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Sabine Friemond, geb. 1968 in Duisburg, wuchs in der Gemeinde Spellen am Niederrhein auf. Nach dem Abitur machte sie eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Über Stationen in München, Nürnberg und Mosbach landete sie – nun verheiratet und mit drei Kindern – wieder in ihrer alten Heimat und führt dort seit 2009 eine eigene Buchhandlung. Hochbahn ist ihr erster Kriminalroman.

Sabine Friemond

Hochbahn

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Für meine Mutter,
für die Bücher zum täglichen Leben gehören.
Und für die Wuwers.
Stellvertretend für alle überzeugten Heimatshopper.

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Ein Wort an den Leser!

Prolog

Alles dröhnte.

Über ihm. In ihm. Am lautesten in seinem Kopf.

Für einen kurzen Moment hüllten ihn der Lärm und die diesige Feuchtigkeit komplett ein. Wie ein Kokon. Nur ein kurzer Augenblick hatte sein Leben vollständig verändert. Das durchdringende Knirschen des Metalls kam langsam wieder in sein Bewusstsein, auch vereinzelte Schreie konnte er nun wieder hören. Sein Blick suchte das Stemmeisen. Dort lag es. Konnte man etwas daran erkennen?

Nein, Kopfschütteln, entspannen.

Würden sie ihn gleich suchen?

Er hob das Stemmeisen auf und wischte es an seiner schmutzigen Hose ab. Dann drehte er sich zur Bauhütte um und legte es bedächtig zwischen das andere Werkzeug, bevor er losschrie und einen Weg zu seinen Kollegen suchte.

1. Kapitel

Epiphanias

Ich danke Ihnen allen für den freundlichen und warmherzigen Empfang.« Christin Erlenbeck blickte in die Runde der Gäste, die an diesem Mittwochnachmittag zu ihrer offiziellen Amtseinführung gekommen waren. »Das nimmt mir etwas die Angst, die ich davor habe, die Nachfolge von Pfarrer Lindemann anzutreten. Ich werde schon stolz darauf sein, wenn ich dieses Amt nur halb so gut ausfüllen kann! Wie Sie alle wissen, bin ich mit Voerde von Geburt an verwurzelt, Pastor Lindemann und seine Frau Ulrike waren immer für mich da und haben meinen Weg stets liebevoll begleitet. Umso mehr tut es mir leid, dass ihr beiden«, sie lächelte nun direkt Manfred und Ulrike Lindemann an, »zurück in den Norden geht.«

Beifälliges Gemurmel aus den Kirchenbänken. Wie ungebetene Gäste, die draußen bleiben müssen, schlugen die Zweige der Sträucher vor dem Fenster gegen die Scheiben.

»Wie einige von Ihnen wissen«, fuhr Christin fort, »werde ich dieses Amt ohne einen Partner an meiner Seite ausfüllen müssen. Auch das macht mir etwas Angst, da Ulrike an der Seite von Manfred ein wichtiger und formender Bestandteil dieser Gemeinde war.«

Es wurde applaudiert. Damit traf sie auf viel Zustimmung. Kein professioneller Marketingfachmann hätte für Pfarrerin Christin Erlenbeck eine bessere Antrittsrede schreiben können, da ihre Worte von Herzen kamen.

Sie war dreizehn Jahre alt gewesen, als Manfred Lindemann die Pfarrstelle in Voerde angenommen hatte. Sie gehörte zum ersten Jahrgang, den er in Voerde zur Konfirmation begleitete. Obwohl sie sich als Heranwachsende nicht durch besondere Frömmigkeit auszeichnete, waren die Gespräche, die sie über viele Jahre hinweg mit dem Ehepaar Lindemann führte, ausschlaggebend für ihre Entscheidung gewesen, das Studium der evangelischen Theologie in eine Ausbildung zur Pfarrerin münden zu lassen. Und jetzt wurde sie seine Nachfolgerin in Voerde. Sie konnte es selbst noch kaum glauben.

Als ihre Mutter ihr im Sommer gesagt hatte, Manfred habe sich nun doch für seine Pensionierung entschieden, stand unausgesprochen die Frage im Raum, ob Christin aus dem Fränkischen zurück an den Niederrhein kam. Tagelang ignorierte sie eine innere Auseinandersetzung mit diesem Thema, dann sprach sie, ganz nebenbei, mit Mathilda und Oskar über die Möglichkeit, zu Oma und Opa nach Voerde zu ziehen. »Geht klar«, sagten beide einstimmig. Dass Mathilda beim Umzug dann mitten im siebten Schuljahr wäre und Oskar im fünften, war für die beiden kein Problem. Christin hatte fast den Eindruck gehabt, dass ihre Kinder wegwollten aus Franken. Sie hatte wohl einiges unterschätzt.

Ihre Bewerbung um die Pfarrstelle in Voerde wurde mit großer Begeisterung aufgenommen, ihre Kündigung in Hersbruck mit Bedauern. Christin konnte mit ihren Kindern und Laika, der Spitzhündin, wie geplant im Januar nach Voerde ziehen. Mathilda und Oskar wechselten zum zweiten Halbjahr auf die neue Gesamtschule in der Voerder Innenstadt, und auch sie wollte mit dem neuen Jahr ein neues Leben beginnen.

»Ich gönne euch beiden von Herzen euren Ruhestand«, beendete sie ihre kleine Rede und setzte sich, ein Tränchen der Rührung wegwischend, in die vorderste Kirchenbank.

Nach den Begrüßungsreden von Bernd Hingmann, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Presbyter, und Andrea Winkels, der Leiterin der Evangelischen Frauenhilfe, die beide ebenfalls ihre Zufriedenheit mit Christin als Nachfolgerin zum Ausdruck brachten, setzte man sich noch zu einem gemeinsamen Abendessen im Gemeinderaum zusammen.

