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Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Aachener Todesreigen

Aachener Intrigen

Aachener Gangster

Aachener Untiefen

Ingrid Davis (Jahrgang 1969) ist gebürtige Aachenerin und begann bereits im Alter von zehn Jahren mit dem Schreiben von Kurzgeschichten, Novellen und Gedichten. Ihr Weg führte sie nach dem Studium Englischer Literatur und Geschichte jedoch zunächst nicht in die Schriftstellerei, sondern ins Marketing und Projektmanagement. Hauptberuflich ist sie auch heute noch als Marketingmanagerin tätig und lebt in Aachen. Neben dem Krimischreiben verbringt sie ihre Freizeit gerne mit Reisen, Kino, Literatur und Strategiespielen.

Aachener Abgründe ist der fünfte Band der Reihe um die schlagfertige Privat-Ermittlerin Britta Sander, die ein verhängnisvolles Talent besitzt, in gefährliche Situationen zu geraten.

Ingrid Davis

AACHENER ABGRÜNDE

Britta Sanders fünfter Fall

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Originalausgabe

© 2020 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: info@kbv-verlag.de

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von © Markus - Fotolia.de

und © artit - stock.adobe.com

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-95441-518-2

E-Book-ISBN 978-3-95441-530-4

Für Dagmar und Walter.
Freunde, wie man sie sich nicht besser wünschen kann.

INHALT

PROLOG: MÄRZ 1997

FREITAG, 13. OKTOBER (GEGENWART)

SAMSTAG, 14. OKTOBER

SONNTAG, 15. OKTOBER

MONTAG, 16. OKTOBER

DIENSTAG, 17. OKTOBER - DIENSTAG, 31. OKTOBER

MITTWOCH, 1. NOVEMBER

DANKE

PROLOG

MÄRZ 1997

Sie zitterte am ganzen Leib. Es regnete unaufhörlich, und inzwischen war sie bis auf die Haut durchnässt. Sie fror wie ein Schneider. Warum hatte sie sich nur schon wieder mit dem Tag vertan? Die offene Sprechstunde war dienstags und donnerstags. Heute war doch Mittwoch, verdammt. Ganz umsonst war sie aus ihrem Unterschlupf gekrochen. Wie sie ihr Glück kannte, hatte sich in der Zwischenzeit jemand anders ihren Platz unter den Nagel gerissen. Nur gut, dass sie ihre Iso-Matte und den Schlafsack gut versteckt hatte, bevor sie losgezogen war.

Ein wohlhabend aussehendes Pärchen stapfte unter einem riesigen Regenschirm die dunkle Theaterstraße hinunter, die Frau kicherte albern. Als die beiden sie sahen, wechselten sie die Straßenseite, bevor sie sie anschnorren konnte. Geiziges Pack, dachte sie wütend. Die hatten doch keine Ahnung, wie es war, auf der Straße.

Sie regte sich immer noch über die Sprüche auf, die ihr jeder zweite an den Kopf warf: »Geh doch arbeiten« oder »Wenn du mir versprichst, dass du keine Drogen davon kaufst«.

Wie sollte man es denn auf der Straße aushalten ohne? Als Benny noch da war, war alles einfacher gewesen. Zu zweit waren sie nachts sicherer gewesen, und Benny hatte so viel Charme und sah so gut aus, die ganzen Muttis waren immer dahingeschmolzen, wenn sie ihn gesehen hatten, und meistens hatte er nach zwei Stunden genug zusammengehabt, dass sie den Rest des Tages einfach nur abhängen konnten. Aber dann, vor zwei Monaten, hatte er sie sitzen lassen. Hatte sich mit seiner Mutter ausgesöhnt und war zurück nach Köln gegangen. Kein Platz für sie, natürlich. Er war einfach weg. Vielleicht hatte Benny einfach die Nase voll von ihr gehabt, davon, dass er immer das Betteln übernehmen musste. Ihr gab nur selten jemand was.

»Du darfst nicht so grimmig dreingucken«, hatte er immer lachend mit ihr geschimpft. »Wer soll dir denn was geben, wenn du so böse aus der Wäsche schaust?«

»Sag mir mal einen Grund, warum ich nicht böse aus der Wäsche gucken soll«, hatte sie bissig zurückgegeben, sich danach aber trotzdem bemüht.

Es wurde auch tatsächlich etwas besser, aber sie würde nie so viel kriegen wie Benny. Ihm flog das Geld nur so zu. Außerdem war es besser, wenn sie tagsüber in der Innenstadt nicht zu sichtbar war. Ihr verdammter Stiefvater arbeitete im Standesamt und war oft in der Stadt unterwegs. Sie konnte es nicht ertragen, ihn zu sehen. Er, vor dem sie abgehauen war, als er anfing, nachts in ihr Zimmer zu kommen, kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag. Gewehrt hatte sie sich, gekratzt und gebissen hatte sie ihn, und er hatte es nicht geschafft die ersten paar Male, war wieder abgezogen, der Perverse. Aber er ließ nicht locker, und irgendwann hatte er sie dann in einer Ecke, eines Abends, als ihre Mutter nicht da war.

Am nächsten Morgen hatte sie versucht, ihrer Mutter zu sagen, was passiert sei, aber die hatte nicht zugehört, sie gleich abgewürgt. »Fang gar nicht erst an, Lügengeschichten über Josef zu erzählen. Ich kenne dich. Du kannst ihn nicht leiden, weil er strenger ist als dein Vater. Endlich setzt dir mal jemand Grenzen, auf mich hörst du schließlich nie. Sei einfach brav und folgsam, dann hast du von Josef nichts zu befürchten.«

Tränen der Wut und der Verzweiflung waren ihr in die Augen gestiegen.

»Und hör um Himmels willen auf zu flennen. Du bist doch keine zehn mehr«, hatte ihre Mutter sie angefaucht und angefangen, den Frühstückstisch abzuräumen.

Eine Woche hatte sie es ausgehalten, eine ganze Woche, dann war sie das erste Mal abgehauen. Am nächsten Tag hatten die Bullen sie zurückgebracht.

Beim zweiten Mal hatten sie sie erst nach einer Woche gefunden – und wieder zurückgebracht. Seitdem ließ ihre Mutter sie kaum noch aus den Augen. Nur nachts natürlich, sonst hätte sie nicht ignorieren können, wie oft ihr Mann im Zimmer seiner Stieftochter verschwand. Sie hatte es trotzdem wieder versucht abzuhauen, aber die Bullen waren gut darin, sie zu finden. Die Schule interessierte sie schon lange nicht mehr, dort wollte eh keiner mehr was mit ihr zu tun haben. Ihr konnte sowieso niemand helfen. Wenn ihre eigene Mutter ihr schon nicht glaubte.

Als sie anfing, sich die Arme aufzuritzen, hatte das Schwein sie eine Zeitlang in Ruhe gelassen. Aber nicht lange genug – nach einer Weile ging alles wieder von vorne los. Die Zeit bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag war ihr vorgekommen wie ein Jahrhundert, aber endlich war der Tag da gewesen, und sie hatte die Tür hinter sich zugeknallt. Nur weg. Seitdem lebte sie auf der Straße und schlug sich irgendwie durch.

