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Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Schwaben-Rache

Schwaben-Messe

Schwaben-Wut

Schwaben-Hass

Schwaben-Angst

Schwaben-Zorn

Schwaben-Wahn

Schwaben-Gier

Schwaben-Sumpf

Schwaben-Herbst

Schwaben-Engel

Schwaben-Ehre

Schwaben-Sommer

Schwaben-Filz

Schwaben-Liebe

Schwaben-Freunde

Schwaben-Finsternis

Schwaben-Träume

Schwaben-Fest

Schwaben-Teufel

Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, lebt in der Nähe von Stuttgart. Er veröffentlichte bisher 38 Bücher. Seine überaus erfolgreiche Schwaben-Krimi-Reihe mit den Kommissaren Steffen Braig, Katrin Neundorf und Harald Loose umfasst nun 21 Romane in einer Gesamtauflage von über 650.000 Exemplaren.

Klaus Wanninger

Schwaben-Donnerwetter

Mit original schwäbischem
Schimpfwörterlexikon!

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Originalausgabe

© 2020 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: info@kbv-verlag.de

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Print-ISBN 978-3-95441-523-6

E-Book-ISBN 978-3-95441-534-2

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Furzklemmer, Hinterschefirgockeler ond Idipfelesscheißer – waschechte Schwobe halt

Original schwäbisches Schimpfwörterlexikon

Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig.

Die im Buch benutzten schwäbischen Dialektausdrücke werden sowohl bezüglich ihrer Schreibweise als auch ihrer Deutung nicht nur Zustimmung, sondern auch Kritik hervorrufen. Es gibt aber kein überall gleichermaßen gesprochenes Einheitsschwäbisch, sondern unzählige Sprachnuancen. Im Norden Württembergs dominiert der fränkische Einfluss, im Süden die alemannische Sprachmelodie.

Selbst innerhalb Stuttgarts gibt es von Vorort zu Vorort teilweise verschiedene Ausspracheformen.

S geit halt Sottiche ond Sottiche!

Vielleicht ist mir tatsächlich der ein oder andere Fehler unterlaufen. Irre isch menschlich, hot dr Gockel gsait ond isch von dr Ent gstiege.

Hinzu kommt die Schwierigkeit, die richtigen Buchstaben für die schriftliche Fixierung zu verwenden.

Geits alloi en dr Bollidig schbinnede Hondsgribbl ond greizliadriche Seggl? Oder gibds spinnede Hundskrippel und kreuzliadrige Seckel et au under uns?

Wie i s au mach, oiner hot emmr was zu bruddle. Ond i ben immer dr Arsch!

1. Kapitel

Herrschaftsdonderwedder abr au!«, schimpfte der Ministerpräsident. Er fuhr sich durch seine grauen, bürstenförmig in die Höhe stehenden Haare, ließ den Blick über die Schlagzeilen auf seinem Monitor schweifen.

Unter normalen Umständen war er ein ausgeglichener, friedfertiger Mensch, der weder zu Gemütsausbrüchen noch zu launisch bedingten Exzessen neigte. Deshalb erlaubte er sich auch nur in seltenen Notfällen ein laut geäußertes Schimpfen oder gar Fluchen. Jetzt aber war der Moment erreicht, in dem auch seine Contenance auf eine harte Probe gestellt wurde.

Was an diesem Tag in vielen Medien wieder an Hohn und Spott über sein geliebtes Bundesland und dessen Bewohner abgeladen wurde, sprengte alle Grenzen. Es schien, als hätte die halbe Nation nichts Besseres zu tun, als kübelweise Jauche über eine ihrer blühendsten Regionen auszuschütten – mit einer Häme, die kaum mehr zu ertragen war. Sich in diesem Augenblick zu einem kräftigen Fluch hinreißen zu lassen, half zwar in der Sache, um die es hier ging, nicht einen einzigen Schritt weiter, vermochte jedoch wenigstens, ihn von einem kleinen Teil seiner Verstimmung zu befreien.

Zum Glück pflegte der Ministerpräsident eine in starkem Maß vom schwäbischen Idiom geprägte Sprache, sodass er sich im Moment höchster Erregung eines Ausdrucks aus dem überaus reichhaltigen Schimpfvokabular dieser Mundart bedienen konnte. Mochten viele einer geschliffenen, hochdeutschen Aussprache mächtige Mitbürger auch etwas mitleidig auf die intellektuell scheinbar minderbemittelten Provinzler mit ihrer dialektgeprägten Modulation herabschauen – genau in solchen affektbeladenen Situationen erwies sich der regionale Slang als der Hochsprache weit überlegen: Zum einen verfügte gerade das Schwäbische über ein fast unerschöpfliches Reservoir an Schimpfworten, zum anderen klangen derartige Äußerungen im Dialekt weit harmloser und weniger ätzend. Daher störte es seine hemdsärmelige Koalitions- und Gesprächspartnerin auch nicht, dass sich der Ministerpräsident infolge seiner hochgradigen Erregung zu einer weiteren, nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Bemerkung hinreißen ließ.

»Sottiche Allmachtsdackel! Was hent die nur älle gege ons?«

»I woiß au net«, brummte die kräftige Person. »Aber ma könnt grad moine, mir Schwobe wäret die Deppe der Nation.«

»Oin Dag schimpfet se wege onserer Kehrwoch, am Nächste hoißts, mir hättet nur Schaffe ond Geldverdiene im Kopf, und jetzt behauptet se, mir könntet net richtig feiere. Dabei war des doch so a scheenes, rauschendes Feschd! Hano ja, dass der Dackel in dem Klohäusle eigsperrt gwä ischd … des war doch bestimmt a Versehe. Ond die Musik war trotzdem gut, richdig fetzig. Des Esse wunderbar, die Getränke beschdens ond viele interessante Gespräche mit lauter nette Leut.« Die Stimme des Ministerpräsidenten drohte zu versagen. »Des hent mir wieder richdig schee na brocht, han i denkt. Ond no kommet die mit ihrem Lättagschwätz!«

Die fetten Lettern der Schlagzeilen stachen ihm physische Schmerzen bereitend ins Auge.

Schwaben können alles – nur nicht Party Heimattage Schwaben: Musiker vor Auftritt in mobiles Klo gesperrt und abtransportiert

Der von unzähligen Fernsehauftritten bekannte Volksmusikstar Heinzi wurde am Sonntag kurz vor seinem Auftritt anlässlich der Heimattage Schwaben in Schlüpfingen in einem mobilen Toilettenhäuschen eingeschlossen und mitsamt diesem abtransportiert. Er konnte erst am späten Abend in einem abgelegenen Waldstück wieder befreit werden. Der ausgekühlte Mann wurde zur Beobachtung ins Stuttgarter Katharinenhospital eingeliefert. Der als Hauptevent des vom Land Baden-Württemberg gesponserten Festes angekündigte Auftritt des Musikers musste ausfallen.