»Grünkohl mit Mettwurst«, stellte Christin als neue Pfarrerin grinsend fest, »mit so einem leckeren Essen kann ja nur alles gutgehen!«

»Dieses Essen ist zur Stärkung gedacht«, warf der nun pensionierte Pfarrer Lindemann ein, »so wie es aussieht, wird deine erste Herausforderung sein, deine neue Gemeinde durch einen schweren Sturm zu bringen – und das meine ich leider wörtlich!« Auf seinem Smartphone prüfte er regelmäßig die eingehenden Wettervorhersagen und runzelte sorgenvoll die Stirn, als er die Prognose sah. »Morgen soll es in großen Teilen von Nordrhein-Westfalen orkanartige Sturmböen geben. Man vermutet einen ähnlichen Verlauf wie bei Kyrill. Für dich konkret könnte das bedeuten, dass du hier morgen einige Raummeter Feuerholz auf dem Kirchhof und dem Friedhof beschert bekommst! Für mich und Ulrike« fuhr er fort, »bedeutet das, dass wir jetzt langsam gen Norden aufbrechen!«

Als sich alle Gäste verabschiedet hatten, ging Bernd Hingmann mit ihr noch rund um das Pfarrhaus, die Kirche und über den Friedhof, um Dinge, die bei einem Sturm zu gefährlichen Geschossen werden konnten, zu sichern. Laika begleitete sie. Mit gespitzten Ohren verfolgte die schwarze Hündin alles, was sich auf »ihrem« neuen Territorium tat.

»Danke, Bernd, das war jetzt noch ein schöner, kleiner Spaziergang und unsere erste Zusammenarbeit!«, sagte Christin und lächelte.

»Ja, aber es wird nicht alles so unkompliziert laufen.« Bernd sah sie mit ernster Miene an. »Heute Abend habe ich dir noch geholfen, aber in Zukunft werde ich dir bei verschiedenen Problemen nicht mehr helfen können. Andere wahrscheinlich auch nicht. Aber da du ja alleine bist, hast du bestimmt schon gelernt, alleine zurechtzukommen.« Damit ließ er sie stehen, setzte sich in sein Auto und fuhr davon.

Ok, dachte Christin, klar kam sie alleine zurecht.

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Das alte Haus machte Geräusche.

Christin, Mathilda und Oskar fühlten sich wie in einem Schiffsbauch, so stellten sie es sich dort zumindest vor. Es knarrte und ächzte, man konnte die Windböen fast spüren, wenn sie gegen die Hauswände fegten.

Sie saßen zusammen um den Esstisch herum und genossen das gemeinsame Frühstück. Schon am Abend zuvor waren die Kinder über ihre jeweiligen Klassen-WhatsApp-Gruppen informiert worden, dass wegen des Sturms »Friederike« die Eltern selber entscheiden konnten, ob sie ihre Kinder zur Schule schickten oder nicht. Christin entschied erst am Morgen, dass sie die Kinder bei sich zu Hause behalten wolle.

Langsam verging den dreien ihre Feiertagslaune, die Böen wurden immer heftiger, erste Äste wurden von den Bäumen gerissen.

»Ihr bleibt auf jeden Fall hier im Erdgeschoss, verstanden? Falls einer der Bäume aufs Dach stürzt, seid ihr hier sicherer.«

Diese Anweisung war eigentlich überflüssig, das Spektakel, das sich ihnen vor den Fenstern bot, beeindruckte die Kinder derart, dass sie lieber in der Nähe ihrer Mutter bleiben wollten. Der sonst eher gelassene Hund rannte aufgeregt zwischen Haustür und seiner Familie hin und her und bellte, wenn Zweige gegen ein Fenster flogen.

»Oh Mann!«, rief Oskar, »Wahnsinn, was da alles rumfliegt! Schau, Matti, der da hängt nur noch halb am Baum!«

Oskar deutete auf einen Ast.

»Mei, hoffentlich fliegt nichts in die Fenster!«

Mathilda starrte durch die Scheiben. Christin beobachtete ihre Tochter genau. Während ihr Sohn sich fast ein Wettrennen mit dem Hund lieferte, blieb ihre Tochter auffällig ruhig. Wie ihr Vater hatte Mathilda die beunruhigende Eigenart, plötzlich alles um sich herum zu vergessen und wie in Trance vor sich hin zu starren.

»Mama«, sagte sie jetzt langsam, »schau mal dort, guck mal genau auf den Boden.« Matti deutete rechts auf eine Stelle im Hof, etwa fünf Meter von ihnen entfernt.

»Was ist da, Schatz? Ich kann nichts sehen!«

»Mama, guck doch mal genau hin, da!« Mathilda klopfte ungeduldig mit ihrem Zeigefinger gegen die Scheibe, »du musst dich schon konzentrieren!«

Christin atmete tief durch und starrte nun genauso angestrengt in den Garten wie ihre Tochter. »Oh mein Gott!« entfuhr es ihr, »nein! Bitte nicht!«

Denn nun sah sie genau wie ihre Tochter, dass sich immer mehr Risse in dem Erdreich vor der großen Eiche bildeten und sich der Baum ganz langsam in Richtung Pavillon beugte. Der lächerliche Gedanke, hinauszurennen und den Baum von der anderen Seite halten zu wollen, schoss ihr durch den Kopf. Gleichzeitig malte sie sich schon aus, wie das Gemeindehaus gleich aussehen würde, und war nur froh, dass die heutige Krabbelgruppe nicht gekommen war.

Nun starrten alle drei auf den Boden rund um die Eiche. Die Risse wurden länger und tiefer, dann sahen Christin, Mathilda und Oskar mit offenen Mündern, wie der riesige, über hundert Jahre alte Baum erst ganz langsam, dann immer schneller umkippte und in den Pavillon krachte.

November 1911

Mia schreckte hoch.

»Heinrich, wach auf, mein Gott, wie spät ist es wohl schon? Heinrich!« Energisch schüttelte die junge Frau den Mann, der neben ihr lag.

Schlaftrunken drehte Heinrich sich zu ihr um. Er lächelte. »Mein Gott, siehst du süß aus!« Zärtlich strich er ihr über die Wange, dann wanderte seine Hand über ihren Hals, zu ihrer Brust.

