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Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Eulenkopf

Finsterloh

Katzenkönig

Totenwind

Bonames

Charly Weller, geb. 1951 in Marburg a. d. Lahn, ist von Hause aus Filmemacher. Nach seiner Jugend in Gießen und Wetzlar studierte er zunächst Theologie, es folgte das Jura- und Publizistikstudium in Berlin. Zwischenzeitlich betätigte er sich als Fotograf, Journalist, Taxifahrer, Versicherungsvertreter und Kinobetreiber. Nach der Regieassistenz unter Peter Fleischmann drehte er erste eigene Filme und wurde ausgezeichnet, u. a. mit dem Prix du Jury in Cannes und dem Max-Ophüls-Förderpreis. Er war Regisseur zahlreicher Folgen von TV-Krimi-Serien wie Ein Fall für Zwei, Die Kommissarin, Im Namen des Gesetzes, Auf Achse und anderen.

Sein erster Kriminalroman Eulenkopf wurde 2015 für den Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte Debüt nominiert. Heute lebt er mit seiner Ehefrau Ritchie als freier Autor und Regisseur in der Nähe von Gießen und ist als Dozent an der Technischen Hochschule Mittelhessen tätig.

Charly Weller

GALLUS

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Originalausgabe

© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: info@kbv-verlag.de

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von: ©_mycteria - www.fotolia.de

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Druck: CPI books Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-95441-479-6

E-Book-ISBN 978-3-95441-489-5

Für meine Eltern
Hildegard & Karl

Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,
blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Friedrich Nietzsche

Inhalt

PROLOG

1. BLANKE FELGEN

2. MONA UND LISA

3. SAMBURU DOUGLAS

4. HOCHZEITSGLOCKEN

5. EGON

6. MUND ZU MUND

7. NICHT SEIN TAG

8. BÖREKLI

9. BLUMEN STATT BRÄU

10. MOON OVER TAUNUS STREET

11. PRÜFUNG IM SAND

12. STEINCHEN

13. MORD IST MORD

14. STEIGEN SIE EIN

15. KOPFSCHUSS

16. WARTEN UND BETEN

17. WASCHBÄRKRIEG

18. SCHLÜSSEL HER

19. MÖRDERBANDE

20. 1136

21. REKTAL

22. HACKFRESSE

23. MÖRDER

24. WIEDER DRUFF

25. BESTCAR

26. NACH HAUSE

27. WASCHBÄRKOSTÜM

28. UND JETZT

29. TICK TACK

30. KUWASHA

31. BRAUT IN SCHWARZ

32. KRANKER HUND

33. TANZ IN DEN MAI

34. BIG M.

35. O TANNENBAUM

36. FALLTORHAUS

37. ROLLING HOME

38. AUF JUSTUS

39. NACHTS IM PARK

40. PREMIUM PUSSY

41. ROSEMARIES SCHWESTER

42. MÄNNERPAARUNG

43. KEINE BEWEGUNG

44. KEEP ON RUNNING

45. KAPADOKYA

46. KEINE MUTTERN

47. ZIEGENFICKER

48. GEFALLENE MÄDCHEN

49. PEANUTS

50. WIEDER FREI

51. GESTÖRTE

52. AUF OFFENER STRASSE

53. VIER KLEINE NEGERLEIN

54. KEINER WAS GESAGT

55. ÜBER LICH

56. GNADENSCHUSS

57. SPÄTES GLÜCK

NACHWORT & DANKE

PROLOG

Schluss. Aus. Vorbei.

Es würde keine Rettung geben. Das wusste sie. Und sie wusste auch, dass es gerade mal noch drei Tage dauern würde, vielleicht vier.

Aber selbst, wenn es noch drei oder vier Wochen wären, an der Lage würde sich nichts ändern. Seine Tage waren gezählt. Das war die Wahrheit. Die traurige, unbarmherzige Wahrheit. Und dieser Wahrheit galt es nun ins Auge zu blicken. Es führte kein Weg dran vorbei. Er würde sterben. Aber nicht irgendwann, sondern bald. Sehr bald sogar.

Sie hatten ihm Morphium gegeben. Um nicht zu sagen, dass sie ihn damit vollgepumpt hatten. Er hatte geschrien und zusammenhanglose Sprachfetzen von sich gegeben. Seine Bewegungen hatten zusehends spastischere Formen angenommen. Sein Blick lieferte keine klare Abbildung mehr, verlor sich in sinnentleerten Wahnvorstellungen. Und überhaupt, wer war diese Frau, die da unentwegt seine Hand hielt, um ihn zu beruhigen?