Ob es sich um ein unglückliches Versehen oder einen geplanten Akt gegen den bekannten Musiker handelt, ist nicht bekannt. Der bei dem Fest anwesende Ministerpräsident bedauerte den Vorfall und sprach dem Künstler seine Genesungswünsche aus. Die ebenfalls teilnehmende Koalitionspartnerin verlangte den vollen Einsatz der Polizei, um das Geschehen aufzuklären. In Baden-Württemberg herrschten im Gegensatz zu anderen Regionen Recht und Ordnung, so die Ministerin, sollte es sich bei dem Verschwinden des beliebten Volksmusikers um ein Verbrechen handeln, würde dies umgehend aufgeklärt und streng geahndet.

»Die send doch bloß neidisch, weil die in ihrem versiffte Berlin so a scheenes Fescht gar net nakrieget«, versuchte die Frau den Ministerpräsidenten aufzumuntern.

»Moinsch wirklich?«

»Ha, nadierlich. Als ob die sich wirklich Gedanke um den Sänger mache dätet! Volksmusik interessiert die doch gar net. Die höret doch bloß so a neumodisches Zeug wie Hop-Hip oder Raebb oder wie die dieses Krakeele schimpfet. Amerikanisches Gangstergejodel!«

»Du glaubsch …«

»Berlin! Wenn i des scho hör!«, polterte die kräftige Frau. »Bei dene funktioniert doch überhaupt nix! I sag nur Flughafe! Und dann dieses Kreuzberg und Neukölln! Mir laufts scho kalt de Rücke nunter, wenn oiner bloß die Name erwähnt.«

»Hano ja, also do wollt i wirklich net lebe müsse«, bekannte der Ministerpräsident. »Do isch mir a bissle zu viel Betrieb!«

»A bissle? Des isch doch oi oinziges Chaos! Lauter Drogedealer ond faule Säck, die de ganze Dag rumlungeret ond nix schaffet! Die lebet doch bloß uf unsere Koschte! Wenn mir in Bade-Württeberg net so fleißig schaffe dätet – no hättet die doch nix zom Fresse! Unsere Steuere fließet doch zum größte Teil do na, um dene ihr Lotterlebe zu finanziere. Ohne uns wäret die doch voll am Arsch!«

»Hano, jetzt wirsch aber a bissle grob!«, versuchte der Ministerpräsident seine Gesprächspartnerin zu besänftigen.

»I bin net grob, i bin nur deutlich! Ausgerechnet gege uns reißet die ihre Gosche uf! Dabei verganget die vor Neid und Eifersucht, wenn die bloß unseren Name höret: Bade-Württeberg. Des klingt für so oin Berliner doch wie’s Paradies uf Erde!«

»Moinsch wirklich?«

»Hano, und ob! Ond damit des so bleibt, muss die Sache mit dem Musiker do gründlich ufklärt werde. Mir müsset dene zeige, dass bei ons Recht ond Ordnung herrschet! Im Gegensatz zu dene ihrem Saustall. Oser Bollizei räumt unter dene Verbrecher uff, bei ons gibt’s koi Kreuzberg oder Neukölln!«

2. Kapitel

Das neue Jahr hatte für Harald Loose nicht mit der Verwirklichung all jener Glücksverheißungen begonnen, die man nahestehenden Menschen in der Silvesternacht wünscht. Ganz im Gegenteil. Gleich in der ersten Woche im Januar hatte er seine Freundin in flagranti mit seinem besten Freund erwischt.

Nun waren Erlebnisse dieser Art beileibe keine allzu seltenen Ereignisse – man hörte sie schließlich immer wieder aus den verschiedensten Gesellschaftskreisen. Doch war es ein himmelweiter Unterschied, ob sich das völlig überraschte Opfer in einer ohnehin schon brüchigen Beziehung oder mitten in einer vermeintlich intakten und in jeder Hinsicht harmonischen Partnerschaft wähnte. Und genau diese weite Bereiche ihres gemeinsamen Lebens umfassende Harmonie glaubte Harald Loose in den vergangenen Monaten empfunden zu haben – nicht nur bei sich, sondern auch bei seiner Lebensgefährtin. Kein Wunder also, dass ihn dieses Erlebnis bis ins Mark erschütterte.

Drastisch verstärkt wurde der Schock durch seine biografisch bedingte Bindungsangst, die ihn von Grund auf prägte. Nach dem überraschenden Unfalltod seiner Eltern hatte er einen großen Teil seiner Kinder- und Jugendjahre in verschiedenen Erziehungsheimen verbracht. Die mangelnde persönliche Zuwendung wie die in dieser Zeit erlittenen Schikanen und Demütigungen durch andere Heimbewohner hatten Harald Loose zu einer kontaktscheuen Person werden lassen, die zwischenmenschlichen Beziehungen jeder Art äußerst skeptisch gegenüberstand. Einem anderen zu vertrauen, sich ihm emotional so weit zu öffnen, dass sich eine Freundschaft entwickeln konnte, dazu war er nur schwer fähig. Auch nach inzwischen acht Jahren weitgehend selbstständigen Lebens und seiner fast ebenso langen Tätigkeit im Polizeidienst Berlins hatte Loose deshalb neben seiner Freundin gerade mal eine Handvoll Leute so nahe an sich herangelassen, dass man von einer engeren Beziehung sprechen konnte.

Und zwei davon hatten ihm jetzt derart übel mitgespielt, wie es schlimmer wohl kaum möglich war. Seine Freundin mit seinem besten Freund! Fast als hätten sie ihm den persönlichen Beweis dafür liefern wollen, dass sein grundsätzliches Misstrauen anderen Menschen gegenüber die einzige Möglichkeit darstellte, der Realität dieser Welt korrekt zu begegnen.

Harald Loose war am Boden zerstört. Hätte man sich in den Tagen danach nach seinem Befinden erkundigt, er hätte geschworen, dass es nicht schlimmer kommen könne. Er vergrub sich in seiner Arbeit als Kriminalkommissar, schob Überstunde um Überstunde. Wem immer er begegnete, behandelte er mit größtem Misstrauen, als handelte es sich um einen Verdächtigen in einer aktuellen Mordermittlung. Das Bollwerk aus Ablehnung und Unnahbarkeit, hinter dem er sich verschanzte, wurde allein von seinem Onkel und dessen Partnerin durchbrochen. Ihren unermüdlichen Bemühungen war es zu verdanken, dass der junge Mann nach und nach wieder aus seiner selbstgewählten Isolation auftauchte.

