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Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Schandpfahl
Nimmerwiedersehen

Stefan Barz, geboren 1975 in Köln, wuchs in Kommern auf und lebt heute in Wuppertal. In Bonn studierte er Germanistik und Philosophie und arbeitete nebenbei als freier Journalist. Nach dem Studium wurde er Lehrer und begann mit dem Schreiben fiktionaler Texte. 2011 erschien seine erste Kurzgeschichte Klassenzimmer, 2014 sein erster Kurzkrimi Erbsünde, mit dem er gleich für den Agatha-Christie-Krimipreis nominiert wurde. Einen weiteren großen Erfolg feierte Stefan Barz im Jahr 2014 mit seinem Debütroman Schandpfahl, für den er den Jacques-Berndorf-Förderpreis verliehen bekam. www.stefan-barz.de

Stefan Barz

Spiel des Bösen

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Originalausgabe
© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
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Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
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Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von © Stadt Mechernich /
Touristik-Agentur Mechernich / Ralph Sondermann
Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-95441-461-1
E-Book-ISBN 978-3-95441-470-3

»In uns vollzieht sich […]
die Selbstaufhebung der Moral.«

Friedrich Nietzsche, Morgenröthe

»Als sie auf dem Felde waren,
erhob sich Kain wider seinen Bruder
und schlug ihn tot.«

Genesis 4,8

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Epilog

Prolog

Woran ich mich am besten erinnere, wenn ich an meine Kindheit denke? An meinen Onkel Darian natürlich. Mann, war das ein Kerl! Hätte irgendjemand vorher ahnen können, dass das so ein Ende mit ihm nimmt?

Onkel Darian war so ziemlich das Gegenteil von meinem Vater. Während mein Alter schon fast kahl auf dem Kopf war, hatte mein Onkel eine Frisur wie Elvis in seinen jungen Jahren. Dabei war Darian nur vier Jahre jünger als mein Vater. Kurzum: Mein Onkel sah gut aus und war ein lebensfroher Mensch. Er wohnte auch in Blankenheim, deswegen besuchte er uns oft. Und das Tollste war: Fast jeden Samstag unternahm er etwas mit mir. Meistens Radtouren. Oder wir hingen in seinem Studio ab, und er zeigte mir seine neusten Kunstwerke.

Mein Großvater war steinreich. Damals war schon klar, dass eher mein Vater und nicht Darian die Geschäfte des Anwesens, auf dem mein Großvater lebte, übernehmen würde. Denn Darian war kein Geschäftsmann wie mein Alter. Er war ein Künstler – Komponist und Maler. Wie gut er von seiner Kunst leben konnte, konnte ich damals nicht einschätzen, ich war ja erst elf. Aber alles, was er tat, sah sehr professionell aus.

Mit anderen Worten: Onkel Darian war mein Idol. Er war wie ein großer Bruder – aber noch mehr als das: Er zeigte mir Dinge von der Welt, die mir in meinem Elternhaus verborgen blieben. Er war immer freundlich. Zu mir, zu meinen Eltern, zu anderen Menschen. Half alten Leuten über die Straße, ging manchmal für seine Nachbarin, die im Rollstuhl saß, einkaufen, fragte mich ehrlich, wie es mir gehe und wie es in der Schule laufe. Meinen Vater interessierte all das nicht.

Wie also konnte ich ahnen, was dann passierte?

Bis heute schießen immer wieder so viele Erinnerungen von Onkel Darian durch meinen Kopf.

Der nette Onkel Darian als Weihnachtsmann.

Onkel Darian, wie er mit mir Fußball spielt.

Onkel Darian am Grill im Garten meiner Eltern.

Eine Party im Haus meiner Eltern mit vielen Gästen.

Onkel Darian, der zu Silvester seine neue Freundin Sabine mitbringt. Die hübsche Sabine mit ihren langen, blonden Haaren.

Onkel Darian und Sabine, wie sie eng umschlungen zu Dreams tanzen.

Feuerwerk.

Die Küche, die ich mitten in der Nacht aufsuche, weil ich durstig bin.

Die Augen der toten Sabine, die mich anzustarren scheinen.

Onkel Darian, der auf Sabine sitzt, die Hände um ihren Hals geschlungen.

Onkel Darian, wie er plötzlich aufspringt, zurückweicht, die Hand an seinen Mund legt und einen unmenschlichen Schrei aus sich herauspresst.

Das Blaulicht des Polizeiautos, das vor dem Haus meiner Eltern anhält.

Onkel Darian in Handschellen.