Gegen Abend hatte sie sich davongestohlen. Die Nachtschwester hatte gesagt, sie solle sich einfach mal ausruhen. Sie könne sicher sein, dass er bei der Menge von Morphium, die ihm verabreicht worden sei, locker bis in den nächsten Vormittag hinein tief und fest schlafen werde. Das war beruhigend. Bevor sie ging, beugte sie sich noch einmal zu ihm hinunter. Leise flüsterte sie: »Schlaf schön, mein Liebster, morgen früh bin ich wieder bei dir. Ich liebe dich.«

Und wie aus einer fernen Galaxie klang seine schwache Stimme kaum hörbar zurück: »Ich liebe dich auch, mein Schatz.«

Als sie in das Taxi stieg, das der Pförtner ihr gerufen hatte, konnte sie nicht mehr. Sie musste ihrer Wut freien Lauf lassen, ihren Tränen, ihrem Schmerz.

Nachdem diese Verzweiflung sie fast zehn Minuten lang im Griff gehalten hatte, hob sie den Kopf in die Höhe und holte tief Luft. So wie jemand, der nach einer längeren Tauchstrecke endlich wieder über Wasser kommt.

Gleichermaßen wie aus einem Traum erwacht, nahm sie wahr, dass das Taxi durch die Gartenstraße in Sachsenhausen fuhr. Sie sah das Schimmern des Kopfsteinpflasters im Regen, die Straßenbahn, die ihnen entgegenkam. Und hinter einem der Fenster meinte sie wahrhaftig, ihren Mann erkannt zu haben: Lothar.

Das war das unumstößliche Zeichen dafür, dass sie grenzenlos überfordert war. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie Halluzinationen gehabt. Jedenfalls konnte sie sich nicht daran erinnern.

Einen Moment später kam ihr ein weiterer Name in den Kopf: Rocco. Oh, mein Gott, Rocco. Sie hatte ihn völlig vergessen. Wie mochte es ihm wohl ergangen sein?

Als der Notarztwagen am Morgen eingetroffen und es für Lothar um Leben und Tod gegangen war, hatte sie keinen Kopf mehr für irgendetwas anderes gehabt. Wie lange war das jetzt her? In ihrem Kopf ratterte eine innere Uhr rückwärts. Fast vierzehn Stunden mussten seitdem vergangen sein.

Oh Gott, so lange würde der arme Hund es nie ausgehalten haben, dachte sie. Bestimmt hatte er sich in seiner Not nicht mehr beherrschen können und einfach irgendwo hingemacht. Sie hoffte insgeheim, dass wenn ihre Befürchtung sich bewahrheitete, er sein Geschäft in der Küche erledigt hätte, auf die dort diagonal im Schachbrettmuster verlegten schwarz-weißen Fliesen. Denn denen wäre mit einer angemessenen Portion Sagrotan schnell beizukommen. Wogegen der hochwertige Teppichboden im Wohnzimmer auf Wochen hinaus Fäkaliengeruch ausdünsten würde. Wenn nicht gar die befallene Stelle herausgeschnitten und erneuert werden müsste.

Aber so, wie sie ihren Rocco kannte, hatte der sich bestimmt im Wohnzimmer auf den flauschigen Teppich erleichtert. Wie er es schon als kleiner Welpe bevorzugt getan hatte, um nur ja keine nassen Pfötchen zu kriegen.

Sie beugte sich vor zu dem Taxifahrer und versuchte, ihn dafür zu gewinnen, ein wenig schneller zu fahren. Ihr Hund sei nämlich seit fast vierzehn Stunden allein zu Hause.

»Und Sie glauben jetzt, dass er da noch nicht in die Wohnung gemacht hat?«, entgegnete der Mann, der eine Prinz-Heinrich-Mütze aus Leder aufhatte, wie sie ansonsten eher von hartgesottenen Bikern getragen wurden. »Das würde schon an ein Wunder grenzen. Aber egal, ändern könnte ich daran sowieso nichts. Denn ich kann nun mal nur so schnell fahren, wie die Straßenverkehrsordnung es mir erlaubt. Das heißt, innerhalb von geschlossenen Ortschaften gerade mal mit Tempo fünfzig, sofern es keine anderen Einschränkungen gibt. Ansonsten würde ich eine Ordnungswidrigkeit riskieren, was zur Folge haben könnte, dass ich vorübergehend nicht arbeiten dürfte. Und ich denke, dass Sie mir den Verdienstausfall für diese Zeit nur ausgesprochen ungern ersetzen würden.«

Pia bereute, den Mann überhaupt um einen Gefallen gebeten zu haben. Was aber nicht das Geringste daran ändern konnte, dass er recht hatte. Denn ob man nun fünf Minuten früher oder später daheim ankam, würde nichts an der Tatsache ändern, dass der Hund seine Notdurft definitiv nicht durch die Rippen geschwitzt hätte.

