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Bisher vom Autor bei KBV erschienen:

Auf dem Totenberg

Dirk M. Staats, Jahrgang 1958, geboren und aufgewachsen in Hannover. Nach der Ausbildung zum Bankkaufmann studierte er in Paderborn und Hannover Wirtschaftswissenschaften mit Abschluss als Diplom-Ökonom. Danach arbeitete er als Projektleiter für Organisation und Bankbetriebswirtschaft. Seit 1991 selbstständig als Unternehmensberater und Seminarleiter. Neben dem Orgel- und Klavierspielen liebt er gemütliche Abende im Freundeskreis und nicht zuletzt: Krimis schreiben. www.ds-buch.de

Dirk M. Staats

Die Kunst zu
sterben

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© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

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Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

Lektorat: Nicola Härms, Rheinbach

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-95441-482-6

E-Book-ISBN 978-3-95441-492-5

Manfred, Heinrich, Friedel und Karl gewidmet,
in großer Dankbarkeit

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Danksagung

Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig. Die im Text erwähnten, bekannten Persönlichkeiten sind in jedem Fall vor mehr als siebzig Jahren verstorben.

Prolog

Sonntag, 19. März 2017

Hannover-Linden

Ben klopfte. Nichts rührte sich. Er klopfte ein weiteres Mal, diesmal deutlich kräftiger, wartete auf eine Reaktion, auf irgendein Geräusch … nichts. Die zerbrochene Klingel brauchte er nicht zu betätigen, er wusste, dass sie kaputt war.

Er drückte auf den Türgriff. Höchst seltsam – die Haustür war nicht verschlossen. Vorsichtig öffnete er sie, schaute zurück, ob ihn jemand beobachtet hatte. Niemand war in der Nähe, die Umgebung wirkte heruntergekommen, verlassen.

So leise wie möglich schloss Ben die Tür hinter sich, drehte den innen steckenden Schlüssel herum und nahm ihn an sich. Niemand sollte jetzt stören. Denn Malte hatte ihm versprochen, das Objekt seiner Begierde heute fertig zu haben.

Langsam tastete sich Ben über den langen, dunklen Flur mit der kaputten Lampe. Geradeaus vor ihm lag Maltes Arbeitszimmer, das wusste er aus mehreren Besuchen im Sommer letzten Jahres. Damals hatte meistens die Sonne geschienen, alle Türen standen offen, und es war kein Problem, den vielen Eimern, Kartons und Farbpaletten auszuweichen. Der Flur war sein Vorratsraum für die Nebensächlichkeiten, hatte Malte ihm beim letzten Mal achselzuckend erzählt.

Ben stolperte über ein großes Behältnis, dann ertastete er endlich vor sich die Stahltür, die Flur und Arbeitszimmer voneinander trennte, und schob sie auf. »Malte?«

In einer gut beleuchteten Ecke entdeckte er den jungen Mann leise schnarchend vor seinem Laptop, der gefährlich nahe an der Kante des Tisches stand. Malte hatte seinen Kopf auf die Tischplatte gebettet, neben sich ein umgefallenes und zersprungenes Weinglas. Die Weinflasche war zu Boden gefallen, der Rest Wein war herausgeflossen und hatte einen hässlichen Fleck auf dem Holzboden hinterlassen. Ben zuckte zusammen. Der Fleck sah auf den ersten Blick aus wie Blut. Ben musterte die Weinflasche. Dem Etikett nach zu urteilen verdiente der Wein diesen Namen eigentlich nicht, gepanschter Billig-Fusel, wohl aus der hintersten Regalecke eines Discounters.

»Mister Malte, aufwachen«, brüllte Ben und schüttelte den jungen Mann so lange, bis dieser ein schwaches Lebenszeichen von sich gab und mit trübem Blick zu Ben hoch starrte.

»Kerl, wir hatten eine Vereinbarung! Was bist du für ein Schwachkopf, dich immer zuzuknallen! Du wolltest heute fertig sein, ich sehe hier aber nichts!«

Ganz langsam kam Malte vom Tisch hoch. »Guck … Ben, dahinten, all… alles paletti«, murmelte er undeutlich, wies auf einen zweiten, kleineren Raum auf der anderen Seite des Arbeitszimmers und sackte wieder auf den Bürotisch.

Schnell war Ben im Nebenraum. Hier funktionierte auch das Deckenlicht.

In der Mitte des Raumes stand eine Staffelei, auf dieser das bestellte Bild. Eine Taschenlampe und ein taghelles LED-Licht halfen ihm, alles genau zu analysieren.

Das Bild war wunderbar, einzigartig! Das Zusammenspiel der Farben mit Licht und Schatten, die Maltechnik, die Stimmung. Alles war gut. Nein, es war perfekt!

Malte mochte wohl Alkoholiker und vermutlich auch drogenabhängig sein, aber er hatte ein unglaubliches Talent und das entsprechende Durchhaltevermögen, um andere Kunstmaler zu kopieren und auch Neuschöpfungen in deren Art und Technik zu realisieren. Davon hatte sich Ben überzeugt, bevor Malte diesen einen Auftrag von ihm erhalten hatte. Ein einmaliger Großauftrag, für extrem viel Geld.

Dieser junge Bursche hatte sein Versprechen tatsächlich wahr gemacht, obwohl Ben ihm erst zehntausend Euro angezahlt und alles Bitten und Betteln nach weiteren Vorauszahlungen kategorisch abgelehnt hatte. Es war fast ein Wunder – wie oft hatten sich die beiden über die Ausführung des Werkes, über die Eigenheiten des Malers und über Maltes Konsumverhalten gestritten?

Nun war es endlich fertig!

Auf einem einigermaßen sauberen Tisch lagen große Bögen Packpapier, mit denen Ben das Gemälde vorsichtig einwickelte. Um es transportieren zu können, brauchte er jetzt Klebestreifen, Malerkrepp oder so etwas in der Art. Sein Blick fiel auf einen zweiten Tisch. Auch hier sah es so aus wie überall in dieser armseligen Hütte – alles schien nur herumzuliegen und auf Entsorgung zu warten: zahllose leere Farbtuben, vertrocknete Farbpaletten und wohl Hunderte Pinsel, verschmierte Spachtel, Rasierklingen und Gipsbecher. Angewidert stieß Ben einen Berg vergammelter Tuschkästen auseinander, die so hoch gestapelt waren, dass einige zu Boden fielen. Plötzlich lag es vor ihm – ein braunes Gewebeklebeband, noch original in Folie verpackt. Endlich!

