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Henrike Jütting wurde 1970 in Münster geboren. Nach dem Abitur absolvierte sie eine Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau und studierte dann in Bremen Soziologie und Kulturwissenschaften. Anschließend promovierte sie in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und arbeitete in Bremen, Brüssel und Celle.

Seit dreizehn Jahren lebt sie mit ihrer Familie wieder in ihrer Heimatstadt Münster. Hier begann sie mit dem Schreiben von Kurzgeschichten und absolvierte ein Fernstudium in Literarischem Schreiben. 2017 erschien ihr erster Krimi unter dem Titel Schweigende Wasser.

Villa 13 ist der zweite Fall für die Münsteraner Kommissarin Katharina Klein und ihre Kollegin.

HENRIKE JÜTTING

VILLA 13

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Originalausgabe

© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

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Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-95441-475-8

E-Book-ISBN 978-3-95441-486-4

Für meine Eltern
Traudel († 02.03.2004) und Dieter H. Jütting

Danke für alles

Inhalt

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

PROLOG

Rafael hielt inne und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Alles war ruhig, aber die Stille fühlte sich an wie etwas Lebendiges, das im Verborgenen lauerte. Jetzt hörte er es wieder. Da waren Schritte. Nicht weit entfernt von ihm schlich jemand herum und bemühte sich, kein Geräusch zu machen. Ein trockenes Knacken ertönte. Die Anspannung in Rafaels Nacken nahm zu. Obwohl er den Dachboden als Rückzugsort schätzte und schon sehr oft hier oben gewesen war, empfand er die Atmosphäre immer noch als etwas unheimlich. Ein riesiger Raum, vollgestopft mit verstaubtem Gerümpel, knarrendem Gebälk und Dachpfannen, durch die der Wind pfiff, konnte schon mal für ein bisschen Gänsehaut sorgen.

Die Schritte mussten von einem seiner Mitbewohner stammen, und trotzdem wollte das beklemmende Gefühl in seinem Brustkorb, das dort für eine unangenehme Enge sorgte, nicht weichen.

»Hallo?« Rafael hatte seine Stimme gedämpft. »Susu? Bist du das?«

Keine Antwort. Es war wohl doch nur Einbildung gewesen. Als Rafael kein weiteres, irritierendes Geräusch mehr vernahm, widmete er sich wieder seinem Joint. Aber das Gefühl, nicht alleine auf dem Dachboden zu sein, wurde er nicht los.

Von dem Piece, das er erst vor einigen Tagen von Ralle gekauft hatte, waren nur noch wenige Krümel übrig. Das würde gerade mal für einen Sticky reichen, war aber besser als nichts. Er hielt das weiche, braune Stück in die Flamme seines Feuerzeugs und zerbröselte es zwischen seinen Fingern. Allein dieser würzige Geruch des Haschs kickte ihn immer wieder an, leider war er auch sehr verräterisch. Aus diesem Grund verzog Rafael sich zum Kiffen auf den Dachboden der alten Villa und setzte sich rittlings mit angezogenen Beinen ins offene Giebelfenster.

Er steckte den Joint zwischen die Lippen, ließ erneut das Feuerzeug aufflammen und nahm einen tiefen Zug. Knisternd fraß sich die rote Glut vorwärts. Seine Anspannung löste sich langsam auf, und ein angenehmer Zustand von Leichtigkeit breitete sich in ihm aus. Er lehnte den Kopf an den hölzernen Fensterrahmen, blies den Rauch in die kühle Abendluft und ließ seinen Blick ziellos umherschweifen.

Allzu viel gab es nicht zu sehen. Die Villa 13 lag etwas abseits der Straße und war umgeben von Feldern, Äckern, Obstwiesen und kleineren Waldstücken. Direkte Nachbarn gab es nicht. Rafael sah zu den riesigen Tannen hinüber, die dafür sorgten, dass auf dem Grundstück eine immerwährende Dunkelheit herrschte. Wie schwarze, gezackte Dreiecke hoben sie sich gegen den Himmel ab. Er mochte den Anblick der Tannen. Die ausladenden, sanft schwingenden Zweige hatten etwas Beruhigendes. Anfangs hatte er die vielen hohen Bäume rund um das Haus als bedrückend empfunden. Und nicht nur die Bäume. Den ganzen alten Kasten, der zu allem Überfluss noch am Rand von Angelmodde stand. Ein Kaff mit Fachwerk. Lichtjahre von Münsters Innenstadt entfernt. Aber dann hatte er sich daran gewöhnt und in der Villa eingelebt.

Nervig waren manchmal diese ganzen Meetings, WG-Abende, Gesprächskreise und so weiter, von denen Pia meinte, sie seien so wahnsinnig wichtig für die Gruppendynamik. Auch die Adventsfeier, die sie gerade hinter sich gebracht hatten, war so ein Ding von Pia. Nach solchen Zusammenkünften brauchte Rafael immer erst etwas Ruhe.

Ein neues Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Diesmal war es ein Klopfen. Leise zwar, aber unverkennbar. Tok. Tok. Tok. Rafael hielt konzentriert den Atem an. Ob doch noch jemand hier oben war? Tok. Tok. Tok. Das kam von den beiden Schränken, die links von den Fenstern standen. Zwei Ungetüme aus dunkelbraunem Holz mit goldfarbenen Beschlägen. Ein stetiges Klopfen, als würde jemand mit dem Fingerknöchel gegen Holz pochen.

