. Also vermutlich keine Obdachlose.«

»Und was hat sie hier nachts in der Speicherstadt gemacht?«, fragte Bernd.

»Woher soll ich das wissen? Vielleicht wohnt sie hier?«

»Hier wohnt niemand«, warf Dr. Beelitz ein.

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, entgegnete Alexander. »Fragen Sie mal unseren Chefermittler!«

Bernd warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Ich wohne hier nicht. Ich habe lediglich ein kleines Büro in der Speicherstadt, das ist alles. – Aber die tote Frau kann natürlich irgendwo da drüben aus diesen neuen Häusern in der Hafencity kommen. Oder sie hat jemanden besucht, der da wohnt.«

Vincent sagte: »Es wird allmählich hell. Wir sollten sehen, dass wir hier wegkommen. – Und kein Wort an die Presse!«

»Wieso nicht? Wir werden das ganz normal melden«, sagte Bernd.

Vincent hob die Augenbrauen. »Den Todesfall ja, aber mehr nicht. Kein Wort über die Art der Verletzungen. Kein Wort vom Wolf, das gibt nur Ärger!«

»Ärger?«

»Denk an Ferrières-en-Brie.«

»Was?« Bernd wusste nicht, wovon die Rede war.

»War das lange Wochenende so schön?«, spottete Vincent. »So unglaublich schön, dass du keine Zeitung gelesen, kein Fernsehen geguckt und keine Nachrichten gehört hast?«

Bernd hatte die letzten Tage bei seiner Freundin Antje in Rissen verbracht, aber er war nicht gewillt, darüber irgendwelche Auskünfte zu geben. Er sagte: »Was war los?«

»Der Tiger war los«, sagte der Arzt.

»Unsinn!«

»Doch, ganz im Ernst. Jedenfalls hat die Presse das behauptet. Er ist gesehen worden, in der Nähe von Paris. Am Donnerstag. Erst hatten sie nur seine Fußspuren im Dreck, und dann haben irgendwelche eifrigen Bürger das Tier fotografiert. Aus großer Entfernung, versteht sich, und wie immer bei solchen Gelegenheiten haben sie natürlich vergessen, die Schärfe richtig einzustellen.«

Und Vincent ergänzte: »Daraufhin ist die Polizei mit einem Großaufgebot auf Tigerjagd gegangen, und Posten mit Maschinenpistolen haben dafür gesorgt, dass die Bestie nicht etwa eine Schule überfällt oder gar in einen Kindergarten eindringt.«

»Im Ernst?«

»Im Ernst. Aber natürlich gab es gar keinen Tiger. Jedenfalls wurde nirgendwo ein Tiger vermisst. Die Fußspuren waren die Spuren einer ganz normalen Katze, und auch das unscharfe Foto zeigte mit ziemlicher Sicherheit nichts anderes als eine Hauskatze.«

Bernd schwieg. Dies hier ist anders, dachte er. Wolf oder nicht – hier gab es nicht nur Gerüchte, hier gab es ein Todesopfer.

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Bernd Kastrup nippte vorsichtig an seiner Tasse. Der Kaffee, den sein Chef brauen ließ, war wie immer zu stark und zu heiß.

Kriminaloberrat Thomas Brüggmann war der Leiter des Fachkommissariats LKA 41 Tötungsdelikte. Er sagte: »Ganz gleich, wie du dich entscheidest, ich stehe in jedem Fall voll hinter dir.«

Bernd nickte. Sie kannten sich seit undenklichen Zeiten. Sie waren beide gleich alt, waren sogar zusammen bei der Bundeswehr gewesen. »Wozu neigst du?«, fragte er.

»Ich denke, wir erwähnen den Wolf nicht.«

»Es ist eine verrückte Geschichte«, sagte Bernd. »Dieser Wolf – kein Mensch würde auf den Gedanken kommen, dass jemand mitten in Hamburg von einem Wolf angefallen worden ist. Wenn der Anruf nicht wäre …«

»Und die Tote.«

»Ja.«

»Und was hältst du von der Geschichte?«

»Ich halte das Ganze für einen Mord.«

»Ein Mord mit Wolf?«

»Ein Mord ohne Wolf. Der Wolf ist nur dazu da, um uns in die Irre zu führen.«

»Aber warum? Wozu soll das gut sein?«

Bernd zuckte mit den Achseln. »Vielleicht glaubt der Täter – oder die Täterin –, dass wir uns auf eine groß angelegte Wolfsjagd einlassen und dabei die eigentliche Straftat aus den Augen verlieren. Vielleicht ist der Mörder aber auch so eine Art Trittbrettfahrer, der diese Geschichte von dem Tiger in Frankreich gelesen hat und annimmt, so etwas könnte man hier auch aufziehen.«

»Glaubst du wirklich?«

»Ich habe keine Ahnung, Thomas. Im Augenblick können wir im Grunde nur abwarten, was der Rechtsmediziner sagt. Und spätestens morgen weiß ich auch, was es mit den Wölfen auf sich hat – in Hamburg, in Deutschland oder sonst irgendwo auf der Welt.«