Er riss die Verpackung auf und nahm die Zähne zu Hilfe, um kleine Streifen abzureißen. Beim Verkleben seines eigentlich wertlosen Paketes schossen ihm viele Gedanken durch den Kopf, er wurde plötzlich unsicher und zweifelte am Gelingen seines Vorhabens. Konnte man den Plan wirklich umsetzen? Würde man dieses angebliche Kunstwerk akzeptieren? Sollte er Malte die versprochenen Hunderttausend tatsächlich komplett auszahlen? Möglicherweise Geld zum Fenster rausschmeißen für ein Arrangement, das noch viel Vorbereitung bedeutete und jederzeit scheitern konnte?

Ben zwang sich, seine Gedanken zu ordnen.

Was sprach gegen die Auszahlung der restlichen neunzigtausend Euro, die er in einer kleinen Ledertasche dabeihatte? Zum Beispiel, dass Malte ein elender Schwätzer war. Das wusste Ben von einem älteren Herrn aus seiner Nachbarschaft, der vor Kurzem verstorben war. Dieser hatte mal eine Kopie eines Meisterwerks für rein private Zwecke fertigen lassen und zahlte dem jungen Mann damals zwanzigtausend Euro im Vertrauen auf dessen Verschwiegenheit. Nachdem Malte das Geld erhalten hatte, prahlte er damit herum, lud seine Kumpel zum Essen ein und organisierte wilde Partys. Wenn Malte richtig gut drauf war, schien er über alles, leider auch über seine Auftraggeber, zu quatschen und diese bloßzustellen.

Konnte man diesen jungen Mann überhaupt ernst nehmen? War er nicht vor allem eines: eine hilflose Witzfigur? Es schien so, aber man musste dennoch ständig auf der Hut sein. Malte könnte beispielsweise jetzt jederzeit plötzlich zu sich kommen und völlig ausrasten. Ben hatte das schon einmal miterleben müssen, in den ersten Vorgesprächen zu diesem Auftrag. Einmal war Malte auf ihn losgegangen und wollte ihn umbringen, mit einem Paketmesser. Die Rettung waren im letzten Moment ein kräftiger Tritt zwischen Maltes Beine und die sofortige Flucht gewesen. Eine Woche später hatte sich dieser hagere Kerl entschuldigt, geradezu verkäuferisches Talent bewiesen und sicherte mit strahlenden Augen absolutes Stillschweigen über den Auftrag zu. Es schien eine Frage des Cocktails an Drogen und Alkohol zu sein, den Malte konsumierte. Mal war er fromm wie ein Lamm, fast kindisch, dann plötzlich wieder ein aggressives Ungeheuer, dem alles zuzutrauen war.

Beim letzten Besuch war Malte friedlich gewesen, trotzdem hatte Ben ihn gefesselt. Mit Malerkrepp. An seinen Stuhl. Ben hatte sich vor eventuellen Ausrastern schützen wollen. Zu seinem Erstaunen hatte Malte das witzig gefunden, es erinnerte ihn wohl an seine Kindheit, an wilde Cowboy- und Indianerspiele. Als Malte nur noch fröhlich lachte wie ein kleiner Junge, hatte Ben ihn wieder losgebunden und sich verabschiedet.

Ben überlegte. Was wäre, wenn Malte plötzlich hochschreckte und auf ihn losging? Ben ging mit dem Textilklebeband auf den jungen Mann zu. Langsam schnürte er ihn wieder ein, schob den Laptop zur Seite, um Platz zu haben, damit er Maltes Arme an den Tisch fesseln konnte. Malte schlief selig weiter. Nachdem Oberkörper und Arme fest auf dem Tisch klebten, zuckte er kurz hoch: »Wa… was machste?«

»Du, Malte, ich fessele dich ein wenig, wie letztes Mal.«

»Is geil … geiles Ge… Gefühl.«

»Ich mach kurz mit den Beinen weiter«, entgegnete Ben, während Malte wieder ins Koma fiel.

Dann war es so weit, Malte konnte weder aufstehen noch seinen Oberkörper vom Tisch anheben oder auch nur die Arme bewegen.

»Das Bild ist fantastisch«, sagte Ben, und für einen Moment schien es so, als ob Malte lächelte.

Ben stieß Malte unsanft an. »Wach mal kurz auf, Malte«, schrie er ihn an. Dieser öffnete die Augen.

»Hast du irgendjemandem von dem Bild erzählt?«

»Nix, Ben … noch … noch nix.«

Ben glaubte, sich verhört zu haben. Noch nix! Noch nix! Die zugesicherte Verschwiegenheit war also nichts als Makulatur, dummes Zeug. Sobald er ihm die fehlenden neunzigtausend Euro übergeben hätte, würden es alle Vögel von den Dächern zwitschern, die Kunstszene würde von der Fälschung erfahren.

Sein Plan könnte damit scheitern, bevor er richtig in Gang gekommen wäre. Möglicherweise würde es für Ben böse enden …

Ben riss zwei Streifen vom Textilband ab und klebte sie an der Tischkante fest. Seine Gedanken rasten. Malte war jetzt kaltgestellt, absolut bewegungsunfähig; falls er gleich aggressiv werden würde, könnte er Ben nichts anhaben. Nachdenken, eine Lösung finden! Bens Plan hing von Maltes Verschwiegenheit ab, die aber wohl offensichtlich nicht zu erwarten war. Alles war jetzt möglich: ihn leben lassen und wieder befreien, ihn elendig verrecken lassen oder umbringen? Ben war kein Typ, der Menschen beseitigte, aber er war nur zwei Klebestreifen davon entfernt, seine größte Sorge loszuwerden, eine Sache von wenigen Minuten, er könnte beim Todeskampf sogar den Raum verlassen. Schlagartig fiel ihm ein, dass Malte mal erwähnt hatte, einer Freundin einen Zweitschlüssel gegeben zu haben. Er musste handeln, es musste aber nach Selbstmord aussehen.

Ben verließ den Raum und schloss die Stahltür, auf dem Flur war es dunkel und still. Noch einmal alles in Ruhe durchgehen, hinten rechts gab es ein Bad mit Wanne …

Plötzlich klopfte jemand an die Haustür. »Malte?«

Ben blieb wie erstarrt stehen. Wer war das denn?