Nach drei Monaten des Umherirrens hatte sie Benny kennengelernt. Sie hatten nebeneinander im Wartezimmer der offenen Sprechstunde gesessen, und Benny war der Erste, der sich von ihrer abweisenden Art nicht hatte abschrecken lassen. Er hatte sie zum ersten Mal seit Langem mal wieder zum Lachen gebracht. Von dem Tag an waren sie wie Pech und Schwefel gewesen. Bis er sich verpisst hatte, einfach so.

Sie vermisste ihn, jede Minute. Und seit er nicht mehr da war, bekam sie auch wieder die eindeutigen »Angebote«, sich doch ein bisschen Geld und einen trockenen Schlafplatz zu verdienen. Bisher hatte sie es geschafft, sich so durchzuschlagen. Aber wie lange noch? Tabak und Stoff waren teuer.

Sie stapfte weiter durch den Regen und die Dunkelheit. Dann hörte sie plötzlich ein herannahendes Auto und starrte stur weiter geradeaus, als der Wagen neben ihr auf Schritttempo verlangsamte. Sie brauchte gar nicht hinzugucken, es war klar, was der Fahrer wollte.

»Martina? Bist du das?«, fragte eine freundliche, sanfte Stimme, und sie stutzte. Die Stimme kannte sie doch irgendwoher. Sie wandte den Kopf zur Straße, blieb aber nicht stehen.

»Erkennst du mich nicht?« Der Fahrer lehnte sich etwas in Richtung des offenen Beifahrerfensters, und da sah sie, wer es war. Die Anspannung verließ ihren Körper, und gegen ihren Willen stiegen ihr Tränen der Erleichterung in die Augen. Jemand, den sie kannte, und vor allem jemand, vor dem sie keine Angst haben musste. Sie blieb stehen.

»Oje, so schlimm?«, sagte er mitfühlend. »Komm, steig ein, du holst dir ja den Tod da draußen.«

»Ich bin ganz nass, ich mach Ihre schönen Polster dreckig«, schniefte sie.

Er lachte. »Ach, du gutes Kind. Lass mal die Polster meine Sorge sein. Was glaubst du, was meine Frau mir erzählt, wenn ich dich hier einfach im Regen stehen lasse?«, fragte er und öffnete die Tür. »Also komm schon, sonst können wir in ein paar Tagen deine Todesanzeige schalten.«

Es gab doch wenigstens ein paar anständige Menschen auf dieser Welt, dachte sie, als sie in das mollig warme Auto einstieg. So was hätte ihr Papa auch gemacht, wenn er noch gelebt hätte.

Mit einer Hand fischte ihr Retter eine karierte Wolldecke vom Rücksitz. Sie wickelte sich, so gut es ging, darin ein und legte folgsam den Sicherheitsgurt an, weil er sie darum bat.

Als er anfuhr, hatte sie bereits die Augen geschlossen und den Kopf an die Kopfstütze gelehnt. Es war trocken und warm, und sie war – wenigstens für kurze Zeit – gut aufgehoben. Es dauerte nicht lange, da war sie vor Erschöpfung eingeschlafen. Und deshalb sah sie nicht, wohin ihr Retter mit ihr fuhr.

FREITAG, 13. OKTOBER (GEGENWART)

05:05 Uhr

Ich hatte mich gerade umgedreht und war, mit dem warmen Gewicht von Sammy auf meinen Füßen, fast wieder eingeschlafen, als Körber unwillig das morgendliche Ritual einleitete.

»Lily, wir hatten uns doch auf nicht vor halb sieben geeinigt«, knurrte er, den Kopf zum Schlafen wie immer unter dem Kopfkissen. Lily, unser kleiner, getigerter Neuzugang war wie immer auf diesem speziellen Ohr taub und fuhr unbeirrt damit fort, Körber verführerisch schnurrend mit der Pfote anzustupsen.

»Körber«, stöhnte ich, »steh doch einfach auf und fütter sie, dann haben wir wenigstens die Chance, noch ein bisschen zu schlafen.«

»Und was, wenn sie spielen will statt Futter?«, protestierte er.

»Dann spielst du besser mit ihr, damit wenigstens Sammy und ich noch eine Mütze Schlaf abkriegen«, murrte ich und zog mir demonstrativ die Decke über die Schulter.

Körber hielt noch ein paar Minuten durch, nur um sich schließlich seufzend aufzusetzen, die kleine Lily hochzuheben und ihr ernst ins Gesicht zu gucken. »Das ist das letzte Mal. Verstehen wir uns?«

Lily schnurrte und himmelte Körber an, der seufzend die Decke zurückschlug und mit dem Kätzchen unter dem Arm in die Küche tapste.

Als die Tür der Vorratskammer quietschend aufging, sprang Sammy mit einem begeisterten Wuffen auf und schoss wie der Blitz Körber hinterher.

Ich seufzte wohlig und kuschelte mich noch tiefer unter meine Decke. Als ich gerade erneut dabei war, wieder einzuschlafen, raste Sammy kläffend aus der Küche zur Wohnungstür. Ich hörte, wie er dort knurrend Stellung bezog.

Als ich mich aufsetzte und mir die Haare aus der Stirn pustete, sah ich, wie Körber mit schnellen Schritten und seiner Dienstwaffe in der Hand hinter Sammy hereilte und eilig die Wohnungstür aufschloss. Er riss sie auf und knurrte: »Schon wieder?! Ich glaub, mein Hamster bohnert!« Dann hörte ich nur noch seine nackten Füße im Treppenhaus.

»Körber, du hast doch gar nichts an!«, rief ich noch und hoffte, dass mein Nachbar, Oberst a.D. Krause, heute ein bisschen länger schlief und nicht gleich nach unten stapfte, um unsere Zeitungen hochzuholen.

»Gefahr im Verzug«, rief Körber zurück, und ich hörte, wie unten die Haustür aufging. Sammy war Körber offenbar hart auf den Fersen, während ich aus der Küche Lilys zufriedenes Knurpsen hörte.

»Ich fass es nicht«, seufzte ich, zog mir schnell was an und marschierte schnellen Schrittes auf die sperrangelweit offen stehende Wohnungstür zu.

Als mein Blick auf die Fußmatte fiel, wusste ich, warum Körber so schnell aus der Wohnung gestürzt war.

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08:00 Uhr

Als ich die Tür zur Detektei aufschloss, empfing mich ungewohnte Ruhe. Normalerweise klackerten um diese Uhrzeit schon diverse Tastaturen, die Kaffeemaschine sollte geräuschvoll blubbern, und irgendjemand rief eigentlich immer einen dummen Spruch über den Flur oder malträtierte den Kopierer. Stattdessen Totenstille.

Seltsam. Hab ich mich vertan, und es ist Wochenende?

Sammy nahm wie immer schwanzwedelnd den direkten Weg in die Küche, in der Hoffnung, dass jemand irgendetwas Essbares hatte herumliegen lassen. Ein Blick zeigte mir, dass Silkes und mein Büro noch gänzlich unbewohnt war, und auch aus Marcs und Erics Höhle drang kein Laut. Kein Piet, keine Joanna, keine Steffi – meine Kollegen hatten sich offenbar in Luft aufgelöst. Ob unser Geschäftsführer Fritz Schniedewitz und sein Vorzimmerdrachen Frau Malzer in ihren jeweiligen Büros thronten, wollte ich lieber nicht wissen. Man musste sich den Tag ja nicht gleich zu Anfang verderben.