Arnulf Giese und Marietta Kemke lebten mitten in Potsdam, in einem der schmucken Giebelhäuser der prächtigen Straßenzüge des Holländischen Viertels. Nach dem frühen Tod von Harald Looses Eltern waren die beiden seine einzigen Verwandten. Arnulf Giese war als Eisenbahningenieur in der halben Welt unterwegs gewesen, mehrere Jahre in Indien, eine Zeitlang in Chile, später in Indonesien. Im schon etwas fortgeschrittenen Alter von fünfzig Jahren war er nach Deutschland zurückgekehrt, hatte noch einige Zeit im Süden der Republik in seinem Beruf gearbeitet, war dann aber völlig unverhofft von einem Tag auf den anderen ausgestiegen und ins Dasein des Privatiers gewechselt. Finanziell stand er sich nicht schlecht, er hatte zeitlebens sehr gut verdient und sich gemeinsam mit seiner Partnerin eine großzügig geschnittene Wohnung zugelegt.

Marietta Kemke arbeitete als Wissenschaftlerin in einem Forschungsinstitut, in dessen Auftrag sie seit Jahren fremde Länder bereiste. Obwohl schon lange liiert, hatten sie nie geheiratet. Bürgerliche Verhaltenskodizes seien ihnen fremd, hatten beide stets wie aus einem Munde erklärt, wenn die Sprache darauf gekommen war. Umso erstaunlicher hatte Harald Loose es schon immer empfunden, dass sowohl Arnulf als auch Marietta ausdrücklich wünschten, dass er sie mit »Onkel« und »Tante« anredete.

Wenn es einen Sachverhalt gab, der beiden ein schlechtes Gewissen verursachte, dann der langjährige Heimaufenthalt des jungen Neffen. Am anderen Ende der Welt vom unverhofften Tod der Eltern Harald Looses überrascht, waren beide beruflich zu engagiert, um sich um das Schicksal des verwaisten Jungen zu kümmern. Jetzt aber, anlässlich des neuen Schicksalsschlags, mühten sie sich, dieses Versäumnis zu korrigieren.

Hamburg lag nicht weit von Berlin entfernt, so ließen sie es sich nicht nehmen, Arnulfs Neffen zu einem gemeinsamen Kurzurlaub in die nordische Metropole zu überreden. Was immer es war, der Tapetenwechsel an sich oder die faszinierende Atmosphäre der Hansestadt, Harald Loose blühte neu auf. Fünf abwechslungsreiche Tage in pulsierenden Stadtvierteln wie Ottensen, St. Pauli, Eppendorf und Blankenese mit ihrem bunten Gemisch junger Leute, unzähligen Kneipen, Lokalen, Museen und Shoppingtreffs, Schiffstouren auf Alster und Elbe – das Flair der Hansestadt blieb nicht ohne Wirkung. Hamburg, das bedeutete Wasser, Baden, Schiffe, Segeln, Flanieren, Shoppen. Nordsee und Ostsee lagen vor der Haustür – das Leben von seiner schönsten Seite.

Wenige Wochen später ein neuer Trip. Düsseldorf. Die breite, allein Fußgängern vorbehaltene Pracht-Promenade direkt am Rhein, der irre Medienhafen mit seinen skurrilen windschiefen Gebäuden, das in einen einzigen riesigen Biergarten verwandelte Straßengewirr der Altstadt, der Prachtboulevard der Kö … Harald Looses Weg zurück ins Leben nahm endgültig feste Strukturen an.

Das nächste Ziel hatte er selbst vorgeschlagen. Lübeck. Die begeisterten Schilderungen seiner Kollegen wurden von der Realität weit überholt. Schon bei den ersten Schritten in Lübecks komplett unter Denkmalschutz stehender Altstadt fühlte er sich in eine längst vergangene Zeit versetzt. Ein unübersehbares Gewirr uriger Pflastersteingassen mit einer unverfälschten, mittelalterlichen Szenerie, wie er es in dieser Größe noch nirgends erlebt hatte. Prächtige Hausfassaden, lauschige Plätze voller Kneipen und Lokale, ein Geflecht grüner, ellenlanger Hinterhöfe, ringsum von Wasser umgeben. Die gesamte Stadt ein einziges Freilichtmuseum voll pulsierenden Lebens. Harald Loose glaubte zu träumen.

Genau in dieser Situation fiel ihm die Stellentauschofferte der Polizeibehörde in die Hände. Drei Jahre Arbeit in anderen Bundesländern – Abwechslung, neue Impulse, Learning by doing.

Voller Interesse überflog er die Broschüre.

Er war jung, gerade mal dreißig Lenze, seit wenigen Monaten völlig ungebunden. Die Welt stand ihm offen. Nichts sprach dagegen, sich geografisch – zumindest eine Zeitlang – zu verändern, auch wenn es ihm bisher in Berlin gut gefallen hatte. Im Gegenteil. Seiner beruflichen Karriere als Kriminalbeamter kam es nur zugute, auch in anderen Gefilden Erfahrung zu sammeln.

Wo das stattfinden sollte, bedurfte keiner Überlegung. Hamburg, Düsseldorf, Lübeck. Eine Stadt faszinierender als die andere. Harald Loose zögerte nicht lange, reichte seine Bewerbung ein.

Hamburg, Düsseldorf, Lübeck? Sie würden ihn besuchen. Alle paar Wochen. Marietta Kemke und Arnulf Giese waren sich einig. Vorher aber wollten sie feiern. Mit Sekt und Sahnetorte. Sobald er Bescheid bekam.

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Drei Wochen später war es so weit.

»Wo dürfen wir dich besuchen?«, erkundigte sich Marietta Kemke, den Blick erwartungsvoll über den Tisch hinweg auf ihren Besucher gerichtet. Kleine Wölkchen erhoben sich aus den mit frischem Kaffee gefüllten Tassen, ergänzten den wunderbaren Duft der Sahnetorte um eine weitere wohlriechende Note. Arnulf Giese hatte das mit feinen Mandelsplittern gekrönte Wunderwerk am Morgen selbst gebacken. Dass seine Partnerin auf ihre geliebten Glimmstängel verzichtete, hatte wohl damit zu tun, dass sie das appetitanregende Aroma nicht beeinträchtigen wollte.

»Ich werde versetzt«, antwortete Harald Loose wahrheitsgemäß.

Sein Onkel musterte ihn erwartungsvoll. »Hamburg?«, fragte er.

Der junge Mann holte tief Luft.

»Düsseldorf?«

Harald Loose schüttelte den Kopf.