Als Pia endlich zur Haustür hereinkam, war Rocco vor Freude außer Rand und Band. Wie ein wild gewordener Brummkreisel sprang er laut bellend und wimmernd an seinem Frauchen hoch und konnte sein Pipi kaum bei sich behalten.

Damit hörte er erst auf, als Pia neben dem Sofa den mächtigen Haufen entdeckte, den er dort während ihrer Abwesenheit abgelegt hatte. In Erwartung schlimmer Bestrafung zog Rocco den Schwanz ein und verkroch sich hinter den specksteinbestückten Kaminofen, der eine Ecke des postmodern gestalteten Wohnzimmers zierte.

Nur mit der Schnauze hervorlugend, konnte er sich keinen Reim darauf machen, warum anstatt der bei solchen Vorfällen üblichen Beschimpfungen entschuldigende Lobhudeleien auf ihn niedergingen, weil man ihn so lange allein gelassen habe.

Und als ob das nicht schon verwirrend genug gewesen wäre, konnte er sich erst recht keinen Reim darauf machen, wo denn wohl sein Herrchen abgeblieben sein mochte. Sollte es wohl irgendwo vergessen worden sein? Oder war ihm womöglich etwas zugestoßen, dachte Rocco im Rahmen dessen, wozu Hunde fähig waren.

Im nächsten Augenblick waren diese Gedanken aber schon nicht mehr existent. Weil nämlich Frauchen seine Leine vom Haken der Flurgarderobe genommen hatte, was als unverkennbares Halali zum Gassigehen galt.

Erneut landete der eine oder andere Freudenspritzer auf dem Parkett, bevor Rocco endlich vor der Haustür einen amtlichen Schiss auf das dortige Rasenstück pflanzen konnte. Normalerweise schämte er sich, wenn er dabei beobachtet wurde, aber darauf konnte er in dieser Situation nun wirklich keine Rücksicht nehmen.

Anschließend sprang der Golden Retriever auf den Beifahrersitz von Pias Audi TT, wo er stolz thronte, während man zu dem Parkplatz des Rudererdorfes nach Oberrad fuhr.

Pia liebte diesen Ort, um dort nach Einbruch der Dunkelheit mit ihrem Hund spazieren zu gehen. Obwohl es nicht ungefährlich war, so abgelegen unterwegs zu sein, hatte sie nicht die geringste Spur von Angst. Denn zu sehr konnte sie sicher sein, dass Rocco aufgrund seiner Ausbildung zum Schutzhund jeden zerfleischen würde, der ihr böse wollte. Im Falle jedweder Bedrohung hätte sie nur das dem Hund antrainierte Codewort »Balla-balla« zum Einsatz bringen müssen, um den zutraulichen Kuschelhund in eine rücksichtslose Kampfmaschine zu verwandeln. Sie genoss es, so beschützt unterwegs zu sein, Roccos Freude über seinen Auslauf zu beobachten und den Blick auf die Skyline von Frankfurt hinter dem silbrig flirrenden Glanz des Flusses zu haben.

Pia parkte ihr Auto vor dem Haus der Rudergesellschaft Borussia. Beim alljährlichen Ironman befand sich hier der Wendepunkt der Marathon-Laufstrecke. Nach etwa anderthalb Kilometern auf dem Weg zwischen der dortigen Schrebergartensiedlung und dem Mainufer kehrten die beiden um. Kurz vor der Borussia nahm Pia auf einer Bank Platz. Rocco stellte sich nah zu ihr und genoss es, sein Fell gekrault zu bekommen.

Dabei sprach sie ihm zu, dass man jetzt ganz stark bleiben müsse. Rocco reagierte nicht. Was mochte das arme Tier wohl gedacht haben, als am Morgen plötzlich ein Blutstrahl aus Lothars Mund geschossen kam und er zu Boden gestürzt war. Hatte der Hund ahnen können, dass Pia im Uniklinikum nach einer zweistündigen Untersuchung die Nachricht erhalten würde, dass Lothar seinen Zusammenbruch nicht überleben würde?

»Warum das?«, hatte sie dem Arzt entgegengeworfen und die Diagnose nicht akzeptieren wollen. Und als er ihr die Hintergründe verständlich machen wollte, konnte sie das, was er sagte, weder nachvollziehen noch behalten. Alles, was bei ihr hängen geblieben war, war, dass ihr Mann sich schon viel früher in ärztliche Behandlung hätte begeben sollen und es nun zu spät sei, um ihm noch helfen zu können.