»Nein, Heinrich, wir bekommen beide Ärger, wenn wir nicht pünktlich sind, und den brauchen wir nicht noch obendrauf!« Sie versuchte, seine Hand wegzuschieben, was aber nur bewirkte, dass sie tiefer wanderte, zu ihrem Bauch.

»Lass mich nur noch deiner kleinen Kugel eine guten Morgen wünschen, dann stehe ich auf!« Heinrich drückte Mia zurück auf die Matratze, beugte sich über sie und küsste sich hinunter, von ihrem Mund, über den Hals, zwischen ihren prallen Brüsten durch bis zu ihrem von der Schwangerschaft deutlich vergrößerten Bauch.

»Hallo, mein kleiner Fritzi oder meine kleine Fritzi! Du musst jetzt auch aufstehen! Sei ja brav zu deiner Mama!«

Mia lächelte nun auch. »Komm schon, Heinrich, Klein-Fritzi möchte keinen Papa, der wie ein Hund von der Baustelle gejagt wurde.«

»Die können mir alle mal den Buckel runterrutschen«, brauste er auf, während er in die Beine seiner langen Unterhose stieg, »bald haben wir genug Geld gespart, dann können wir für mindesten zwei Jahre nach Amerika, mit Fritzi.«

»Gut Monin«, kicherte Mia, »Ei em Misses Kämpe. Ach nee! Sorry«, sie schnitt eine Grimasse, »Miss Hassel. Den Unterschied hat mir der Folke schon beigebracht.«

Heinrich zog die dicken, langen Wollsocken über die Waden. Dann griff er sich die feste, graue Hose, die er von der Königlichen Eisenbahndirektion bekommen hatte, und zog sie über die lange Unterhose. »Nicht mehr lange Miss, bald Misses und dann Mummy«, grinste er, denn die Aussprache der schwer erlernten Wörter belustigte ihn selber noch.

Mia betrachtete ihren zukünftigen Ehemann. Groß und hager war er. Breite Schultern hatte er und starke Arme. Kein Wunder, schaufelte er doch tagsüber Erde und Schotter für den Bau der Hochbahn zwischen Oberhausen und Wesel und ab späten Nachmittag Mist auf dem Hof seines Vaters, der irgendwann einmal ihm gehören würde.

Mia Hassel und Heinrich Kämpe waren seit einem Jahr ein Paar.

Maria Johanna, wie die junge Frau mit Taufnamen hieß, arbeitete seit ihrem vierzehnten Lebensjahr als Magd im Haushalt der Kämpes. Heinrich hatte sich sofort in das kluge, besonnene Mädchen verliebt. Seine Eltern waren mit Mia nicht einverstanden, aber da Heinrich ihnen die Wahl ließ, entweder sie würden Mia akzeptieren, oder er würde sich sofort mit ihr nach Amerika durchschlagen, akzeptierten die alten Kämpes seine Wahl. So wurde es auch bald selbstverständlich, dass Mia nicht mehr jeden Morgen und Abend über die Felder von ihrem Elternhaus in Ork zum Kämpehof nach Mehr hin- und zurücklaufen musste, sondern im Hause ihrer Arbeitgeber die Nacht verbrachte. In Heinrichs Kammer.

Mias Eltern waren sehr besorgt, als ihre Tochter ihnen gestand, dass sie und Heinrich die Hochzeitsnacht schon vorgezogen hatten – mit entsprechenden Folgen.

Die Hassels waren katholisch, und sie misstrauten dem evangelischen, zukünftigen Hoferben, hätte er doch viele andere Mädchen aus wohlhabenderen Familien haben können. Mias Eltern hofften jetzt nur noch, dass die Schwangerschaft diese Verbindung zur Eheschließung brachte. Aber da das Schlimmste nun schon passiert war, konnte Mia auch direkt auf den Hof ihrer zukünftigen Schwiegereltern ziehen.

Langsam wurde Heinrich doch hektisch. Er zog sein Hemd über, und Mia half ihm in die zusätzliche Strickjacke, die sie ihm selber aus der Wolle der Schafe ihres Vaters gemacht hatte, dann gab sie ihm die dicke, graue Jacke, die auch das Emblem der Königlichen Eisenbahndirektion trug.

»Soll ich dir noch einen Kaffee machen, während du dir die Stiefel schnürst?«, fragte Mia.

»Um Gottes willen, nein, das dauert jetzt wirklich viel zu lange! Verpacke mir nur schnell noch ein paar Scheiben Brot und Schinken, dann flitze ich los.«

Schnell lief Mia in die Küche und packte ihm Brot, Schinken und Käse in einen Stoffbeutel, während Heinrich zum Schuppen hastete, um sein Fahrrad zu holen.

»Mist«, fluchte er wütend, »der Reifen ist wieder platt! Verdammt, ist hier denn alles nur Schrott? Bin ich froh, wenn wir in Amerika sind, dann brauche ich mich nicht mehr um diesen Scheiß hier kümmern! Jetzt komme ich auf jeden Fall zu spät.« Heinrich rannte mit seinen langen Beinen los. Er drehte sich noch einmal kurz um und warf Mia eine Kusshand zu.

2. Kapitel

Laika rannte kreuz und quer durch den Garten und über den Hof. Gerade hatte sie ihre neue Umgebung einigermaßen kennengelernt, da sah es schon wieder ganz anders aus. Jetzt lag ein riesiger Baum auf dem Gelände. Die Wurzeln ragten weit über zwei Meter hoch in die Luft.

Christin hatte die Feuerwehr benachrichtigt, aber auch zu verstehen gegeben, dass sie natürlich warten könne. Sie war einigermaßen ratlos, in so einer Situation war sie noch nie gewesen. Matti und Oskar rannten mit ihren Smartphones herum und fotografierten den gewaltigen Baum vor ihrem neuen Zuhause aus allen erdenklichen Perspektiven.

Christin hatte schon mit ihren Eltern telefoniert, bei ihnen war alles in Ordnung.