»Wisst ihr schon, wer die Tote ist?«

»Leider nein. Es gibt bis jetzt keine Vermisstenmeldung.«

»Und der anonyme Anrufer?«

»Ebenfalls Fehlanzeige.«

»Ist das Gespräch wenigstens aufgezeichnet worden?«

»Nein. Der Anruf ist nicht über die Notrufnummer erfolgt, sondern der Mann hat direkt bei der Rathauswache angerufen. Kommissariat 14. Das heißt, dass wir den Anruf auch nicht zurückverfolgen können.«

»Aber der Anrufer war ein Mann?«

»Ja, daran besteht kein Zweifel.«

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»Wie stellst du dir das vor, jetzt mitten im Semester?« Seine Freundin sah Bernd Kastrup missbilligend an. Sie sah süß aus, wenn sie sich ärgerte. Aber es war gefährlich, sie zu ärgern. Antje Breckwoldt schätzte es nicht, wenn er sie im Institut aufsuchte, und schon gar nicht, wenn er mit komplizierten Wünschen kam.

»Es geht um Mord. Und es geht darum, dass jemand uns einreden will, dass in Hamburg ein Wolf sein Unwesen treibt.«

»Nur einer? Ich denke, in unserer hoch geschätzten Freien und Hansestadt laufen Tausende von Wölfen herum, die nichts Besseres zu tun haben, als sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Homo homini lupus. Der Mensch ist des Menschen Wolf.«

»Hör auf!« Bernd erklärte Antje, was sie bisher in Erfahrung gebracht hatten und was die offenen Fragen waren. »Was ich von dir wissen möchte, das ist Folgendes. Erstens: Ist es möglich, dass in Hamburg ein Wolf frei herumläuft und Leute anfällt? Und zweitens: Wenn das so sein sollte – wo kommt dieser Wolf dann her?«

»Fangen wir mit der letzten Frage an: Wenn hier in Hamburg ein Wolf frei herumläuft, dann kann der nur bei Hagenbeck ausgebrochen sein.«

Bernd schüttelte den Kopf. »Bei Hagenbeck haben wir schon angerufen. Hagenbeck hat keinen Wolf.«

»Ja, jetzt nicht mehr, weil er ihnen ausgebüxt ist!« Antje lachte.

Bernd Kastrup verzog keine Miene. »Hagenbeck hat seit Jahrzehnten keine Wölfe mehr.«

»Das ist bedauerlich. – Wo könnte man sonst einen Wolf herkriegen? Aus einem Zirkus vielleicht? Gastiert zurzeit irgendein Zirkus in Hamburg?«

»Nein, wir haben keinen Zirkus in Hamburg. Und schon gar keinen, der einen oder mehrere Wölfe hat.«

»Schade. Es gibt aber auch Leute, die sich Tiere zum Betteln ausleihen. Hast du daran schon gedacht? In Thailand werden zum Beispiel Elefanten dazu eingesetzt. Das habe ich selbst erlebt, als ich mit Klaus in Bangkok gewesen bin. Hier in Deutschland sind es wahrscheinlich meistens etwas kleinere Tiere. Kamele habe ich schon gesehen, Ponys auch – und natürlich Hunde. Von da wäre es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Wolf.«

Bernd blieb fest. »Hunde gibt es im Tierheim, Wölfe nicht.«

»Schade. Jetzt aber mal im Ernst: Ich weiß nicht, wie ich dir da weiterhelfen kann.«

»Ich schon«, sagte Bernd. »Du schaltest ganz einfach deinen Computer ein, und dann suchst du alles zu den Fragen heraus, die ich dir eben genannt habe.«

»Bernd, tut mir leid, aber die Zeit dafür habe ich einfach nicht.«

»Schade.«

Antje Breckwoldt zuckte mit den Schultern, während Bernd Kastrup sie mit seinen großen Hundeaugen ansah. Schließlich sagte sie: »Ich habe keine Ahnung von Wölfen. Dies ist ein Job, den wahrscheinlich dein Assistent oder – was habt ihr sonst noch für Leute? – deine Sekretärin genauso gut oder besser machen könnte …«

»Ich brauche jemanden, der nicht nur einen Computer bedienen kann, sondern jemanden, der obendrein noch Verstand besitzt.«

Antje seufzte. »Also gut, ich mach das.«

»Danke!«

»Aber es wird ein Weilchen dauern.«

»So schnell wie möglich, Antje!«

»So schnell wie möglich. Ich melde mich.«

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Als Bernd zurückkam, hatte sich nicht viel getan. Sie wussten noch immer nicht, wer die Tote war. Das Tier, das die Unbekannte getötet hatte, war nicht wieder aufgetaucht. Der anonyme Anrufer hatte sich nicht gemeldet. Die Rechtsmedizin hatte sich auch nicht gemeldet.