»Malte! … Malte, mach auf!« Die Stimme einer jungen Frau.

Sie klopfte noch ein paarmal, dann entfernte sich die Stimme laut fluchend. Unzuverlässiges Arschloch, wieder zugedröhnt, Penner, Scheiß-Malte.

Ben wartete noch einige Minuten, bevor er die Stahltür wieder öffnete. Malte schnarchte noch immer leise vor sich hin.

Selbst wenn Malte Bens Namen in der Vergangenheit mal anderen Leuten gegenüber erwähnt haben sollte, so würde trotzdem niemand auf seine Spur kommen. Denn Ben war einfach ein Fantasiename, den Malte nicht hinterfragt hatte. Warum auch?

Kapitel 1

Dienstag, 21. März 2017

Zentraler Kriminaldienst

Kriminalhauptkommissar Max Leitner wuchtete die letzte Umzugskiste auf seinen Schreibtisch. In den vergangenen Tagen hatte ihn sein junger Kollege Tobias Heuward unterstützt, ein blonder Lockenkopf, einen Kopf größer als er und kräftig gebaut. Ganze Kolonnen von Aktenordnern hatte dieser für ihn ausgepackt und in die Schränke eingeräumt. Nur diese eine Kiste, die er mit Privat beschriftet hatte, wollte er selbst bearbeiten. Leitner hatte sich bei Tobias für die Hilfe bedankt, ihn aber kurzerhand aus dem Zimmer verbannt, als dieser sich vor lauter Neugierde über den letzten Karton hermachen wollte.

Leitner, eher schmächtig von Gestalt, ein dunkler und schlanker Typ, rieb sich durch den Dreitagebart und kämmte dann ein paar Strähnen seiner schütteren Haarpracht, die ihm beim Anheben seiner privaten Kiste ins Gesicht gefallen waren, nach hinten.

Tatsächlich beinhaltete die Kiste auch Kugelschreiber, alte Terminkalender, leere Ordner, also Utensilien, die man in einem Büro brauchte oder glaubte, sie irgendwann mal brauchen zu können. Aber ein paar Sachen gab es, die Tobias nicht unbedingt sehen musste. Die ihn nur wieder zappelig machen würden und im schlimmsten Fall zu nerviger Fragerei führten. Dazu gehörten seine Magentabletten, die er schnell in einer der Schubladen seines nagelneuen Schreibtisches verschwinden ließ. Nur einige Ärzte wussten von seiner Gastritis, und das sollte auch so bleiben. Dann aber griff er nach einer Reihe von Fotoalben, deren bloßer Anblick ihn schon schmerzte. Sie enthielten Erinnerungen an seine Frau, mit der er ein Vierteljahrhundert verheiratet gewesen war und die vor einigen Jahren an einer unheilbaren Krankheit verstorben war.

Gerade als er das letzte Album verstaut hatte, flog die Tür auf. Tobias blieb im Türrahmen stehen und wippte mit den Beinen.

»Reiß doch die Tür nicht so auf, wie oft noch?«, knurrte Leitner.

»Ja, äh … sorry, aber guck mal auf die Uhr.«

»Und?«

»Hey, Max, wir haben einen Termin. Wir müssen los, sofort!«

»Bleib locker.« Leitner zog seine alte Lederjacke betont langsam über sein ungebügeltes Hemd und grinste Tobias an. »So, wir können.«

»Hast du ’ne Ahnung, was der Direktor Antonius von uns will?« Der junge Mann schien nervös zu sein, war mit seiner besten und perfekt gebügelten Stoffhose zum Dienst erschienen und hatte eine gepunktete Krawatte umgebunden, die zu seinem karierten Oberhemd nicht so recht passen wollte und schon fast unter dem Kragen hing.

»Ich ahne es, warte es einfach ab. Und jetzt renn doch nicht so.«

Kriminaldirektor Klaus Antonius hatte beide Ermittler tags zuvor angerufen und für heute, 14 Uhr, in den großen Besprechungsraum eingeladen. Warum, hatte er vielsagend angedeutet – eine wichtige Dienstsache.

Tobias klopfte vorsichtig an die Tür, und eine Stimme sagte: »Herein!« Er riss die Tür auf und staunte – etwa drei Dutzend Kolleginnen und Kollegen bildeten einen großen Kreis, klatschten Beifall und lärmten herum wie in einem Kindergarten.

Als sich das Ganze beruhigt hatte, bat Klaus Antonius Leitner und Heuward zu sich in die Mitte des Raumes. Antonius war wie immer perfekt gekleidet, trug einen dunkelblauen Anzug mit einem Doppelreiher als Jackett. Überhaupt hatte er sich dem Anlass entsprechend herausgeputzt, die Metallknöpfe glänzten, Krawatte und Hemdskragen saßen wie angegossen. Er war ein älterer, grauhaariger Mann mit einem ebensolchen Oberlippenbart.

»Verehrte Kolleginnen und Kollegen, verehrter Herr Heuward und mein lieber Kollege Max Leitner. Ich freue mich, Sie wieder in der Polizeidirektion Hannover begrüßen zu dürfen.«

Tosender Applaus.

Antonius ließ die Menge gewähren. Dann hob er beide Hände, es wurde wieder ruhig. »Wir älteren Kollegen kennen dich, Max, gut aus teils langjähriger und erfolgreicher Zusammenarbeit. Wir, die alten Pfeiler des Kriminaldienstes sozusagen, kennen aber noch nicht unseren neuen Kollegen, Herrn Heuward. Viele junge Kollegen natürlich auch noch nicht.« Er hatte Tobias an der Schulter berührt und bat ihn mit einem freundlichen Lächeln, sich kurz vorzustellen.