Rafael legte den Joint ab und rutschte von der Fensterbank. Langsam bewegte er sich auf die beiden Schränke zu. Sie standen weit genug auseinander, dass man sich zwischen ihnen hindurchquetschen konnte. Obwohl Rafael sich sicher war, dass nur einer seiner Mitbewohner hinter dem Geräusch stecken konnte, berührte etwas kalt sein Herz. Er redete sich Mut zu, während er sich in Zeitlupe weiterbewegte.

Gleich läuft das Spielchen andersherum, dachte er, dann wollen wir mal sehen, wer sich hier erschreckt.

Kurz vor den Schränken blieb er stehen. Es klopfte ununterbrochen weiter. Rafael holte aus und trat mit voller Wucht gegen eine der Schranktüren. Als Nächstes geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Eine winzige Maus kam unter dem Schrank hervor, huschte an Rafael vorbei und verschwand zwischen dem Gerümpel. Im selben Augenblick kippte eine Steingutvase vom Schrank herunter, verfehlte nur um Haaresbreite Rafaels Kopf und krachte auf den Boden. Vor Schreck machte er einen kleinen Satz. Die dann folgende Stille nagelte ihn fest. Rafael stand da, konnte sich nicht rühren und spürte sein Herz gegen seinen Brustkorb schlagen.

Doch dann fiel die Angst langsam von ihm ab und Rafael stieß ein halbes Lachen aus. Nur eine Maus! Eine kleine Maus, die unterm Schrank emsig mit irgendwas beschäftigt gewesen war.

Er bückte sich nach der Vase, schob sie, mit ausgestrecktem Arm, wieder zurück auf den Schrank und kehrte zur Fensterbank zurück.

Der Joint war inzwischen verglüht. Rafael steckte den Stummel zwischen die Lippen, zündete ihn an und machte es sich wieder in seiner Lieblingsposition bequem.

Als er kurz darauf Schritte auf der Treppe zum Dachboden hörte, drückte er den Joint aus und warf ihn nach draußen. Er hatte keine Ahnung, wer da hochkam, Bewohner oder Betreuer, aber es war ihm auch egal. Es war nicht verboten, im Dunkeln auf dem Dachboden im Fenster zu sitzen. Er hatte jetzt Lust dazu, und er wollte noch eine Weile hierbleiben. Falls also jemand kam, um ihn hier zu vertreiben, würde er sich stur stellen.

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Einige Minuten später war in Rafaels weit aufgerissenen Augen kein Funken Leben mehr. Er war zwölf Meter in die Tiefe gefallen und lag auf dem Rücken. Die Arme links und rechts abgespreizt. Die Beine zu einer Seite angewinkelt, der Oberkörper in die entgegengesetzte Richtung gedreht. Unter dem Kopf breitete sich eine Blutlache aus und färbte die Steinplatten dunkel.

KAPITEL 1

Acht Wochen später

Freitag

Pia Hengstmann hatte ein Problem. Genaugenommen hatte sie mehrere Probleme. Doch das, was die Sozialpädagogin im Moment beschäftigte, schien ihr das dringendste zu sein. Es hatte mit ihrer Kollegin Hanne Berger zu tun. Pia saß im Büro der Villa 13, einer sozialen Einrichtung, die zum Verein Jugendhilfe in Münster e. V. gehörte. Der Verein bot stationäre Wohnmöglichkeiten für psychisch erkrankte Jugendliche und junge Erwachsene an. Er betrieb mehrere Häuser mit einer unterschiedlichen Anzahl an Wohneinheiten. Bei der Villa 13 handelte es sich um eine Außenwohngruppe mit nur fünf Plätzen, die für junge Erwachsene gedacht waren, die aufgrund ihrer Erkrankung nicht alleine leben konnten. In der Villa 13 sollte sie, mit Hilfe fachkundiger Unterstützung, auf ein eigenständiges Leben vorbereitet werden.

Pia las ein zweites Mal die E-Mail, die sie gerade geöffnet hatte. Absender war das Sozialpädagogische Fortbildungszentrum Essen. Der Text war kurz und unmissverständlich.

Sehr geehrte Frau Hengstmann,

hiermit teilen wir Ihnen mit, dass uns eine Anmeldung von Frau Berger zu unserer Fortbildungsmaßnahme Gespräche mit Kindern und Jugendlichen – von der Beteiligung zum Dialog bis heute nicht vorliegt.

Mit freundlichen Grüßen

Anne Schneider

»Wusste ich’s doch«, murmelte Pia vor sich hin. »Das wäre ja auch ein Wunder gewesen.«

Sie rollte auf ihrem Drehstuhl ein Stück nach hinten und verschränkte die Arme vor dem Bauch. Was machen wir nur mit dir, Hanne?

Den ganzen Vormittag war Pia mit administrativen Aufgaben beschäftigt gewesen. Jetzt war es fast vierzehn Uhr, und gleich würde ihr Chef seinen Dienst beginnen. Um 14.30 Uhr erwarteten sie dann Kollegin Hanne zur Teamsitzung. Sie waren zu dritt in der Villa 13, und um eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung zu gewährleisten, arbeiteten sie nach einem flexiblen Zeitmodell.