Als ich an der Küchentür anlangte, blieb ich verdutzt stehen. Sammy konnte eigentlich nur in der Küche verschwunden sein, aber die Tür war zu. Ich sah mich irritiert um. »Sammy?«

Nichts.

»Was zum Henker ist denn hier heute los?«, schimpfte ich, als ich die Küchentür öffnete und direkt in einen Menschenauflauf hineinstolperte.

»HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!!!«, kreischte die versammelte Kollegenmeute, die sich in unserer kleinen Gemeinschaftsküche drängelte und heldenhaft versuchte, eine wunderschöne Torte mit fünf Kerzen vor Sammys begeistertem Ansturm zu bewahren. Irgendjemand hatte ein Glückwunschbanner quer über das Küchenfenster gespannt, zur Feier des Tages trugen alle alberne Party-Hütchen und Eric blies nach Leibeskräften in eine kleine Tröte.

Ich strich mir die Haare aus der Stirn. »Sagt mal, hab ich mich in der Tür vertan und bin im Irrenhaus gelandet statt bei Schniedewitz & Schniedewitz?«, grinste ich.

»Seit wann gibt’s da einen Unterschied?«, kalauerte Eric, nachdem er die Tröte für einen Moment abgesetzt hatte.

»Auch wieder wahr. SAMMY, NEIN!«

Sammy hatte einen kleinen Moment der Unaufmerksamkeit genutzt und war schon bis auf einen Küchenstuhl vorgedrungen – die Schokoladentorte auf dem Tisch fest im Blick. Eric drückte Marc die Tröte in die Hand und hechtete zu der Torte, kein einfaches Unterfangen in dem Gedrängel. In letzter Sekunde riss er das Konditorkunstwerk hoch und balancierte es wie ein Chefkellner über dem Kopf außerhalb von Sammys Reichweite. Bei zwei Metern Körpergröße nicht schwer – Sammy ging Eric ungefähr bis zur Wade.

»Kann mal jemand das Raubtier zähmen?«, japste Eric, für dessen Hosenbeine Sammy sich jetzt in einer Übersprungshandlung interessierte.

»Gern, was genau soll ich denn mit ihr machen?«, knurrte hinter mir Körbers knarzige Reibeisenstimme.

Ich drehte mich entrüstet zu ihm um. »Eine Un-ver-schämtheit! Wie bist du überhaupt hier reingekommen?«

»Irgendjemand hat wohl die Tür für mich aufgelassen«, brummte Körber. »Es hieß, es gibt was zu essen.«

»Du hast doch eben erst die Hälfte von …«, protestierte ich.

»Eben«, brummelte er und seine Augen funkelten amüsiert. »Die Hälfte.«

»Also wenn du nicht bald mal die Kerzen ausbläst, kann ich für nichts mehr garantieren«, ächzte Eric, während Silke verzweifelt versuchte, Sammy, das wendige, schwarze Wollknäuel, zu fassen zu kriegen – vergeblich, versteht sich.

»Sammy!«, rief ich streng. Der Übeltäter kam abrupt zum Stehen und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Du brauchst gar nicht so zu gucken. Wer bitte hat denn eben die andere Hälfte von meinem Rührei verputzt, hm?« Sammys Blick wandelte sich unversehens in einen Ausdruck engelsgleicher Unschuld. Er wedelte zaghaft mit dem Schwanz, und Eric ließ vorsichtig die Torte sinken.

»Ja wie, Rührei? Sag nicht, du hast keinen Hunger«, sagte er mit einem enttäuschten Blick auf die Torte.

»Doch, doch«, seufzte ich, »sperr die Löffel auf, Herr Lautenschläger – Körber und Sammy hatten Rührei, ich nicht.«

»Seit wann lässt du dir denn schon am frühen Morgen die Butter vom Brot nehmen«, grinste mein Kollege Marc.

»Nicht die Butter, nur das Rührei«, brummte Körber.

»Und du lebst noch, Körber?«, gluckste Marc.

»Sie war abgelenkt«, brummte der und nahm mit einem Nicken einen großen Becher Kaffee in Empfang. »Abgesehen davon – wozu hat man eine schusssichere Weste.« Er schlürfte genüsslich, und seine schwarzen Augen funkelten spitzbübisch.

»Krieg ich jetzt meinen Kuchen?«, seufzte ich.

»Selbstverständlich, Gnädigste«, grinste Eric und stellte die Torte wieder auf dem Küchentisch ab. »Aber alle schön auf einmal auspusten, ja? Sonst dürfen wir uns nichts wünschen.«

»Ihr dürft euch sowieso nichts wünschen außer besseren Manieren«, brummelte ich. »Was feiern wir denn eigentlich?«, fragte ich, bevor ich die fünf Kerzen auspustete.

Das allgemeine Geplapper verstummte, und alle starrten mich entgeistert an.

»Das weißt du nicht?«, fragte Silke.

Eric schob mich dezent zur Seite und säbelte ein beachtliches Tortenstück ab. Er reichte mir den Teller, und als ich mir die erste Gabel in den Mund geschoben hatte, sagte ich kauend: »Nö. Sollte ich?«

»Man fasst es nicht«, ächzte Eric. »Da fiebern wir deinem Jubiläum seit Wochen entgegen …«

»Was denn für ein Jubiläum?«, fragte ich und hob eine Augenbraue, während ich unverdrossen weiterkaute.

»Heute vor genau fünf Jahren hattest du deinen ersten Arbeitstag bei Schniedewitz & Schniedewitz«, sagte mein niederländischer Kollege Piet vorwurfsvoll.

»Und das soll ein Grund zum Feiern sein? Wird schon seinen Grund haben, dass das Jubiläum auf einen Freitag, den 13. fällt«, grinste ich und prostete meinen Kollegen mit meiner Kaffeetasse zu.

»Naja, in der Not frisst der Teufel Fliegen«, seufzte Eric, »sonst haben wir ja momentan nicht viel zu feiern.«

»Was gibt’s denn Neues an der Verkaufsfront?«, fragte Körber neugierig und lud sich ein ordentliches Stück Torte auf den Teller.

Alle Augen richteten sich auf Steffi, die als Joanna Parkers Assistentin meist am besten informiert war, denn obwohl Inhaber Fritz Schniedewitz in dem seligen Glauben lebte, die Detektei zu leiten, war es in Wahrheit Joanna Parker, die die Geschicke unseres kleinen Dampfers lenkte.

Steffi zuckte nur entschuldigend mit den Schultern. »Joanna hält sich momentan komplett bedeckt.« Sie senkte die Stimme. »Ich hab vorgestern mitgekriegt, wie der alte Fritz ihr ’nen Maulkorb verpasst hat. Er würde sie rausschmeißen, wenn sie auch nur ein Sterbenswörtchen … und dann ging die Tür zu, und ich konnte nichts mehr hören.«

Eric und ich tauschten einen besorgten Blick. Das Damokles-Schwert eines Verkaufs schwebte nun schon seit einigen Monaten über der Detektei, aber trotz eifrigster Bemühungen war es uns bisher nicht gelungen, herauszufinden, ob sich inzwischen ein Käufer gefunden hatte – und wenn ja, wer.