»Ja … was soll ich …« Tobias brach ab, räusperte sich und zappelte herum. »Also, ich heiße … bin Tobias. Tobias Heuward. Mein Nachname ist ein bisschen intellektuell angehaucht, äh … denken Sie dabei einfach an einen Tankwart, der Heu verkauft, dann passt das schon, so circa.«

Einige Kollegen konnten sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Ein ernst dreinschauender Mann machte sich bemerkbar: »Sie scheinen ja ein lustiger Vogel zu sein, schreiben Sie sich nun mit T oder mit D?«

Jetzt war Tobias wieder der Alte. »Ich schreibe mich weder mit T noch mit D.«

»Wie geht das denn?«

»Ich schreibe mich mit Heu, zumindest vorne.« Jetzt hatte er die Lacher auf seiner Seite, und der ernste Mann verstummte. Selbstbewusst ratterte Tobias nun alles herunter, was ihm so einfiel: Alter, Schulzeit, Dienstbeginn, die Namen der letzten Freundinnen und vieles mehr. Bis ihn der Kriminaldirektor stoppte. »Das genügt sicherlich fürs Erste, Herr Heuward. Die Kolleginnen und Kollegen werden noch viel Zeit haben, Sie kennenzulernen.«

Wieder gab es Applaus.

»Nun drehen wir den Spieß um, sozusagen. Ein paar junge Kolleginnen und Kollegen dürften Sie noch nicht kennen, Max. Dazu muss ich etwas ausholen. Vor etwa dreißig Jahren begann unser gemeinsamer Weg in der Polizeidirektion Hannover. Man sollte es kaum glauben, aber auch vor dreißig Jahren gab es bereits Verbrechen aller Art. Ich habe mir mal die Mühe gemacht, die Statistiken von damals …«

Leitner schaltete ab. Er hasste lange Reden, vor allem, wenn es eigentlich um nichts weiter ging als um eine simple Vorstellung. Antonius war sicherlich ein kompetenter und seriöser Kollege. Wenn er aber ins Reden kam, konnte es dauern, bis man wusste, was er eigentlich bezweckte. Leitner verstand unter einer wichtigen Dienstsache andere Dinge.

Leitner fuhr auf, als Antonius ihn mehrmals an den Arm tippte. »Max?«

»Ja?«

»Träumst du?«

»Nein.«

»Dann sag etwas zu deiner Person, bitte.«

Max Leitner brauchte nur zwei kurze Sätze, dann verstummte er wieder. »Den Rest können Sie meiner Personalakte entnehmen«, fügte er noch hinzu, was wieder zu einigem Gelächter führte.

Klaus Antonius drehte sich zu ihm. »Max, ich kenne dich als ausgemachten Schlaufuchs, wenn es um die Sacharbeit geht. Konntest du dir nicht denken, was mit der wichtigen Dienstsache heute gemeint war?«

»Eigentlich schon.«

»Wenn du es sozusagen wusstest, dann hätte ich mir persönlich gewünscht, dass du zu diesem feierlichen Anlass mal eine Krawatte umgebunden und statt der alten Lederjacke einen vernünftigen Anzug gewählt hättest.«

»Wollt ihr einen Ermittler oder ein Model?«

Antonius’ Antwort ging in einer Lachsalve von etwa drei Dutzend Stimmen unter. Anschließend erhielten Leitner und Tobias je einen Blumenstrauß, dann löste sich die Runde auf.

Auf dem Weg zurück zu den Büros maulte Tobias: »Einen Blumenstrauß zur Begrüßung. Finde ich irgendwie komisch.«

Leitner zog die Augenbrauen hoch. »Denk nach. Was soll Antonius dir denn sonst überreichen? Vielleicht eine Flasche Schnaps?«

»Weiß nicht. Aber wenigstens keine Blumen.«

»Hast du gerade eine Freundin, Tobias?«

»Klar. Bin verliebt bis über beide Ohren. Eine Superfrau, sage ich dir.«

»Na denn.« Leitner machte eine auffordernde Handbewegung.

»Du meinst …«

»Ja, schenk deiner Angebeteten den Strauß.«

Tobias wirkte erlöst. »Das mach ich, scheue keine Kosten und Mühen, um sie glücklich zu machen. Kann ich deinen auch noch haben?«

Kapitel 2

Mittwoch, 22. März 2017

Hannover-Nordstadt

Gleich morgens hatte sie den lästigen Einkauf erledigt und saß gegen Mittag in einem Café am Engelbosteler Damm und schlürfte mittlerweile an ihrem dritten Cappuccino.

Sie liebte diese belebte Gegend mit den vielen kleinen Geschäften und beobachtete zu gern die Menschen, die am Café vorbeigingen. Hier in dieser Gegend lebten sie alle einigermaßen friedlich nebeneinander – Alt und Jung, In- und Ausländer und viele Studenten. Nur eine kleine Ecke musste man meiden, in der gelegentlich ein paar gewaltbereite Punker ihr Unwesen trieben, speziell nachts. Aber sonst war es relativ ruhig im Viertel.

Viktoria Schall beobachtete eine alte Frau, die tief gebeugt über ihrem Rollator hing und kaum vorwärtskam. Diese mühte sich erfolglos ab, zwei Äpfel aufzuheben, die ihr aus dem Korb gefallen waren. Das konnte Viktoria ja voll ab, keiner der Passanten half der hilflosen Dame! Schnell rannte sie hinaus, griff nach den Äpfeln und verstaute diese wieder im Korb.

»Junges Fräulein, das ist aber nett«, sagte die alte Dame.

»Is’ schon okay.«

Die kleine Alte schaute an ihr hoch. »Wie heißen Sie, Fräulein?«

»Viktoria.«

»Oh, was für ein wunderschöner Name. Stricken Sie Ihre Sachen selbst? Ich habe nach dem Krieg alles selber gemacht, wissen Sie. Wir hatten ja nichts. Mein Bruder hat mal Kohlen geklaut und dann gegen eine Strumpfhose getauscht. Die hat er mir dann zu Weihnachten geschenkt. Die habe ich viele Jahre in Ehren gehalten. Mein Bruder ist leider schon früh verstorben, wissen Sie.« Ein paar Tränen hingen in ihren tiefen Augenrändern. »Ich komme drauf, weil Sie so farbenfroh gekleidet sind und eine wunderschöne Strumpfhose tragen.«

Verblüfft schaute Viktoria Schall an sich herunter. Klar, sie liebte bunte Sachen, die in der Kombination immer schrill wirken sollten. Heute trug sie einen grün-weißen Pullover mit eingenähten roten Sternchen. Ihre Haare hatten einen leicht violetten Schimmer, im Kontrast zu ihrem hellblauen Lederrock trug sie eine orange Strumpfhose mit völlig unpassenden Fellstiefeln.