Und immer wieder diese eine Frage

1. Kapitel

3. Juli 2016

Der Weg hinunter zur Kakushöhle war holprig, man musste aufpassen, dass man nicht auf dem Geröll ausrutschte. Es fühlte sich falsch an, hier zu sein. Statt zu Hause bei seiner Frau zu bleiben, die ihn dringend brauchte, war er hierhergefahren – ohne zu wissen, was er hier finden würde.

Früher war er oft hier gewesen. Trotz des hellen Tageslichts glich der Ort einem dunklen Schattenreich, weil die Bäume mit einer dichten Blätterdecke den Kartsteinfelsen überdachten. Die wenigen Sonnenstrahlen, die bis hier durchdrangen, erloschen allmählich. Ein Gewitter lag in der Luft. Dunkle Wolken hatten das Gebiet bereits umzingelt, und der Wetterbericht hatte starke Sturmböen vorhergesagt. Das war wohl auch der Grund, warum das Naturschutzgebiet von Dreimühlen heute kaum Besucher anzog. Ein junges Pärchen war ihm gerade entgegengerannt. Die beiden wollten wohl vor Beginn des Unwetters wieder zu Hause sein. Nur er selbst und eine fremde Frau, die er schon seit einer Weile beobachtete, waren noch hier.

Er folgte der Frau durch den Höhleneingang. Sie waren die einzigen Besucher im Felsinneren. Er hatte sich spontan heute Nachmittag entschlossen hierherzukommen. Die Höhle war ihm ganz unvermittelt eingefallen, er hatte sie plötzlich wieder vor Augen gehabt, die Höhle mit den hohen Felsmauern, wo der unheimliche Riese Kakus einst sein Unwesen getrieben haben sollte.

Damit die Frau, die er beobachtete, ihn nicht bemerkte, spielte er den Touristen und sah sich die mächtigen Felssteine an, die ihn an das Maul eines riesigen Ungeheuers erinnerten. Uralte Naturphänomene, entstanden vor Hunderttausenden Jahren. Er schielte wieder zu der fremden Frau, die mit strammen Schritten zum Höhlenausgang ging. Dann konnte er sie nicht mehr sehen. Einen langen Moment blieb er noch in der Höhle und überlegte sich, wie es wäre, wenn er ihr nicht weiter folgte. Diese Idee wurde verdrängt von einem Blitz in seinem Kopf, einem Gedanken, der schrecklich wehtat und ihm den Verstand zu zermartern drohte. Daraufhin setzte er sich in Bewegung und folgte ihrem Weg.

Er wusste später nicht mehr, warum er sich ausgerechnet die grauhaarige, schlanke Seniorin mit dem weißen Strohhut ausgesucht hatte. Ob es ihr parfumsüßer Duft war, ihre reife Schönheit oder ihre selbstbewussten Augen, die mit Interesse alles in sich aufnahmen, was das Leben an diesem Tag zu bieten hatte. An irgendwen erinnerte sie ihn, irgendetwas faszinierte ihn an ihr. Er schätzte ihr Alter auf Ende sechzig, damit war sie fast vierzig Jahre älter als er selbst – aber was machte der Altersunterschied schon aus?

Sie war jedenfalls alt genug, um zu sterben.

Sie hatte eine sportliche Figur und bewegte sich wie jemand, der ständig in der Natur auf unebenen Pfaden unterwegs war. Vielleicht fiel sie ihm auch deswegen auf, weil sie alleine unterwegs zu sein schien. Als er sie vor dem Höhleneingang wiederfand, drehte sie sich ehrfurchtsvoll um und sah mit großen Augen auf den hohen Kartsteinfelsen. Ein kleines Lächeln zog über ihr Gesicht. Als er die Freude sah, mit der sie diese Naturschönheit aufnahm, war er den Tränen nahe. Sie ging weiter, er folgte ihr in sicherem Abstand und warf ebenfalls einen Blick auf die hohe Felswand. Um die zwanzig Meter war sie hoch, schätzte er. Vielleicht noch ein bisschen mehr. Was die Natur doch für prächtige Dinge hervorbringt, dachte er. Dachte sie das auch?

Die Unbekannte wählte den Rundweg, der oberhalb der Höhle entlangführte. Sie stieg die unebenen Treppen hinauf, ihre Schritte waren sicher, aber zwei Mal stolperte sie. Als sie fast oben angekommen war, stieg auch er den Berg hinauf. Er stolperte ebenfalls an einer Stufe und wünschte sich fast, er möge sich ein Bein brechen. Er zweifelte plötzlich daran, dass er sein Ziel erreichen wollte.