Sie konnte nun nicht mehr anders als erneut ihren Tränen freien Lauf zu lassen und sich auszumalen, wie ihr Leben in Zukunft ohne ihren Mann sein sollte. Ob sie weiterhin in ihrem Haus würde wohnen bleiben? Ob sie auch ohne ihn zu den Orten würde verreisen können, wo sie so gerne zusammen waren?

Und noch während diese Gedanken sie gefangen hielten und Rocco sie mit seinem treuen Blick schwanzwedelnd zu trösten versuchte, kam ein weißer SUV von der Gerbermühlstraße den Mainwasenweg heruntergefahren. Hinter dem Steuer war ein Mann zu erkennen. Er verlangsamte seine Fahrt auf Höhe des Stegs, der zum An- und Ablegen der Ruderboote im Wasser lag. Gleichzeitig fuhr er auf der Beifahrerseite die Scheibe herunter, um sodann einen Gegenstand in Richtung des Flusses zu werfen. Ohne Unterbrechung wendete der Wagen und fuhr wieder dahin zurück, wo er hergekommen war. Schließlich verlangsamte er abermals die Fahrt und kam zum Stehen. Der Mann stieg aus und stellte sich vor die Kühlerhaube des Wagens, wo er begann, den Reißverschluss seiner Hose aufzuziehen. So, wie er sich verhielt, schien er hundertprozentig sicher zu sein, dass niemand ihn beobachtete. Sein Strahl prasselte in hohem Bogen auf die Kühlerhaube.

Es war nicht das erste Mal, dass Pia einen Mann pinkeln sah, und in der Zeitung hatte sie auch schon öfter gelesen, dass dieses »Wildpieseln« mittlerweile mit Bußgeld geahndet wurde. Aber, dass jemand derart auf die Kühlerhaube seines eigenen Autos urinierte, war ihr noch nicht untergekommen.

Stumm beobachtete sie den Mann, bis er sein Geschäft verrichtet hatte. Danach zückte er ein Tempo-Taschentuch, um damit die Stelle trocken zu wischen, die er zuvor benetzt hatte. Schließlich beendete er sein seltsames Intermezzo damit, dass er zurück in seinen Wagen stieg und davonfuhr.

Als wieder alles ruhig war, näherten Pia und Rocco sich langsam der Stelle, wo der Mann zuvor etwas aus dem Autofenster geworfen hatte. Ganz offensichtlich hatte er dabei den Steg übersehen, der dem Ufer vorgelagert im Main schwamm. Weshalb das, dessen er sich entledigen wollte, auf der schwimmenden Pritsche gelandet war.

Zögerlich stieg Pia die Stufen hinunter zu dem Gegenstand, den sie ausgemacht hatte. Er lag nun im Mondschein metallisch schimmernd vor ihr. Sie beugte sich weiter hinunter und konnte zusehends deutlicher erkennen, worum es sich handelte: nämlich um eine Pistole.

1. BLANKE FELGEN

Er sagt, ich sei das schärfste Messer in seiner Schublade. Jawoll, das sagt er. Da käm keine andere ran. Keine.«

»Ach nee?«

»Nix ›ach nee‹. Der steht auf mich. Der will keine andere. Der will nur mich.«

»Wegen deinen blanken Felgen oder was?«

»Da braucht er wenigstens keine Angst zu haben, sagt er, dass ihm was abgebissen wird. Mit Steril-Pussys hat er nichts am Hut. Der braucht’s dreckig. Der will mich. Einmal war ich ihm mit ’ner frischen Slipeinlage angetanzt. Da ist er fast ausgeflippt. ›Noch einmal‹, hat er sich abgespult, und ich bräuchte mich nie wieder blicken lassen. So ist er. Seine Frau, sagt er, wäre die Pest. Die hat vor dem Eingang zu ihrem Haus einen Vorbau hinstellen lassen. Wenn er heimkommt, muss er erst mal sämtliche Straßenklamotten in die Waschmaschine stopfen, die es dahat. Dann geht’s ab in eine Schleuse, wo er von oben bis unten mit Sagrotan abgesprüht wird. Und im nächsten Raum liegen dann Anzieh-Sachen parat für ›im Haus‹. In seinem eigenen Haus. Das muss man sich mal vorstellen. Diese Frau ist die Geißel Gottes, sagt er. Zwischen ihren Beinen hat sie eine Eiswürfelmaschine, und wenn sie ihn einmal im Monat ranlässt, dann nur mit Gummi und Inkontinenzlaken auf dem Bettbezug. Für den bin ich die Erfüllung auf Erden, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Hast du ’n Laberflash oder was?«