»Ich stricke viel«, gab sie zur Antwort. »Kann mir teure Klamotten nicht leisten. Den hier habe ich auch gestrickt.« Wie zum Beweis zupfte sie an einigen hervortretenden Wollfäden ihres Sternen-Pullovers.

Die Frau nickte zufrieden. »Fräulein Viktoria … ich darf das doch sagen?«

»Klar.«

»Fräulein Viktoria, darf ich fragen, wie alt Sie sind?«

»Fünfundzwanzig.«

»Dann brauchen Sie noch ordentlich Vitamine. Bitte nehmen Sie sich einen Apfel.«

Viktoria lehnte ab, aber die alte Dame beugte sich über ihren Korb, angelte mit zittrigen Fingern einen der beiden Äpfel und drückte ihn ihr in die Hand. Es schien sinnlos zu sein, sich dagegen zu wehren.

Zum Abschied sagte die kleine Frau: »Vielen Dank für das nette Gespräch, Fräulein. Ich werde noch lange davon zehren. Alles Gute, Gott schütze Sie.«

Viktoria Schall verschwand wieder im Café, zahlte und zog ihren dicken Mantel über. Jetzt erst bemerkte sie, dass sie vollkommen durchgefroren war, denn es war heute recht kühl.

Ihre Wohngemeinschaft war ganz in der Nähe der Lutherkirche, die sie jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben richtig bewusst wahrnahm. Immer wieder musste sie an die Rollator-Frau denken.

Fröhlich gekleidet, eine schöne Strumpfhose, ein Apfel als Geschenk, bedankt sich für einen vielleicht zweiminütigen Small Talk, wird lange davon zehren, Gott soll Sie schützen. Sagt eine kleine, uralte, wohl sehr einsame Frau, die sich kaum bewegen kann, zu ihr. So etwas Eigenartiges hatte Viktoria noch nicht erlebt. So etwas eigenartig Schönes, fast Wohltuendes! Während sie die Kirche umrundete, genoss sie den Apfel und spürte, dass sie auf nichts anderes Hunger hatte. Noch nie hatte sie Äpfel gemocht, bei ihren Eltern hatte die kleine Viki immer Theater gemacht, wenn man als Nachtisch Apfelmus mit Sahne servierte. Nur die Sahne konnte man essen.

Zu Hause stellte sie die Apfelreste auf ihren überfüllten Schreibtisch, mit ihrem Smartphone gelangen ein paar Fotos, die man vielleicht noch verwerten konnte oder einfach als Erinnerung behielt.

Den Rock tauschte sie gegen einen gelben Thermoanzug aus, weil ihr immer noch kalt war. Dann suchte sie die Nummer der Polizeiinspektion in Hannover-Limmer und wählte die angegebene Nummer.

Eine junge, männliche Stimme meldete sich. Viktoria fiel gleich mit der Tür ins Haus und fragte, ob es etwas Neues von Malte gäbe. Ja, Malte, nein, nicht Walter, sondern Malte Decker, Decker, wie der Dachdecker ohne Dach.

Es dauerte lange, dann meldete sich die Stimme wieder: »Hören Sie?«

»Bin da, warte schon ’ne Ewigkeit«, meckerte sie den Beamten an.

»Frau Schall, am Telefon kann ich …«

»Is’ klar, hab verstanden, ich komm vorbei.« Arschloch. Mistkerl. Nahm man sie dort eigentlich nicht ernst? Vor drei Tagen waren Malte Decker und sie abends zum Essengehen verabredet gewesen, gegen 21 Uhr. Viktoria hatte ihn bei sich zu Hause abholen wollen. Aber er schien nicht da zu sein. Seitdem Funkstille. Jeden Tag hatte sie sich seitdem bei der Polizei gemeldet, immer hieß es, dass man sich darum kümmere.

Viktoria nahm ihre Jacke von der Garderobe und lief die Treppe hinunter. Hinter dem Haus standen die Fahrräder. Ihres stach aus der Masse hervor, weil es weiß und rosa lackiert war. Sie schnappte es sich und fuhr los, durchquerte den Georgengarten und freute sich, dass sie als Radfahrerin diese Abkürzung zur Polizeiinspektion Limmer nehmen konnte. Dort konnte man ihr noch nichts Neues sagen. Sie solle sich noch gedulden.

Kapitel 3

Donnerstag, 23. März 2017

Zentraler Kriminaldienst

Kriminalhauptkommissar Leitner hörte ein leises Klopfen an seiner Bürotür. »Herein.« Werner Zandermann, auch einer von den älteren Kollegen, schaute um die Ecke und lächelte. »Max, hast du Zeit?«

»Was gibt es denn, Werner?«

»Wir haben einen Einsatz, du bist Ermittlungsführer.«

»Na, denn mal los. Sag dem Tobias Heuward Bescheid, wir treffen uns …«, Leitner schaute auf die Uhr, »wir treffen uns in fünfzehn Minuten bei den Fahrzeugen. Ist dir das recht? Ich muss vorher noch zwei Telefonate führen. Ach, noch was …«

»Was ist noch?«, fragte Zandermann, der inzwischen den Raum betreten hatte.

»Lass bitte Tobias ans Steuer, das Autofahren ist seine große Leidenschaft. Wenn er nicht fahren darf, knört er rum wie ein alter Hirsch.«

Zandermann lachte. »Das geht in Ordnung, Max. Obwohl ich ja selbst gern die Kontrolle über einen Wagen habe.« Er wedelte mit dem Autoschlüssel. »Habe schon ein Dienstfahrzeug für uns reserviert. Wir sehen uns unten. In fünfzehn Minuten.«

Die beiden trafen sich, wie abgesprochen, am Fahrzeug. Von Tobias war weit und breit nichts zu sehen. Leitner blickte wieder auf die Uhr. »Verstehe ich nicht. Normalerweise ist er immer der Erste und steht bereits an der Fahrertür, damit kein anderer auf die Idee kommt, diesen Platz einzunehmen.« Sie warteten weitere zehn Minuten, dann kam der große Lockenkopf angehetzt.