»Gott sei Dank sind wir verschont geblieben«, fasste ihre Mutter Ingrid zusammen, »Papa hatte im Herbst ordentlich gekürzt. Wir kommen gleich vorbei und gucken, wie wir euch helfen können.«

Sollte sie Bernd Hingmann benachrichtigen? Er war immerhin ihr Stellvertreter, außerdem bestimmt mit den Formalitäten vertraut, die jetzt erledigt werden mussten. Innerlich machte sie eine Liste mit den Stellen, die sie informieren musste.

»Oh Mann!« Andrea Winkels kam auf den Kirchhof gelaufen. »Ist irgendwem irgendetwas passiert? Mannomann! Sieht das hier aus! Christin, wie kann man dieses Zeichen des Herrn nun deuten?« Andrea lachte tatsächlich.

Die Pfarrerin kam hingegen erst langsam wieder in der Gegenwart an.

»Komm«, sagte Andrea, »gleich wird es hier nur so wimmeln vor hilfsbereiten Menschen, lass uns Kaffee kochen.«

»Ach«, plapperte sie weiter, »weißt du, der Pavillon war eh nicht mehr so toll. Jetzt kann dort endlich etwas Moderneres und Zweckmäßigeres gebaut werden …«

Friederike war mit der gleichen Kraft wie Kyrill elf Jahre zuvor über Deutschland hinweggefegt. Im Stadtgebiet von Voerde hatte die Feuerwehr einiges zu tun. Die B 8, eine der Hauptschlagadern zwischen dem Ruhrgebiet und dem Niederrhein, musste gesperrt werden, da umgekippte Bäume die Durchfahrt versperrten.

Auch die Bundesbahn musste ihre Strecken sichten und viele Schäden beseitigen.

Auf dem Bahndamm der alten Hochbahn sah man schon von Weitem, welche Schäden Friederike angerichtet hatte. Auch dort hatte der Sturm alte Bäume entwurzelt, kreuz und quer ragten sie teilweise in den Himmel oder bildeten Brücken bis auf die umliegenden Wiesen. Die DB Netz AG sperrte sofort die komplette Strecke zwischen Oberhausen und Wesel.

Christin hatte sich dafür entschieden, ihren Stellvertreter im Presbyterium anzurufen. Schließlich war es nicht ihr Problem, wenn er mit ihr als alleinstehender Frau ungern zusammenarbeitete.

»Tja, das wird dauern, bis wir hier vorankommen! Gott sei Dank ist niemandem etwas passiert. Aber solange die Feuerwehr nicht ihr OK gibt, können wir nichts tun. Ich werde mir auf jeden Fall schon mal Gedanken machen, wer hier aufräumen kann.«

Die Pfarrerin lächelte. »Gut, danke. Ich werde dann jetzt Düsseldorf informieren.«

Als Christin am Abend ihre Kinder zu Bett brachte, hielt Mathilda sie fest. »Mama. Schau mal, ich habe so gut aufgepasst, ich habe genau gesehen, wie der Baum langsam aufgab und ich konnte nichts machen!«

»Ja, mein Schatz«, Christin legte ihre Hand an Mattis linke Wange, »das ist manchmal so. Aber trotzdem musst du weiterhin immer gut beobachten. Es wird bestimmt noch oft anders sein und du wirst helfen können.«

Es gab ihr einen Stich, Matti so verstört zu sehen. Sie wusste genau, was in ihrer Tochter vorging und dass sie nicht nur den Baum meinte.

November 1911

Auch an diesem frühen Novembermorgen schaffte es die Sonne nicht, der Baukolonne am Streckenabschnitt Spellen-Bahnhof den Arbeitstag heller zu machen. Die überwiegend aus Italienern, Polen und Kroaten bestehende Kolonne musste schneller schaufeln, stampfen und hacken als sonst, da es nur wenige Stunden am Tag hell genug war, um zu arbeiten. Die Männer schufteten in den frühen Morgenstunden und ab dem Nachmittag fast im Dunkeln und freuten sich schon morgens wieder auf die Wärme, die abends in ihren Baracken der Holzkohleofen verströmen würde. Alle blieben unter sich, allen gemeinsam war nur das Heimweh und der regelmäßige Gang zum Postamt, um das verdiente Geld an die zurückgebliebenen Lieben in die Heimat zu schicken. Gemeinsam hatten sie auch noch den Verlust ihrer Arbeit auf der Zeche Osterfeld, wo sie durch den Einsatz neuartiger Maschinen ersetzt worden waren. Nur ein paar Einheimische halfen beim Bau der Hochbahn mit.

Wilhelm Lemm führte als Bauleiter ein strenges Regiment. Die Ingenieure der Königlichen Eisenbahndirektion saßen ihm im Nacken. Er war das letzte Glied in der Kette derer, die für die Umsetzung der Pläne verantwortlich waren. Konkret bedeutete dies, dass eine riesige Menge Erde aus dem Bau des Rhein-Herne-Kanals und Abraum aus dem Bergbau der Zeche Osterfeld und der Gutehoffnungshütte über schon vorhandene Bahnstrecken nach Spellen transportiert werden musste, wo sie abgeladen wurde und von den Arbeitern zum Unterbau der Hochbahn verarbeitet wurde. Dazu mussten sie Tonne für Tonne die Erdmassen verteilen und mit Holzstempeln Schicht für Schicht verdichten, damit die Trasse massiv wurde. Dicke, steinharte Brocken, die zwischen der Erde waren, erschwerten das Vorankommen. Diese mussten teilweise mit Hacken zerkleinert werden, damit man sie überhaupt vom Fleck bekam. Sobald wieder ein Teil des Unterbaus genügend verdichtet war, wurden Schotter und Kies für das eigentliche Schienenbett angeliefert. Dann erst konnte man weitere Gleise verlegen.

Wilhelm Lemm ging die Baustelle ab.

»Johannes, komm mal her!«, brüllte er, da er ihn nicht sah.

Kurze Zeit später kam ein Mann aus dem dämmerigen Tageslicht auf ihn zu.