Was bedeutete der Zettel in der Tasche der Toten? Es war eine Eintrittskarte für Erwachsene für den Tierpark Hagenbeck, laut Aufdruck kostete sie 20 Euro, und sie war am 10. August 2014 um 11.20 Uhr ausgegeben worden. Der 10. August war ein Sonntag gewesen, ein warmer Sommertag. Die maximale Temperatur hatte 25,9° C betragen, und die Sonne hatte gut vier Stunden lang geschienen. Ein idealer Tag, um in den Zoo zu gehen. Aber wer war im Zoo gewesen? Der Täter oder das Opfer?

Und warum hatte jemand Wolf auf die Eintrittskarte geschrieben? Ging es wirklich um das Tier oder war Wolf vielleicht der Name der Toten? Im Hamburger Telefonbuch gab es allein 619 Einträge mit dem Namen Wolf. Hinzu kamen noch 393 Wölfe mit Doppel-Eff und obendrein all die Wölfe, die nicht im Telefonbuch standen. Es gab bei solchen Ermittlungen immer viele Spuren, die ins Nichts führten.

Alexander Nachtweyh bemühte sich indessen, aus den Tatortfotos der Toten aus der Speicherstadt ein Bild zusammenzubasteln, das sie an die Presse weitergeben konnten. Eigentlich hätten sie diese Aufgabe an das LKA 38 weitergeben können, aber es ging schneller, wenn Alexander das machte. Alexander war fit in der Bildbearbeitung. Als Bernd Kastrup ihm über die Schulter blickte, sah er, wie auf wundersame Weise die schweren Verletzungen der Toten nach und nach verschwanden.

»Wir sind übrigens im Rundfunk«, sagte Vincent plötzlich.

»Was?«

»Mach mal lauter«, rief Alexander.

»… Mit einer neuen Förder- und Entschädigungspraxis will das Land den niedersächsischen Weidetierhaltern die Angst vor Wölfen nehmen. Laut der sogenannten ›Richtlinie Wolf‹, die das Umweltministerium am Mittwoch vorgestellt hat, stehen zunächst insgesamt 100.000 Euro pro Jahr zur Verfügung …«

Vincent nahm den dicksten Filzstift, den er finden konnte, und schrieb in großen, roten Druckbuchstaben auf die Tafel: Richtlinie Wolf.

Alexander lachte.

Der Nachrichtensprecher erklärte, dass zusätzliche Mittel bereitgestellt würden, falls der Betrag nicht ausreichen sollte. Wie allgemein bekannt, seien auch bisher schon Landwirte entschädigt worden, die Nutztiere durch den Angriff eines Wolfes verloren hatten. Neu sei jedoch, dass der Staat auch Maßnahmen zum Schutz der Herden mitfinanzieren wolle.

»Wer hat sich denn das ausgedacht?«, brummte Bernd. Zum Glück waren sie nicht wirklich im Rundfunk; der NDR hatte nur das Thema »Wölfe« aufgegriffen.

»Das war das Umweltministerium.«

»Die Hendricks?«

»Nein, Niedersachsen.«

Der Nachrichtensprecher sagte: »Hilfe für Hobbytierhalter schließt die Richtlinie gänzlich aus. Grundsätzlich würden die Präventionsmaßnahmen zum Schutz von Schafen, Ziegen und Gatterwild mit bis zu 80 Prozent gefördert, so das Ministerium. Kann aber ein Wolfsangriff auf Rinder und Pferde amtlich bestätigt werden, können auch deren Besitzer eine Förderung beantragen …«

»Und was ist mit Menschen?«, wollte Alexander wissen. »Wo bleiben die Elektrozäune um Kindergärten und Altersheime?«

»Der Mensch gehört nicht in das Beuteschema des Wolfes.«

»Erzähl das mal der jungen Frau, die jetzt in der Rechtsmedizin in irgendeinem Schubfach liegt.«

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Endlich zu Hause! Bernd Kastrup hatte sich ein Glas Wein eingeschenkt und schickte sich an, den Kater zu füttern, der ihm um die Beine strich. »Und was sagst du zu unserem neuen Fall, Watson?«

Der Kater gab keine Antwort. Ihm lag nichts an einem Gespräch unter vier Augen, sondern es ging ihm schlicht und ergreifend ums Fressen. Bernd öffnete die Dose Katzenfutter und schüttete den Inhalt auf den Teller. Er sah zu, wie sich Dr. Watson darüber hermachte.

Bernd wusste nicht, wo der Kater hergekommen war. Er war eines Abends einfach da gewesen, hatte an seiner Tür gekratzt, und als Bernd geöffnet hatte, war er hereinspaziert – mit hoch erhobenem Schwanz – und war im Zimmer herumstolziert, als ob er sich Bernds Ausstellung ansehen wollte. Der Kommissar hatte seine Ravioli mit ihm geteilt, und seitdem war der Kater regelmäßig gekommen. Mittlerweile wohnte er hier. Bernd hatte ein Katzenklo besorgt, und als klar war, dass der Kater bleiben wollte, hatte er ein Loch in die Tür gesägt und eine Katzenklappe angebracht.