»Sorry, Leute. Ich musste dringend mit meiner Freundin telefonieren, hatte Knatsch wegen gestern Abend. Alles wieder geregelt, aber dann musste ich noch auf die Toilette, dann noch mein Notizbuch holen, dann …«

»Es reicht, Tobias!« Leitner schüttelte ärgerlich den Kopf, und Werner Zandermann fügte grinsend hinzu: »Noch fünf Minuten, und wir wären ohne Sie gefahren.«

»Das könnten Sie nicht verantworten, geht gar nicht. Schließlich muss ich noch viel lernen. Dann zum Thema Autofahren, kann ich?« Er streckte die Hand nach dem Schlüssel aus.

Zandermann warf ihm den Schlüssel in hohem Bogen zu, und der sportliche junge Mann fing ihn geschmeidig auf. Als sie im Wagen Platz genommen hatten, fragte Tobias vorsichtig: »Mit Blaulicht, Herr Zandermann? Dann könnte ich ja schneller fahren.«

»Ohne. Wir haben keine Erlaubnis, unter Blaulicht zu fahren, und es geht um einen Toten, der uns ja nicht mehr weglaufen kann, Herr Kollege. Also nicht schnell, sondern normal, nach Straßenverkehrsordnung, wenn ich bitten darf.«

»Ja, Sir.« Tobias deutete einen militärischen Gruß an. »Wo darf ich die Herren Hauptkommissare denn hinschaukeln?«

»Richtung Gewerbegebiet am Lindener Hafen. Kennen Sie sich da aus?«

»Nee.«

»Dann sage ich Ihnen, wo wir lang müssen.«

Auf einem kleinen Hof stand ein unscheinbares, ziemlich heruntergekommenes Haus, umgeben von Gebäuden, die offensichtlich gewerblich genutzt wurden oder einfach leer standen. Tobias kurvte an einigen Fahrzeugen vorbei, darunter auch ein Streifenwagen. Die Kollegen von der Polizeiinspektion sicherten gerade die Örtlichkeit mit Flatterbändern.

Schon von Weitem erkannte Leitner Christa Brunner, eine blond gelockte, korpulente Dame mittleren Alters, die zur Spurensicherung gehörte. Sie hatte sich etwas von der Eingangstür entfernt und rauchte.

Leitner ging auf sie zu. »Tag, Frau Brunner.«

»Mensch, das ist ja toll. Herr Leitner ist wieder im Einsatz! Wo warste denn so lange?« Sie zog kräftig an ihrer Zigarette.

»Göttingen, zwei Jahre.«

»Jetzt biste wieder hier in Hannover?«

»Ja. Und Sie? Wie geht es Ihnen? Rauchen Sie immer noch zwei Schachteln am Tag?«

Die ganz in Weiß gekleidete Frau nahm einen weiteren Zug. »Ich kann die Sargnägel einfach nicht lassen. Kommt vom Stress.«

»Wäre schade, wenn wir Sie mal obduzieren müssten«, lächelte Leitner.

»Ach, Unsinn, Räucherware hält sich länger.«

Leitner zeigte auf das Häuschen. »Haben Sie schon was für uns?«

»Eine Leiche, männlich. Sonst noch nichts Konkretes, haben gerade angefangen, vor einer halben Stunde. Ihr könnt euch gern umschauen, komme auch gleich wieder rein. Ein bisschen aufpassen, ist eine echte Rumpelkammer, überall liegt was rum.«

»Machen wir.« Leitner stellte kurz seinen jungen Kollegen vor, doch dieser wirkte abgelenkt und drängte darauf, endlich das Haus betreten zu können. Er wollte losstürmen, doch Leitner hielt ihn zurück. »Wir gehen zusammen rein und verschaffen uns erst mal einen Überblick, gemeinsam.« Er schaute den jungen Mann ernst an. »Hektik ist hier nicht erwünscht, klar?«

»Geht klar, großer Meister.«

»Lass den Quatsch, komm, wir brauchen noch die Schutzkleidung.« Am Fahrzeug zogen sie die Papieranzüge über, am Hauseingang kamen noch Füßlinge und Mundschutz dazu. Leitner streifte sich Gummihandschuhe über und betrat das Häuschen.

»Hier! Guck dir mal die Klingel an, Max.« Tobias drückte auf eine einzelne, zerbrochene Klingel, wobei ein kleines Stück Kunststoff abbrach und zu Boden fiel.

»Mensch, biste irre?«, brüllte ihn Frau Brunner an, die ebenfalls gerade wieder hineingehen wollte. »Ohne Handschuhe wird hier nichts angefasst! Du fasst am besten überhaupt nichts mehr an, junger Freund, habe ich mich klar genug ausgedrückt!?«

»Sorry, tut mir leid wegen der Klingel. Aber ich habe keine Handschuhe dabei. Außerdem drückt da doch sowieso niemand mehr drauf, die ist völlig kaputt, hat keinen Namen und fällt demnächst ganz herunter, Frau Brunnen.«

»Brunner, wenn ich bitten darf. Hier haste welche.« Sie funkelte ihn an. »Eins sage ich dir, junger Freund, wenn das noch mal passiert, gibt es einen Vermerk an die Personalverwaltung wegen Behinderung kriminaltechnischer Arbeiten.« Sie grinste ihn kurz an. »War’n Scherz.«

Tobias nickte nur und streifte sich das Paar Handschuhe über. Eilig verschwand Frau Brunner im Haus. Auch Leitner, der bislang geschwiegen hatte, ging hinein, gefolgt von einem leicht deprimierten Tobias. Ein intensiver, fauliger Geruch empfing sie.

»Boah, stinkt das hier!«, schimpfte Tobias.

Sie befanden sich in einem langen Flur, der an einer offen stehenden Stahltür endete. Überall lagen Gegenstände im Weg herum. Vorne links ging es in eine Art Küche, allerdings ohne Schränke. Das Geschirr stapelte sich teils auf einem großen Tisch, teils daneben auf dem Fußboden. Auf dem Tisch quollen mehrere Aschenbecher über. Um den Tisch herum und an einer Wand standen verstaubte Stühle, teilweise mit aufgerissenen Polstern. An der Wand gegenüber gab es nur ein kleines, farbverschmiertes Becken, in dem diverse Pinsel lagen. Daneben hingen vollkommen verschmutzte Geschirrtücher.

»Ziemlich modernes Design für eine Küche«, murmelte Tobias vorsichtig durch seinen Mundschutz.