»Lübeck«, unternahm Giese einen weiteren Versuch.

Das Seufzen seines Gesprächspartners kam aus tiefer Seele. »Stuttgart«, hauchte er.

Arnulf Gieses Miene veränderte sich schlagartig. Seine Gesichtsfarbe wechselte zu einem ungesunden, dunklen, Bluthochdruck und drohenden Schlaganfall signalisierenden Rot, seine Stirn überzog sich mit unzähligen Falten. »Nein«, stieß er mühsam hervor.

»Doch.«

Der urplötzlich von einem katastrophalen Gesundheitszustand gezeichnete Mann erhob sich unter Aufbietung aller Kräfte aus seinem Stuhl, wankte schwerfällig zu dem Schrank auf der anderen Seite des Raumes, kehrte dann mit einer vollen Flasche Nordhäuser Doppelkorn und einem großen Glas zurück. Seine Hände zitterten, als er unter großen Mühen den Verschluss öffnete. Es dauerte eine Weile, bis er das Glas zu einem guten Drittel gefüllt hatte. Ein Teil der hochprozentigen Flüssigkeit landete auf dem Tisch. Er nahm es auf, setzte es an den Mund.

»Seit wann trinkst du?«, fragte Loose. Er wusste, dass sein Onkel nie trank. Arnulf Giese verabscheute Alkohol, seit er ihn kannte.

»Ich trinke nicht!«, erklärte der Ältere in barschem Ton und kippte das Glas in einem Zug. Heftiges Husten war die Folge. Giese stützte sich an der Tischkante ab, kämpfte um Luft. Als seine Atmung wieder einigermaßen funktionierte, verschloss er die Flasche und verstaute sie in dem großen Schrank. »Was hast du verbrochen?«, krächzte er dann.

Loose hob nichtsahnend die Hände, wich der dunkelblauen Rauchwolke aus, die seiner Tante entströmte. Urplötzlich hatte sie sich doch eine Zigarette angesteckt.

Arnulf Giese ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder, starrte ihn mit großen Augen an. »Acht Jahre Mumbai, sechs Jahre Santiago, vier Jahre Jakarta. Du kennst mein Leben.« Langsam schien er wieder zu sich selbst zu finden. »Jedes Mal eine andere Kultur. Völlig neue Lebensweisen. Ungewohnte Bräuche, Religionen und Kulturen. Andere Formen des Umgangs von Frau und Mann. Verschiedene Arten, sich zu ernähren.« Er legte eine Pause ein, musterte seinen Neffen. »Alles kein Problem. Man gewöhnt sich daran, passt sich an oder auch nicht, nimmt Rücksicht auf das Verhalten der Mehrheit. Am schwierigsten sind noch das Essen und Trinken. Die einen schätzen, was die anderen verabscheuen. Aber auch das lässt sich mit der Zeit bewältigen. Anstrengende Kollegen, hinterhältige, verschlagene Geschäftspartner, unfähige und intrigante Vorgesetzte gibt es überall. Die Welt ist voller Idioten und Arschlöcher, du kannst dich aufhalten, wo du willst, sie begegnen dir auf Schritt und Tritt. Aber es gibt auch die anderen, die Freundlichen. In jedem Land und in oft nicht geringer Zahl. Die helfen dir weiter, wenn es mal gerade hakt. Aushalten kannst du es deswegen überall.« Er schwieg einen Moment, fügte dann zwei Worte mit besonderer Betonung hinzu. »Fast überall.«

Harald Loose wartete schweigend auf eine Erklärung.

»Nur nicht bei den Schwaben.«

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»Warum? Was war so schlimm?«, hatte Loose gefragt.

Arnulf Giese hatte sich ein Stück Sahnetorte in den Mund geschoben und bedächtig gekaut. »Alles«, hatte er geantwortet.

»Alles?«

»Die verstehen nicht zu leben. Schaffen, immer nur schaffen. Wer nicht mitmacht, bleibt außen vor. Die sind nicht fähig, das Leben zu genießen. Das geht an ihnen vorbei. Du merkst es an dem Fraß, den sie sich antun. In Schweinemagen verpackte, saure Eingeweide. Salatblätter triefend vor Essig. Klebriges Labbergeschmiere, das sie als Wein bezeichnen. Du merkst es, wie sie wohnen. Ihr Stuttgart erstickt in einer Lawine von Blech und Gestank, aber anstatt die Dreckskarren aus der Stadt zu verbannen, schreien die danach, auch noch die allergiftigsten Stinker auf die Leute loszulassen. Du merkst es, weil eine arrogante Clique das ganze Land verarscht: Die graben in ihren von unzähligen Wasserläufen durchzogenen Untergrund kilometerlange Tunnel, ruinieren den gesamten Bahnverkehr mit einem viel zu kleinen, total schiefen, niemals funktionsfähigen, erbärmlichen Dorfbahnhof und veruntreuen dafür auch noch viele Milliarden Steuergelder. Schwaben, das ist kein Leben, nur Vegetieren. Hundserbärmliches Vegetieren.«

»Wie lange warst du dort?«, hatte Loose gefragt. »Drei Jahre, oder?«

Arnulf Giese hatte seinen Neffen mit starrem Blick gemustert, war dann in heftiges Kopfschütteln verfallen. »Nein, nicht drei Jahre«, hatte er ihn korrigiert. »Dreieinhalb! Weißt du, was das bedeutet?«

Sein Gegenüber hatte geschwiegen.

»Eintausendzweihundertsiebenundsiebzig Tage und Nächte«, hatte Arnulf Giese erklärt, »Verstehst du?«

Keine Reaktion.

»Eintausendzweihundertsiebenundsiebzig Tage und Nächte Schwaben«, hatte Giese wiederholt. »Das bedeutet Erdbeben, Vulkanausbruch, Feuersbrunst, Asteroideneinschlag und Überschwemmung in einem. Ein einziger, nicht enden wollender Alptraum.«

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Zwei Wochen später feierte Harald Loose das Abschiedsfest mit seinen Freunden. Er hatte zwar nur wenige, und seit der Trennung von Carina war auch davon noch die Hälfte abgetaucht, ganz ohne formellen Termin wollte er sich aber doch nicht davonmachen. Die paar, die bei ihm vorbeischauten, hatten überraschend viel zu erzählen. Tom und Kevin, beide Polizeikollegen; Luis und Bianca, die er aus einer Schlägerei gerettet hatte; Moritz, der auf seinem Stockwerk wohnte.

Allen gemeinsam war nur ein Thema. »Schwaben? Das willst du dir wirklich antun?«

Er zuckte nur mit der Schulter.