»Das kriegen wir schon noch raus«, mampfte Marc. »Nur eine Frage der Zeit.«

»Apropos Zeit …«, Piet sah auf die Uhr. »Ich weiß nicht, wie’s euch geht, aber ich muss jetzt los.«

»Der Außendienstler, der auf dem Supermarktparkplatz ausgedehnte Nickerchen hält statt Kundentermine wahrzunehmen?«, kicherte Silke.

Piet winkte ab. »Nein, nein, den hatte ich doch schon letzte Woche im Sack, Meisje. Jetzt sind wir bei Chefarztgattin auf Abwegen.«

»Oh, die heißt nicht zufällig Annette?«, grinste ich in Anspielung auf die Frau meines ältesten Bruders, Chefarzt Dr. Holger.

Piet lachte. »Innere Medizin, nicht Chirurgie. Und diesmal liegen meine Sympathien ganz sicher nicht bei meinem Auftraggeber. Was für ein Klootzak! Ich hätte gute Lust, das ganze Beweismaterial einfach verschwinden zu lassen. Wenn der mir noch einmal erzählt, wie wichtig er ist, mach ich das auch, verlasst euch drauf. So ein eingebildeter Popanz.« Er winkte zum Abschied und machte sich auf den Weg.

Nachdem sich alle unter fröhlichem Geschnatter mindestens ein weiteres Stück der köstlichen Torte vom Café Lammerskötter auf die Teller geladen hatten, trollten sich die diversen Herrschaften an ihre Arbeitsplätze. Ich gab Eric ein unauffälliges Zeichen, mit Körber und mir in der Küche zu bleiben, und machte, als der Letzte sich verzogen hatte, die Küchentür zu.

»Nanu? Sie machen es aber spannend, Frau Sander«, flachste Eric. »Und der Herr Kriminaloberkommissar auch mit von der Partie – welches meiner schmutzigen Geheimnisse habt ihr denn jetzt wieder gelüftet?«

Anstelle einer Antwort zog Körber einen Briefumschlag aus dickem Pergamentpapier aus der Tasche seines Jacketts und reichte ihn Eric.

Der hob eine Augenbraue und besah sich den Umschlag von vorne und hinten. Außen auf dem Umschlag stand in roter Tinte und kalligraphierter Schrift mein Name. Anstelle eines Absenders hatte jemand von Hand sehr kunstvoll eine schwarze, venezianische Augenmaske gezeichnet.

»Aller guten Dinge sind drei«, murmelte Eric und strich gedankenverloren über den vermutlich sündhaft teuren Briefumschlag.

Sieben Monate zuvor hatte mir jemand an meinem Geburtstag eine sehr kostbare venezianische Augenmaske auf die Fußmatte gelegt, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen oder sich zu erkennen zu geben. Vier Monate später fand ich eines Abends ein Päckchen vor meiner Wohnungstür, das in blutroter Tinte mit meinem Namen beschriftet war und statt eines Absenders ebenfalls eine handgezeichnete venezianische Augenmaske trug. Als wir die Kordeln gelöst und das Papier aufgeschlagen hatten, hatten wir einen edlen, dunkelgrauen Kapuzenumhang gefunden, wie sich später herausstellte aus reiner Seide.

Eric sah mich an. »Sag mir bitte, dass sich endlich jemand zu erkennen gibt«, sagte er seufzend.

»Na ja, wie man’s nimmt«, sagte ich. »Am besten machst du’s auf.«

Eric öffnete vorsichtig die Klappe des Umschlags und zog zunächst den gefalteten Bogen handgeschöpften Büttenpapiers heraus. Dann bemerkte er, dass in dem Umschlag noch etwas anderes steckte und ließ den blutroten Gegenstand sanft auf seinen offenen Handteller gleiten. »Das ist eine Brosche oder eine Art Spange – lass mich raten, perfekt gemacht, um den grauen Umhang am Hals zu schließen.«

»Nicht schlecht, Herr Lautenschläger«, brummte Körber. »Wir haben was länger gebraucht, als das Ding in seinem Umschlag heute Morgen um kurz nach fünf auf Brittas Fußmatte lag.«

»Wieder niemand zu sehen?«, fragte Eric, während er die edle Spange bewundernd hin und her wendete.

»Wieder niemand zu sehen«, bestätigte ich. »Gott sei Dank, sonst hätte Körber morgen wegen seiner sehr leichten Bekleidung garantiert in der Zeitung gestanden.«

Eric schmunzelte und ließ die Spange fast ehrfurchtsvoll wieder in den Umschlag zurückgleiten, legte ihn auf den Tisch und entfaltete den Briefbogen. Nachdem er den Brief gelesen hatte, kletterten seine Augenbrauen fast bis zur Haarwurzel. Dann sah er uns an. »Alter Schwede.«

»Das kannst du aber laut sagen.« Ich setzte mich rittlings auf einen der Küchenstühle und stützte meine Arme auf der Rückenlehne ab.

Eric warf einen erneuten Blick auf den Briefbogen, den er in der Hand hielt. Ich kannte den Inhalt, ebenfalls in roter Tinte geschrieben, inzwischen auswendig:

An Frau Britta Franziska Sander
Privatdetektivin

Ihr Auftrag:

Am 25. März 1997 verschwand Martina Bilberger, 18 Jahre, aus Würselen.

Ihr Aufenthaltsort ist bis heute unbekannt.

Im Sommer dieses Jahres verschwand Karin Franke, 18 Jahre, aus Aachen.

Ihr Aufenthaltsort ist bis heute unbekannt.

Wir haben Grund zu der Annahme, dass sowohl Martina Bilberger als auch Karin Franke einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnten.

Finden Sie heraus, was mit den beiden jungen Frauen geschehen ist.

Kontaktperson im Fall Martina Bilberger: Hilde Debschitz

Kontaktperson im Fall Karin Franke: Kornel Mommertz

Für die
Gilde der Unsichtbaren
Die Präfektin

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»Und das ist alles?« Eric wendete ungläubig den Briefbogen in seiner Hand, um sicherzugehen, dass auf der Rückseite wirklich nichts mehr stand. »Ganz schön Mantel und Degen.« Er kratzte sich am Kopf. »Das kann doch fast nicht ernst gemeint sein. Die Gilde der Unsichtbaren? Echt jetzt?«

»Hätte ich auch gesagt«, knurrte Körber. »Wenn da nicht noch die 6.000 Euro wären, die mit im Umschlag steckten.«

Eric hob beeindruckt eine Augenbraue. »So eine Zahlungsmoral wünsche ich mir auch mal bei meinen Klienten. Aber was soll das denn sein – die Gilde der Unsichtbaren?«

Ich zuckte mit den Schultern und pustete mir die Haare aus der Stirn. »Wenn ich das mal wüsste.«

Eric musterte mich und sagte nach einem Seitenblick auf Körber: »Warum werde ich nur das Gefühl nicht los, dass du diesen seltsamen Auftrag annehmen willst?«

»Ich sag mal so – bei jemandem, der 6.000 Euro für eine Ermittlung anzahlt, halte ich es für unwahrscheinlich, dass er sich nur einen dummen Scherz erlaubt. Und ganz ehrlich – wenn auch nur der Hauch einer Möglichkeit besteht, dass in Aachen zwei junge Frauen spurlos verschwunden sind, wollen wir das wissen, oder?«, sagte ich. »Abgesehen davon bin ich gespannt wie ein Flitzebogen, was es mit dieser Gilde auf sich hat«, ergänzte ich. »Und ich vermute, die Wahrscheinlichkeit, das rauszukriegen, steigt, wenn wir den Auftrag annehmen.«

»Und das Risiko, dass dich jemand vor seinen Karren spannt?«, knurrte Körber.