Die Tür zum Büro öffnete sich, und Ludo Harms, der Leiter der Einrichtung, trat ein.

»Die hat sich tatsächlich nicht angemeldet!«, rief Pia ihm entgegen.

Ludo schälte sich aus seiner Jeansjacke und hängte sie an die Garderobenleiste neben der Tür. »Hallo Pia. So viel Zeit sollte schon sein.« Er warf seiner Kollegin einen genervten Blick zu. Warum machte sie nur immer so einen Stress?

»Ja, ja. Hallo. Hanne hat die Anmeldung zur Fortbildung nicht abgeschickt. Ich hatte da was für sie herausgesucht. Das grenzt doch schon fast an Arbeitsverweigerung!«

Ludo seufzte. »Gibt’s Kaffee? Vorher kann ich überhaupt nicht klar denken, das weißt du doch.«

Pia deutete auf ihren Becher, über dessen Rand das Bändchen eines Teebeutels hing. »Und du weißt doch, dass ich nur Pfefferminztee trinke.«

»Ach ja.« Ludo seufzte.

»Ludo«, sagte Pia eindringlich. »Du musst unbedingt mit Hanne sprechen. Das ist bald nicht mehr tragbar mit ihr.«

»Nur weil sie nicht so auf Fortbildungen steht wie du?«

»Das Absolvieren von Fort- und Weiterbildungen halte ich tatsächlich für unerlässlich, um qualitativ gute Arbeit zu leisten. Aber das nur am Rande. Nein, es ist nicht nur das. Sie ist in den letzten Wochen noch fahriger und unkonzentrierter geworden, als sie es ohnehin schon immer war. Ihre Büroarbeit bekommt sie gar nicht mehr geregelt. Sie arbeitet nach wie vor nach ihren eigenen Regeln und nicht nach unserer Konzeption.«

»Nach deiner Konzeption, meinst du«, warf Ludo ein.

»Wir haben sie zusammen erarbeitet, mein Lieber«, widersprach Pia, »also ist es unsere Konzeption. Aber jetzt im Ernst. Ich weiß wirklich nicht mehr weiter mit Hanne. Trotz dieser Geschichte vor anderthalb Jahren hat sie ihr Verhalten nicht geändert. Und dann der Hund. Bitte sag ihr, sie soll ihn zu Hause lassen. Es ist unerträglich, wie der stinkt.«

»Ach, komm. So schlimm ist es auch nicht. Trixi mufft ein bisschen, aber ansonsten stört sie doch gar nicht. Sie liegt doch sowieso nur den ganzen Tag in ihrem Körbchen und schläft.«

»Hanne sollte den Hund einschläfern lassen. Das ist meine Meinung. Man sieht doch, dass der Hund sich nur noch quält.«

»Das musst du schon ihr überlassen. Lange wird er Hanne sowieso nicht mehr erhalten bleiben. Soweit ich weiß, ist der fast vierzehn.«

»Wir müssen uns auch was mit Susu und Manon überlegen«, wechselte Pia das Thema. »Gestern war schon wieder riesiges Theater bei denen wegen Susus Schlamperei im Bad.« Pia hielt inne. »Hörst du überhaupt zu?«

Ludo hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt, der Pias gegenüberstand, und kramte in einer losen Blattsammlung herum. »Ja, ich habe alles gehört«, versicherte er ohne aufzublicken. »Probleme zwischen Susu und Manon. Aber das ist ja eigentlich nichts Neues.«

»Nein. Aber wir können das nicht länger ignorieren. Es ist gestern sogar zu Handgreiflichkeiten zwischen den beiden gekommen. Susu war außer sich. Hanne meint ja, wir sollten eine von ihnen nach oben ziehen lassen, aber da bin ich überhaupt nicht für.« Pia ließ ihren Chef nicht aus den Augen und fragte sich zum tausendsten Mal, warum sie einfach nicht von ihm loskam. Die Affäre war über drei Jahre her und demütigend für sie zu Ende gegangen. Doch Pia wusste genau, sie würde sich sofort wieder auf ihn einlassen, sollte Ludo auch nur einen Funken Interesse zeigen. Allerdings bestand diese Gefahr gar nicht. Sie hatte inzwischen begriffen, dass er bei ihr nur eine Ausnahme gemacht hatte und sein Frauengeschmack in eine ganz andere Richtung ging.

Moni, ihre beste Freundin, hatte ihr Verhältnis zu Ludo von Anfang an nicht gutgeheißen, und als nach wenigen Wochen alles vorbei war, riet sie Pia, die Stelle zu wechseln. Aber Pia fühlte sich wohl in der Villa 13. Es war zwar nur ein Miniteam – Ludo, Hanne und sie – aber die Gestaltungsmöglichkeiten waren enorm, und genau so etwas hatte sie gesucht. Und außerdem – aber das sagte sie Moni nicht – fühlte sie sich nach wie vor von Ludo angezogen. In diesem Punkt verstand sie sich allerdings selber nicht.

Ludo hob den Blick. »Zu Handgreiflichkeiten? Okay, das klingt ernster.«

»Das meine ich auch, und deshalb müssen wir uns da etwas überlegen. Und auch was Hanne angeht. Im Ernst, Ludo. Wenn du gleich wegen der Fortbildung nichts zu ihr sagst, dann mache ich das.«

»Nur zu. Du bist die stellvertretende Leiterin dieser Einrichtung. Aber bleib sachlich. Du kennst sie ja.«

»Ich bin immer sachlich.« Pia machte sich eine Notiz auf ihrem Stichpunktezettel.