Leitner schüttelte sich. »Das ist unglaublich.«

Sie bahnten sich den Weg durch eine Menge an Eimern, Kartons und Farbpaletten. Hinter der Stahltür lag ein Zimmer, in dem in einer Ecke ein Bürotisch mit Laptop sein Dasein fristete, unter einem zugemauerten Fenster stand ein Bett. Über den Raum verteilt befanden sich mehrere Staffeleien.

Von dem Zimmer gingen noch zwei weitere Räume ab, im hinteren der beiden arbeitete Frau Brunner.

»Wo ist der Tote?«, wollte Leitner von ihr wissen.

»Kommt rein.« Hinter der Tür zeigte sie auf eine angerostete Badewanne.

»Oh Gott«, stöhnte Tobias, der sich augenblicklich weißlich verfärbte und eine Hand vor den Mundschutz hielt.

»Junger Freund, wenn, dann vor der Haustür, aber bitte etwas abseits, nicht direkt gegen die Wände.« Frau Brunner wirkte immer noch etwas gereizt.

Tobias nahm die Hand wieder vom Mund weg. »Nee … geht schon … werde es überleben«, stammelte er sich zusammen.

»Überleben ist wichtig, ein Toter reicht mir heute nämlich. Nichts anfassen.«

In der Badewanne lag voll bekleidet ein schlanker Mann, nur die Schuhe standen daneben. Er hatte schulterlange, dunkle Haare, die ihm in einzelnen Strähnen im Gesicht hingen. Obwohl der Oberkörper mit einem langärmeligen T-Shirt bekleidet war, konnte man an den Pulsadern beider Arme diverse Schnittversuche erkennen; das Wasser hatte sich durch das ausgetretene Blut rötlich verfärbt.

»Eigentlich brauchen Sie hier doch gar nicht weiterzumachen. Das ist ja wohl eindeutig. Klarer Fall von Suizid, oder?«

»Das wissen wir noch nicht, Herr Heuward. Ich sag ja immer, dass die Toten mehr erzählen als die Lebenden, sogar mehr als Sie.« Frau Brunner füllte ein Röhrchen mit dem blutigen Wasser.

»Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen«, bemerkte Tobias.

»Was kannste dir nicht vorstellen?«

»Dass Tote mehr quatschen als ich.«

Die korpulente, lockige Dame warf Tobias einen bösen Blick zu. »Kann ich jetzt in Ruhe meine Arbeit machen?«

Tobias nickte und verließ den Raum.

»Zwei Fragen noch, Frau Brunner«, schaltete sich Leitner ein.

»Klar, frag doch.«

»Wie sicher ist es, dass dies wirklich nur Wasser und Blut sind?«

»Sehr wahrscheinlich, der Wasserhahn tropfte noch, als ich hier reinkam. Andere Substanzen sollten da nicht drin sein, sagt mir mein Spürsinn, ist ja nicht meine erste rote Wanne mit Leiche. Letzte Sicherheit geben uns die Proben. Gebe ich nachher im Labor ab. Die zweite Frage?«

»Was für eine Augenfarbe hatte der Tote?«

»Das weiß ich nicht, Herr Hauptkommissar.«

»Wieso wissen Sie das nicht?«

»Weil die Lider verschlossen waren. Das ist etwas ungewöhnlich.«

»Darf ich sie kurz öffnen?«

»Nette Kollegen wie du dürfen fast alles bei mir«, sagte sie.

Leitner wollte weder Kompliment noch Anspielung kommentieren, öffnete die Augen der Leiche einen Spalt weit und schloss sie schnell wieder.

»Und?« Frau Brunner war neugierig.

»Ganz einfach – sie sind knallrot. Ich vermute mal, dass der Mann sehr viel Alkohol oder Drogen zu sich genommen haben muss. Unter dem Schreibtisch liegt eine Flasche Rotwein, die sollte für eine derartige Rötung aber nicht ausreichen. Habt ihr Drogen gefunden?«

»Moment.« Christa Brunner hastete zu ihren drei Kollegen und kam kopfschüttelnd zurück. »Bis jetzt noch nicht. Aber wir haben noch einen Schrank und jede Menge Schubladen vor uns.«

»Ich habe hier noch keinen vernünftigen Schrank gesehen.«

»In dem Zimmer vor dem Bad, da warst du wohl noch nicht drin?«

»Nein.« Leitner wollte gerade gehen, da kam ein Polizist auf ihn zu. »Leiten Sie hier die Ermittlungen?«

»Ja.«

»Draußen steht eine junge Frau, die unbedingt ins Haus will.«

»Hier darf niemand rein. Bitte an der Absperrung festhalten. Ich komme gleich.« Leitner holte Werner Zandermann aus dem Nebenraum und ging mit ihm Richtung Tür. Tobias wollte nachkommen. An der Haustür reichte Zandermann Leitner ein Foto. »Das ist der Mann, Verwechslung ausgeschlossen.«

»Wo hast du das her?«, fragte Leitner.

»Aus einer Schublade, hat Heuward entdeckt.«

Leitner zog den Schutzanzug aus, legte Handschuhe, Mundschutz und Füßlinge am Eingangsbereich ab. »Danke.« Das Bild verschwand in seiner Lederjacke. Auch Zandermann entledigte sich schnell der Schutzkleidung, dann gingen die beiden hinaus.

Vor ihnen stand eine junge Frau. Sie war mit einem gelben Thermoanzug und dicken Stiefeln bekleidet und hielt ein weiß-rosa lackiertes Fahrrad fest. »Ich bin Viktoria Schall, was ist hier los?«

Leitner hielt ihr seinen Dienstausweis entgegen. »Hauptkommissar Leitner, Kripo Hannover, dies ist Kollege Zandermann. Was wollen Sie hier?«

»Können Sie nicht erst meine Frage beantworten?«

»Wir stellen hier die Fragen. Also, was wollen Sie hier?«

Die Frau schien irritiert zu sein. »Ja, was ist denn passiert? Ich will seit … also, seit mehreren Tagen einen Bekannten von mir erreichen.«

»Und der wohnt hier?«, fragte Zandermann.

»Ja, genau.«

»Verraten Sie uns den Namen?«

»Malte Decker.«

»Wohnt der hier allein?«

»Genau.«

»Frau Schall, können Sie sich ausweisen?«

Sie nickte und zeigte ihm den Personalausweis.