Er stellte sich vor, wer diese Frau sein mochte. Vielleicht war sie eine kinderlose Witwe, um die niemand trauern würde. Das hoffte er jedenfalls. Vielleicht war sie aber auch eine unbarmherzige Patriarchin, deren Tod sich die Verwandten herbeisehnten. Aber eigentlich erinnerte sie ihn am ehesten an eine pensionierte Lehrerin, die nach Ende ihres Berufslebens ihr Bildungsideal weiterführte, indem sie Natur, Kunst und Kultur genoss. Dennoch: Eine alte Frau passte in sein Schema.

Sie befanden sich nun oberhalb des Kartsteinfelsens. Zwischen dem Trampelpfad und dem zwanzig Meter tiefen Abgrund war ein Gelände angebracht, das verhindern sollte, dass man sich zu nah an den Rand wagte. Der Julihimmel war nun völlig verdunkelt, und der angekündigte Sturm setzte mit unsanften Böen ein. Die Frau war nur einige Meter vor ihm. Sie hatte ihn einmal kurz gesehen, als sie sich umgedreht hatte, ihn aber nicht weiter beachtet. Er überlegte, ob er ein Gespräch mit ihr beginnen sollte, um herauszufinden, wer sie war, aber ein kräftiger Windstoß änderte plötzlich alles. Der Wind blies ihren Hut vom Kopf. Der weiße Hut prallte gegen das Geländer, blieb einen Augenblick dort hängen wie ein Tennisball, der noch auf beide Seiten des Netzes hinunterfallen kann. Dann überließ sich der Hut ganz dem Wind und blieb schließlich in einer Hecke unmittelbar vor dem Abgrund hängen.

Die Frau hatte auf ihren unbedeckten Kopf gefasst und ihrem Hut erschrocken nachgesehen. Er hatte die Szene genau beobachtet und fühlte, wie sein Herz schneller schlug. Er blieb stehen und beobachtete mit großem Interesse, was die Frau nun tun würde. Würde sie es vielleicht wagen …?

Tatsächlich: Sie tat es, kletterte kurzentschlossen über die hüfthohe Absperrung und tastete sich vorsichtig über den leicht abschüssigen Boden zu den Sträuchern, die wie eine Warnung am Abgrund standen. Sie schien zu überlegen, wie sie an ihren Hut herankommen sollte. Er sah sich um. Kein Mensch war in der Nähe, der ihr helfen konnte. Kein Mensch, der sie sehen würde. Jetzt war die Gelegenheit gekommen.

Tausend Gedanken schossen durch seinen Kopf, während er seine Schritte beschleunigte, sich elegant über das Geländer schwang und sich der Frau näherte. Sie sah ihn überrascht an, zuckte lächelnd mit den Schultern, um ihm stumm ihr Missgeschick zu erklären. Als gäbe es ein geheimes Einverständnis zwischen ihnen, streckte sie ihre Hand nach ihm aus. Er nickte, griff nach ihrem Handgelenk und stieß sie mit ganzer Kraft gegen die Rippen. Sie taumelte rückwärts die abschüssige Ebene entlang. Drei Schritte tastete sie sich nach hinten vor, versuchte das Gleichgewicht zu halten, doch dann ging der vierte Schritt ins Leere, und sie stürzte in die Tiefe, während er sein Handy zückte und ein letztes Bild von ihr machte.

2. Kapitel

3. Juli 2016

Das Gewitter war so schnell verschwunden, wie es gekommen war, aber der starke Sommerregen hatte viele mögliche Spuren schon verwischt, als Kriminalkommissar Jan Grimberg den Unfallort erreichte. Jan hatte seinen Wagen direkt an der Bundesstraße 477 abgestellt und musste nur einige Meter zu Fuß laufen – vorbei am Café zur Kakushöhle. Unterhalb des riesigen Höhlenfelsens lag eine Leiche. Wie üblich herrschte bereits reges Treiben am Tatort, als Jan ankam. Einige Kollegen von der Streifenpolizei waren noch da und würden gleich den Fall an die Kripo übergeben. Die Spurensicherung wurde von Experten des Kriminaltechnischen Dienstes übernommen. Drei Männer und eine Frau in weißen Anzügen untersuchten den Tatort spiralförmig. Scheinwerfer sorgten für genügend Licht, denn es war inzwischen dreiundzwanzig Uhr und stockdunkel.

Auch Kriminalhauptkommissar Jürgen Wagner, Jans Partner bei der Kripo Euskirchen, war schon da – wie immer, denn Wagners Ehrgeiz kannte keine Grenzen. Er wollte immer der Erste am Tatort sein, wollte immer derjenige sein, der die entscheidenden Details findet – ganz nebenbei lief gerade Wagners Bewerbungsverfahren für eine Beförderung zum Ersten Kriminalhauptkommissar.