Ein Klappern an der Haustür kündigte Hannes Eintreffen an. Kurz darauf betrat sie das Büro. Eine mittelgroße Promenadenmischung von undefinierbarer Abstammung trottete steifbeinig hinter ihr her. Der Hund ging auf Pia zu, blieb direkt vor ihr stehen und schaute sie aus trüben Augen vorwurfsvoll an.

Pia konnte den warmen Hundeatem durch ihre Jeans spüren.

Was wollte dieser Hund nur immer von ihr? Eisern verkniff sie sich jede Bemerkung, schob den Hund aber demonstrativ mit dem Fuß von sich weg.

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Susu steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Haustür. Tom, Manon und Nico betraten hinter ihr das Haus. Von montags bis freitags arbeiteten alle vier Jugendliche bei Youth at Work e. V., einer Qualifizierungsund Arbeitseinrichtung für junge Menschen ohne Schulabschluss oder abgeschlossene Ausbildung. Freitags endete die Arbeit bereits um 14.30 Uhr.

Susu drehte sich zu den anderen um und legte den Finger auf ihre Lippen. »Pssst! Die sind alle im Büro. Es gibt Stress.«

Sie lauschten und erkannten Hannes Stimme. »Du hast mich doch schon ewig auf dem Kieker, Pia! Ich kann doch machen, was ich will, nie ist es richtig!« Hannes Stimme schraubte sich mehrere Tonlagen nach oben.

»Das stimmt so nicht«, antwortete Pia ruhig. »Es geht auch weniger um das, was du machst, sondern mehr um das, was du nicht machst.«

»Was soll das denn jetzt heißen?«, ereiferte sich Hanne.

»Warum hast du dich nicht zu der Fortbildung im März angemeldet? Was ist mit dem Termin für Nico bei Dr. Kentrup? Wann schreibst du endlich die längst fällige Stellungnahme, um weitere Therapiemaßnahmen für Nico bewilligt zu bekommen? Und so weiter und so fort.«

Ludo schaltete sich ein. »Vielleicht klären wir das doch lieber in einem separaten Gespräch. Am besten ist es, wenn wir …«

Was Ludo für das Beste hielt, hörten die vier nicht mehr. Nachdem sie an der Garderobe Schuhe und Jacken ausgezogen hatten, trieb sie der Hunger auf einen Nachmittagssnack in die Küche.

Susu öffnete den Kühlschrank und inspizierte den Inhalt. »Ich habe so einen Schmacht. Ich könnte mir ein halbes Schwein reinhauen.«

»Wie wäre es denn hiermit?« Manon hielt eine große Papiertüte hoch. »Hefehörnchen.«

Susu schloss die Kühlschranktür. »Ist mir total egal. Hauptsache ich krieg gleich was zwischen die Kiemen.« Sie ließ sich auf einen der Küchenstühle plumpsen und fuhr sich mit den Fingern durch ihr streichholzkurzes, schwarz gefärbtes Haar.

»Die sind von Ludos Bäcker«, sagte Tom. »Die sind mega lecker.«

»Ich will auch eins.« Nico setzte sich.

»Was wollt ihr drauf essen? Ich nehme nichts.« Manon hatte den Inhalt der Tüte in einen Brotkorb geschüttet und sich dem Kühlschrank zugewandt.

»Ach ja!«, sagte Susu. »Deine Diät. Wie läuft es denn? Schon hundert Gramm weniger?« Sie musterte Manon abschätzend von hinten.

Tom machte sich an der Verpackung eines Sechserträgers Mineralwasser zu schaffen.

Manon reagierte nicht auf Susus Sticheleien. »Erdbeermarmelade? Butter? Für dich Pflaumenmus, Susu?«

»Ist mir egal.«

Manon stellte Marmelade und Butter auf den Tisch und holte dann ein weiteres Glas mit rot-weiß gewürfeltem Deckel aus dem Kühlschrank. Sie schraubte den Deckel ab und schnupperte daran. »Das Mus ist noch gut. Aber ich glaube, es sollte bald aufgegessen werden. Dieses selbstgemachte Zeug hält ja nicht so lange.« Sie hielt das Glas in die Luft. »Willst du jetzt oder nicht? Wir haben sonst nur Erdbeermarmelade. «

»Gib her. Hauptsache, ich habe was zum Draufschmieren.«

Manon stellte Susu das selbstgemachte Pflaumenmus vor die Nase.

Tom hatte inzwischen Teller, Gläser und Messer gedeckt.