»Kannst du auch schneller gehen?«, schnauzte er ihn an. »Nur weil du Vorarbeiter bist, bist du nix Besseres! Ist Heinrich schon aufgetaucht?«

»Der kommt bestimmt sofort.«

»Ja, klar, wenn der Herr sich von der Mia und dem warmen Bettchen trennen kann! Die haben es sich wohl schon ganz schön gemütlich gemacht?«, grinste der Bauleiter anzüglich, »dem schmeckt die Maloche hier sowieso nicht, aber euer Vater hat recht, wenn er meint, dass ihr hier was dazuverdienen sollt.«

Johannes zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Lust, sich provozieren zu lassen. Ihn wurmte es mehr, als er zugab, dass sein großer Bruder mit Mia zusammen war. »Was willst du, warum hast du mich gerufen?«

»Gleich kommen die ersten Waggons, nimm dir noch ein paar Itaker oder Polacken und stellt euch mit Fackeln an den Prellbock, damit die bei dieser Suppe sehen können, wo Ende ist. Aber beeil dich!«

Johannes Kämpe stapfte durch die feuchte Erde auf einen Durchlass der Holzverschalung zu, die die zukünftige Trasse umschloss. Überall war das Gemurmel seiner Kollegen zu hören, das Schürfen der Spaten in der Erde oder das Hacken auf Gesteinsbrocken. Schon nach ein paar Metern konnte man kaum noch jemanden sehen.

Die Bauhütte, in der die Arbeiter Pause machen konnten und Teile der Geräte aufbewahrt wurden, befand sich ein paar Meter außerhalb der hohen Holzwand, die die Strecke westlich, zum Spellener Ortskern hin, umschloss. Dort wurden wegen der Feuchtigkeit auch die Fackeln aufbewahrt, die Johannes holen sollte. An jedem Durchlass lehnten Leitern, über die die Arbeiter zu ihrem Arbeitsplatz innerhalb der Holzverschalung gelangen konnten.

Wilhelm Lemm starrte Johannes noch hinterher. Mit seinen erst achtzehn Jahren hatte der zweitgeborene Kämpe-Sohn schon etwas Arrogantes. Es hieß, er sei ein guter Schüler und werde nach Düsseldorf zum Studieren gehen. Aber was genau er studieren wollte, das wusste keiner. Auch Heinrich, der ältere Bruder, hatte eine leicht überhebliche Art. Er würde einmal einen großen Hof erben, sprach aber ständig davon, vorher Amerika und die großen Farmen mit ihren modernen Landmaschinen sehen zu wollen.

Lemm drehte sich wieder der Baustelle zu, als er ein leises Rauschen hörte. »Ruhe«, brüllte er den Arbeitern zu. Sofort hielten alle in ihrer Arbeit inne und wandten sich mit fragenden Gesichtern ihrem Chef zu. Automatisch nahmen sie den gleichen konzentrierten Gesichtsausdruck wie Lemm an und hörten es dann auch: ein Rauschen, das immer lauter wurde.

»Johannes, wo bleiben die Fackeln?«

Nun wurde der Bauleiter hektisch. Aber er wusste, dass Johannes erst die Leiter hinunter- und dann wieder hinaufmusste und noch gar nicht wieder da sein konnte.

Das Rauschen wurde immer lauter.

»Kommt weiter hierhin«, winkte er die Männer zu sich, »los, weiter zurück, avanti!«

Das Rumpeln der anrollenden Güterwaggons übertrug sich auch auf die Bretterwand, die die Baustelle umschloss. Man konnte die schweren Wagen nicht sehen, aber immer deutlicher hören – eine Mischung aus dem Pfeifen der Loks, dem Zischen des Dampfes aus den Kaminen und dem Gepolter, das die Räder auf den Schienen machten. Obwohl Wilhelm Lemm schon viele dieser hochbeladenen Waggons in Empfang genommen hatte, beschlich ihn diesmal ein mulmiges Gefühl.

Der Lärm der Loks und Waggons kam immer näher, Lemm deutete seinen Männern an, mit ihm noch weiter zurückzuweichen.

Schon im nächsten Moment hörten alle, wie die vorderste Lok gegen den mächtigen Prellbock stieß. Als die Arbeiter schon zu den Waggons wollten, um beim Entladen zu helfen, ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen und Knirschen, und mit vor Schreck geweiteten Augen konnten die Männer sehen, wie die riesige Dampflok mit ihren drei angekoppelten, hochbeladenen Waggons über den Prellbock geschoben wurde und ganz langsam nach links kippte.

3. Kapitel

Die Mutter in ihr sagte eindeutig Nein zu einem Spaziergang entlang der alten Hochbahn. Aber Oskar hatte von einigen Klassenkameraden gehört, dass es dort »wie nach einem Bombenanschlag« aussehe. Eine Zugmaschine, die mit ein paar Waggons auf dem Weg zum Hafen Emmelsum war, war vom Sturm überrascht worden. Wie Christin schon gehört hatte, war kein großer Schaden entstanden, aber sie gab ihrem Sohn nach und schlug eine Besichtigung des Schauplatzes zusammen mit Laika vor.

»Aber bilde dir nicht ein, dass wir da lange rumtun, um durch das Gestrüpp zu kommen. Außerdem wird immer noch vor losen Ästen gewarnt, die eventuell runterfallen können«, bremste sie Oskars Unternehmungslust.

Als sie am Samstag nach dem Essen ins Auto stiegen, überlegte sie, wo sie den Wagen am besten abstellen könnte. Bei dem kalten Wetter hatte sie keine Lust zu laufen. Sie fuhr von der Mehrstraße rechts ab in die Boltraystraße. Dort hielt sie direkt auf dem breiten Grünstreifen.