»Quatsch. Ich will dir nur vertickern, dass du dir wegen der Kohle kein’ Kopp machen brauchst, dass ich morgen wieder bei Kasse bin, sonst nix.«

»Ich hatte gedacht, so Perverse stehen nur auf Fettleibige und Weiber mit Beinen in Gips?«

»Wassen Stuss.«

»Wie heißt’n der Tschabo noch mal, hast du gesagt?«

»Lothar. Lothar heißt der.«

»Und wo schafft er?«

»Hab ich doch gesagt, beim Finanzamt, also zuverlässig hoch drei.«

»Und der nimmt dich jedes Mal mit ins Hotel?«

»Jedes Mal. Jeden Dienstag. Gleich zur Frühstückspause. Auf den Mann ist Verlass. Hundertpro. Nach dem kannst du die Uhr stellen.«

»In was für ein Hotel?«

»Wozu willst du das wissen? Willst du eine von deinen Billo-Nutten auf ihn ansetzen? Vergiss es. Der ist mein Typ. Der ist kein Freiwild. Bei dem hat keine andere was verloren.«

»Komm mir bloß nicht so«, zischelte Himbeer-Toni und wiederholte seine Frage mit Nachdruck: »Wieheißt-das-Hotel?«

»Keine Chance. Wenn mir da eine in die Quere kommt, der kratz ich die Augen aus. Da kannst du Gift drauf nehmen«, wurde Reinhild böse, obwohl sie selbst nicht sonderlich von dem überzeugt war, was sie da von sich gab.

Ihr war nur zu klar, dass ihre Karten nicht gerade die besten waren. Um nicht zu sagen, dass sie auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen dieses Schmierlappens von einem Dealer ausgeliefert war. Und von dem eigentlich niemand wusste, wie er richtig hieß. Bei seinen Dealer-Kollegen hieß er »Himbeer« und ansonsten »Toni«. Wie es außerdem hieß, sollte er es früher mal bis in die A-Jugend der Eintracht geschafft haben.

Wenn er in seinem weißen Seidenblouson mit Kapuze und rot aufgedrucktem Drachen auf dem Rücken auftauchte, ging am Kaisersack die Sonne auf. Messiashaft schwebte er dann mit seinen schulterlangen, schwarzen Haaren aus den Niederungen der B-Ebene hoch ans Tageslicht. Oder er führte nach dem Wechsel der Fußgängerampel von Rot auf Grün das vom Bahnhof in die Stadt strömende Heer von anzug- und kostümtragenden Tarifgesichtern an wie ein heroischer Feldherr.

Seine Paradedisziplin war fraglos, Weiber in feuchte Wallungen zu versetzen, wofür Reinhild aber schon lange nicht mehr empfänglich war.

Mit ihren 52 Jahren hatte sie die besten Zeiten schon lange hinter sich. Ganz zu schweigen von dem Waterloo, das sie in der letzten Nacht überstehen musste.

Ein Kerl hatte sie am Abend vorher aus dem Moseleck mit zu sich abgeschleppt. Komm mit, hatte er sie gekobert, dann kannst du mal wieder wie eine Prinzessin in einem richtigen Bett schlafen.

Natürlich war ihr von Anfang an klar gewesen, worauf diese rattige Sacknaht aus war. Aber als er dann noch geblubbert hat, er hätte auch eine Dusche, war Reinhild weich geworden. Wie ein Stück Butter in der Mittagssonne war sie dahingeschmolzen, als er fallen ließ, dass sie von ihm aus duschen könne bis nach Bagdad. So sind sie dann mit der Vierzehn ins Gallus gefahren und in die Idsteiner getigert.

Bei dem Pegel, den der Typ intus hatte, waren bestimmt keine ausschweifenden Leibesübungen mehr zu erwarten, dachte Reinhild sich, wenn er überhaupt noch einen hochbekam. In der Wohnung angelangt, hatte sie sich auch gleich ins Bad verzogen, um die Sachen durchzuwaschen, die sie gerade am Leib trug. Das war eine Garnitur von dreien, die sie ihr Eigen nannte. Die andern beiden befanden sich in ihrem Rucksack, in dem sie auch ihre gesamte restliche Habe stets bei sich trug. Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal etwas in einem Waschbecken hatte durchwaschen können anstatt in irgendwelchen versifften Kloschüsseln.

Nachdem sie ihre Klamotten zum Trocknen auf die Wohnung verteilt hatte und zu dem Riemengesicht ins Bett gekrabbelt war, gaukelte sie ihm eine monatliche Unpässlichkeit vor, woraufhin er sich mit einer Handmassage zufriedengab.