Ich seufzte. »Körber, erstens kannst du von jedem meiner Klienten sagen, dass er mich vor seinen Karren spannt, das liegt in der Natur der Sache, und zweitens haben wir das doch heute früh alles schon mal durchgekaut. Bisher haben wir die Namen von zwei potentiell verschwundenen Mädels und von zwei Personen, die uns hoffentlich dazu Auskunft geben können, ob da was dran ist. Was um Himmels willen riskieren wir denn, wenn wir überprüfen, ob die Mädels wirklich verschwunden sind und was diese Frau Debschitz und dieser Herr Mommertz uns dazu sagen können?«

»Hrmpf«, machte Körber und blickte weiter finster drein.

»Ich denke, Britta hat recht, Körber«, sagte Eric. »Abgesehen davon würde ich mal vermuten, dass die Herrschaften zwar lichtscheu sind, aber offenbar nicht polizeischeu.«

Körber hob fragend eine Augenbraue.

»Naja, überleg doch mal. Jede dieser drei Botschaften wurde Britta nach Hause gebracht, nicht hierher in die Detektei. Da müssen wir doch davon ausgehen, dass die Herrschaften wissen, mit wem Britta liiert ist. Schließlich wohnst du ja schon halb mit in der Lütticher Straße. Wenn die was vor der Polizei zu verbergen hätten, hätten sie sich wohl kaum Britta als Ermittlerin ausgesucht, oder?«

Körber kratzte sich am Kopf. »So hatte ich das noch nicht gesehen.«

»Ich hätte schon viel früher auf ein Gespräch unter Männern setzen sollen«, grinste ich. »Also, wir legen erst mal los. Wenn sich – in welcher Form auch immer – herausstellt, dass die Gilde mit ihrem Auftrag unlautere Motive verfolgt, müssen wir ihnen ja nicht erzählen, was wir rausgefunden haben.«

Körber nickte, immer noch etwas unwillig.

»Sind die beiden jungen Frauen denn offiziell als vermisst gemeldet?«, wandte Eric sich an Körber.

Der schüttelte den Kopf. »Das hab ich heute Morgen gleich überprüft – für Karin Franke habe ich im System keine Vermisstenmeldung gefunden.«

»Und für Martina Bilberger?«, fragte Eric.

»Dazu muss ich ins Präsidium. Wenn wir Glück haben, erinnert sich einer der älteren Kollegen im KK 12 noch an den Fall, falls es damals eine Vermisstenanzeige gegeben hat. Ansonsten muss ich mich durchs Archiv graben. Aber wenn es eine Anzeige gab, dann ist sie auch noch da.«

»Das heißt, Vermisstenmeldungen bleiben unbegrenzt stehen?«, fragte Eric. »Das Verschwinden von Martina Bilberger ist ja schon über zwanzig Jahre her.«

»Wenn die betreffende Person nicht wieder auftaucht, bleibt die Vermisstenanzeige stehen«, bestätigte Körber. »Wenn also jemand damals das Verschwinden von Martina Bilberger gemeldet hat, gibt es dazu auch noch Unterlagen.«

»Trotzdem ist die ganze Angelegenheit höchst seltsam«, sagte Eric. »Man sollte meinen, es gäbe einfachere Wege, eine Detektivin zu beauftragen als ein kryptisches Schreiben in blutroter Tinte. Obwohl …«

»Obwohl was?«

»Wieso bin ich denn darauf nicht schon früher gekommen!?« Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

Körber und ich sahen uns ratlos an. »Worauf?«, knurrte der.

»Na, ist doch klar – das ist die Aufnahmeprüfung für eine verdeckte Hexenvereinigung«, grinste Eric. »So was wie die Freimaurer, nur noch geheimer und nur für Hex… äh Frauen. Und die hier«, er holte die Spange wieder aus dem Umschlag, »besiegelt die Einladung zum Hexensabbat. Und das ganz ohne Vorverkaufsgebühr«, gackerte er und duckte sich, als ich die aktuelle Ausgabe des Aachener Kuriers nach ihm warf.

»Hm«, Körber setzte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck auf. »Da könnte was dran sein. Bis zur Walpurgisnacht ist es ja noch fast ein halbes Jahr hin – Zeit genug, die Aufnahmeprüfung zu bestehen und sich einen schicken Besen zu besor… AUA!«

Ich seufzte und rieb mir die Hand. »Ich wusste, es war ein Fehler, euch einzuweihen. Kindsköpfe. Dann ermittle ich eben alleine.« Sammy wuffte zustimmend.

»Och nööö«, protestierten Körber und Eric gerade im Chor, als mein Handy die Titelmelodie von Der Hobbit erklingen ließ.

Ohne zu gucken, wer es war, ging ich dran. »Sander.«

»Einen wunderschönen guten Morgen«, klang Tom Hartwigs Stimme aus dem Hörer. »Ich wollte es mir doch nicht nehmen lassen, höchstpersönlich zum Firmenjubiläum zu gratulieren. Obwohl – eigentlich müsste ich der Detektei gratulieren, dass sie die ersten fünf Jahre mit dir überstanden hat.« Man hörte sein breites Grinsen förmlich durch den Hörer.

Tom Hartwig war ein steinreicher Kunst- und Antiquitätenhändler, und in meinem vorletzten großen Fall mein Auftraggeber gewesen. Die Ermittlungen im Mordfall seines Ziehvaters Raphael Weskott hatten sich deutlich turbulenter gestaltet, als wir beide das zu Beginn erwartet hatten, was unter anderem an Toms illustrer Vergangenheit als waschechter Gangsterboss lag. Wir hatten die Täter überführt, hätten das allerdings um ein Haar mit dem Leben bezahlt. So was schweißt zusammen.

»Frechheit. Was macht die Schweinshaxe?« Während ich mit einem Streifschuss auf dem Rippenbogen davongekommen war, hatte der Mörder seines Ziehvaters Tom zwei Kugeln ins Bein gejagt, bevor wir ihn dingfest machen konnten.

»Langsam geht’s aufwärts«, seufzte Tom. »Die letzte Kontrolluntersuchung war die erste, bei der dein charmanter Bruder mich nicht angeblafft hat. Ich glaube, das heißt, er ist endlich zufrieden mit dem Heilungsprozess. Dauert ja auch schon lang genug.«

Mein ältester Bruder Holger, seines Zeichens Chefarzt der Chirurgie am Aachener Uniklinikum, war nicht nur für seine Künste im OP landesweit bekannt, sondern auch für den vorbildlichen Umgang mit seinen Patienten – ruppig, arrogant und völlig ungehindert von sozialer Kompetenz. Ein Chirurg vom alten Schlag eben.