»Nimm’s mir nicht übel, Manon«, sagte Susu, als sie zu viert um den Tisch herumsaßen, »aber man sieht wirklich gar nicht, dass du abgenommen hast. Dabei machst du das doch schon seit Wochen, oder nicht?«

Manon trank einen großen Schluck Wasser und sah ihre Mitbewohnerin gleichmütig über den Rand des Glases an. »Seit zwei Wochen, um genau zu sein. Jede Woche ein Kilo. Es fällt nur nicht auf, weil ich so viele davon habe.«

Susu nahm sich ein zweites Milchhörnchen und bestrich es mit Butter. »Ich bin jedenfalls froh, dass ich keine Gewichtsprobleme habe.«

»Nee, die hast du wirklich nicht.« Tom betrachtete Susus Profil. Von der Seite fand er sie fast noch schöner als von vorne. »Kleiner Floh.«

»Kannst du aufhören, so etwas zu mir zu sagen?«, explodierte Susu. »Das klingt so, als wäre ich ein winziges Ding, das man mit einem Fingerschnippen von der Bildfläche verschwinden lassen kann.«

»Nein, nein.« Tom hob beide Hände. »So war das nicht gemeint.«

Manon sah aus, als wollte sie dazu etwas sagen, aber sie schwieg. Es würde ihr immer ein Rätsel bleiben, was Tom an Susu fand, an dieser kleinen Gestalt mit Piercing und löchrigen Klamotten.

»Gott sei Dank ist endlich Freitag«, sagte Nico. »Ich habe so was von keinen Bock mehr auf diese scheiß Anstreicherei von Stuhlbeinen.«

»Und ich habe überhaupt keinen Bock mehr auf das Grünflächenprojekt«, meinte Tom. »Ich würde viel lieber in die Schreinerei wechseln.« Er ließ Erdbeermarmelade auf die Spitze seines Hörnchens klecksen.

»Du warst doch schon mal in der Schreinerei und fandest es doof«, sagte Manon.

»Ja«, räumte Tom ein. »Aber vielleicht ist es ja jetzt besser da.«

»Es ist immer noch genauso.« Susu massierte mit den Fingerspitzen ihre Schläfen.

»Kopfschmerzen?«, fragte Tom.

»Ja«, antwortete Susu knapp. Die Erinnerung an das Gespräch, das sie kurz vor Feierabend geführt hatte, löste wieder ein mentales Erdbeben in ihrem Kopf aus und verursachte diesen Schmerz in ihrer Stirnhöhle. Das musste alles ein böser Traum sein. Er hatte ihr ja gar nicht richtig zugehört. Hatte sie angeschrien, ob sie noch ganz dicht sei und ob sie nicht langsam mal kapieren könne, dass er einfach nur seine Ruhe haben wollte. Wahrscheinlich würde er bald alles ganz anders sehen. Sie musste ihm nur Zeit geben. Sie nahm sich ein zweites Milchhörnchen und bediente sich vom Pflaumenmus. Auf einmal fiel ihr etwas ein. »Ach, Nico. Hast du mein Handy genommen? Ich suche es seit gestern Abend.«

»Spinnst du? Was soll ich mit deinem Handy.«

Susu fixierte ihn. »Ach, komm. Wir wissen alle, dass du diesen Tick hast, wie ein Geist durchs Haus zu schleichen, andere zu belauschen und Dinge zu nehmen, die dir nicht gehören. Also, wo ist mein Handy?« Der Schmerz in ihrem Kopf hatte weiter an Fahrt gewonnen. Sie brauchte sofort eine Tablette, dachte Susu, sonst würde sie hier gleich auf den Tisch kotzen.

Plötzlich war da noch etwas anderes. Ein unangenehmes Kratzen im Hals. Sie räusperte sich, aber das nützte nichts. Es ging nicht weg. Im Gegenteil. Es wurde immer schlimmer. Susu griff nach ihrem Wasserglas und trank einen Schluck. Der Schmerz verschlimmerte sich. Inzwischen fühlte es sich an, als hätte sie ein Nadelkissen verschluckt. Es stach, juckte und brannte schrecklich in ihrem Hals. Zusätzlich verspürte sie jetzt noch einen Druck auf dem Kehlkopf, als würde jemand mit dem Daumen darauf drücken. Nein, so war es nicht. Der Druck kam nicht von außen, sondern von innen!

Susu geriet in Panik. Ihre Hände flogen zum Hals. Sie rang nach Luft, aber irgendetwas verhinderte, dass Sauerstoff in ihre Lungen kam. Es fühlte sich an, als steckte ein Tischtennisball in ihrer Luftröhre fest.

Nico, Manon und Tom rührten sich nicht. Sie saßen da, als wären sie festgetackert und starrten wie paralysiert auf Susus weit aufgerissene Augen, auf ihre Hände, die ihren Hals umklammerten, und ihren Mund, aus dem kehlige Laute drangen und der sich hektisch öffnete und schloss, wie bei einem Fisch, den man aus dem Wasser gezogen hat.

Erst als Susu zusammengekrampft vom Stuhl rutschte und hart auf dem Fußboden aufschlug, sprang Tom von seinem Stuhl hoch und stürzte aus der Küche. Nur wenige Augenblicke später kam er mit Ludo im Laufschritt zurück. Hinter ihnen Pia und Hanne.

Ludo ließ sich auf die Knie niedersinken. Susu lag bewegungslos auf dem Küchenfußboden. Ludo drehte sie behutsam auf den Rücken. Mit geübtem Griff fühlte er nach ihrem Puls am Hals und ging mit dem Ohr ganz dicht an ihren Mund.

Kurz darauf schaute er mit blassem Gesicht zu den anderen hoch. »Sie atmet nicht mehr.«

KAPITEL 2

Katharina stieg aus der Dusche, griff nach dem Handtuch, das ihr Klaas reichte, und trocknete sich ab.