»Guten Abend zusammen«, begrüßte Jan die anderen Anwesenden.

»’n Abend«, murmelten mehrere Kollegen und gingen dabei weiter ihrer Beschäftigung nach.

Jan warf einen Blick auf die Leiche, die unten am Kakushöhleneingang lag. Eine Frau um die siebzig, ihr Körper unnatürlich verdreht, der Kopf badete in einer Blutsuppe.

»Ich glaube, wir können den Fall schnell abhaken«, sagte eine nüchterne Stimme hinter Jan. Es war Wagner.

»Sie ist wohl gestürzt?«, sagte Jan lapidar. Die Todesursache war für ihn offensichtlich.

»So ist es, dafür braucht man kein Philosoph zu sein, um das zu erkennen«, antwortete Wagner.

»Aber ganz so einfach ist es doch nicht«, konterte Jan. »Lassen Sie sich von einem alten Philosophen sagen, dass Sturz nicht gleich Sturz ist. Mir fallen gerade drei Möglichkeiten ein, wie die Dame hinuntergefallen sein könnte.«

Jan war jetzt schon wieder genervt von Wagner. Anfangs war ihr Verhältnis zueinander gar nicht gut gewesen. Wagner war ein arroganter Schnösel, der sein Kind gegen einen hochrangigen Karriereposten tauschen würde. Inzwischen waren sich Jan und Wagner nähergekommen, auch wenn sie wohl nie beste Freunde werden würden. Was Jan gerade nervte, war diese Unklarheit: Er konnte nicht einschätzen, ob die Sticheleien zwischen ihnen gerade ein kollegiales Ritual waren oder ob Wagner ihn in die Enge treiben wollte. Worauf Wagner anspielte, war Jans Philosophiestudium, das er abgebrochen hatte, bevor er zur Polizei gegangen war. Dennoch befasste sich Jan hin und wieder mit der Philosophie, und manchmal eröffneten sich mit ihr Gedanken, die eine Brücke zu einem Kriminalfall bauten. Er hatte bereits Fälle mithilfe von toten Denkern gelöst, so unglaublich das klang – unglaublich auch für den alten Neidhammel Wagner.

»Ich weiß, ich weiß«, stimmte Wagner zu. »Aber glauben Sie mir: Eine Möglichkeit können wir gleich so gut wie ausschließen.«

»Selbstmord?«, vermutete Jan.

»Genau. Für eine Selbstmörderin ist sie zu untypisch gefallen. Sie liegt zu nah am Felsen. Typisch für Suizidstürze ist, dass die Toten weiter weg vom Objekt liegen, von dem sie gesprungen sind – weil sie meistens noch Anlauf nehmen.«

»Also war es ein Unfall oder Mord«, sagte Jan.

»Genau. Was halten Sie für wahrscheinlicher?«

Jan sah zum Felsen hinauf. »Ich werde mir gleich ein Bild von oben machen. Kann mir aber gut vorstellen, dass die Frau auf dem regennassen Boden ausgerutscht ist.«

Wagner hob die Hand in Oberlehrermanier. »Eigentlich müsste sie aber vom Geländer oben aufgehalten worden sein. Wenn sie ohne Fremdeinwirkung gestürzt ist, müsste sie sich schon hinter die Absperrung in die Nähe des Abgrundes begeben haben. Warum sollte sie das tun?«

»Sie wollte vielleicht ein Selfie machen – es kommen doch immer wieder Menschen ums Leben, weil sie sich vor einem Abgrund fotografieren.«

»Und wo ist ihr Handy?«, fragte Wagner.

Jan zuckte mit den Schultern.

»In ihrer Hosentasche«, antwortete Wagner. »Aber vielleicht wollte sie etwas anderes.«

»Aha?«

»Neben der Toten lag ein Hut, der ihr gehören könnte. Möglicherweise hat ein Windstoß ihn vom hübschen Kopf geweht, sie ist hinterhergeklettert und abgestürzt.«

»Möglich«, stimmte Jan zu. »Und nun zur anderen Hypothese, dass es Mord sein könnte. Ich nehme an, es liegen noch keine Zeugenaussagen vor?«

»Nein. Das Café oben am Straßenrand war bereits geschlossen, sonst hätte wahrscheinlich jemand den Sturz von dort aus bemerkt.«

»Gibt es Spuren, die auf eine Fremdeinwirkung hindeuten?«

»Soll das ein Witz sein?«, schaltete sich Horst Hammerbach vom kriminaltechnischen Dienst ein. »So wie das vorhin geschüttet und gestürmt hat, sind alle brauchbaren Spuren mit der Sintflut vernichtet worden. Wochenlang warten wir auf Regen – und dann kommt er ausgerechnet, wenn wir ihn nicht gebrauchen können.«

Hammerbach drehte sich um und widmete sich wieder seiner Arbeit.