Dr. Watson beendete seine Mahlzeit. Er warf Bernd einen fragenden Blick zu. Der schüttelte den Kopf. Mehr gab es nicht. Der Kater ging betont langsam hinüber zu dem alten Sessel, den sich der Kommissar vom Sperrmüll besorgt hatte.

»Kommt jetzt der gemütliche Teil des Abends?«, fragte Bernd.

Dr. Watson schien dieser Ansicht zu sein. Jedenfalls sprang er auf den Sessel und machte es sich auf der Sitzfläche bequem. Bernd schüttelte den Kopf. Er nahm den Kater behutsam hoch, ließ sich selbst auf dem Sessel nieder und setzte Dr. Watson auf seinen Schoß. Der Kater ließ es sich gefallen.

»Nun sag schon, was hältst du von der Geschichte?«

Dr. Watson antwortete nicht.

»Ja, du hast recht, in diesem Fall geht es überhaupt nicht um Katzen. Wahrscheinlich eher um Hunde oder gar um Wölfe, und die interessieren dich nicht.«

Watson schnurrte leise.

»Trotzdem würde ich gern wissen, was du davon hältst. Erst dieser seltsame Anruf bei der Rathauswache, dann die unbekannte Frau, die ganz offensichtlich von einem großen Tier totgebissen worden ist, und der Zettel, den sie in der Tasche hatte …«

Dr. Watson schien das nicht zu beeindrucken. Er sah Bernd an. Er wollte gekrault werden.

»Das ist alles schon ungewöhnlich genug. So etwas hatten wir noch nicht in Hamburg. Merk dir, Watson, Mord ist meistens ziemlich gewöhnlich.«

Der Kater schwieg.

»Ja, ich weiß, wenn du jemanden tötest, eine Maus zum Beispiel, dann machst du das nicht so primitiv wie die meisten Menschen. Du spielst deine Opfer zu Tode. Wenn du ein Mensch wärst, würde man dich dafür lebenslänglich einsperren, aber als Kater hast du Narrenfreiheit.«

Dr. Watson würdigte Bernd keines Blickes.

»Genauso ist es hier auch gewesen. Derjenige, der diese Frau getötet hat, der hat mit seinem Opfer gespielt. Er hat die Frau in seine Gewalt gebracht, und er hat ein Tier auf sie gehetzt, und wahrscheinlich hat er voller Freude zugesehen, wie das Tier sie getötet hat. Aber als Mensch hat der Täter keine Narrenfreiheit. Wir werden ihn jagen, bis wir ihn haben.«

Dr. Watson schnurrte zustimmend, aber wahrscheinlich bezog sich die Zustimmung vor allem darauf, dass Bernd inzwischen begonnen hatte, ihn zu kraulen.

»Es ist schon ein ungewöhnlicher Fall, Watson«, fuhr Bernd fort. »Das Ungewöhnlichste aber ist der Ort, an dem die Leiche gefunden wurde. Hamburg hat knapp 9000 Straßen. Guck nicht so ungläubig; ich hab das vorhin nachgeschlagen. Wenn wir davon ausgehen, dass jede dieser Straßen im Schnitt mindestens einen halben Kilometer lang ist, dann ergibt sich daraus eine Länge von ca. 5.000.000 Metern. Unser Haus ist ungefähr zehn Meter breit. Die Chance, dass eine beliebige Leiche zufälligerweise genau vor unserem Haus abgelegt wird, beträgt also 1:500.000.«

Dr. Watson schnurrte lauter.

»Und was schließen wir daraus, mein lieber Watson? Daraus schließen wir, dass das Ganze kein Zufall ist. Dass jemand diese Leiche mit voller Absicht genau vor unserer Haustür abgelegt hat. Elementary, würde Sherlock Holmes in einem solchen Fall sagen.«

Der Kater schnurrte jetzt so laut, dass kein Zweifel daran bestehen konnte, dass er mit Bernd in jeder Beziehung einverstanden war. Aber Bernd war nicht Sherlock Holmes, er sagte nicht Elementary, sondern er sagte so laut »Scheiße!«, dass Watson erschrocken von seinem Schoß sprang.

Das Leck

Mittwoch, 19. November 2014

Bernd Kastrup stand in seinem Büro und musterte die Truppe, die ihm zur Verfügung stand. Da war zunächst einmal Vincent Weber, sein ältester und erfahrenster Mitarbeiter. Er hatte eine wechselhafte Karriere hinter sich, in deren Verlauf er unter anderem als Illusionist gearbeitet hatte. Seine Kollegen nannten ihn den Zauberer, was sich weniger auf seine Kartentricks bezog als darauf, dass er in der Lage war, sich in andere Menschen hineinzudenken und auf diese Weise Erfolge zu erzielen, wo andere vor ihm gescheitert waren. Weber war erst mit 35 Jahren zur Polizei gekommen. Vor zwölf Jahren war das gewesen; jetzt war er Hauptkommissar, genau wie Bernd. Sie hatten schon vor der Neugliederung der Kripo zusammengearbeitet, im alten LKA 411, der Mordkommission.