»Chefarzt Dr. Holger, wie er leibt und lebt. Nur gut, dass er nicht Kinderarzt geworden ist. Aber wo ich dich schon an der Strippe habe: Hast du schon mal was von der Gilde der Unsichtbaren gehört?«

»Von der was?«

Das wär jetzt auch zu einfach gewesen. »Die Gilde der Unsichtbaren.«

»Klingt in der Tat nach etwas, von dem ich schon mal was gehört haben könnte.« Toms Karriere als Gangster lag hinter ihm. Trotzdem hatte er nach wie vor Kontakte in die weitverzweigte Unterwelt, nicht alle davon freiwillig. »Was hast du mit dieser Gilde zu tun?«

Ich erzählte ihm vom neuesten Umschlag-Abwurf vor meiner Wohnungstür. Die ersten beiden Gegenstände hatte Tom bereits intensiv unter die Lupe genommen.

»Und du hast keinerlei Hinweise, wer dahinterstecken könnte?«, fragte er, nachdem ich geendet hatte.

»Nichts, aber auch rein gar nichts.«

Tom schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Gehe ich recht in der Annahme, dass du den Auftrag trotzdem annimmst?«

»Ich wüsste nicht, warum nicht.«

»Das war so klar«, seufzte er. »Weiß dein kleiner Kommissar Bescheid?«

»Er ist nicht klein, und ja, er weiß Bescheid.«

»Ist das etwa der Herr Ganove?«, brummte Körber missmutig.

Hach, ist er putzig, wenn er eifersüchtig ist.

»Ex-Ganove, Herr Kriminaloberkommissar, so viel Zeit muss sein«, rief Tom so laut in den Hörer, dass Körber es nicht überhören konnte. Mürrisch winkte der ab, und Tom fuhr in normaler Lautstärke fort: »Weißt du was? Ich strecke einfach mal die Fühler aus und gucke, ob ich was herauskriege, okay?«

»Großartige Idee, hätte von mir sein können«, grinste ich und legte auf.

Dann kam mir ein Gedanke, und ich tippte auf den Kontakteintrag meines Freundes Tahar, der seine Brötchen als IT-Sicherheitsexperte verdiente – vorwiegend damit, im Auftrag der Besitzer in IT-Systeme einzubrechen, um deren Schwachstellen erst aufzuzeigen und dann zu schließen.

Wie so oft, hatte Tahars Arbeitstag um diese Uhrzeit noch nicht begonnen.

»Oui?«, klang es verschlafen aus dem Hörer.

»Morgenstund hat Gold im Mund«, flötete ich.

»Davon wüsstö ich abör was.« Sein mitleidheischendes Ächzen wurde von einem gewaltigen Scheppern und Poltern abgelöst.

»Was war das denn? Hast du gestern ’ne weibliche Blaskapelle abgeschleppt?«

»Ich sagö mal so – wenn es von Banksy wärö, hättön wir jetzt ein Kunstwerk.«

»Und ohne Banksy?«

»Einen umgestürztön Stapöl Tellör und Gläsör, der sich von meinöm Nachtschrank geradö in mein Schlafzimmör ergossön hat«, seufzte er.

»Ach, so eine Kunstinstallation in den privaten Räumlichkeiten ist doch auch mal was Schönes«, kicherte ich. »Und wenn du sie lang genug da liegen lässt, läuft sie von ganz allein in die Küche.«

»Allös leerö Versprechungön«, murrte er. »Hattöst du eigentlich einön bestimmtön Grund, mich mal wiedör mittön in der Nacht aus den Fedörn zu werfön, oder hat sich das inzwischön nur als schönö tradition eingebürgört?« Er gähnte, und ich hörte, wie er aufstand und barfuß durch die Wohnung tappte. Ich nahm an, in Richtung Kaffeemaschine.

»Als deine beste Freundin bin ich verpflichtet, regelmäßig nach dem Rechten zu sehen. Aber ganz abgesehen davon – hast du mal was von einer Gilde der Unsichtbaren gehört?«

Ich hörte, wie Tahar sich am Kopf kratzte. »Die Gildö der Unsichtbarön? Das hört sich ja fast wie ein Berufsverband von IT-Hackörn an.«

»Jetzt, wo du’s sagst.« Der Gedanke war mir in der Tat noch nicht gekommen. »Aber sagen tut es dir erst mal nichts?«

»Non, überhaupt nichts. Wo bist du denn übör die gestolpört?«

»Gestolpert ist gut.« In wenigen Sätzen erklärte ich ihm, was es mit dieser Gilde auf sich hatte.

»Mein liebör Herr Schiebör, warum passierön mir nie solchö Sachön!«

»Ich glaube, es reicht, wenn einem von uns immer solche Sachen passieren«, seufzte ich. »Hast du denn Zeit, dich mal in Hackerkreisen umzuhören?«

»Ich habö noch einigös zu erledigön heutö, abör irgendwas kriegö ich schon hin«, versprach er. »Wenn ich mich nicht meldö, bin ich auf einöm Stapöl ungespültör Tellör ausgerutscht. Ich kritzöl noch schnell ein Testament, für den Fall der Fallö…«

Lachend legte ich auf und sagte zu Eric. »So, während die beiden Herren sich in ihren schummrigen Kreisen bezüglich der Gilde umtun, finden wir zwei Hübschen doch einfach mal heraus, wer Martina Bilberger und Karin Franke sind, und vor allem wo.«

»Gebongt«, strahlte Eric, der ebenso froh war wie ich, dass wir nach drei Monaten endlich mal wieder ein oder besser gesagt zwei echte Rätsel zu lösen hatten. »Aber wo fangen wir an?«

»Nicht verzagen, Körber fragen«, knurrte der und zog ein verknittertes Blatt Papier aus der Tasche, auf dem er in seiner krakeligen Handschrift die Meldeadresse von Hilde Debschitz notiert hatte – der Frau, die laut Gilde behauptete, Martina Bilberger sei seit März 1997 verschwunden.

»Wäre es nicht sinnvoller, zuerst mit diesem Kornel Mommertz zu sprechen? Karin Frankes Verschwinden ist gerade mal zwei Monate her – da sind die Erinnerungen frischer und die Chancen sicher größer, sie zu finden«, wandte Eric ein.

»Normalerweise würde ich dir sofort recht geben«, sagte ich, aber im Gegensatz zu Hilde Debschitz hat Kornel Mommertz keinen festen Wohnsitz.«

»Ein Obdachloser?«, fragte Eric.

Körber nickte. »Er hält sich viel in der Innenstadt auf, über kurz oder lang finden wir ihn. Ich habe Lukas schon angerufen, er hält ein inoffizielles Auge auf. Ich will kein großes Tatütata anstrengen, nur für den Fall, dass sich da doch jemand einen blöden Scherz erlaubt.«

»Und wer genau ist Lukas?«

»Körbers jüngster Bruder«, beantwortete ich Erics Frage. »Der ist seit einem Jahr bei der Kradstaffel, Motorradpolizei. Wenn einer viel in der Stadt rumkommt, dann ist er das.«

»Ich wusste gar nicht, dass du außer Hannah auch noch einen Bruder hast, Körber«, sagte Eric.

»Doch, doch«, brummte der. »Und wenn’s nur das wäre, neben Hannah und Lukas habe ich noch zwei Schwestern.«

»Potz Blitz! Und alle so hübsch wie du? So mit Bart und so?«, grinste Eric.