Jan kniete sich hin und sah sich das Gesicht der Frau genauer an. Wagner hatte recht. Die Frau war hübsch, ihrem Alter entsprechend. Womöglich wartete gerade ein Mann auf sie, vielleicht auch Kinder oder Enkel.

»Vielleicht war es der Riese Kakus«, murmelte Wagner.

»Wer?«, fragte Jan.

»Ach ja, ich hatte vergessen, dass Sie nicht von hier sind«, antwortete Wagner. »Sie kennen die Sage nicht? Der Eifelriese Kakus soll hier einst gelebt haben und von jedem, der vorbeizog, dessen Hab und Gut verlangt haben.«

»Und weil diese Frau ihm ihre Geldbörse nicht geben wollte, hat er sie vom Felsen gestoßen? Diesen Verdacht dürfen Sie gerne gegenüber der Presse äußern, dann haben die ihre Sommerlochgeschichte. Wissen wir eigentlich schon, wer sie ist?«, fragte Jan.

»Hat sie uns noch nicht gesagt«, antwortete Wagner.

Jan hasste ihn manchmal für seinen Zynismus. »Hatte sie keine Papiere dabei?«

»Nein. Aber unsere Techniker nehmen sich gleich mal ihr Handy vor, darin werden sich schon Hinweise auf ihre Identität finden. Außerdem steht auf dem Parkplatz ein einsamer Skoda mit Euskirchener Nummernschild, das wir gerade checken lassen. Und im Präsidium wird schon geprüft, ob in den letzten Stunden jemand vermisst gemeldet wurde.«

Jan stand wieder aus der Hocke auf. »Ich gehe jetzt mal nach oben und sehe mir die Stelle an, von der sie runtergefallen ist. Kommen Sie mit?«

Wagner schüttelte den Kopf. »Ich war schon dort, aber gehen Sie ruhig auch hin. Ich fahre jetzt mal nach Hause, dort wartet noch Arbeit auf mich. Plumpsen Sie mir nicht auch noch runter, ich habe keine Zeit, mich um zwei Leichen zu kümmern.«

Wagner war schon auf dem Weg zu seinem Wagen, als Jan ihm hinterherrief: »Viel Glück!«

Wagner warf einen fragenden Blick zurück.

»Für die weiteren Vorbereitungen. Wann ist Ihr Bewerbungsverfahren noch gleich?«

»Ach so – am Freitag. Und Sie haben sich wirklich nicht auch beworben?«

»Nein!«, versicherte Jan. Das war wieder typisch Wagner: Das Wort Danke kannte er nicht, umso mehr interessierte er sich für die Konkurrenzsituation.

Jan stieg den Pfad zum Wanderweg hoch und befand sich kurz darauf auf dem Kopf der Höhle. Es war wirklich nur möglich hinunterzustürzen, wenn man freiwillig die Brüstung überwand und zum Abgrund lief. Das machten in der Regel nur Jugendliche als Mutprobe oder Menschen, die einen wichtigen Grund hatten, zum Abgrund zu gehen. Man sah auf den ersten Blick, dass der Weg dorthin gefährlich war. Ein verlorener Hut? War der es wert, sein Leben zu riskieren? Hatte die Frau die Gefahr einfach unterschätzt? Oder hatte doch jemand nachgeholfen? Aber wenn es Mord war: Warum riskierte der Mörder dann, sein Opfer aus nur zwanzig Metern Höhe fallen zu lassen? Die Wahrscheinlichkeit war zwar groß, dass man das nicht überlebt. Aber eine Überlebenschance bestand dennoch, und dann wäre das Opfer ein Zeuge. Dann müsste der Täter also hier am Tatort im Affekt gehandelt und sein Opfer ungeplant getötet haben. Oder er war ein Stümper, ein Amateur. Aber das Wahrscheinlichste war dennoch, dass es sich hier um einen Unfall handelte, beschloss Jan, als sein Handy klingelte.

»Herr Grimberg? Wir haben den Namen der Toten.«

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Steffen Weber wohnte in einem hübschen, großzügigen Haus in Nettersheim. Als Jan mit Klaus Rosenbaum vom Krisenteam dort ankam, brannte noch Licht im Erdgeschoss.