Bestimmt wäre diese Nacht für Reinhild in besserer Erinnerung geblieben, wenn nicht am nächsten Morgen zwei Bullen sie geweckt hätten. Die Uniformierten hatten gemeinsam mit einer Tusse in Jack-Wolfskin-Anorak vor dem Bett Aufstellung genommen und verlangten nach einer Erklärung dafür, was sie in dem Bett und überhaupt in der Wohnung zu suchen habe.

Noch während Reinhild ihre Siebensachen zusammensuchte, begann die Frau, bei der es sich im Übrigen um die Inhaberin der Wohnung handelte, loszuheulen. Wie ein Schlosshund flennte sie drauflos, wobei unschwer heraushören war, dass dies der vierte Einbruch innerhalb von drei Jahren gewesen sei. Und schon einmal habe jemand Fremdes in ihrem Bett geschlafen, was für sie so schlimm sei, dass sie sich ein neues gekauft habe.

Reinhild bekam Mitleid mit der Frau. Aufrichtig entschuldigend strich sie ihr über die Schulter, bis sie ohne jede Vorwarnung angeherrscht wurde: »Fassen Sie mich nicht an! Nehmen Sie verdammt noch mal Ihre Pfoten weg!!!«

Weil der Kerl aus dem Moseleck über alle Berge verschwunden war und man Reinhild ihre Geschichte mit ihm nicht abkaufen wollte, musste sie mit auf die Wache und bekam eine Anzeige wegen Einbruch und Hausfriedensbruch.

Wie sich herausstellte, war die mehrfach als Einbruchsopfer heimgesuchte Frau für zwei Wochen in den Alpen wandern gewesen, derweil der Kerl aus dem Moseleck sich wie auch immer in ihren vier Wänden häuslich niedergelassen hatte.

Das Schlimmste bei der Angelegenheit offenbarte sich aber, als Reinhild ihren Rucksack unter die Lupe nahm und entdecken musste, dass diese elende Drecksau nicht nur ihre gesamte Barschaft in Höhe von 42 Euro, sondern auch ihren Plastikbeutel mit vorneweg noch 30 Präsern darin sowie ihr Handy abgegriffen hatte.

Wenigstens war ihr Crack-Pfeifchen noch da und das rot-schwarze DIN-A5-China-Notebook, in das sie von Zeit zu Zeit Gedichte oder kleine Geschichten schrieb. Dieses Büchlein war ihre einzige Zuflucht, wenn mal wieder eine übermächtige Hoffnungslosigkeit sie heimsuchte, die schon seit Jahren ihre ungeliebte Begleiterin war.

Jetzt war sie ohne einen Cent und einzig und alleine auf Himbeer-Tonis Gnade angewiesen. Darauf, dass er ihr was Stoff überlassen würde, den sie erst morgen Mittag würde bezahlen können. Morgen Mittag, wenn Lothar, ihr »lieber Lothar«, wie jeden Dienstag einen Fuffi abdrücken würde.

»Ich werde dir sagen, warum ich wissen will, in welches Hotel ihr geht«, schwang der sündhaft gut aussehende Brutalo seine großkotzige Rede fort, »weil du mir nach wie vor achtzig Euro short bist und das die einzige Sicherheit ist für das Anschluss-Darlehen, das ich dir jetzt noch einräumen soll. Es dürfte dir doch wohl klar sein, dass man ohne Sicherheiten nun mal kein Darlehen kriegen kann. Ohne Arme keine Kekse sozusagen.«

»Was soll’n das? Glaubst du auf einmal, du wärst ’ne Bank oder was?«

»Für dich, Schätzchen, bin ich eine Bank. Und bevor wir ins Geschäft kommen, heißt das erst mal, meine Allgemeinen Geschäftsbedingungen akzeptieren. Alles klar?«

»Stell dich nur nicht so an. Du hast immer deinen Zaster gekriegt von mir. Morgen Mittag hast du die Kohle, Ehrenwort.«

»Nix, nix. Wenn der gute Lothar morgen Mittag kommt, hast du doch Geld. Also, wo ist das Problem?«

»Das Problem ist – Scheiße noch mal –, dass ich jetzt was brauche. Ich bin voll durch’n Wind. Wenn ich nicht gleich was spritzen kann, geh’ ich vor die Hunde, dann kriege ich nie im Leben morgen einen guten Job auf die Reihe, verdammte Hacke.«

»Mach dir keine Sorgen. Du bist doch eine echte Fachkraft. Außerdem steht er ja auf dich. Er will doch keine andere, hast du gesagt. Also, brauchst du auch keine Angst haben.«

Reinhild wusste nicht mehr, was für Register sie noch ziehen sollte. Sie hatte fast zwei Stunden gewartet, bis Toni endlich am Kaisersack aufgetaucht war. Am liebsten hätte sie ihm eine in die Fresse gedonnert. Aber ihr war klar, dass das nichts gebracht hätte. Vermutlich hätte er ihre Hand im Anflug abgegriffen und ihr eine gescheuert, dass ihr Hören und Sehen verging. Wenn sie nicht sogar was im Gesicht abgekriegt hätte. Das wäre nicht gut gewesen, weil Lothar davon hätte abgeschreckt werden können. Schmutz und Pisse waren ihm egal, aber mit Blut wollen so Typen wie er nichts am Hut haben. Da kriegen die sofort Schiss, sie könnten sich Aids einfangen.