»Meine Wohnung wurde vor drei Jahren an einen Schwaben verkauft«, berichtete Tom vom Prenzlauer Berg. »Seither hat der Kerl die Miete drei Mal erhöht. Jedes Mal zwischen neun und vierzehn Prozent. Ich kann sie nicht mehr zahlen. Nächsten Monat muss ich raus, keine Ahnung, wohin. Ein fetter, alter Sack. Der kann den Hals nicht vollkriegen. Hoffentlich erstickt er bald an seiner Gier.«

»Dann müssen aber viele ersticken. Die Gier sitzt denen doch im Blut«, meinte Moritz. Er arbeitete als freier Journalist, besuchte sämtliche Regionen Mitteleuropas. »Vor Kurzem war ich rund um Stuttgart auf Recherche. Wohin du kommst, alles voll protziger Blechkisten. Die überschwemmen die halbe Welt mit ihren spritfressenden Karossen. Dabei wissen sie so gut wie wir, dass es mit diesen überdimensionierten Dinosauriern ein Ende haben muss, wenn wir nicht wollen, dass unsere Erde in einem unkontrollierbaren Höllenfeuer verbrennt. Das interessiert bei denen kein Schwein. Solange mit dem Zeug Profite zu erzielen sind, hat das absoluten Vorrang. Die sind skrupellos. Hauptsache Profit.«

»Das kannst du laut sagen«, erklärte Bianca. Sie wohnte in Zehlendorf und war im ganzen Land als Wirtschaftsprüferin unterwegs. »Letzten Winter hatte ich für eine Woche in einer kleinen Firma im Umland ihrer Landeshauptstadt zu tun. Am letzten Abend war ich bei der Familie des Unternehmers eingeladen. Das Haus und die Einrichtung kündeten unübersehbar vom Wohlstand der Besitzer. Wir saßen auf dem Designer-Sofa, als ich in einer Vitrine mitten im Wohnzimmer verschiedene Holzfiguren entdeckte. Kleine, recht plump ausgefallene Nachbildungen von Katzen, Hunden und Pferden ohne jeden Charme. An jeder Figur haftete ein kleines Schild mit Zahlen zwischen 59 und 99. Ich sah die Augen des Unternehmers erwartungsvoll auf mich gerichtet und erkundigte mich nach der Bedeutung der Zahlen. Schnitzen sei sein Hobby, erklärte mir der Mann mit stolz geschwellter Brust, und falls ich eine oder mehrere Figuren erwerben wolle, könne ich die jeweiligen Kosten in Euro auf dem beigefügten Preisschild erkennen.«

»Der wollte dir allen Ernstes das Zeug nicht schenken, sondern verkaufen?«, erkundigte sich Tom. »Und dazu stellte er es samt Preisschildern in einer Vitrine in seiner Wohnung aus?« Er verstummte, starrte sprachlos zu der jungen Frau.

»Mitten im Wohnzimmer, ja«, bestätigte sie.

Plötzlich war es absolut still geworden. So still, dass man trotz aller Anwesenden eine Stecknadel hätte fallen hören können.

Es dauerte mehrere Sekunden, bis Toms voller Anteilnahme geäußerte Bemerkung das Schweigen durchbrach. »Oh Gott, du Armer«, stöhnte er. »Willst du es dir nicht noch mal überlegen?«

Kevins Reaktion fiel etwas pragmatischer aus. »Was machen die nur mit dem ganzen Zaster?«, fragte er.

»Was die damit machen, kann ich dir nicht sagen«, gab Luis zur Antwort. Er betrieb gemeinsam mit zwei Freunden ein angesagtes Lokal am Wannsee. »Ich weiß nur, was die nicht damit machen.« Er wartete mit seiner Erklärung, sah sich wissbegierigen Blicken ausgesetzt. »Die können einsacken, so viel sie wollen, beim Ausgeben unterliegen sie einer totalen Blockade. Wenn um Mitternacht Ebbe in den Beuteln unserer Kellner herrscht, wissen wir, dass der Parkplatz den ganzen Tag mit dicken Karossen mit Kennzeichen wie S, ES, LB und vollgestellt war. Trinkgeld? Die lernen schon in ihrem schwäbischen Mutterleib, die Arschbacken zusammenzukneifen, wenn es ums Austeilen geht.«

»Das predigen die Pfaffen bei denen von den Kanzeln«, steuerte Kevin seine Erfahrungen bei. »Meine Schwester studierte zwei Semester in Tübingen und wohnte zur Untermiete in einem Nachbardorf. Länger hielt sie es dort nicht aus. Ihre Vermieter rannten alle paar Tage in die Kirche. Bibelstunde, Heilige Messe oder wie die das nannten. Mit sauertöpfischen Mienen hin, mit noch sauertöpfischeren Gesichtern wieder zurück. Und dazu die grauenvolle Sprache! Ich war nur ein einziges Mal bei ihr, verstand immer nur Studentle, Faulenzerle, Demonstrantle, Taugenichtserle. Und dann stellte sie mir noch ihre Mitbewohnerin vor. Die Nadine Schleimle aus Beeblinge. Du solltest dir wirklich überlegen, ob du dir das antun willst.«

»Drei Jahre bei denen, das hältst du niemals durch«, warf Luis ein. »Zwei, drei Monate sind schon zu viel. Drei Jahre Schwaben sind schlimmer als zwei Ewigkeiten in der Hölle!«

Der Abend endete mit unzähligen Beileidsbekundungen und dem Versprechen, jederzeit ein leeres Bett vorzufinden, sollte Harald Loose Hals über Kopf wieder in die Zivilisation zurückkehren wollen.

3. Kapitel

Zwanzig Minuten vor sieben Uhr am Montagmorgen heulte Harald Looses Handy laut auf. Mit schwerem Kopf tauchte er aus dem Schlaf. Fast das gesamte Wochenende hindurch war er unterwegs gewesen, zu Fuß, per Bahn, mit seinem Wagen. In Stuttgart, dem Zentrum und fast allen Vororten, in den Städten der Umgebung von Bietigheim über Ludwigsburg, Waiblingen, Leonberg und Böblingen bis nach Herrenberg, Esslingen, Schorndorf und Göppingen. Er hatte sich die Stadterkundungs-Apps der jeweiligen Gemeinde aufs Handy geladen, war durch die Straßen und über die Plätze gestreift, hatte versucht, in einer Art Crashkurs die angeblich bedeutendsten Partien der Region kennenzulernen. Arnulf Giese hatte ihm dazu geraten. Wenn er sich den Wechsel wirklich antun wolle, solle er die Gegend mindestens eine Woche lang gründlich erkunden, um sich auf den seltsamen Lebensrhythmus dort wenigstens in Ansätzen einzustimmen.