Kriminaloberkommissar Alexander Nachtweyh, sieben Jahre jünger als Weber, stammte aus Osterode am Harz. Vor seiner Polizeiausbildung hatte er ein Germanistik-Studium abgebrochen. Er war einsatzfreudig und zupackend, andererseits aber auch leicht ablenkbar und verspielt. Computer waren seine Leidenschaft. Bernd wusste, dass Nachtweyh in seiner Freizeit irgendeine Kampfsportart trainierte. Bei der Zusammenlegung von LKA 411 (Mordkommission) und LKA 417 (Todesermittlungen) waren Nachtweyh und Ladiges ihm zugeteilt worden. Die beiden waren erst vor sechs Monaten zu ihnen gestoßen.

Jennifer Ladiges war 29. Sie hatte ihr dreijähriges Studium an der Akademie der Polizei Hamburg mit Auszeichnung bestanden und war jetzt »Bachelor of Arts«, eine Bezeichnung, die Bernd jedes Mal ein spöttisches Lächeln entlockte, wenn davon die Rede war. Dabei gab es an Jennifers Leistung nichts zu bemängeln. Es war nur die für ältere Kollegen wie ihn ungewohnte Laufbahn, bei der er jedes Mal an die Police-Academy-Filme denken musste, von denen er jeden einzelnen auf DVD besaß und mit großer Freude viele Male gesehen hatte. Jennifer war Kriminalkommissarin.

Zu jedem seiner Mitarbeiter hatte er volles Vertrauen. Umso stärker beunruhigte es ihn, dass auf irgendeine Weise Informationen über ihre Arbeit an die Öffentlichkeit gelangt waren, die normalerweise die Diensträume nicht hätten verlassen dürfen. Irgendwo gab es eine undichte Stelle. Eine Zeit lang hatte Bernd sich eingeredet, dass dieses Leck nicht in ihrer Abteilung zu finden sein konnte, sondern dass sich möglicherweise irgendein Pressevertreter bei Hintergrundgesprächen nicht an die vereinbarte Vertraulichkeit gehalten hatte. Die Art der Informationen, die nach außen durchgesickert waren, deutete allerdings darauf hin, dass dies eine Illusion war. Die undichte Stelle lag hier bei ihnen.

Bernd räusperte sich. »Ich nehme an, ihr habt alle die heutige Zeitung gelesen.«

Jennifer Ladiges nickte, die anderen zeigten keine Reaktion. Es gehörte seit Langem zur Routine, dass jeder von ihnen morgens die Zeitungen zumindest daraufhin durchblätterte, ob es irgendwelche Meldungen gab, die ihre Arbeit betrafen.

»Wir haben verabredet, über bestimmte Aspekte des aktuellen Falles Stillschweigen zu wahren. Dennoch schreiben die Zeitungen heute, dass angeblich ein Wolf in Hamburg sein Unwesen treibt.«

Vincent zuckte mit den Achseln. »Was willst du damit sagen?«

»Ich will damit sagen, dass jemand Informationen weitergegeben hat, die er nicht weitergeben sollte. Ich habe mir unseren Bericht für die Presse ausgedruckt. Hier – das ist alles, was wir herausgegeben haben. In dem Text steht, dass gestern früh eine unbekannte Frau mit schweren Verletzungen im Kopf- und Halsbereich in der Speicherstadt tot aufgefunden worden ist. Warum lautet dann die Schlagzeile hier in dieser Zeitung Der Wolf von Hamburg

Vincent antwortete: »Das weiß ich nicht. Vielleicht hat der anonyme Anrufer sich an die Presse gewandt? – Übrigens ist mir aufgefallen, dass dieser ›Wolf von Hamburg‹ nur in einer einzigen Zeitung auftaucht. Bisher jedenfalls.«

Ja, natürlich war Bernd das auch aufgefallen.

»Du glaubst doch nicht etwa, dass einer von uns mit diesen Leuten geredet hat?«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll, Vincent. Ich bin eigentlich der Meinung, dass keiner von uns so was tun würde. Aber andererseits sind vertrauliche Informationen noch außen gedrungen; daran gibt es nichts zu deuteln. Und dies ist nicht das erste Mal, dass das passiert ist. Ich kann mir nur vorstellen, dass irgendjemand im privaten Gespräch Dinge gesagt hat, die besser nicht gesagt werden sollten. Ich möchte euch deshalb alle bitten, mit euren Äußerungen noch vorsichtiger zu sein als bisher.«

»Wir werden uns bemühen«, sagte Alexander leichthin.