»Gib mir wenigstens ein paar Steinchen, komm her. Wenigstens das.«

»Was glaubst du, Schätzchen, glaubst du, ich bin die Mutter Theresa oder was?«

Es war klar, dass diesem abgewichsten Kaisersack-Adonis nicht beizukommen war, dass Reinhild nur weiter auf Granit beißen würde.

»Glaubst du, du bist der Einzige, der was zu verticken hat?«, startete sie einen letzten verzweifelten Anlauf.

Himbeer winkte sie mit zwei Fingern der rechten Hand zu sich. Als sie nah genug an ihm dran war, flüsterte er ihr ins Ohr: »Äußerste Vorsicht, ja. Sonst setzt’s hier nämlich gleich ’n Platzverweis. Du weißt, was ich meine.«

2. MONA UND LISA

Es war früh am Nachmittag, als es klingelte. Klaus Volkmann war gerade mit dem Korrigieren einer Deutsch-Arbeit fertiggeworden. Ohne Hast und mit dem kleinen Zorro auf der rechten Schulter öffnete er die Tür.

Vor ihm standen zwei Männer in Freizeitjacken ohne erkennbare Markenzuordnung. Sie mochten Anfang dreißig sein und unterschieden sich im Wesentlichen dadurch voneinander, dass der eine gut zwanzig Kilo mehr auf den Rippen hatte als der andere. Außerdem trug er ein graues T-Shirt mit dem Aufdruck New York unter seiner Jacke, wogegen der andere ein Klemmboard in der Hand hielt und ein beigefarbenes Hemd trug, dessen zwei oberen Knöpfe offenstanden.

»Klaus Volkmann?«, fragte der Schlankere, woraufhin der Angesprochene witzelte: »Kommt drauf an, ob Sie mich meinen oder den kleinen Zorro hier.«

Mit einer entsprechenden Kopfbewegung gab er zu verstehen, dass er damit den kleinen possierlich dreinblickenden Waschbären meinte, der auf seiner Schulter saß.

»Entschuldigung«, sagte der Dicke und fuhr fort: »Wir kommen vom Polizeipräsidium Mittelhessen. Mein Name ist Keuscher, das ist mein Kollege Breitscheid.« Wie eingeübt streckten beide dem Hausherrn ihre Dienstausweise entgegen. »Es geht um die Anzeige, die Sie vergangenen Freitag erstattet haben. Weil bei Ihnen zwei Waschbären zu Tode gekommen wären.«

Breitscheid fügte ergänzend hinzu: »Darüber würden wir uns gerne mit Ihnen unterhalten.«

Als Ausdruck seiner offenbar ökologisch orientierten Lebenseinstellung trug Volkmann einen Pullover aus Naturwolle mit norwegisch anmutender Hirschgeweih-Applikation auf der Brust. Er bat die Polizisten mit angemessener Höflichkeit ins Haus und führte sie in die Küche zu einem Tisch, dessen Platte aus einem Baumstamm geschnitten und anschließend mit Öl behandelt worden war. »Nehmen Sie Platz«, bot er an und fragte, ob er ihnen etwas zu trinken anbieten könne.

»Vielen Dank«, lehnten beide unisono ab.

Volkmann nahm ebenfalls Platz: »Was kann ich für Sie tun, meine Herren.«

Breitscheid begann das Reden nach einem Blick in sein Klemmboard: »Nach unseren Unterlagen betreiben Sie eine Auffangstation. Ist das richtig?«

»Ja, das stimmt. Bereits seit fünf Jahren.«

»Was machen Sie da? Was kann man sich darunter vorstellen?«

»Wir kümmern uns um Tiere, die hilflos aufgefunden werden. Die nehmen wir auf, oder sie werden zu uns gebracht. Dann versorgen wir sie liebevoll und artgerecht, damit sie später wieder in ihren natürlichen Lebensraum ausgesetzt werden können. Wie zum Beispiel unser Zorro hier.« Stolz deutete er auf den zahmen Waschbären, der nun in seinem Arm lag: »Seine Mama wurde von einem Auto überfahren, als er gerade mal eine Woche alt war. Nachdem das Kerlchen zu uns gekommen war, haben meine Frau und ich ihn die ersten sechs Wochen alle zwei Stunden mit einem Nuckelfläschchen gefüttert. Tag und Nacht. Und jetzt? Schauen Sie ihn sich an.«