»Los, geht ermitteln, bevor ich mich genötigt sehe, die Ehre meiner Schwestern hinter der nächsten Klostermauer zu verteidigen«, brummte Körber gutmütig und machte sich auf den Weg ins Präsidium.

Eric und ich zogen unsere Jacken an, ich pfiff nach Sammy, und schon waren wir auf dem Weg nach Eilendorf.

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Eine gute Viertelstunde später bremste Eric scharf, als just vor Hilde Debschitzens Haustür in der Severinstraße jemand wegfuhr, und quetschte sein Auto in beachtlicher Millimeterarbeit so elegant in die frei gewordene Lücke, dass es jedem Fahrlehrer warm ums Herz geworden wäre.

Wir stiegen aus, und kaum hatte ich den Klingelknopf mit dem Namen Debschitz losgelassen, da wurde schon aufgedrückt. Als wir im zweiten Stock anlangten, erwartete uns eine rundliche, ältere Dame von vielleicht sechzig Jahren, die ihre grauen Haare in einem strengen Dutt zusammengebunden hatte und ein schlichtes, aber gut sitzendes Kleid trug.

»Ach je, ich dachte, Sie wären der Paketbote. Ich warte auf ein Päckchen von meiner Tochter«, sagte sie enttäuscht, als sie uns sah. »Sie sind aber nicht schon wieder von den Mormonen, oder?«, fragte sie misstrauisch.

»Nein, auch nicht von den Zeugen Jehovas«, sagte ich amüsiert, streckte ihr die Hand hin und stellte uns vor. Als ich sagte: »Wir würden gerne mit Ihnen über Martina Bilberger sprechen, wenn Sie kurz Zeit haben?«, hob Hilde Debschitz die Hände an die Wangen.

»Mein Gott, haben Sie sie endlich gefunden?«

»Es ist vielleicht besser, wenn wir drinnen weitersprechen?«, sagte ich, und sie nickte.

»Ja, natürlich, Sie haben recht. Kommen Sie rein.« Sie winkte uns in die Diele und ging voran in eine kleine Küche, in der alles nur so blitzte und blinkte. »Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte sie, hatte aber schon angefangen, die Filtermaschine zu füllen.

Eric und ich warteten ab, bis sie den Kaffee angeworfen und Tassen, Milch und Zucker auf den Tisch gestellt hatte. Dann füllte sie eine Schale mit Wasser, stellte sie Sammy vor die Nase, der sogleich geräuschvoll anfing zu schlabbern, setzte sich zu uns an den robusten Küchentisch und sah uns erwartungsvoll an.

Eric räusperte sich. »Wir müssen Sie leider enttäuschen, Frau Debschitz. Wir haben Martina nicht gefunden, wir wurden lediglich beauftragt, die Suche nach ihr aufzunehmen.«

Sie nickte. »Und jetzt möchten Sie gerne hören, was ich über Martinas Verschwinden weiß.«

»Ganz genau«, strahlte Eric.

»Sie wissen, dass ich das damals alles der Polizei erzählt habe?«, sagte sie mit einem Hauch von Resignation.

»Das wissen wir, Frau Debschitz«, log Eric, »und unser Kontakt bei der Polizei sucht gerade die alten Akten heraus. Wir würden aber gerne von Ihnen selbst hören, was vorgefallen ist. Da wir den Fall ganz neu aufrollen, wollen wir mit einem frischen Blick an die Sache herangehen. Und es wäre auch hilfreich, wenn Sie uns nicht nur vom eigentlichen Verschwinden Martinas erzählen könnten, sondern auch die Vorgeschichte, zum Beispiel woher Sie Martina kannten …«

Hilde Debschitz musterte uns aus stahlgrauen, wachen Augen und nickte dann. Nachdem sie uns allen Kaffee eingeschenkt und einen Teller mit Butterkeksen auf den Tisch gestellt hatte, fing sie an zu erzählen.

»Ich kenne Martina, seit sie ein Baby war. Sie war gerade ein paar Wochen alt, als Herr Bilberger mich damals als Haushaltshilfe und Putzfrau eingestellt hat, weil seine Frau nach der Geburt mit Kind und Haushalt überfordert war.«

»Frau Bilberger war berufstätig?«, fragte Eric.

»Nein. Frau Bilberger war Vollzeithausfrau. Als Martinchen dann auf die Welt kam, ist sie unter der enormen Belastung zusammengebrochen – so hieß es damals.« Hilde Debschitz schüttelte den Kopf. »Enorme Belastung.« Sie schnaubte verächtlich durch die Nase. »Ich habe vier Kinder ohne Vater großgezogen. Aber die Madame bricht unter der enormen Belastung mit einem Baby zusammen. Sie können sich nicht vorstellen, wie es da aussah. Alles saudreckig, das Kind war wundgelegen und schrie wie am Spieß, weil sie Hunger hatte. Und die Madame in Tränen aufgelöst, weil das ja alles viel zu viel für sie war. Ich habe mich nur gefragt, was da zu viel gewesen sein soll. Die hat ja keinen Handschlag gemacht. Ich hab dann erst mal das Kind gefüttert und versorgt und mir dann diesen unglaublichen Saustall vorgenommen. Wenn es nur um Madame Bilberger gegangen wäre, hätte ich nach ein paar Besuchen sicher wieder gekündigt. Die eingebildete Tusnelda war so was von hochnäsig und unverschämt. Die dachte, sie wäre was Besseres, weil sie in dem großen Haus hockte, das ihr Mann bezahlte und ich meine Kinder mit meiner Hände Arbeit ernähren musste.«

»Aber Sie sind geblieben?«, fragte ich. Das Ganze ging zwar sehr weit zurück, aber da wir keine Ahnung hatten, warum Martina Bilberger verschwunden war, konnte alles von Bedeutung sein.

»Ich bin geblieben, ja. Das kleine Würmchen tat mir so leid, völlig vernachlässigt hat sie das arme Ding, und die Kleine war wirklich goldig, wenn man sie sauber hielt und ihr genug zu trinken gab. Und Herr Bilberger tat mir auch leid. Der Mann hat sich die Finger für seine Familie wundgearbeitet, und zum Dank kam er, bevor ich da anfing, abends in einen Saustall zurück und musste seine Hemden auch noch selber waschen und bügeln, weil die Madame ja so überfordert war mit all den Sachen, die sie nicht gemacht hat.«

Also wenn Frau Bilberger Senior vermisst würde, hätte ich schon meine erste Verdächtige.