»Das ist gut. Ich versuche inzwischen herauszufinden, woher dieser Reporter seine Informationen hat. Ich werde mit dem Mann reden, der den Artikel verfasst hat.«

»Wenn er mit dir redet«, wandte Alexander ein.

»Wenn er mit mir redet«, bestätigte Bernd. Aber er war sich sicher, dass der Journalist mit ihm reden würde.

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Der Artikel war mit dem Kürzel pt gekennzeichnet. Ein Anruf bei der Redaktion klärte, dass pt das Kürzel des Journalisten Peter Tornquist war. Tornquist gehörte zum Bereich Lokales. Ja, er sei bereit, sich mit Bernd zu treffen. In einer halben Stunde bei Schweinske im Hauptbahnhof, schlug er vor. Bernd bat um etwas mehr Zeit für die Anreise. Das Landeskriminalamt lag einfach zu weit von der Innenstadt entfernt.

Als Bernd Kastrup am Hauptbahnhof eintraf, saß der Journalist schon an einem Zweiertisch. Er war nicht zu verfehlen. Neben seiner Tasse Espresso lagen Kamera und Notizblock.

»Bitte keine Fotos.«

Der Mann verstaute die Kamera in seiner Aktentasche.

»Schön, dass Sie gleich Zeit für mich gefunden haben.«

»Ist doch selbstverständlich.«

Kastrup bestellte sich einen Kaffee.

»Ja, das war früher einfacher, als Sie noch alle am Berliner Tor saßen«, philosophierte der Journalist. Er roch nach Zigarettenrauch. »Alles wird schwieriger. Und jetzt kommt zu allem Ärger auch noch die Umorganisation des Landeskriminalamtes hinzu …«

Das war ein Punkt, über den Bernd nicht diskutieren wollte. »Manches war früher besser«, räumte er ein. »Aber ich will nicht über die Vergangenheit mit Ihnen reden. Es geht um die Gegenwart.«

»Genau. Sie sind derjenige, der bei dem gegenwärtigen Mordfall den ›Ersten Angriff‹ geleitet hat.«

Bernd schüttelte den Kopf. »Wir sind hier nicht bei den Sturmtruppen. Die Streifenpolizisten haben die Tote gefunden, und die haben uns dann informiert.«

»Aber wenn ich richtig informiert bin, dann spricht man doch in einem solchen Fall von einem ›Ersten Angriff‹, auf den dann weitere Angriffe folgen. Der ›Sicherungsangriff‹ …«

»Bei mir nicht«, beharrte Bernd. Ihm missfiel die Verwendung militärischer Begriffe für die Polizeiarbeit. Er würde diese Ausdrücke nicht benutzen.

»Nun gut. Sie haben mich um dieses Gespräch gebeten. Was kann ich für Sie tun?«

»Eine ganze Menge. Es hat in der letzten Zeit Berichte über unsere Arbeit gegeben, die uns nicht gefallen haben«, sagte Bernd.

Der Journalist hob die Augenbrauen. »Es ist nicht die Aufgabe der Presse, allen Bürgern zu gefallen. Im Gegenteil. Ein wesentlicher Punkt unserer Arbeit besteht darin, Dinge ans Licht zu bringen, die einem Teil der Bevölkerung ganz und gar nicht gefallen.«

»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich bin ein großer Freund der Pressefreiheit …«

»Davon gehe ich aus. Immerhin ist die Pressefreiheit unseres Landes an prominenter Stelle im Grundgesetz verankert.«

»Ja, das ist richtig. Aber die Freiheit darf nicht grenzenlos sein …«

»Darf sie das nicht? Ich bin anderer Ansicht. Ich bin ein großer Freund der grenzenlosen Pressefreiheit.«

»Das sind schöne Sprüche, Herr Tornquist. Aber die helfen uns nicht weiter. Bei der Suche nach dem Täter sind wir auf die Unterstützung der Presse angewiesen. Aber es ist keine Hilfe, wenn die Presse Dinge veröffentlicht, die wir aus ermittlungstechnischen Gründen für uns behalten wollen.«

»Sie meinen den Wolf?«

»Ja, ich meine den Wolf. Den sogenannten Wolf. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die junge Frau, die gestern tot in der Speicherstadt lag, von einem Wolf getötet worden ist. Und es hilft uns keineswegs, wenn die Presse eine Wolfs-Hysterie entfacht. Um es vereinfacht auszudrücken: Niemand soll ›Wolf!‹ schreien, wenn es gar keinen Wolf gibt.«

»Das haben Sie schön gesagt, Herr Kommissar.« Der Journalist trank seine Tasse leer und rief quer durch den Raum: »Noch einen Espresso, bitte!« Dann wandte er sich wieder seinem Gegenüber zu und sagte mit gedämpfter Stimme: »Nun ist es allerdings so, dass wir in diesem Fall eindeutige Hinweise darauf haben, dass die besagte Frau eben doch durch einen Wolf getötet worden ist.«

»Unsinn!« Bernd schüttelte den Kopf.