»Ab dem Moment, wenn wir die Klingel drücken, wird in diesem Haus nichts mehr so sein wie es war«, seufzte Rosenbaum. »Ich mache diesen Job nun seit zehn Jahren. Einer muss ihn ja machen. Und es kommt mir jedes Mal vor, als läge das Schicksal von Familien in meiner Hand. Als könnte ich es noch abwenden, indem ich einfach nicht auf den Klingelknopf drücke.«

»Ich weiß«, sagte Jan. »So geht es mir auch, wenn ich Todesnachrichten überbringe.«

»Ja, aber wissen Sie, was uns da unterscheidet? Die Leute wissen, dass Sie nicht mehr machen können, als die Nachricht zu übermitteln und den Fall vielleicht noch aufzuklären. Aber von mir erwarten die Menschen, dass ich sie tröste – weil ich Pfarrer bin. Aber was in Gottes Namen soll ich den Menschen sagen? Was soll ich sagen, wenn jemand gerade das Liebste verloren hat, was er besaß?«

Jan sah ihn mit leerem Blick an.

»Also gehen wir rein«, murmelte Rosenbaum und strich sich über den Schnurrbart.

Sie stiegen bedächtig aus, schlurften zum Eingang, aber ehe sie klingeln konnten, öffnete Steffen Weber schon die Tür. Er hatte glatte, weißgraue Haare, einen Dreitagebart und trug eine Nickelbrille. Jan erinnerte er an einen alternden Chansonsänger.

»Sie kommen wegen meiner Frau, nicht wahr? Ich hatte vorhin bei Ihnen angerufen. Sie sind doch von der Polizei, oder?«

»Ja«, antwortete Jan ruhig.

»Dann hatte ich wohl recht mit meiner Vermutung«, murmelte Weber mit zittriger Stimme. »Sie ist wohl irgendwo im Wald ausgerutscht und hat sich ein Bein gebrochen. Oder in der Höhle? Da hatte sie sicher keinen Handyempfang, und es hat eine Weile gedauert, bis man sie gefunden hat? In welchem Krankenhaus kann ich sie besuchen?«

»Dürfen wir erst einmal reinkommen?«, bat Rosenbaum. Steffen Weber nickte und zeigte mit ausgestrecktem Arm den Weg Richtung Wohnzimmer.

Als sich alle drei gesetzt hatten, kam Rosenbaum gleich zur Sache. »Herr Weber, wir haben eine traurige Nachricht für Sie. Ihre Frau ist tot.«

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte Weber und sprang auf. Kurz darauf kam er mit einer Flasche Wasser und drei ineinander gestellten Gläsern zurück, die in seiner unruhigen Hand klapperten.

Rosenbaum seufzte und setzte erneut an: »Herr Weber, haben Sie gehört, was ich eben gesagt habe?«

Weber erschrak, sah ihn entsetzt an und sagte: »Ja, ja …« Dann drehte er sich um, ging zum Kamin, auf dem das verstaubte Hochzeitsbild stand. Er nahm es in die Hand und strich die Staubpartikel weg. Dann sah er Jan und Rosenbaum fragend an.

»Ihre Frau ist an der Kakushöhle vom Wanderweg abgekommen und in die Tiefe gestürzt. Wir vermuten, dass sie sofort tot war. Es tut mir leid«, sagte Jan.

Weber zeigte immer noch keine Regung.

Er steht unter Schock, dachte Jan, die Situation überfordert ihn. Kein Wunder.

»Wohnen Sie mit Ihrer Frau alleine hier?«, fragte Rosenbaum.

Steffen Weber nickte.

Rosenbaum stand auf, ging zu dem Mann und legte sanft die Hände auf seine Schultern. »Gibt es jemanden, den Sie anrufen können? Der jetzt bei Ihnen sein kann?«

»Ja. Mein Bruder wohnt hier in der Nähe.«

»Soll ich ihn für Sie anrufen?«, fragte Rosenbaum.

Wieder nickte Steffen Weber stumm. Er griff zu seinem Handy, suchte die Nummer seines Bruders und reichte es dem Seelsorger. Rosenbaum wählte die Nummer an, und als sich jemand meldete, zog er sich zum Telefonieren in den Flur zurück.

Jan sah den alten Mann an. Weber sah zu Jan, fühlte sich offenbar ertappt und senkte seinen Blick zu Boden.

Jan hasste diese Situationen. Aber er war hier, um seinen Job zu machen. Einen Moment zögerte Jan, dann räusperte er sich und sagte: »Herr Weber, ich weiß, dass das jetzt schwer für Sie ist. Aber können Sie mir ganz genau mitteilen, warum Ihre Frau alleine zur Höhle gefahren ist, wann Sie aufgebrochen ist und ob Ihnen irgendetwas an ihr merkwürdig vorkam?«

Weber sah Jan nur ratlos an. »Nein …«, sagte er leise.