Aus der Woche waren nach Looses Antrittsbesuch im Landeskriminalamt in Bad Cannstatt am Freitag zwei Tage geworden; diese aber von der ersten bis zur letzten Minute mit unermüdlichen Ortserkundigungstouren angefüllt. Er hatte den auf den Apps dargebotenen Informationen folgend eine Menge wichtiger Orientierungspunkte in seinen Gehirnwindungen gespeichert, indem er vor dem jeweiligen Gebäude oder in der betreffenden Straße Aufstellung genommen und die in der App dargebotenen Erklärungen nachgesprochen hatte – seine seit Jahren bewährte Methode, schwer verständliche Angelegenheiten nicht einfach zur Kenntnis zu nehmen, sondern sie in seinem Gedächtnis zu speichern wie ein Computer die Daten auf der Festplatte. Topografische Sachverhalte zu verinnerlichen war schon immer eine seiner Stärken. Hatte er einen Ort auch nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, fand er sich dort ohne jedes Problem zurecht. Auf diese Fähigkeit hatte er sich seit jeher blind verlassen können. Die Hoffnung, bei der Arbeit von der neugewonnenen Ortskenntnis zu profitieren, hatte ihn zu diesem Engagement veranlasst. Dass er in den beiden auf den Samstag und den Sonntag folgenden Nächten deshalb nur wenig Zeit für einen erholsamen Schlaf gefunden hatte, schien ihm die Sache wert. Hauptsache, er erwies sich nicht als vollkommen ortsunkundig, wenn er seine Arbeit aufnahm.

Loose warf einen Blick auf die Uhr, hielt das Handy ans Ohr. »Sechs-einundvierzig, Loose«, meldete er sich.

Die Person am anderen Ende zögerte. »Sechs-einundvierzig?« Sie schien zu überlegen. »Mhm, Sie sprechen von der Uhrzeit, ja. Das ist korrekt. Stöhr hier. Es geht um eine Entführung.«

Er blieb ruhig, wartete auf weitere Erklärungen.

»Mhm, sind Sie noch da?«

»Wo sonst?«

»Mhm, ja. Sie müssen sich sofort um die Angelegenheit kümmern. Unsere Kommissare sind leider verhindert. Frau Neundorf ist diese Woche wieder als Dozentin an der Polizeihochschule in Villingen-Schwenningen tätig, Herr Braig wurde am Samstagabend bei einem Einsatz verletzt. Er befindet sich noch in ärztlicher Behandlung.«

»Entführung«, sagte Loose.

»Mhm, ja. Normalerweise läuft es so: Ich maile den ermittelnden Kommissaren alle Informationen, die uns zur Verfügung stehen. Dann können sie sich selbst ein Bild machen.«

»Ich warte.« Loose beendete das Gespräch, hörte kurz darauf den Signalton der Mail. Er holte sich den Text aufs Display.

Der Auftritt des Volksmusikinterpreten Götz Miller (Künstlername: Heinzi) auf den Schwäbischen Heimattagen in Schlüpfingen am Sonntag, den 02.08. von 18 Uhr bis 19.30 Uhr konnte nicht stattfinden. Das Fest steht in der Trägerschaft der Landesregierung. Heinzi gilt als einer der landesweit bekannten Stars der Volksmusikszene. Sein Auftritt wurde von Hunderten von Fans als Hauptattraktion des Festes erwartet.

Miller war von etwa 17.30 Uhr an nicht mehr aufzufinden. Mehrere Umfragen und Aufrufe hatten keinen Erfolg. Die daraufhin eingetretene Zwangspause des Unterhaltungsprogramms wurde durch noch anwesende Musiker, die bereits zuvor aufgetreten waren, überbrückt. Miller wurde erst gegen 23 Uhr von Christoph Hayer, einem Spaziergänger, der seinen Hund ausführte, am Rand eines Waldes wenige Kilometer von Schlüpfingen entfernt, aus einer mobilen Toilette, die dort abgestellt war, befreit. Der Hund hatte angeschlagen und den Mann zu dem Häuschen geführt. Miller, der sich daraufhin mit Klopfen und Schreien bemerkbar machte, stand unter Schock. Er war stark unterkühlt und wurde nach ärztlicher Untersuchung ins Stuttgarter Katharinenhospital überführt. Miller konnte seines Zustandes wegen bisher noch nicht befragt werden. Bei der mobilen Toilette handelt es sich um eines von insgesamt 12 Häuschen, die am Rand des Festgeländes für die Besucher aufgestellt waren. Es gibt bisher keinerlei Hinweise darauf, weshalb die Toilette während der Anwesenheit des Musikers abtransportiert und in dem unwegsamen Gelände abgestellt wurde.

Die Waiblinger Dienststelle wurde gegen 18.40 Uhr vom zuständigen Kreistagsabgeordneten Maximilian Mackel über das Verschwinden Millers verständigt. POM Feuster und POMin Singer trafen gegen 18.55 Uhr auf dem Festgelände ein. Sie nahmen Hinweise der Festbesucher entgegen, die sich aber allesamt als nicht zielführend erwiesen. Die Befragung Mackels, der sich persönlich um Miller gekümmert hatte, brachte keine neuen Erkenntnisse. Miller, so Mackels Aussage, sei gegen 15 Uhr in Schlüpfingen eingetroffen. Gegen 16.45 Uhr etwa habe sich der Musiker in das Vorbereitungszelt zurückgezogen, um dort seine Musikinstrumente zu überprüfen. Gegen 17.30 Uhr sei Mackel am Eingang des Zeltes ein letztes Mal auf Miller getroffen. Der Musiker habe ihm erklärt, vor dem Auftritt noch ein paar Minuten allein übers Festgelände bummeln zu wollen, um sich mental auf den Auftritt vorzubereiten. Was Miller daraufhin unternahm, sei ihm nicht bekannt. Die Instrumente des Musikers wie auch sein Handy lagen unversehrt im Vorbereitungszelt.

Was die Verfassung Millers betrifft, zeigte er nach Aussage Mackels normales Verhalten. Den Worten Mike Scheiders, Millers Manager zufolge, habe es keine aktuellen Drohungen gegen den Künstler gegeben. Heinzi sei allerdings seit Jahren Schmähungen und Verunglimpfungen besonders in den sozialen Medien ausgesetzt. Mehrere dieser Schmähungen sind in den sozialen Plattformen verifizierbar.

Protokoll: POM Bernd Feuster POMin Kerstin Singer.

Loose hielt kurz inne, überlegte, was zu tun sei. Er musste den Tatort besichtigen, danach mit dem Opfer, dem Toilettenaufsteller sowie dem Mann, der den Musiker spätabends entdeckt hatte, sprechen. Der Rest würde sich aus seinen bis zu diesem Zeitpunkt erlangten Erkenntnissen ergeben.