Mathilda und Oskar stiegen aus dem Auto, ihr Sohn wollte direkt zu der Böschung rennen. »Warte Oskar«, rief Christin und öffnete die Hundebox im Kofferraum. Sie ließ Laika herausspringen. »Wir gehen zusammen.«

Skeptisch schaute die Pfarrerin zum Bahndamm. Auch ohne die Schäden, die Friederike angerichtet hatte, konnte man an dieser Stelle eigentlich nicht zu den Gleisen hinauf. Sträucher und dichtes Gestrüpp überwucherten die Steigung der Hochbahn. Dazu kamen noch umgeknickte Bäume, die sich aber in die andere Richtung gelegt hatten, nicht zur Straße hin. Oben auf der Trasse sah sie einige größere, alte Bäume, manche standen noch aufrecht, zwischendrin sah sie aber mindestens einen großen Baum, der wahrscheinlich bis auf die Gleise gekippt war. Da musste irgendwo der eingeklemmte Zug sein.

Laika lief aufgeregt, ihre feine Hundenase auf den Boden gerichtet, los. Sie ahnte wohl, was ihre Familie vorhatte, und konnte es kaum erwarten.

»Lasst uns hier entlanggehen«, Christin wandte sich zur Mehrstraße um, »früher war hier ein Weg hinauf, ein Trampelpfad, da sind wir bei Schnee mit dem Schlitten runter.«

Mathilda sah sie belustigt an. »Mama, hier kann man doch nirgendwo mit dem Schlitten runter!«

Christin lächelte. »Nun«, gab sie zu, »das sind hier natürlich nicht solche Hügel, wie ihr sie aus Bayern kennt! Aber wir hatten trotzdem unseren Spaß.« Sie zuckte mit den Schultern und musste dann lachen. »Na ja, zumindest ein-, oder zweimal, dann war das bisschen Schnee zu Matsche gefahren.«

Kurz vor der Straße, von der sie gekommen waren, hielt Christin an. Tatsächlich, man konnte dort noch einen kleinen Weg hinauf erkennen.

Laika rannte den Trampelpfad hoch, sie hatte mit den tiefhängenden Ästen keine Probleme, Oskar und Mathilda liefen hinterher. Christin schüttelte den Kopf, stapfte dann aber auch los.

Schon nach wenigen Metern war sie schweißgebadet und hatte keine Lust mehr. Der Weg war matschig und glatt, sie und die Kinder rutschten ständig aus. Oskar ließ sich mit Wonne auf die Knie und den Hosenboden fallen, Mathilda zog eine Schnute, sie fror trotz des anstrengenden Aufstiegs.

»Versuche doch, dich an den Ästen hochzuziehen«, schnaufte ihre Mutter. »Kannst du Laika sehen?«

Mathilda verneinte, aber dann hörten sie den Hund etwas höher hecheln.

»Ich bin gleich oben, ich kann schon den Zug sehen!«, schrie Oskar.

Mathilda gab sich einen Ruck und versuchte, zu ihrem Bruder aufzuschließen, Christin folgte ihr.

»Oskar«, rief Christin energisch, »du wartest dort oben, bis wir auch da sind, du rührst dich nicht von der Stelle!«

Mit letzter Kraft schafften Mutter und Tochter das letzte Stück und standen dann neben Oskar.

»Wow!«, sagten alle drei, fast wie aus einem Munde.

Es war tatsächlich ein gespenstisches Bild. Stoisch, unberührt von dem heftigen Naturereignis, stand die Lokomotive auf den Gleisen, hinter ihr etwa fünf oder sechs Waggons. Genau vor ihr lag eine Eiche. Der Baum war gar nicht so riesig, aber es reichte aus, dem starken Zugwagen den Weg zu versperren. Auf der Lokomotive und auf den Waggons lagen auch einige Bäume, die kahlen Äste teils über den Wagen, teils zwischen ihnen.

»Cool!« Oskar war beeindruckt, er ging sofort los und machte mit seinem Handy Fotos, dicht gefolgt von Laika. Selbst Mathilda konnte etwas Begeisterung für dieses Schauspiel aufbringen und versuchte, ein Selfie mit dem umgekippten Baum sowie der Lok im Hintergrund zu machen.

Dann zog sie wieder eine Schnute.

»Komm, Mama, lass uns nach Hause gehen. Mir ist kalt, und ich finde es hier etwas gruselig.«

»Ja, mir ist jetzt auch kalt. Komm Oskar, wir machen uns an den Abstieg.«

Christin schaute sich nach dem Hund um. Laika war verschwunden.

»Laika, hier!«, rief sie laut.

Stille.

Auch die Kinder blickten sich suchend um.

»An dem Zug ist sie nicht vorbei«, sagte Oskar, »lasst uns ein bisschen in die andere Richtung laufen!«

Alle drei gingen ein paar Schritte in Richtung des alten Haltepunkts Spellener Bahnhof, aber schon nach wenigen Metern versperrten ihnen Bäume und Sträucher den Weg, die mit ihren Wurzeln auch etwas, das wie Schotter oder Kieselsteine aussah, aufgeworfen hatten.

Wieder riefen sie den Hund.

Christin wurde unruhig. Die Vegetation war teilweise undurchdringlich, wenn der Hund sich irgendwo verfangen hätte, müsste man die Feuerwehr rufen, um ihn zu befreien. Und langsam kroch das trübe Grau des späten Januarnachmittags in den Tag hinein.

»So ein Mist!«, schimpfte die Pfarrerin.

Sie musste eine Entscheidung treffen, sie wollte nicht mit den Kindern im Halbdunkel den matschigen Trampelpfad hinunterrutschen.

Plötzlich hörten sie etwas rascheln, dann stand Laika vor ihnen, in der Schnauze ein undefinierbares, schwarzes Etwas.

Erleichtert schimpfte Christin mit Laika.

»Da bist du ja! Pfui, was hast du da im Maul?« Sie ging zurück. »Los Kinder, seid ja vorsichtig, wer geht vor?«

Mathilda und Christin waren froh, als sie heil wieder unten angekommen waren. Oskar versuchte herauszufinden, was der Hund gefunden hatte, aber Laika drehte immer ihre Schnauze weg, wenn Oskar sich ihr näherte.

Christin stieg ins Auto und überließ es ihrem Sohn, den Hund in den Kofferraum springen zu lassen. Es dauerte einen Moment, bis Laika ihren Platz, das Fundstück zwischen ihren Pfoten argwöhnisch bewachend, in der Hundebox eingenommen hatte.