Rosenbaum kam zurück ins Wohnzimmer. »Ihr Bruder ist schon unterwegs«, sagte er zu Weber und dann zu Jan: »Ich glaube, aus dem bekommen Sie heute nichts mehr raus. Lassen Sie ihn nun diesen Schock verarbeiten.«

Jan musste Rosenbaum recht geben. Er stand auf und sah sich im Wohnzimmer um. An den Wänden hingen abstrakte Kunstbilder, die entweder teuer oder von Vierjährigen gekritzelt worden waren. Fotos vom Ehepaar Weber konnte er hingegen nicht finden, bis auf das lieblos wirkende Hochzeitsbild, auf dem Steffen Weber einen gequälten Gesichtsausdruck machte.

Kurz darauf klingelte es. Rosenbaum ging zur Tür, dann hörte Jan, wie er mit dem Besucher ein paar Worte wechselte. Schließlich kam der Notfallseelsorger mit einem Mann zurück, der ein paar Jahre jünger aussah als Steffen Weber.

»Ihr Bruder ist da«, sagte Rosenbaum und erklärte Jan, dass sie gerade besprochen hätten, die beiden Brüder nun alleine zu lassen. In dem Moment ging Steffen Weber ins Badezimmer und schloss sich ein. Jan warf einen fragenden Blick zu Rosenbaum, doch der machte eine Geste, dass sie hier nicht mehr gebraucht würden. Er sah den Witwer offenbar nun in guten Händen.

Auf dem Weg zum Hauseingang warf Jan einen schnellen Blick durch die offene Schlafzimmertür.

Jan verließ das Haus, ohne das Gefühl zu haben, dass die Ermittlungen schon angefangen hatten. Aus dem Haus hörte er einen schrillen Schrei, der ebenso gut ein Lachen wie ein Weinen sein konnte.

3. Kapitel

4. Juli 2016

Der Wecker klingelte um sechs Uhr. Ein Tag wie jeder andere. Eigentlich. Als er auf die andere Seite des Bettes hinübersah, stellte er fest, dass seine Frau noch schlief. Er wusste nicht, wann sie eingeschlafen war.

Er war völlig übermüdet, konnte es sich aber nicht erlauben, heute nicht auf der Arbeit zu erscheinen.

Er duschte endlos lange. Dann zog er sich frische Kleidung an, öffnete die Tür seines Reihenhauses und zog die Tageszeitung aus dem Briefkasten. Schnell warf er die Tür hinter sich zu, eilte zum Küchentisch und blätterte den Bleibach-Boten durch. Er fand nicht, was er suchte.

Vermutlich war gestern schon Redaktionsschluss gewesen, als …

Oder sie hatten sie noch nicht …

Er schaltete sein Tablet an und suchte im Lokalteil der Online-Version des Boten. Dort wurde als »Eilmeldung« in einem kurzen Bericht der Tod einer Frau erwähnt, die am Vorabend am Kakusfelsen ums Leben gekommen sei.

Es stimmte also. Da war sie nun in sein Leben gedrungen, die Nachricht vom Tod eines Menschen.

Im Bericht stand, dass sie in den Abendstunden an der Kakushöhle unter mysteriösen Umständen abgestürzt sei und die Polizei nach Zeugen suche, die mehr zum Tathergang sagen konnten. Dann schaltete er das Tablet wieder aus.

Leise ging er die Treppe hoch zum Kinderzimmer, setzte sich neben das Bettchen, und während er sein schlafendes Kind beobachtete, kullerten Tränen aus seinen Augen.

Er wusch sich noch einmal durch das Gesicht, und dann noch einmal, zog sich im Flur die Schuhe an und öffnete die Haustür, um sich auf den Weg zur Arbeit zu machen. Erst als er draußen sein Jackett überzog, bemerkte er, dass er sein Schlafanzugoberteil noch anhatte. Im Türrahmen standen die Nachbarskinder und amüsierten sich über sein Missgeschick. Er lachte gequält mit, und das Gelächter klang in seinen Ohren plötzlich wie dämonische Schreie. Sein Herz pochte viel zu schnell. Er war in einem Albtraum gefangen. Verstört floh er und sprang ins Auto.

4. Kapitel

4. Juli 2016

Wo ist dieser verdammte Obduktionsbericht?« Jürgen Wagners Stimme grollte wie ein Donnerschlag durch die Euskirchener Kreispolizeibehörde.