Loose richtete sich in aller Eile her, aß eines der belegten Brote, das er sich am Vorabend gekauft hatte, trank Wasser dazu.

Als er in den Hausflur trat, wunderte er sich wieder über den sauberen, geradezu aseptischen Zustand, in dem der sich befand. Keinerlei Abfall, keine Zigarettenkippe, keine Hundekacke auf dem Boden, nicht eine Schmiererei an einer der Wände, wie er das sonst von sehr vielen Gebäuden her gewohnt war. Dafür lag jetzt schon wieder, wie am vergangenen Donnerstag und Freitag, als er das Haus zum ersten Mal betreten hatte, ein feiner Zitrusduft in der Luft. Er hielt für einen Moment inne, schnupperte, hatte das Aroma tatsächlich wieder erspürt.

Die Wohnung, zwei Zimmer, Küche, Toilette, Bad, ein schmaler Balkon im zweiten Obergeschoss des aus fünf Stockwerken bestehenden, langgezogenen Gebäudes war ihm von seinem neuen Arbeitgeber im Rahmen des Austauschprogramms besorgt worden. Das Haus lag am Rand Waiblingens, keine acht Kilometer vom Landeskriminalamt entfernt, und war mit häufig verkehrenden S- und Regionalbahnen und einer vierspurigen Straße mit seinem Arbeitsplatz verbunden. Den Lärm der nahen Trasse war er von seiner bisherigen Wohnung gewohnt, genauso den Anblick des unweit entfernten, recht tristen Gewerbegebiets, in dem sich die allseits bekannten Zweckbauten eines Postverteilzentrums und verschiedener Firmen befanden.

Loose bog ins Treppenhaus ab, hatte den intensiven Geruch eines scharfen Reinigungsmittels in der Nase. Er folgte den Stufen nach unten, sah einen mit einem blauen Arbeitskittel bekleideten Mann auf dem Boden knien und diesen mit einem feuchten Tuch bearbeiten. Die etwas klobig wirkende Gestalt schimpfte leise vor sich hin, wischte und rubbelte in einem fort. Loose zog sein Handy hervor, warf einen Blick aufs Display. »Sieben-sieben«, stellte er verwundert fest. Um diese frühe Zeit war der Typ damit beschäftigt, die Treppe zu säubern. Die waren wirklich verrückt, die Schwaben.

Der Reinlichkeitsfanatiker vor ihm legte eine kurze Pause ein, sah zu ihm auf. Er brabbelte irgendetwas vor sich hin, ließ ihn passieren.

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Loose war gerade in seinem Büro eingetroffen, als Kriminalobermeister Stöhr auf ihn zutrat. Er hatte den großen, auffallend dünnen Mann bereits am Freitag bei seiner offiziellen Einführung ins Amt kennengelernt, nahm das Blatt entgegen, das er ihm reichte. »Sieben-sechsundzwanzig«, stellte er mit einem Blick auf den gerade eingeschalteten Computer fest.

Stöhr schaute verwundert auf, überprüfte die Aussage dann auf seinem Handy. »Mhm, Sie haben es wieder mit der Uhrzeit, ja. Hier, eine Mail des Managers von diesem Heinzi. Er ist auf dem Weg von München zu uns und möchte schnellstmöglich den ermittelnden Kommissar sprechen. In dem Fall sind das Sie.«

Loose las den Text unter Stöhrs verwirrt wirkendem Blick leise vor sich hin.

CS Clinton and Scheider Music and Entertainment New York Rio de Janeiro Munic

An das Landeskriminalamt Baden-Württemberg

Sehr geehrte Damen und Herren,

bin auf dem Weg zu Ihnen. Laut fernmündlicher Auskunft der betreuenden Ärzte ist mein Mandant noch nicht fähig, sich zum Tathergang zu äußern. Ich verlange volles Engagement zur Ergreifung der Täter. Bei meinem Mandanten handelt es sich um einen der bekanntesten und verdienstvollsten Musiker unseres Landes. Wenn wir es zulassen, dass sogar schon berühmte Musik-Interpreten Terroristen zum Opfer fallen, muss die höchste Alarmstufe ausgerufen werden. Ich erwarte Ihre Bereitschaft zu einem persönlichen Gespräch mit den leitenden Ermittlern Ihres Hauses und die Besichtigung des Tatortes.

Hochachtungsvoll Mike Scheider

Bin gegen neun Uhr im Raum Stuttgart zu sprechen. Teile meine genaue Ankunftszeit mit.

»Mhm«, meinte Stöhr. »Das ist wohl doch etwas übertrieben, oder? Noch wissen wir nicht, ob es sich wirklich um ein Attentat auf diesen Miller handelt. Genauso gut können wir es mit einem Dumme-Jungen-Streich zu tun haben.«

Loose musterte ihn mit einem fragenden Blick.

»Aber, was diesen Miller betrifft: Er ist tatsächlich noch nicht zu sprechen. Ich habe mich im Krankenhaus erkundigt«, erklärte Stöhr. »Damit müssen wir also noch etwas warten. Die Spurensicherer sind aber bereits verständigt, die Toilette und den Fundort zu untersuchen. Und ich habe den Kollegen erreicht, der gestern Abend vor Ort war. Auf dem Festgelände. Ich nehme an, Sie wollen sich den Tatort anschauen?«

Loose nickte.

»Jetzt gleich? Dann gebe ich Feuster, dem Kollegen, Bescheid. Er wird Ihnen alles zeigen.« Stöhr wollte sich gerade davonmachen, als ihm noch etwas einfiel. »Die Musik, mhm. Heinzi. Haben Sie die schon gehört?«

Sein Gesprächspartner schüttelte den Kopf.

»Sollten Sie aber tun. Bevor Sie gehen.« Der Kriminalobermeister machte sich an seinem Handy zu schaffen, hielt es vor sich hin. »Eine Kostprobe sozusagen«, brabbelte er.

Im gleichen Moment heulte das Gerät los. Derart abseits aller gewohnten Harmonien, dass Loose erschrocken zusammenzuckte und seine Hände über die Ohren presste. Das weinerliche Gequake einer dünnen Fistelstimme war dennoch ebenso wenig zu überhören wie das ständig an- und abschwellende Quietschen und Scheppern unzähliger anderer auf die Absonderung unzumutbaren Lärms ausgerichteter Apparaturen. Der Sänger jodelte einen seltsamen Text wie Mein Herz schlägt ganz heftig bum bum bum. Du bist jetzt bei mir bum bum bum. Ich bin nicht mehr einsam bum bum bum.