»Ein sehr schönes Tier«, pflichtete Keuscher bei, »da können Sie wirklich stolz drauf sein.«

»Das sind wir auch, gelle Zorro?«

Zorros wacher Blick aus seiner schwarzen Maskenzeichnung heraus wurde ungefragt als Zustimmung ausgelegt.

Breitscheid rang damit, Herrn Volkmann das Überstreifen eines Unterhemdes unter seinen Pullover anzuraten, weil er vom bloßen Anblick der Naturwolle auf der nackten Haut einen verschärften Juckreiz an seinem eigenen Körper verspürte. »Sagen Sie, Herr Volkmann«, kehrte er zum Grund ihres Aufenthaltes zurück, »waren die beiden Waschbären, deren Tod Sie zur Anzeige gebracht haben, ebenfalls zu Ihnen gebracht worden?«

»Ja natürlich. Wir verfügen hier in Lich über ein ansehnliches Netzwerk und guten Rückhalt in der Bevölkerung. Wenn irgendwo ein Tier aufgefunden wird, sind wir die erste Adresse. Aber das habe ich doch schon alles Ihren Kollegen auf dem Präsidium zu Protokoll gegeben.«

»Das stimmt«, antwortete Breitscheid und legte nach einem kurzen Blick in sein Klemmboard nach: »Hatten Sie denn in letzter Zeit mit jemandem Ärger? Ich meine, könnte es sein, dass jemand Ihnen böse wollte?«

»Allerdings, aber das hatte ich ebenfalls schon zu Protokoll gegeben. Und zwar mit den sauberen Damen und Herren von der Jägervereinigung. Weil die nämlich die Schonzeit für Waschbären ersatzlos streichen wollen, diese Mörder.«

»Gab es in dem Zusammenhang vielleicht einen besonderen Vorfall? Ich meine, sind Sie da mit jemandem persönlich aneinandergeraten? Hat Ihnen jemand gedroht oder so?«

Volkmann brauchte einen Moment, bevor er weiterreden konnte: »Entschuldigen Sie, meine Herren, aber warum genau sind Sie hergekommen?«

»Weil wir uns ein Bild von der Sachlage verschaffen wollen. Das ist alles.«

»Von der Sachlage? Was stellen Sie sich denn bitteschön darunter vor?«

»Ihre Lebenszusammenhänge, das Geschehen, das der Tötung der beiden Tiere vorausging. Solche Dinge halt, die für unsere Ermittlungen von Bedeutung sein könnten.«

»Für Ihre Ermittlungen? Für das, was hier passiert ist, braucht es keine Ermittlungen. Das liegt auf der Hand. Hier ist ein kleiner Waschbär ermordet worden. Und niemand anders könnte ein Interesse daran haben, so etwas zu tun als diese blutrünstigen Jäger. So sieht’s doch aus.«

»Zwei«, ließ Keuscher kommentarlos einfließen.

»Zwei was?«

»Zwei Waschbären. Sie sagten eben, es sei ›ein kleiner Waschbär‹ zu Tode gekommen.«

»›Zu Tode gekommen‹, wie sich das anhört! Wie mal zufällig gestorben.

»Wann haben Sie die beiden toten Tiere gefunden?«

»Am Morgen.«

»Am Freitagmorgen, ja?«

»Richtig.«

»Und wann?«

»Kurz vor sieben. Ich schaue immer kurz vor sieben nach den Tieren, bevor ich mich fertigmache für die Schule.«

»Sie sind Lehrer?«

»Richtig. Deutsch und Geschichte. Spielt das etwa eine Rolle?«

»Im Prinzip nicht, nein. Aber nachdem Sie die beiden toten Tiere gefunden haben, was haben Sie dann getan?«

»Was soll ich schon getan haben?«

»Wir wissen es nicht. Sagen Sie es uns.«

»Ich habe meine Frau gerufen.«

»Aus dem Haus, ja?«

»Ja, sie war dabei, sich fertigzumachen, weil sie ebenfalls zur ersten Stunde Unterricht hatte.«

»Welche Fächer gibt sie?«

»Jetzt hören Sie aber auf. Was soll das denn alles mit den Morden zu tun haben, die hier begangen wurden. Warum vernehmen Sie nicht die Mitglieder der Jagdvereinigung?«