Klaas betrachtete sich unterdessen kritisch im Badezimmerspiegel, der groß genug war, dass er sich bis zur Hüfte sehen konnte. Er drehte sich zur Seite und zog den Bauch ein. »So geht es einigermaßen.«

»Es geht auch ohne Baucheinziehen.«

»Na ja, ich weiß nicht. Seit wir zusammen sind, habe ich bestimmt fünf Kilo zugenommen.«

»Das ist das Beziehungsbäuchlein. Das ist ganz normal.« Katharina schlüpfte in ihre Unterwäsche.

Klaas betrachtete sie. »Und warum hast du kein bisschen zugelegt? Das ist ungerecht.«

Katharina kniff ihn sanft in die Seite. »Dafür habe ich Dellen an den Oberschenkeln, und damit musst du dich nicht herumschlagen.«

»Hast du nicht.«

»Doch. Du siehst sie nur nicht, weil du keine Brille aufhast.«

Klaas seufzte und sah wieder in den Spiegel.

»Ach, komm«, sagte Katharina, »du bist sechsundvierzig Jahre. Da darf man einen kleinen Bauchansatz haben, eine Lesebrille tragen und das Haar darf sich auch lichten.«

Sofort griff Klaas sich in sein volles, braunes Haar. »Mit meinem Haar ist alles noch tipptopp. Aber ab sofort lassen wir das mit dem Essengehen und fahren noch mehr Mountainbike.«

»Noch mehr?« Katharina öffnete das Badezimmerfenster, um den Wasserdampf abziehen zu lassen. Sie zog sich Jeans und einen Kapuzenpulli an und rubbelte sich die Haare trocken. »Wir sind diese Woche vier Mal mit den Rädern unterwegs gewesen. Ab nächster Woche muss ich wieder arbeiten. Dann müssen wir das Radeln wieder aufs Wochenende legen.« Sie sammelte das durchgeschwitzte Sportzeug vom Boden auf und stopfte es zusammen mit dem Handtuch in Klaas’ Waschmaschine. »Aber ich finde, wir können jetzt getrost was essen, schließlich sind wir gerade drei Stunden durch die Baumberge gerast.«

Sie stellte sich neben Klaas vor den Spiegel und fuhr sich mit einem Kamm durch die braunen, kinnlangen Locken, die sich im nassen Zustand kringelten wie Korkenzieher.

»Du hast recht«, sagte Klaas versöhnt. »Wir haben so viel Kalorien verbrannt, da muss jetzt Nachschub her.« Er schlang von hinten die Arme um Katharina. »Obwohl … Ich hätte da auch noch eine andere Idee … Soweit ich weiß, verbrennt man dabei auch Kalorien.« Er pustete Katharina in den Nacken. Sie lächelte seinem Spiegelbild zu und wand sich aus seinen Armen. »Das muss warten. Jetzt habe ich erst mal Hunger.«

Sie saßen sich am Küchentisch gegenüber. Zwischen ihnen standen ein Brett mit Käse, ein Teller mit hauchdünn geschnittener Fenchelsalami und ein Schälchen mit Cocktailtomaten. Katharina schnitt ein Körnerbrötchen auf. Sie hatten am Morgen extra ein paar mehr gekauft.

Klaas machte sich an seiner funkelnagelneuen Espressomaschine zu schaffen. »Mal sehen, ob es jetzt funktioniert«, sagte er. »Sonst schicke ich das Ding noch heute wieder zurück.«

Katharina und Klaas wohnten beide im Erphoviertel, nur wenige Radminuten voneinander entfernt. Bislang wechselten sie sich immer damit ab, wer zu wem kam und dort übernachtete. Ein Jahr und knapp vier Monate waren sie nun zusammen. Das Thema Zusammenziehen hatten sie bis jetzt nur am Rande gestreift. Im Moment fanden sie es beide gut so, wie es war.

Die Kaffeemaschine gab zischende Laute von sich, und Klaas murmelte zufrieden vor sich hin. »Na also, geht doch.« Er stellte Katharina einen Cappuccino mit beeindruckender Crema vor die Nase.

»Mhm, das sieht gut aus«, meinte Katharina. »Morgen wäre übrigens noch mal eine gute Gelegenheit, etwas gegen kleine Bauchansätze und für gute Kondition zu tun. Wir könnten eine Tour durch den Teutoburger Wald machen.«

»Das wird nicht klappen. Ich bekomme doch morgen Besuch.«

»Besuch? Von wem?«

Klaas sah Katharina erstaunt an. »Das habe ich dir doch erzählt. Eine alte Freundin von mir kommt für ein Jahr nach Münster. Sie wohnt in Aachen und hat für ein Jahr einen Lehrauftrag an irgend so einem Sportinstitut von der Uni. Sie ist Sportwissenschaftlerin.«

»Ach … nein, das hast du tatsächlich nicht erzählt. Und sie besucht dich jetzt für ein Jahr oder wie?« Bildete Katharina es sich ein oder rutschte Klaas etwas unbehaglich auf seinem Stuhl herum?