»Nach zwei Wochen ist Herr Bilberger dann abends hier aufgetaucht und hat mir einen Riesen-Blumenstrauß gebracht, weil er so dankbar war, dass ich meine Arbeit gemacht und mich um sein Kind gekümmert habe. Und dann hat er mir angeboten, mich ganz einzustellen, für jeden Tag, wissen Sie? Da musste ich erst mal drüber nachdenken. Ich wusste nicht, ob ich die Madame jeden Tag aushalten könnte. Aber Herr Bilberger hat mir so viel Geld angeboten, dass ich gar nicht anders konnte. Es war auch einfacher, gerade als die Kinder noch so klein waren. Ich musste nicht mehr mit dem Bus oder dem Fahrrad von Putzstelle zu Putzstelle fahren, sondern hatte nur noch den einen Job. Und die Bügelwäsche konnte ich mit nach Hause nehmen, wenn ich nachmittags mal niemanden hatte, der nach dem Hort auf die Kinder aufgepasst hat. Naja, so kam es dann, dass ich die ganze Woche über jeden Tag bei den Bilbergers den Haushalt gemacht habe. Ich habe gekocht, geputzt, gewaschen und gebügelt, während Madame sich die Nägel lackiert hat und Reiten oder Tennis spielen ging. Und ich habe viel Zeit mit der Kleinen verbracht. So ein liebenswertes und süßes Kind können Sie sich gar nicht vorstellen. Ein ganz sanftes Wesen, eine wirklich gute Seele war unser Martinchen. Und ihre Mutter wollte nichts von ihr wissen. Erst hat sie nicht gestillt, weil sie Angst um ihre schönen Brüste hatte …«, Eric verschluckte sich an seinem Kaffee, »aber selbst das Fläschchen hat sie ihr nur gegeben, wenn es gar nicht anders ging oder wenn ihre Freundinnen vom Kaffeekränzchen da waren. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals mit der Kleinen gespielt hätte, mit ihr mal zum Spielplatz gegangen oder sonst irgendwas mit ihr unternommen hätte. Das hab ich alles mit Martinchen gemacht, und ich hab es gerne getan. Manchmal habe ich sie auch am Wochenende zu uns geholt, wenn Herr Bilberger auf einer längeren Geschäftsreise war. Die Kleine hat sich mit meinen immer gut verstanden. Wir haben sie ins Freibad mitgenommen, im Advent haben wir Plätzchen gebacken, wir haben Ostereier bemalt – was man eben so mit den Kindern macht, wenn sie klein sind. Madame hat mir nur zu gern Geld gegeben, wenn sie sich damit aus der Verpflichtung rauskaufen konnte, Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen. Dabei hab ich sie nicht wegen dem Geld mit zu mir genommen. Ich hab sie mitgenommen, weil das arme Ding so einsam war und sich in unserer kleinen Bude mit meinen vier so wohlgefühlt hat. Martinchen hat immer lieber hier bei meinen Mädels im winzigen Kinderzimmer auf der Luftmatratze geschlafen als zu Hause allein in ihrem riesigen Prinzessinnenzimmer.« Sie machte eine kurze Atempause und trank einen Schluck Kaffee.

Sammy hatte inzwischen seinen schnüffelnden Erkundungsgang durch die Küche abgeschlossen, setzte sich neben Frau Debschitz und lehnte sich an ihr Bein.

Frau Debschitz lächelte zu ihm hinunter und sprach dann weiter. »Herr Bilberger hat immer viel gearbeitet und war auch sehr erfolgreich mit seiner Firma. Aber der hat mit der Zeit natürlich auch gesehen, was da los war, und hat jede freie Minute, die er hatte, mit Martinchen verbracht. Ich glaube, zwischen Herrn Bilberger und mir haben wir es schon hinbekommen, Martinchen das Gefühl zu geben, dass sie geliebt wurde. Daran, dass ihr Vater sie vergötterte, gab es jedenfalls nie einen Zweifel, und dass sie mir unglaublich ans Herz gewachsen war, wusste sie auch. Das schien ihr zu reichen.« Frau Debschitz schwieg eine Weile, und ihr Blick wurde grimmig. »Und dann hat Madame Bilberger die Scheidung eingereicht. Da war Martinchen gerade dreizehn geworden. Madame hatte beim Tennis einen anderen Mann kennengelernt, Josef Niederbach.« Hilde Debschitz schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie hat das Haus behalten, aber vor allem hat sie das alleinige Sorgerecht für Martinchen bekommen. Die Schlange wusste genau, dass sie von Herrn Bilberger nie wieder irgendetwas bekommen hätte, wenn Martinchen zu ihm gezogen wäre. Solange das Kind bei ihr war, hatte sie ein Druckmittel gegen ihn in der Hand und konnte ihn finanziell weiter melken.« Hilde Debschitz schnaubte verächtlich. »Und ich verstehe bis heute nicht, warum diese eiskalte Kuh das Sorgerecht für dieses liebenswerte Mädchen gekriegt hat. Wenn sie bei ihrem Vater geblieben wäre, wäre alles anders …« Sie unterbrach sich wieder und trank ihre Kaffeetasse in einem Zug aus. Dann sprach sie weiter. »Herr Bilberger hat zusätzlich zu dem ganzen Unterhalt, den er bezahlt hat, auch mein Gehalt weitergezahlt, denn er wollte nicht, dass unser Martinchen beide Bezugspersonen auf einmal verliert. Er hatte Beschwerde gegen die Sorgerechtsentscheidung eingelegt, aber Sie wissen ja, wie langsam es bei der Justiz zugeht. Madame wollte mich zwar eigentlich nicht mehr im Haus haben, denn ihr Neuer hatte sich ja schon dauerhaft eingenistet und breitgemacht. Aber weil sie noch weniger Lust hatte, selbst zu kochen und zu putzen, hat sie mich wohl oder übel erduldet. Ihrem neuen Macker war ich aber ein Dorn im Auge. Der ist fast über Nacht eingezogen, kaum dass Herr Bilberger aus dem Haus war, und hat sich aufgeführt wie Graf Koks von der Gasanstalt. Martinchen und ich haben ihn gehasst wie die Pest. Es hat dann auch nicht lange gedauert, bis er mich vor die Tür gesetzt hat. Der hat wirklich gedacht, er könnte mich rauswerfen, und das Geld, das Herr Bilberger für mich bezahlt hat, einstreichen. Da hatte er aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Das Gehalt ging nämlich direkt von Herrn Bilberger an mich. Also habe ich ihn natürlich gleich informiert – und konnte es kaum glauben, dass er mich weiterbezahlt hat, bis ich was Neues gefunden hatte. Mit dem Zeugnis, das ich von ihm bekommen habe, hat das nicht sehr lange gedauert. Aber was uns auf der Seele lag, war, dass Martinchen jetzt ganz alleine war. Herr Bilberger ist mit seinen Versuchen, das Sorgerecht zu bekommen, gescheitert, weil er alleine und berufstätig war. Martinchen wurde ja auch befragt, wo sie hinwollte, und sie hat den Richter fast angefleht, zu ihrem Vater zu dürfen, aber der war ein totaler Holzkopf.« Sie seufzte. »Irgendwann habe ich dann auch mitbekommen, dass es Herrn Bilberger nicht mal gelang, sein Besuchsrecht, das er ja hatte, durchzusetzen. Ständig hat seine Ex-Frau ihn angelogen, hat behauptet, Martinchen sei krank und könne ihn nicht sehen oder sich sonst irgendwelche Schauermärchen ausgedacht, um die beiden voneinander fernzuhalten. Dieses Weib wollte doch von ihrem Kind nach wie vor nichts wissen, aber die war so niederträchtig und gemein, dass sie ihrem Ex-Mann seine Tochter vorenthalten hat, weil sie wusste, dass sie ihn damit am meisten trifft. Und der Niederbacher hatte bestimmt auch ein Interesse, Martina von ihrem Vater fernzuhalten. Aber das wussten wir damals noch nicht.«