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»Haben Sie schon gehört? Am alten Bahndamm ist eine Leiche gefunden worden!«, informierte die Gemeindesekretärin Ursula Höfer die Pfarrerin, als sie am Montagmorgen in das Gemeindebüro kam.

»Oh!« Erschreckt sah Christin auf. Sie versuchte gerade, den Fragebogen der Versicherung bezüglich der entstandenen Sturmschäden korrekt auszufüllen. »Wer ist es denn? Und unter welchen Umständen?«

»Dass Sie da nichts von mitbekommen haben! War doch ganz großer Bahnhof um den alten Spellener Bahnhof herum!« Die Sekretärin musste lachen, verstummte aber, als sie sah, dass die Pfarrerin das Wortspiel nicht so lustig fand. »Alles abgesperrt, mehrere Polizeiwagen, Spürhunde und so! So ein Katastrophentourist, der sich durch die Büsche kämpfte, hat die Leiche gefunden, die da verbuddelt war. Da, wo auch der Güterzug vor einem umgekippten Baum halten musste. Mehr weiß man noch nicht.«

Christin spürte die Sensationslust ihrer Sekretärin, mit der sie ihr diese spannende Neuigkeit als Erste überbrachte. Nachdenklich blickte sie auf ihre Schreibtischunterlage. »Nein«, sagte sie, »das habe ich nicht mitbekommen. Mein Gott! Wir waren selber Samstag da, die Kinder wollten sich das Spektakel angucken. Die Kinder und ich waren gestern noch im Kino, und in der Zeitung habe ich auch nichts gelesen.«

»Da wird erst morgen was kommen, die Polizei hat komplett dichtgehalten.«

»Nun«, die Pfarrerin schaute wieder in ihre Papiere, »schlimm. Wird denn jemand vermisst?«

»Nein, nicht dass ich wüsste«, antwortete Höfer.

Beide Frauen arbeiteten schweigend weiter.

Christin schaute zum Fenster hinaus, auf das zerstörte Gemeindehaus. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich sie, wenn sie daran dachte, dass sie am Samstag noch mit ihren Kindern dort selber Katastrophentouristen gewesen waren.

Plötzlich kam ihr noch ein Gedanke.

Laika.

Das komische Ding, das sie auf einmal in der Schnauze gehabt hatte und das Oskar ihr nur mit Mühe am Samstagabend wegnehmen konnte. Wo hatte er es entsorgt?

Christins Gedanken schweiften noch weiter zurück in die Vergangenheit.

Ihr Elternhaus befand sich in der Nähe der alten Hochbahn.

Als Kinder hatten sie da oben am Bahndamm gespielt. Später als Teenager stromerten sie über die Gleise, um »zufällig« Jungen zu treffen. Die älteren Jungs trafen sich dort zum Trinken. Von ihnen hielten sich Christin und ihre Freundinnen fern. Aber, wenn sich ein Zug näherte, konnten sie beobachten, wie sie, um sich zu beweisen, solange es ging auf den Gleisen stehen blieben und erst im letzten Moment zur Seite sprangen.

Freddie, fiel ihr ein, Freddie Neumann. Ziemlich mutig. Ganz kurz machte ihr Herz einen kleinen Sprung. Was wohl aus ihm geworden sein mochte?

Einmal konnten sie sogar das wütende Gesicht des Zugführers erkennen. Später hörten sie die Sirene eines sich dem Bahndamm nähernden Polizeiautos der nahen Wache, aber da waren natürlich schon alle weg.

Und jetzt ein Leichenfund?

Natürlich, dachte sie, wenn man jemanden verschwinden lassen wollte, war das ein toller Ort dafür. Bei diesen Gedanken musste sie schmunzeln. Immer mehr zog sie ihre alte Heimat wieder in den Bann. Wenn sie die mächtigen, alten Kopfweiden sah, wurde ihr warm ums Herz. Und auch am Morgen des Vortages, als sie den ersten Gottesdienst in ihrer neuen Gemeinde abhielt, bekam sie Tränen in den Augen, als sie in so viele bekannte, freundliche Gesichter schaute. Früher hätte sie so eine Gefühlsregung für Schwäche gehalten, heute wusste sie, dass so etwas stärkte.

»Ich habe übrigens viel Positives über Ihren ersten Gottesdienst gestern gehört«, riss Frau Höfer sie aus ihren Gedanken, »ich fand ihn auch sehr gut.«

»Danke.« Christin musste sich räuspern. »Danke, ja, mir hat es auch große Freude gemacht!«

In der Mittagszeit, kurz bevor sie die Kinder erwartete, versuchte Christin, sich an das Geschehen nach dem Ausflug am Samstagnachmittag zu erinnern. Ihr Sohn hatte Laika aus dem Kofferraum springen lassen. Sie bekam noch mit, wie die Hündin mit ihrem Fundstück gegen die in Wagenfarbe lackierte Stoßstange polterte, woraufhin sie den Jungen aufforderte, doch bitte aufzupassen und dieses Ding zu entsorgen. Sie selber ging ins Haus, um sich um das Essen zu kümmern.

Wo hatte ihr Sohn es hingetan?

Sie hoffte, nicht in die Restmülltonne. Von ihrem Parkplatz aus schaute sie sich suchend um, bis ihr Blick auf die geschichteten Holzscheite unter einem kleinen Pultdach am Schuppen fiel. Tatsächlich, auf den obersten Scheiten lag es.

Grau, von der Feuchtigkeit etwas schleimig, erinnerte es sie an eine alte Ledertasche.

Und es roch. Nein, es stank.

Sie ging ins Haus, um sich ein paar Einweghandschuhe überzustreifen, bevor sie das Ding in die Hand nahm.

Unförmig. Das eine Ende abgerundet. Sie drehte es um. Der Anblick des anderen Endes bestätigte ihre Vorahnung. Sie blickte auf eine Masse aus ausgefransten Lederfetzen, in denen sie Knochen erkennen konnte.