»Nein, nein natürlich nicht.« Klaas nahm das Käsemesser, hielt es aber nur in der Hand. »Sie hat kein Appartement oder kleine Wohnung von Aachen aus finden können. Das ist ja auch schwer. Du kennst ja den Wohnungsmarkt in Münster.«

»Nein.« Katharinas Stimme klang etwas kälter, als sie beabsichtigt hatte. »Eigentlich nicht. Ich habe meine Wohnung seit dreieinhalb Jahren.«

»Na ja, man kann es ja in der Zeitung lesen. Es gibt wenig Wohnraum, zumindest in Stadtnähe, und das, was es gibt, ist nicht zu bezahlen. Auf jeden Fall hat sie nichts gefunden und mich gefragt, ob sie ein paar Tage bei mir unterschlüpfen kann. Das habe ich ihr natürlich zugesagt.«

»Natürlich.« Katharina trank einen Schluck Kaffee und schaute Klaas unverwandt über ihre Tasse hinweg an.

»Fanny hat noch eine Bekannte in Telgte. Eine Freundin ihrer Cousine. Bei der hat sie auch zuerst gefragt. Aber die hat ein drei Monate altes Baby und renoviert außerdem gerade.«

Katharina hielt weiter die Kaffeetasse in beiden Händen und sagte kein Wort.

Genervt legte Klaas das Käsemesser zurück. »Was hast du denn jetzt? Es sollte ja wohl kein Problem sein, wenn mich eine alte Freundin besucht!«

Katharina stellte die Tasse so energisch zurück auf den Tisch, dass etwas Kaffee über den Rand schwappte. »Natürlich ist das kein Problem! Aber ich hätte das gerne etwas eher gewusst! Du erzählst mir mal eben so beiläufig und auch nur, weil ich nach einer gemeinsamen Radtour morgen gefragt habe, dass die nächsten Wochen eine alte Freundin bei dir wohnt.«

»Von Wochen habe ich gar nichts gesagt. Und außerdem dachte ich, ich hätte das schon mal erwähnt.«

»Hast du aber nicht.«

»Ich weiß gar nicht, warum du dich jetzt so aufregst. Ab Montag arbeitest du wieder, da hast du doch sowieso kaum mehr Zeit.«

»Das ist doch Quatsch! Wenn wir es nicht gerade mit einem Kapitalverbrechen zu tun haben, arbeite ich zu ganz normalen Zeiten so wie du auch. Außerdem rege ich mich überhaupt nicht auf!«

Aus dem Flur ertönte ein Handyklingeln. Etwas zu heftig schob Katharina ihren Stuhl nach hinten und stand auf. »Das ist meins.« Sie marschierte aus der Küche.

Im Flur nahm sie das vibrierende Telefon von der Ablage der Garderobe. »Hallo KD. Was gibt es?«

Klaus-Dieter Franke, Leiter des Münsteraner Kriminalkommissariats 11, räusperte sich. »Hallo. Ich weiß, es ist dein letzter Urlaubstag, aber ich befürchte, wir brauchen dich. Brigitte, Jörn und Tim sind alle drei krank, und wir haben gerade etwas sehr Unschönes reinbekommen. Ein totes Mädchen in einer Wohngruppe für psychisch kranke Jugendliche. Ich mache mich jetzt mit Eva auf den Weg. Kannst du dazukommen?«

Das war typisch KD. Er hielt sich nie mit irgendwelchem Geplänkel auf, sondern kam immer direkt zur Sache. Das war eine der vielen Eigenschaften, die Katharina an ihrem Chef schätzte. »Wo muss ich denn hin?«

»Nach Angelmodde. Heuweg. Hausnummer 13. Die Zufahrt zum Haus ist etwas versteckt. Aber da ist ein Schild an der Straße. Villa 13.«

»Eine Jugendeinrichtung in Angelmodde? Villa 13?«, wiederholte Katharina. »Irgendwie sagt mir das was.«

»Kurz vor Weihnachten ist dort ein Jugendlicher tödlich verunglückt. Da waren wir gerade mit der Messerstecherei auf der Promenade beschäftigt. Horst Kersting und sein Team waren an der Geschichte dran.«

»Stimmt.« Katharina erinnerte sich jetzt an den Vorfall. »Und jetzt ist ein Mädchen umgekommen? Was ist passiert?«

»Die Umstände sind unklar, deshalb hat der Notarzt uns verständigt. Alles Weitere dann gleich.« Ohne auf Katharinas Antwort zu warten, legte KD auf.

Es fing bereits an zu dämmern, als Katharina in ihrem alten Golf den Stadtteil Angelmodde erreichte. Sie konnte sich nicht genau erinnern, wann sie das letzte Mal hier gewesen war. Wahrscheinlich als Kind bei einer sonntäglichen Fahrradtour an der Werse entlang. Aber Tanja Reichel, eine Kollegin aus dem KK 3, die sich manchmal in der Kantine zu ihnen an den Tisch setzte, war vor drei Jahren nach Angelmodde gezogen und schwärmte von der dörflichen Idylle an der Werse. »Man ist mitten im Grünen und doch nur zehn Kilometer von Münster City entfernt«, hatte Tanja Eva und Katharina begeistert erklärt. Katharina fand, dass zehn Kilometer von der Stadtmitte entfernt zu wohnen, mindestens sieben zu viel seien. Aber das war natürlich Ansichtssache.