Jan sah zu, dass er aus der Schusslinie ging, und holte sich erst einmal bei Frauke Herberg, der Sekretärin und gutem Geist des Hauses, einen Kaffee. Sie lächelte Jan verständnisvoll an und verdrehte die Augen, als Wagner an ihrem Büro vorbeihuschte.

»Wenn der morgen sein Bewerbungsverfahren abgeschlossen hat, ist uns allen wohler«, seufzte Jan.

»Jedenfalls war es gut, ihm erst einmal aus dem Weg zu gehen. Ich sehe, du hast gelernt, mit unserem lieben Wagner umzugehen«, grinste Frauke. »Dabei dachte ich in den letzten Wochen, ihr wärt nun doch noch dicke Freunde geworden.«

»Die dicksten Freunde der Welt«, antwortete Jan. »Ich weiß gar nicht, warum er so angespannt ist. Er hat doch die besten Chancen, den Posten als Erster Kriminalhauptkommissar zu bekommen.«

Frauke zuckte mit den Schultern. »Aber er ist eben nicht der einzige Bewerber. Und für einen Oberstreber wie Wagner wäre es nicht leicht wegzustecken, wenn ihm ein anderer Bewerber den Job vor der Nase wegschnappt.«

Wagner kam herein. »Kaffeepause beendet! Wir haben zu tun«, raunzte er und deutete an, dass Jan ihm folgen solle.

Jan nahm seine Tasse und ging zu Wagners Schreibtisch. Mit einer betont lockeren Sitzhaltung auf der Tischkante versuchte Wagner, seine Anspannung zu überspielen. Er strich sich die Haare aus der Stirn und zeigte auf den Stuhl, auf dem Jan Platz nehmen sollte.

»Also: Wir dürfen uns noch weiter mit der Toten von der Kakushöhle beschäftigen.«

»Wir haben es also definitiv mit einem Mordfall zu tun?«, fragte Jan.

Wagner hob die Augenbrauen. »Aber Mühlenbach hat in seinem Obduktionsbericht Selbstmord ausgeschlossen. Sowohl die Fallrichtung als auch die Verletzungen sind für einen Suizid zu untypisch, wie schon gesagt. Wäre Frau Weber freiwillig gesprungen, hätte sie näher an der Felswand liegen müssen. Das eigentlich Besondere an der Leiche ist aber etwas anderes: Sie hat auffällige Kratzspuren am rechten Handgelenk, die möglicherweise von Fingernägeln stammen. Und Mühlenbach hat noch etwas gefunden: Am Brustkorb hat die Tote eine Prellmarke. Sie hat sich die vorderen Rippen gestoßen, obwohl sie beim Sturz auf dem Rücken gelandet ist.«

Jan schlug die Beine übereinander. »Das könnte bedeuten, dass sie jemand gegen die Rippen gestoßen hat, bevor sie runtergefallen ist …« Dann wartete er darauf, dass Wagner zum Angriff überging. Aber Wagner blieb entspannt sitzen und fragte sachlich: »Ist Ihnen gestern irgendetwas bei dem Ehemann aufgefallen?«

»Sie meinen, ob er sich als Mörder seiner Frau verdächtig gemacht hat?«

»Nein, ob er vielleicht Kindern Kaugummis klaut. Natürlich meine ich, ob irgendetwas ihn als Täter erkennen ließ.«

»Nein, wirklich nicht. Er verhielt sich geschockt, wie sich viele verhalten, wenn sie eine Todesnachricht bekommen.«

»Könnte auch gespielt sein«, sagte Wagner.

»Das hat er mir leider nicht verraten«, konterte Jan. »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Bei Verdacht auf Mord kommen immer zunächst die nahestehenden Personen infrage. Die meisten Tötungsdelikte sind Beziehungstaten.«

»Ich weiß, Herr Wagner, ich bin auch schon eine Weile bei der Kripo.« Jans Ton wurde ungehaltener. »Also?«

»Ich habe mal die Versicherungen vom Ehepaar Weber durchtelefoniert. Und wissen Sie, worauf ich gestoßen bin? Die Lebensversicherung von Elisabeth Weber wurde vor einem halben Jahr deutlich erhöht.«

Jan trank seinen Kaffee aus. »Wie hoch?«

»Wenn sie frühzeitig stirbt, bekommt ihr Mann achtzigtausend Euro.«

Jan stieß einen Pfiff aus. »Das ist ein schönes Sümmchen.«

Wagner nickte. »Finde ich auch. Kann natürlich Zufall sein, aber wir sollten Herrn Weber doch mal auf den Zahn fühlen.«

Jan nickte. »Jetzt sofort?«