Zandermann war zufrieden. »Da kommt der Heuward. Ich gehe wieder rein zu den Kollegen«, sagte er. »Ihr kommt ja alleine klar.«

Tobias hatte sich ebenfalls seiner Schutzkleidung entledigt, kam angelaufen und zückte sein Notizheft. »Was habe ich verpasst?«

Leitner stellte ihn der jungen Frau vor. »Kollege Heuward.« Dann schaute er zu Tobias. »Dies ist Frau Schall, Viktoria Schall. Ein gewisser Malte Decker wohnt hier.«

»Können Sie mir den Nachnamen von dem Herrn kurz buchstabieren?«, bat Tobias.

Viktoria kam seinem Wunsch nach, wirkte aber immer unruhiger. »Was ist denn jetzt, ist was mit Malte?«

Leitner zeigte ihr das Foto. »Ist das Malte Decker?«

»Das ist er. Das Foto habe ich selbst gemacht, vor etwa zwei Wochen. Wollen Sie mich auf die Folter spannen? Ich flipp gleich aus.«

»Kommen Sie, wir gehen ein Stück. Lassen Sie das Rad stehen, das nimmt Ihnen hier keiner weg.« Leitner schnappte sich das Vehikel und schob es einem Polizisten zu, der es mit freundlichem Lächeln entgegennahm.

Der Hauptkommissar zog Viktoria von der Absperrung weg. Sie entfernten sich vom Haus, Tobias schlich hinterher. Jetzt kam wieder einmal der Moment, den Leitner an seinem Job über alle Maßen hasste und am liebsten anderen Kollegen überließ. Tobias wollte er noch verschonen, Werner Zandermann wäre dafür der ideale Mann gewesen, doch der hatte es ja geschickterweise vorgezogen, im Haus weiter zu recherchieren. Leitner war sich sicher, dass auch er diesem Augenblick hatte aus dem Weg gehen wollen. »Frau Schall, ich habe leider eine traurige Nachricht für Sie«, sagte er leise.

»Was … was ist …«, stotterte sie. Ihr sonnenbankgebräuntes, hübsches Gesicht wurde blass.

»Malte Decker ist verstorben.«

»Was … tot?«

»Ja. Standen Sie ihm sehr nahe?«

»Er war …« Sie hielt inne, Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Er war einfach nur ein guter Bekannter, ein Freund.« Die Tränen tropften nun auf ihren Anzug. Leitner öffnete ein Päckchen Papiertaschentücher und reichte ihr eins. Sie vergrub ihr Gesicht darin.

Leitner gab ihr Zeit, jetzt musste man Geduld aufbringen, was ihm allerdings schwerfiel. Plötzlich fiel die junge Frau dem großen Tobias in die Arme und schluchzte laut auf. Hastig steckte der sein Notizbuch ein und streichelte ihr über den Rücken. Eigentlich hatte Leitner ihm Körperkontakt zu beteiligten Personen, insbesondere jungen Damen, untersagt, aber in diesem Fall musste man wohl eine Ausnahme machen.

Dann beruhigte sich Viktoria Schall und ließ Tobias wieder los. »Verzeihung.«

»Nee, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Habe ich gern gemacht.«

Das war wieder typisch Tobias! Bevor jetzt noch Einladungen zum Essen- oder Spazierengehen folgten, übernahm Leitner wieder die Initiative. »Frau Schall, geht es wieder?«

»Geht so«, antwortete sie leise.

»Können Sie mir noch ein paar Fragen beantworten oder sollen wir das nachholen?«

»Fragen Sie, ich kriege Malte ohnehin nicht zurück.« Sie schnaubte noch einmal geräuschvoll ihre Nase. »So.«

»Wie lange kannten Sie Herrn Decker?«

»Oh … fünf oder sechs Jahre. Haben uns an der Hochschule kennengelernt.«

»Hier in Hannover?«

»Genau.«

»Wie alt ist Ihr Freund?«

»Also, ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, das weiß ich genau.« Sie lächelte zum ersten Mal. »Bei Malte bin ich mir nicht sicher, darüber haben wir nie gesprochen. Ich schätze ihn … sagen wir, auf etwa dreißig, ja, so ungefähr.«

»Hat Herr Decker irgendwas mit Kunst zu tun?«

»Das haben Sie doch schon gesehen, Sie waren ja schließlich im Haus! Also, ich habe noch nie einen so talentierten Kunstmaler erlebt. Malte hätte meiner Meinung nach überhaupt nicht zu studieren brauchen, er konnte bereits im ersten Semester jeden Studienkollegen aus jeder Perspektive in Windeseile porträtieren oder Pflanzen fast fotografisch exakt nachmalen. Wenn Sie mich fragen – Malte ist ein Genie … nein … war ein Genie.« Wieder rollten ein paar Tränen, und Leitner reichte ihr ein weiteres Taschentuch.

»Wir haben im Haus nicht ein einziges Objekt entdeckt, an dem Herr Decker gearbeitet hat. Lebte er denn vom Kunstmalen?«

»Weiß nicht genau, nehme es aber an. Gelegentlich hat er mich zum Essen oder auf Partys eingeladen. Dann schwärmte er von verschiedenen Aufträgen, die ihm oft eine Menge Kohle eingebracht hätten. Mehr weiß ich auch nicht.«

Leitner ließ nicht locker. »Was ist für Sie eine Menge Kohle, ich nehme an, Sie meinen Euro?«

»Genau. ’ne Menge Kohle? Zehntausend, zwanzigtausend oder auch mehr, so was in der Größenordnung. Moment mal … bei unserem letzten Treffen hat er was von einem Auftrag von einhunderttausend Euro geredet, das habe ich ihm aber nicht abgekauft.«

»Frau Schall, ich will Ihnen ja gern Glauben schenken, aber Herr Decker war doch ein unbekannter Künstler, nehme ich mal an?«

»Ja, das stimmt. Keine Vernissage, keine Ausstellungen in Galerien, keine Presse. Das hätte er mir mit Sicherheit erzählt.«

»Wer gibt also einem unbekannten Maler, sagen wir, zehntausend Euro? Und was sind das für Aufträge?«

»Herr Kommissar, ich weiß es nicht.« Wieder liefen ein paar Tränen über ihr hübsches Gesicht. »Ich … ich kann nicht mehr.«

»Das kann ich verstehen, es ist ein harter Tag für Sie. Kommen Sie nicht gleich morgen, sondern Montagnachmittag zu uns ins Präsidium.«

»Wann soll ich da sein?«