»Das brauchen Sie nicht zu bestreiten, Herr Kommissar. Wir haben sehr gute Informationen, und Sie müssen nicht denken, dass wir leichtfertig damit umgehen. Wir wissen sehr viel mehr, als wir veröffentlicht haben. Wir wissen zum Beispiel, dass es einen Zeugen gibt, der den Wolf gesehen hat. Wir wissen zum Beispiel, dass in der Tasche der toten Frau ein Zettel gefunden worden ist …«

Bernd erschrak. Es waren viel mehr Informationen nach draußen gelangt, als er geahnt hatte. »Hören Sie auf«, sagte er.

»Darf ich diese Äußerung als Bestätigung dafür werten, dass unsere Informationen richtig sind?«

»Dazu kann ich mich nicht äußern. Ich möchte Sie nur ernsthaft bitten, die junge Frau nicht weiter auszuhorchen.«

»Jung? Frau?« Der Journalist lachte. »Wir geben unsere Quellen nicht preis. Und ich werde Ihnen nicht verraten, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, und ob derjenige oder diejenige jung oder alt ist. Wer weiß – vielleicht haben wir ja sogar mehrere Informanten?«

»Bitte gefährden Sie nicht unsere Arbeit.«

»Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst. Wir werden den besagten Zettel nicht erwähnen.«

»Das ist wunderbar, aber das reicht nicht aus. Ich möchte Sie bitten, die Wolfsjagd zu stoppen. Sie entfesseln damit eine Jagd auf ein Phantom, die mit Sicherheit starke Kräfte der Polizei binden wird, und wir können es uns nicht leisten, nach etwas zu suchen, was es gar nicht gibt. So viele Leute haben wir nicht.«

Der Journalist lächelte überlegen. »Das haben Sie sehr schön gesagt, Herr Kommissar, aber ich glaube Ihnen nicht. Ich weiß, dass in Ihrem Hause davon ausgegangen wird, dass es diesen Wolf gibt, und ich halte es für meine Pflicht, die Bevölkerung entsprechend zu warnen. Ich halte es für falsch, dass die Polizei die Bevölkerung in einer solchen Angelegenheit nicht informiert.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fixierte Bernd. »Wie wollen Sie das rechtfertigen, wenn noch jemand getötet wird? Ein Kind zum Beispiel. Was werden Sie dann sagen?«

»In unserem Hause wird davon ausgegangen, dass es diesen sogenannten Wolf nicht gibt«, beharrte Bernd.

»Herr Kommissar, kann es sein, dass Sie über die Dinge, die in Ihrem Hause ablaufen, schlechter informiert sind als ich?«

Das war eine Unverschämtheit, aber bevor Bernd darauf reagieren konnte, setzte der Journalist noch einen drauf: »Ich weiß so gut wie alles, was bei Ihnen abläuft. Ich weiß zum Beispiel, dass in Ihrem Büro ein Spruch an der Wand hängt, der lautet: Vor dem Betreten dieser Räume ist das Hirn auszuschalten! Kann es sein, dass Sie und Ihre Kollegen diesen Ratschlag allzu ernst genommen haben?«

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Er hatte den Vormittag damit zugebracht, noch einmal durch Wilhelmsburg zu gehen, um sich mit der Örtlichkeit vertraut zu machen. Es war ein gewisses Risiko. Er konnte nicht ausschließen, dass irgendwer ihn von früher kannte, aber dieses Risiko musste er eingehen. Er hatte Glück gehabt. Er hatte keine Bekannten getroffen, und jetzt saß er im Sessel in seinem Wohnzimmer, hatte die kalten Füße gegen die Rippen der voll aufgedrehten Heizung gelegt und dachte darüber nach, wie es weitergehen sollte.

Bis jetzt war alles nach Plan gelaufen. Er war sich nicht sicher gewesen, ob die Presse wirklich auf diese Geschichte mit dem Wolf eingehen würde, aber die Journalisten hatten alles geschluckt. Sein anonymer Anruf hatte tatsächlich gewirkt. Und offenbar hatte die Polizei ungewöhnlich viele Einzelheiten an die Presse weitergegeben. Jetzt wusste ganz Hamburg, dass ein Wolf unterwegs war! Ein großartiges Gefühl!

Der heutige Tag war ein Ruhetag gewesen. Morgen würde er wieder aktiv werden müssen. Zehn Personen standen auf seiner Liste, und er hatte nur ungefähr zwei Wochen Zeit. Länger würde es nicht dauern, bis die Polizei ihm auf die Spur kam. Er hatte zwar keine hohe Meinung von der Polizei, aber ihm war klar, dass sie sich auf die Dauer nicht an der Nase herumführen lassen würde. Aber noch fühlte er sich völlig sicher. Noch konnte niemand wissen, wer er war.

Morgen würde der nächste Schlag erfolgen. In Wilhelmsburg. Die Karolin, die Tote aus der Speicherstadt, war nur eine Randfigur gewesen. Zum Üben sozusagen. Aber morgen würde er sich jemanden vornehmen, dessen Tod ihm wirklich am Herzen lag.