Entgeistert starrte Loose auf das Smartphone des Kollegen. Das grauenvolle Gedudel bereitete ihm physische Schmerzen. Übelkeit stieg in ihm auf, wie damals, als er sich kurz vor Helgoland auf offener See hatte übergeben müssen. Es dauerte viel zu lange, bis Stöhr endlich reagierte und dem Lärm ein Ende bereitete.

Loose musterte den Kriminalobermeister mit weit aufgerissenen Augen. »Ihr Handy. Es muss defekt sein«, erklärte er.

Stöhr wehrte die Vermutung mit vehementen Handbewegungen ab. »Im Gegenteil. Es ist nagelneu. Letzte Woche gekauft.«

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Harald Loose kam sich vor wie in einer anderen Welt. Eine Bilderbuchszenerie, wie er sie bisher nur auf alten Fotos oder Gemälden gesehen hatte. Ein kleines, vielleicht fünfzig Häuser zählendes Dorf mit roten Ziegeldächern und sauber herausgeputzten Fassaden. Eingebettet in eine auf drei Seiten von Bergen umrahmte Landschaft schmiegte sich der kleine Ort an einen sanft ansteigenden Hügel. Rings um die Gebäude erstreckten sich üppig grüne Gärten und Felder, Weinreben an den Hängen. Oben auf den Anhöhen Wald. Zwischen den Häusern lauschige, von Blumenbeeten gesäumte, kleine Plätze und Parks, auf den Wiesen am Hang Kühe, Pferde, Enten und Hühner.

Loose stand am Rand einer weitläufigen Wiese, die sich unmittelbar vor den ersten Häusern am Fuß des Hügels erstreckte. Vor ihm, am Rand der Straße, eine große Willkommenstafel. Herzlich willkommen im Musik-Dorf Schlüpfingen. Wir freuen uns über Ihren Besuch! In fetten Lettern und mit bunten Bildern üppiger Trauben, goldgelber Käsescheiben, mit von Schaumkronen bedeckten, gefüllten Biergläsern sowie Nudeln in allen Variationen wurden die Besucher begrüßt.

Er lauschte den Ausführungen des Waiblinger Kollegen, der am Vorabend die Vermisstenmeldung des Volksmusikers aufgenommen hatte, verfolgte die Tätigkeit mehrerer Arbeiter, die damit beschäftigt waren, die Reste verschiedener Kirmesbuden, Karussells und Verkaufsstände abzubauen. Die Wiese wirkte auf weiten Strecken stark mitgenommen, das Gras niedergetrampelt. Die Abdrücke der Buden und Vergnügungsstätten waren nicht zu übersehen. Besonders heftig hatte es den Randbereich zur Straße hin getroffen. Der gesamte Boden, etwa zwei Fußballfelder groß, war aufgewühlt und von einem Heer unübersehbarer Reifenspuren zerpflügt.

»Hier parkten die Autos«, erklärte der uniformierte Kollege. Er hatte sich Loose als Polizeiobermeister Feuster vorgestellt, führte ihn quer über das Gelände. »Die waren fleißig heute Nacht. Deswegen ist schon fast alles abgebaut.« Er zeigte auf ein Areal im Zentrum der Wiese. »Hier befanden sich die Bühne und das Zelt für die Künstler.« Feuster bemerkte die fragende Miene des Kommissars, setzte zur Erklärung seiner Worte an. »Für die Musiker und Schauspieler, damit die sich …« Ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem lauten Schrei ließ ihn verstummen.

Sie wandten sich zur Seite, sahen einen der Arbeiter schimpfend und fluchend auf dem Boden knien und auf ein Brett starren, das ihm anscheinend aus den Händen gerutscht war. Ein Kollege eilte herbei und half dem Mann wieder auf.

»Also für die Musiker und Schauspieler«, fuhr Feuster fort, »damit die sich für ihren Auftritt herrichten konnten. Hier, sehen Sie.« Er zog sein Handy aus der Tasche, machte sich kurz daran zu schaffen, hielt es Loose hin. »So sah das aus.«

Der Kommissar betrachtete das Bild: ein etwa zehn auf zwanzig Meter großes, straff gespanntes Zelt aus weißen Planen, dahinter eine ähnlich breite, etwa zwei Meter hohe, stabile Bühne. Quer über das Zelt hinweg hing eine breite Banderole mit der Aufschrift: Schwäbische Heimattage. Alles wirkte äußerst professionell.

Feuster wischte über das Display, zeigte eine Abfolge von Bildern mit dem Zelt und der Bühne im Mittelpunkt, von einer gewaltigen Menschenmenge umringt. Ein Teil der Leute saß auf Bierbänken, Stühlen oder Tischen, andere standen im weiten Kreis drum herum. »Da war ganz schön was los, gestern!« Die Begeisterung des Beamten war nicht zu überhören. »Die Bilder stammen von meiner Cousine. Die war den ganzen Mittag anwesend und kaum zu trösten, als Heinzis Auftritt ausfiel.« Er musterte die Miene Looses, konnte keine Reaktion erkennen.

»Was soll das?«, kam es stattdessen kurz und knapp über dessen Lippen. Seine ausgestreckte Hand wies auf zwei große Plakatwände am Rand des Geländes, die riesige Bilder wunderschöner Gebäude und anmutiger Parkanlagen voll modisch gekleideter, freundlich lächelnder Menschen präsentierten. Das neue Schlüpfingen, waren sie überschrieben. Was nicht so recht passte, waren die dunklen Flecken, die die beiden Wände in auffallend großer Anzahl verunstalteten.

»Ein neuer Ortsteil«, erklärte Feuster. »Soll hier gebaut werden.« Er zeigte in die Umgebung.

Loose wandte sich von den Plakatwänden ab. »Die Toiletten«, sagte er.

Feuster wunderte sich über das emotionslose Verhalten des Kollegen, wies zur Seite auf das kleine Waldstück, das sich am Rand der Wiese erstreckte. Der Mann vermied jeden Blickkontakt, richtete seine Augen überall hin, nur nicht ins Gesicht seines Gesprächspartners.

Sie querten das Gelände, liefen auf die Lichtung zu. Es handelte sich um eine Ansammlung junger Laubbäume, die von dichtem Buschwerk gesäumt wurden.

Feuster wies auf die freien Flächen zwischen den Stämmen. »Hier waren sie aufgebaut.«

Loose warf einen Blick auf den Boden, hatte keine Schwierigkeiten, die Abdrücke der Toiletten zu erkennen. Man hatte sie in lockerem Abstand voneinander postiert gehabt, parallel, in mehreren Reihen.