Sie rollte die Angelstraße entlang. Genaugenommen bestand Angelmodde aus drei Teilen. Dem ursprünglichen Angelmodde-Dorf, das in der Nachkriegszeit entstandene Angelmodde-West und die neuere sogenannte Waldsiedlung. Der Heuweg befand sich in dem ursprünglichen Teil und ja, Tanja hatte recht, Dorfidylle hatte man hier im Überangebot: eine kleine, wunderschöne, weiß getünchte Kirche, das Flüsschen Angel, das hier in die Werse mündete, sowie uralte Fachwerkgebäude.

Katharina erreichte den Heuweg und setzte den Blinker. Sie fuhr über eine Brücke, die gerade breit genug war, dass ein Auto sie passieren konnte. KD hatte ihr gesagt, dass sie nach der Brücke noch etwa fünfhundert Meter fahren müsse, bevor es rechts zur Villa 13 abgehe.

Wenige Minuten später tauchte das Schild auf, das KD erwähnt hatte. Es war an zwei hüfthohen Holzpflöcken befestigt. In bunten Buchstaben war dort Villa 13 zu lesen. Über dem Schriftzug befanden sich drei turnende Strichmännchen, eins davon mit zwei abstehenden Zöpfen.

Der asphaltierte Weg zum Haus durchschnitt einen unbestellten, trostlosen Acker und war an den Seitenrändern mit grünbraunem, buschigem Gras bewachsen. Er mündete direkt in das weitläufige Grundstück, auf dem mittig eine Villa im viktorianischen Stil thronte. Der Baumbestand rund um das Haus war beeindruckend, vor allem die Tannen, die bis ans Haus heranreichten und wie schweigende Wächter in den dunkelblauen Abendhimmel ragten.

Katharina parkte neben KDs schwarzem BMW und ließ den Anblick des Hauses einen Moment auf sich wirken. Im Gegensatz zu dem Schild an der Straße wirkte die Villa weitaus weniger fröhlich. Die graue, geriffelte Fassade, das vorspringende, steile Dach und die schmalen, hohen Fenster vermittelten einen grimmigen und abweisenden Eindruck. Diese Wirkung wurde auch nicht durch die vielen Erker, Türmchen und Zierleisten aufgehoben.

Katharina stieg aus dem Auto. Fünf ausgetretene Stufen führten zum überdachten Hauseingang an der Seite des Gebäudes. Katharina drückte den unscheinbaren Messingknopf, der links neben der Tür ins Mauerwerk eingelassen war. Kurz darauf öffnete KD ihr die Tür. »Gleich drei Krankheitsfälle auf einmal, das ist ja auch noch nicht vorgekommen«, begrüßte Katharina ihren Chef.

KD, der nur noch Schwarz trug, seit seine Frau im vergangenen Sommer den Kampf gegen den Krebs verloren hatte, ließ sie eintreten und ging dann voraus. »Influenza-A-Virus«, sagte er über die Schulter. »Sie haben sich wohl gegenseitig angesteckt. Wenn man den Zeitungsberichten trauen darf, dann stehen in NRW ganze Büros leer, und auch bei uns im Präsidium sieht es nicht besser aus.«

So abweisend und dunkel die Villa auch von außen wirkte, innen erwartete den Besucher eine warme und freundliche Atmosphäre. Ein offenes Treppenhaus mit einer breiten Treppe, die sich in einer sanften Biegung bis in den dritten Stock hinaufschwang. Deckenstrahler spendeten sanftes Licht. Katharina durchquerte hinter KD den Flur. Der Holzfußboden knarrte bei jedem Schritt.

KD stieß eine halbgeöffnete Tür auf und Katharina hatte freien Blick auf eine moderne Küche mit gelben Einbauschränken und einem schwarz-weiß gefliesten Boden, auf dem rücklings ein junges Mädchen lag.

Der Mann, der vor ihr gekniet hatte, erhob sich, als KD und Katharina die Küche betraten. Katharina und der Notarzt nickten sich grüßend zu.

»Es spricht alles für einen anaphylaktischen Schock«, sagte der Arzt.

»Eine allergische Reaktion also.« Betroffen blickte Katharina auf den schmalen Körper, der in einer unnatürlichen, gekrümmten Haltung zu ihren Füßen lag.

»Ja, in ihrer extremsten Form. Es ist innerhalb kürzester Zeit zu einem Herz-Kreislauf-Kollaps gekommen. Die Einzelheiten erfahren Sie von der Rechtsmedizin. Sie muss etwas zu sich genommen haben oder mit etwas in Berührung gekommen sein, auf das ihr Körper binnen Sekunden in so hohem Maße reagiert hat.«

»Schrecklich.« Katharina konnte den Blick nicht von dem toten Mädchen abwenden.

»Ich habe vorhin kurz mit Herrn Harms gesprochen, dem Leiter der Einrichtung«, fuhr der Arzt fort. »Am Telefon hat er bereits vermutet, dass es zu einer allergischen Überreaktion gekommen sein könnte. Es war bekannt, dass das Mädchen eine Nussallergie hatte, die zu einer lebensbedrohlichen Situation führen kann.«

Automatisch ließen Katharina und KD ihren Blick über den Küchentisch gleiten. Sie konnten nichts entdecken, was man mit Nüssen in Verbindung bringen würde. Butter, eine Flasche Wasser, ein Brotkorb, in dem noch ein einsames Hörnchen lag, Marmelade und ein aufgeschraubtes Glas mit dunklem Inhalt und einem handgeschriebenen Etikett.