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Bernd Kastrup verbrachte den Rest des Tages im Präsidium. Er wartete auf den Anruf des Rechtsmediziners, aber ganz offensichtlich zogen sich die Untersuchungen in die Länge. Vincent Weber und Jennifer Ladiges waren in der Speicherstadt unterwegs. Sie sollten noch einmal versuchen, irgendwelche Zeugen aufzutreiben. Als sie schließlich am späten Nachmittag zurückkamen, brauchte Bernd nur in ihre Gesichter zu sehen, um zu wissen, dass sie keinen Erfolg gehabt hatten.

Alexander Nachtweyh hatte versucht, im Internet Informationen über Wölfe zu finden. Er hatte außerdem versucht, vergleichbare Fälle aus anderen Bundesländern oder anderen Staaten der Europäischen Union heranzuziehen. Es gab keine vergleichbaren Fälle. Alexander hatte lediglich herausgefunden, dass der Wolf im Jahre 2003 zum »Tier des Jahres« gewählt worden war.

Bernd schnauzte Alexander an, als er feststellte, dass dieser schon wieder Quizduell spielte. Dabei gab es im Augenblick nichts, was er sonst hätte tun können. Alexander schaltete den Computer aus und begann stattdessen, den Werwolf von Christian Morgenstern aufzusagen. Bernd Kastrup schickte ihn aus dem Zimmer.

Als sich bis 18:00 Uhr immer noch nichts getan hatte, rief Bernd in der Rechtsmedizin an. Tatsächlich kam Dr. Beelitz fast sofort ans Telefon.

»Wie sieht’s aus?«, fragte Bernd. »Wie kommst du voran?«

»Ich komme schlecht voran, wenn ich, statt meine Arbeit zu tun, irgendwelche sinnlosen Anrufe beantworten muss!«, erwiderte Beelitz.

Bernd Kastrup gab es auf. Er verabschiedete sich von Vincent und Jennifer, die versprachen, bis Mitternacht die Stellung zu halten, und die zusagten, ihn sofort anzurufen, falls es irgendetwas Neues gab. Dann fuhr er mit der U-Bahn nach Hause.

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Feierabend. Bernd Kastrup ging in seiner provisorischen Wohnung auf dem obersten Boden des Hauses in der Speicherstadt auf und ab. Dr. Watson hatte sich verzogen, als er bemerkte, dass Bernd schlechte Laune hatte. Da war es lustiger, irgendwo eine Maus zu jagen!

Vor dem Betreten dieser Räume sei das Hirn auszuschalten, hatte der Journalist behauptet. Das stimmte zwar nicht, aber es war ungeheuerlich, dass jemand von der Presse Einzelheiten aus seinem Büro kannte. Kein Journalist hatte dieses Zimmer je betreten, und es gab überhaupt nur wenige Leute, mit Ausnahme der Kollegen, die diesen Raum von innen gesehen hatten. Der Spruch, den er an die Wand geheftet hatte, lautete in Wirklichkeit: Vor dem Betreten dieser Räume ist das Hirn einzuschalten! Das war das genaue Gegenteil von dem, was dieser Tornquist zu wissen glaubte. Aber – ganz gleich, wie man es drehte und wendete – der Mann wusste viel mehr, als er wissen durfte. Und es waren aktuelle Informationen. Der Spruch hing dort erst seit letzter Woche.

Nach wie vor ging Bernd davon aus, dass keiner seiner Mitarbeiter absichtlich geplaudert hatte. Aber natürlich ließ es sich nicht vermeiden, dass zu Hause nach Feierabend über Dinge geredet wurde, die eigentlich nicht weitergetragen werden sollten. Da war zum Beispiel Vincent. Verheiratet mit einer Frau, die aus dem Irak stammte. Oder aus dem Libanon? Egal, jedenfalls irgendwo aus dem Nahen Osten. Sie hatten einen gemeinsamen Sohn, der inzwischen auch schon fast erwachsen sein musste. Bernd dachte: Wer weiß, was dort beim Abendbrot so alles erzählt wird.

Und Alexander? Bei seinen rasch wechselnden Freundinnen hatte Bernd Kastrup den Überblick verloren. Er konnte sich gut vorstellen, dass Alexander Nachtweyh alles Mögliche von seiner Arbeit zum Besten gab, wenn er seinem jeweils neuesten Mädchen damit imponieren konnte.

Über Jennifers Privatleben wusste er so gut wie gar nichts. Sie hatte auf Alexanders Annäherungsversuche so abweisend reagiert, dass Bernd eine Weile geglaubt hatte, sie sei lesbisch. Aber das stimmte nicht. Er hatte sie am Wochenende an der Alster Hand in Hand mit einem jungen Mann gesehen. Kein Polizist, niemand von denen jedenfalls, mit denen sie routinemäßig zu tun hatten.