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»Damit hat sich ein Rätsel von alleine gelöst«, sagte Polizeioberkommissar Schlüter, als Christin ihm das Fundstück übergab.

Neugierig schaute sich die Pfarrerin auf der Voerder Polizeiwache um. Sie hatte ihren Kindern einen Zettel an die Tür geklemmt, dass sie sofort wiederkomme, dann war sie hinunter zur Frankfurter Straße gegangen. Sie erzählte Schlüter genau, wie sie an diesen Teil der Leiche gekommen waren. Er nickte nur. »Und jetzt? Muss ich eine Aussage unterschreiben? Was passiert jetzt?«, wollte Christin wissen.

»Nein, Frau Erlenbeck, wenn wir noch Fragen haben, werden wir zu Ihnen kommen, aber ich denke, hier ist ja alles klar. Wir werden diesen Teil der Gebeine noch nach Duisburg bringen.«

Christin warf einen letzten Blick auf das, was der Beamte einen »Teil der Gebeine« genannt hatte. Ein Teil eines Menschen, der in diesen Stiefeln irgendwann hier in dieser Gegend herumgelaufen war. Eine gruselige Vorstellung.

Sie verabschiedete sich, um mit ihren Kindern Mittag zu essen.

Der Blick eines anderen Polizisten durch die großen Fenster folgte ihr.

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Am nächsten Tag stattete sie ihrem Amtskollegen Jürgen Müller in Spellen einen Besuch ab. Der Fundort der Leiche lag offiziell in seinem Gemeindegebiet, und so erhoffte sie sich genauere Informationen zu dem Toten. Bisher hatten sie täglich telefoniert, aber dieses Gespräch wollte sie persönlich führen.

»Christin, was führt dich zu mir?« Der Pfarrer geleitete sie in sein Wohnzimmer. »Kaffee?«

»Gerne, deswegen bin ich hier!«, strahlte sie.

»Das glaube ich kaum, du kommst bestimmt wegen des Leichenfunds!«

»Du bist schon genauso direkt wie ein waschechter Niederrheiner«, beklagte sich Christin.

Jürgen lachte.

»Na, dann wirst du ja damit umgehen können! Einen Kaffee bekommst du trotzdem.«

Nachdem er ihnen beiden einen frischen Kaffee aufgebrüht hatte, setzten sie sich in zwei gemütliche Sessel.

»Ja«, bestätigte ihr Kollege ihre Vermutung, dass er schon ausführlich mit der Polizei gesprochen hatte.

Er berichtete ihr, dass Spezialisten der Polizei die Leiche geborgen hätten. Aber schon vor Ort habe man feststellen können, dass der Mann schon sehr lange tot sei. Und ja, man gehe mit ziemlicher Sicherheit davon aus, dass die Leiche männlich sei. Die Reste der Bekleidung seien eindeutig Männerkleidung gewesen und die gut erhaltenen Lederstiefel seien auch eindeutig für Männer bestimmt gewesen.

»Die Polizei, oder wer auch immer, hat die Gebeine zur Rechtsmedizin nach Duisburg gebracht«, fuhr er fort. »Dort werden sie noch genauer untersucht, aber wie man mir sagte, werden die nicht viel Zeit und Geld für eine Untersuchung à la Börne in Münster aufwenden. Wenn die Leiche älter als zwei oder drei Generationen ist, also älter als etwa fünfzig Jahre, kann man sowieso nicht mehr ermitteln. Und, wie man mir sagte, sei das bisschen Bekleidung, das noch erhalten war, wirklich sehr altertümlich.«

Dann erzählte die Amtskollegin von dem Fundstück ihres Hundes. »Gut«, sagte sie abschließend, »also gibt es in den letzten Jahrzehnten auch keine mysteriösen Vermissten?«

»Nein«, entgegnete ihr Kollege, »die einzigen Vermissten liegen vor Stalingrad oder sonst wo, und die werden wahrscheinlich auch nur noch von ganz wenigen vermisst.«

»Und jetzt?«, wollte Christin wissen.

»Tja, nach der Entscheidung, ob ermittelt wird oder nicht, wird der Leichnam freigegeben. Ich denke, wir werden ihn dann hier in Spellen beerdigen.«

»Weißt du«, Christin musste schmunzeln, »wir haben uns da früher sehr oft herumgetrieben. Mein Gott, hätten wir gewusst, dass da eine Leiche liegt …« Sie ließ den Satz unbeendet und schüttelte sich.

Nachdem sie noch über ihren ersten Gottesdienst geredet hatten, verabschiedete sich die Pfarrerin.

4. Kapitel

Vor-Passion

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug.

Matti verabredete sich in ihrer neuen Heimat das erste Mal mit einem Mädchen aus ihrer Klasse, und Oskar machte ein Probetraining im Voerder Fußballverein mit, das ihm gut gefiel. Er wollte sich noch ein Handballtraining anschauen und sich vielleicht noch Judo angucken, bevor er sich endgültig entschied. Diese Entwicklungen betrachtete Christin zufrieden. Nachdem sie sich in Hersbruck die Stelle mit ihrem Mann geteilt hatte, fiel ihr die Doppelbelastung als berufstätige Mutter in einem »Job«, der keine geregelten Arbeitszeiten kannte, leichter, als sie gedacht hatte. Jeder hatte Verständnis für sie, wenn sie mal eine Sitzung wegen ihrer Kinder eher verließ.

Auch Bernd Hingmann verhielt sich nicht mehr ganz so reserviert, wie er es anfangs getan hatte. Die Pfarrerin wusste, wie sie Distanz hielt, ohne abweisend zu sein.

Von überall kamen Einladungen zu Veranstaltungen. Mit Ursula, sie duzten sich mittlerweile, und Andrea Winkels, die durch ihr Engagement in verschiedenen Gruppen der Gemeinde sehr vernetzt war, besprach sie offen, welche Einladungen sie annehmen musste und welche sie, ohne jemanden zu brüskieren, ablehnen konnte.